chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 8/18 8. Jahrgang

Bernd Gieseking

Gabriel Vetter

BlöZinger

Faltsch Wagoni

Fatih Çevikkolu

Peter Spielbauer

Matthias Reuter

Tino Bomelino

Theater

Musik

Literatur

Peter Carp startet in zweite spielzeit

Mockemalör fliegen artistisch ins all

überragende übersetzerin


Theater

„Das ist eine tolle Sache“ Theater-Intendant Peter Carp über kleine Häuser und groSSes Kino

Foto: © Tim Reimann

M In die zweite Spielzeit gestartet: Intendant Peter Carp Foto: © Britt Schilling

it einem fulminanten Eröffnungswochenende ist Peter Carp in seine zweite Spielzeit als Intendant des Theater Freiburg gestartet. Zeit, zurück- und nach vorne zu schauen: Im Gespräch mit cultur.zeit-Redakteurin Stella Schewe erzählt der gebürtige Stuttgarter über seinen Start in Freiburg, über die neue Spielzeit und Millionen-Investitionen.

cultur.zeit: Sie leiten zum ersten Mal ein Mehrspartenhaus. Was bedeutet das für Sie? Carp: Es bedeutet drei Mal so viele Menschen, die an dem Haus beschäftigt sind, drei Mal so viele Premieren und einen Etat, der drei Mal so groß ist. Zum Glück bedeutet es nicht drei Mal so viele Arbeitsstunden (lacht). Für mich als Intendant ist es natürlich sehr spannend.

cultur.zeit: Herr Carp, wenn International und im Austausch – Sie auf Ihre erste Saison in Freiburg zurückschauen: Wie Theater als Weltempfänger wurden Sie und Ihr Ensemble aufgenommen? Carp: Ich empfinde die Freiburger als sehr cultur.zeit: In Ihrer ersten Spielzeit wollkommunikativ und fühle mich gut aufge- ten Sie das Theater auf „Weltempfang“ nommen. Ich werde auch öfter angespro- stellen – so jedenfalls lautete das Motto. chen, manchmal auf der Straße von Men- Ist Ihnen das gelungen? schen, die ich gar nicht kenne und die mir Carp: Ja, in vielen Punkten hat das Theasagen: „Das und das haben wir gesehen, das ter als Weltempfänger gut funktioniert. fanden wir ganz toll.“ Das heißt nicht, dass Diesen Weg setzen wir jetzt fort. Auch die Leute von allem begeistert sind. Aber dieses Mal haben wir sehr viele internaich habe den Eindruck, dass das Haus und tionale Künstlerinnen und Künstler bei das, was wir hier tun, wahrgenommen wird. uns im Programm und eingeladen.

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Theater cultur.zeit: Gibt es für die neue Theatersaison auch ein Motto? Carp: Der Weltempfänger war nicht nur für eine Spielzeit gedacht, sondern ist nach wie vor aktuell. Er gilt für die gesamte Intendanz und steht für alles, was wir hier tun.

Carp: Also zunächst bekommen wir innerhalb der nächsten fünf Jahre zehn Millionen Euro für die Sanierung und Modernisierung des Kleinen Hauses. In den zehn Jahren darauf fließen weitere 15,5 Millionen Euro in die Bestandswahrung des Altbaus.

cultur.zeit: Kürzlich hatte Tschaikowskys „Eugen Onegin“ Premiere, bei dem Sie Regie geführt haben. Warum haben Sie dieses Stück ausgewählt? Carp: Weil es eine tolle, sehr emotionale Geschichte ist. Es handelt von Projektionen und Enttäuschungen, von verpassten Gelegenheiten und falschen Erwartungen. Und da hat doch jeder, der sich vor dem Leben nicht völlig in Acht nimmt, Erfahrungen gesammelt. Zum anderen können wir diese Sehnsuchts- und Liebesgeschichte der vier jungen Menschen großartig und altersadäquat aus dem Ensemble heraus besetzen.

cultur.zeit: Ist diese Vereinbarung für Sie eine Erleichterung? Carp: Ich finde, das ist eine tolle Sache, weil sich beide Seiten verpflichten. Wir verpflichten uns, innerhalb der nächsten fünf Jahre die Vorgabe von 200.000 Zuschauern zu erreichen. Und die Stadt, indem sie das Theater unterstützt und den Ausgleich der Tariferhöhungen garantiert. Das ist ein Riesenschritt für uns, denn Häuser, die das nicht bekommen, werden durch die Kontinuität der Tariferhöhungen langsam runtergespart. In der Gemeinderatssitzung, in der das beschlossen wurde, war durch alle Parteien und Gruppen hinweg eine große Solidarität mit dem Theater zu spüren. Es war ja eine einstimmige Entscheidung und das hat uns gutgetan.

cultur.zeit: Welche Stücke der neuen Spielzeit würden Sie den Zuschauern noch ans Herz legen? Carp: Als Theaterleitung natürlich am liebsten alle. Interessant wird sicherlich das Nibelungenlied aus Sicht des slowenischen Theaterregisseurs Jernej Lorenci. Er baut aus dem Mythos ein großes Sprach-Klang-Bühnen-Gesamtkunstwerk – das wird bestimmt eine sehr ungewöhnliche Arbeit mit großer Kraft. Dann würde ich die „Bartholomäusnacht“ von Ewelina Marciniak empfehlen, jener Regisseurin aus Polen, die Shakespeares „Sommernachtstraum“ inszeniert hat. Und zum Ende der Spielzeit wird Amir Reza Koohestani „Die Küche“ auf die Bühne bringen. Ein Stück von Arnold Wesker, das in den späten Fünfzigerjahren in einer Großküche in London spielt. Dort arbeiten nur Migranten, darunter hauptsächlich Deutsche, die vor den Nazis geflohen oder nach 1945 nach England zum Arbeiten gegangen sind. Ich bin sehr gespannt, was der iranische Regisseur daraus macht.

cultur.zeit: Würden Sie Ihren Job als hart bezeichnen? Carp: Er ist zeitintensiv. Meist habe ich ja auch kein freies Wochenende, weil da Premieren und Vorstellungen sind. Ich denke, man muss den Beruf mit einer großen Begeisterung machen, sonst macht es keinen Sinn. Man wird da so ein bisschen manisch und freut sich über alle Aufgaben, die da auf einen zukommen. Dann macht es Spaß und man hat vielleicht auch die Chance, gut zu sein. Foto: © Birgit Hupfeld

cultur.zeit: Und was erwartet uns beim Musiktheater? Carp: Zum einen „Hulda“, eine große Oper von César Franck. Sehr politisch und aktuell inszeniert. Das wird sehr aufwendig, großes Kino, würde ich sagen. Spannend wird es auch, wenn die polnische Bühnenkünstlerin Katarzyna Borkowska sich mit „Don Giovanni“ auseinandersetzt, weil sie eine sehr starke Bildsprache hat. cultur.zeit: Wie haben sich die Zuschauerzahlen entwickelt, seit Sie hier sind? Carp: Noch liegen uns keine endgültigen Zahlen vor, aber unsere erste Spielzeit war ungefähr so wie die letzte von Barbara Mundel – da waren es 176.000 Besucher. Allerdings haben wir einen Monat später angefangen, hatten also weniger Spielzeit. Bei den Abos hatten wir eine Steigerung von etwa fünf Prozent. cultur.zeit: Sie haben mit der Stadt eine Zielvereinbarung geschlossen, die besagt: In den nächsten 15 Jahren investiert die Stadt 25,5 Millionen Euro ins Stadttheater. Wofür brauchen Sie das Geld?

Wieder im Programm: Shakespeares „Sommernachtstraum“

cultur.zeit: Gehen Sie selbst gerne ins Theater, etwa in anderen Städten? Carp: Ja, ich schaue mir gerne andere Stücke an. Und ich betrete diese Gebäude einfach gerne. Manchmal zweifle ich vorher und frage mich: „Will ich mir das wirklich anschauen?“ Aber sowie ich ins Foyer komme, habe ich schon gute Laune. Ich bin, glaube ich, ein super Zuschauer. Ich mag diese Stimmung, wenn alle gemeinsam etwas erwarten und anschauen und danach vielleicht darüber reden. Diese leichte, kommunikative Aufgeregtheit, die finde ich toll. Oktober 2018 chilli Cultur.zeit 55


Musik

Aus dem All Artpop-Trio Mockemalör legt „Science-Fiction“ vor

W von Till Neumann

Hysterie, Glück, Konsumkritik: Das neue Album von Mockemalör ist eine emotionale Achterbahnfahrt voll Dadaismus und Poesie. Fotos: © Marcus Engler

ir sind aus dem All, sind wir“, singt Magdalena Ganter im Intro auf ihrer neuen Scheibe. Mit ihren Bandkollegen Simon Steger und Martin Bach hat die ehemalige Freiburgerin die dritte Mockemalör-Platte am Start. Die klingt nicht futuristisch, heißt aber „Science-Fiction“. Von welchem Planeten die drei Musiker kommen? „Von unserem eigenen, wir bedienen uns unserer Fantasie“, sagt die Sängerin. Die Platte der drei Wahl-Berliner mischt Chanson, Jazz, Elektro und Pop. Fernab vom Mainstream verschmelzen die Einzelteile zu einer eigenartigen, aber fesselnden Einheit. Erwartbares sucht man vergeblich, wird dafür aber immer wieder überrascht: Mal spaziert der Beat genüsslich dahin, Ganters hohe Stimme schmiegt sich um die Basslinien. Dann schreit die Sängerin „Science-Fiction“ in den Raum, während die Drums das Raumschiff nach vorne schieben. Im nächsten Track wird zu einem lässigen Jazzbeat eine kleine beschwingte Melodie gepfiffen.

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Der Rote Faden sind die Texte. Reinhören muss man sich da. Und zuhören. Die Kunst des Unvollendeten – so könnte man ihre Art zu schreiben nennen. Immer wieder werden Gedanken ausgebreitet, aber nicht zu Ende geführt, Wörter elegant beiseitegeschoben oder in Endlosschleife wiederholt.

Ungefilterte Gefühle im feuchten Dreck Was daran Science-Fiction ist? Da muss die Exil-Freiburgerin überlegen. „Die Platte hat etwas Transzendentales, etwas Mystisches“, sagt die 32-Jährige beim chilli-­ Telefoninterview. Wer zwischen den Zeilen lese, könne tief blicken. Dabei ist der Titeltrack entstanden, als alles schon fertig war, verrät sie. „Wir wollten es ausreizen“, sagt Ganter. Mit einer kleinen Synthie-Melodie startet nun das Album. Und den Worten: „Wir stellen auf null und schauen was passiert, wenn wir alle Filter ausschalten.“


artpop Zu entdecken gibt’s ungefilterte Emotionen in Hülle und Fülle. „Traum“ ist ein zarter Appell für die Liebe. Im feuchten Dreck sitzt sie da, heult die Tränen weg, trotzt sich selbst und träumt von Freiheit. Nur um am nächsten Tag wieder fröhlich zu versagen. „Elefanten“ klingt nach Raumschiff, elek­ tronisch-verzerrt und endlos weit – mit einer zerbrechlichen Stimme und kreischender E-Gitarre. „Nullpunkt“ bietet im Duett mit Gastsängerin „Cäthe“ ein gesellschaftskritisches Statement. „Wir brauchen mehr – wir brauchen auch weniger“, singen die beiden. Es geht um Sinnlichkeit, Verständlichkeit oder Zärtlichkeit – und um Konsum. „Das sind alles ganz persönliche Erfahrungen“, erzählt die Frontfrau. Sie schreibe über die Welt und das, was sie mit uns macht. „Wir brauchen auch weniger“, sei durchaus als Konsumkritik zu verstehen. Geschickt verpackt – ohne Fingerzeigementalität. „Was richtig ist und was nicht, muss jeder für sich selbst rauslesen“, betont Ganter.

Erst sang sie Alemannisch, jetzt in China und Georgien In Hinterzarten ist sie groß geworden, seit zwölf Jahren lebt sie in Berlin – und unterrichtet neben der Musik Gesang und Performance. Zwei Jahre hat sie nun mit der Band am Album gearbeitet. „Da stecken gehörig Auseinandersetzung, Schweiß und Tränen drin“, schreibt Ganter in der Presseinfo. Umso schöner sei das Gefühl, das Werk nun mit der Welt zu teilen. Kurz vor dem Release spürt sie vor allem Dankbarkeit. Die Zusammenarbeit mit ihren Kollegen sei zwar manchmal anstrengend, aber immer demokratisch und am Ende des Tages ganz beglückend. Gemeinsam hätten sie nun schon so einiges erlebt und seien gereift. So hat sich die Band, die auf dem Debütalbum „Schwarzer Wald“ im Jahr 2013 noch mit Alemannischen Texten um die Ecke kam, auch international einen Namen gemacht: In Georgien hat das Trio Anfang Oktober mit dem Landesorchester gespielt. Auch beim Nanjing International Jazz Festival in China waren die drei am Start. Ob ihre Message-Musik auch da funktioniert? „Wenn man sich mit Herz und Seele ausdrückt, ist es egal, welche Sprache man spricht – die Quintessenz kommt an“, sagt Ganter. Zu sehen, dass sie selbst weit entfernt von der Heimat Menschen berühren

könne, beschreibt sie als gigantisches Gefühl. „Wir sind sehr speziell, aber ganz frei – nur so macht es Sinn“, ist sie überzeugt. Denn so ströme es aus ihnen heraus. Ihre Stimme ist das Möckemalor-Markenzeichen. Mal butterweich-flüsternd, mal schrill und laut. Sicher nicht jedermanns Sache und manchmal anstrengend. Aber mit einer Bandbreite, um die sie viele beneiden dürften. Zumal die ­Beats Truhen sind voller kleiner funkelnder Schätze: „Jeder Sound wurde mit Liebe zum Detail gebaut und umgesetzt“, unterstreicht Drummer Martin Bach. Nicht immer sei das leichte Kost, lasse aber viel Raum für Fantasie. „Nicht alles wird mit einem Leuchtbanner auf die Stirn des Hörers genagelt“, sagt Bach. Die Vielfalt der Band ist kein Zufall: „Magdalena kommt aus der Chanson-Richtung, Keyboarder und Synth-Nerd Simon Steger eher aus der Klassik, ich eher aus Rock und Punk“, erklärt Bach. Als tiefgründig, dadaistisch und humorvoll beschreibt er das Album. Mit einer Frontfrau, die schon als „moderne Marlene Dietrich“ bezeichnet wurde. Ehre oder Bürde? „Sie ist unglaublich inspirierend“, schwärmt Ganter, die sich freut über den Vergleich. Früher hatte sie mal ein Poster von Dietrich, heute ein Buch. „Sie hat tolle Texte“, schwärmt Ganter. Eine Aussage, die auch zu ihr selbst passt.

Verlosung Mockemalör haben „Science-­ Fiction“ am 12. Oktober digital und auf Vinyl veröffentlicht. Eine Tour mit Station in Freiburg ist für das Frühjahr 2019 geplant. Wir verlosen ein Vinyl-Exemplar des Albums. Wer gewinnen möchte, schickt bis zum 31. Oktober eine Mail mit dem Stichwort „Mockemalör“ an redaktion@chilli-freiburg.de. Gebt bitte eure Adresse und den vollen Namen an.

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e n g a a n r F ... 4

Totengeläut

Blues

Dark Wave

Waitin’ for Sunshine (EP)

Aleppo

Foto: © Stefanie Salzer-Deckert

... Ralf Deckert vom Freiburg Bluesfestival

Crack Cole

„An die Grenze gegangen“

Schwarzwälder Blues

Vertonter Krieg

Das 5. Freiburg Bluesfestival steigt vom 22. bis 27. Oktober. Legenden und Neuentdeckungen stehen beim kleinen Jubiläum auf der Bühne. Festivalsprecher Ralf Deckert (51) erzählt im Interview mit Till Neumann von Anstrengungen, Highlights und unerfüllten Wünschen.

(Till Neumann). Ein Mann, eine Gitarre. Mit einer Mini-EP hat sich der Freiburger Musiker Crack Cole gerade vorgestellt. Drei Tracks unter dem charmanten Begriff „Black Forest Hillbilly Blues“. Als Hillbilly – oft despektierlich gemeint – ist der Mann also ein Landei aus dem Schwarzwald. „Waitin’ for Sunshine“ muss er im heißen Süden der Republik aber eigentlich nicht. „Her Man“ heißt der erste Track. Mit kratziger Stimme singt Cole zum flinken Gitarrengefuddel. Nach Südbaden klingt das nicht, eher nach tiefer US-Prärie und einem Lonesome Rider mit Whiskeyflasche am Lagerfeuer. „I’m not rich and i’m not famous, but there’s more than money, honey“, singt der tätowierte Mann mit Cowboyhut. Im gleichen Tenor geht’s weiter in „Bad Seed“. Einen schwarzen Hund führt er da zum Spaziergang aus. Doch die Sonne mag auch da nicht aufgehen, wenn er von schmerzender Seele singt. Im dritten Anlauf sollen THC-haltige Blüten die Stimmung heben. Der „Mary Jane Blues“ führt ihn zum Dealer an der Straßenecke. Doch die Schönwetterfront ist auch hier nicht am Horizont. Die Stimme hat Potenzial, die Texte klingen authentisch. Das Repertoire dürfte erweitert werden, um nicht immer die gleichen Register zu ziehen. Ehrliche, handgemachte Musik mit Potenzial.

(Till Neumann). Den syrischen Bürgerkrieg in Text und Ton fassen. Das soll diese Platte. Sieben Dark-Wave-Tracks hat die Freiburger Sängerin Nogood Luna mit dem Produzenten Björn Peng produziert. In den Stücken verarbeitet sie Eindrücke ihrer Arbeit mit syrischen Kriegsgeflüchteten. Ihnen hat sie im türkischen Grenzgebiet geholfen. „Haram“ heißt der erste Song. Eine Nachrichtenstimme erzählt von „destroyed hospitals“, im Hintergrund heult der Wind. Monotone Synthies und eine flüsternde Stimme nehmen mit ins Kriegsgebiet. Elektronische Sounds wabern, metallische Klänge erinnern an eine Waffenfabrik. Die Arrangements sind elektronisch, kühl, reduziert. „My body is not my home anymore“, heißt es in „Deprived“. Die Flucht wird verweigert, die Seele geraubt. Nicht immer ist zu verstehen, um was es textlich geht. Dafür zeichnet die Musik starke, düstere Bilder. Ein wenig Hoffnung könnte da doch durchblitzen, um dem Grauen ein paar Lichtstrahlen entgegenzusetzen. Doch die beiden Künstler entscheiden sich für konsequent unterkühlte Atmosphäre. Heilung verspricht das nicht. Dafür kann es das Leid womöglich spürbar machen. Wie in Syrien gilt auch hier: Auswege nicht in Sicht. Live: Am 2. November ist Releaseparty im Slow Club Freiburg

Herr Deckert, das Festival wächst. Bleibt bei der Jubiläumsausgabe Zeit zum Feiern? Ja, schon ein bisschen. Am Ende der Woche sind wir aber alle völlig im Eimer (lacht). Wir sind acht, neun Ehrenamtliche. Auf einer Ebene fordert es, auf der anderen ist es magisch – jeder weiß, was zu tun ist. Ihr habt euch etabliert ... Ja. Wenn wir internationale Künstler buchen, kommen sogar Besucher aus der Schweiz, Liechtenstein oder Luxemburg. Mit Konzertanfragen werden wir förmlich überrannt – ein Luxus. Welche Leckerbissen bietet die 5. Auflage? Eigentlich muss man zu jedem Konzert kommen (lacht). Die Bandbreite reicht von Akustik bis Weltmusik. Brian Auger ist phänomenal. Er ist 79 Jahre alt, ihn noch mal zu kriegen, ist ein Wahnsinnsglück. Mein Geheimtipp ist Ramon Goose am Abschlussabend. Ihr beantragt eine regelmäßige Förderung durch das Rathaus, weil ... Ja, wir sind mit den Ausgaben an die Grenze gegangen. Das Budget (23.000 Euro) ist nicht riesig. Ein paar Wünsche bleiben immer unerfüllt. Wir können sagen, Freiburg auf die deutsche Blues-Landkarte gesetzt zu haben. Wir tun der Stadt gut. Eine gesicherte Förderung wäre toll. 58 chilli Cultur.zeit oktober 2018


Juliacoustic Duo

Verschiedene

Acoustic Pop

Gemischt

SENSE

Freiburg Tapes Vol. 8

Der Sounddreck ... ... zum Horst

Horst ist ein männlicher Vorname, dessen Klang man bei Aussprache als ein kurzes, aber heftiges Übergeben memoriert – Hooaarst.

Sensibles Zusammenspiel

Regionale Küche

(Isabel Barquero). Zwei Freunde aus Freiburg haben sich zusammengetan, um Musik zu machen: Julia Weldemann mit Gitarre und Gesang, Felix Birsner mit dem Schlagzeug. Die facettenreichen Texte und der akustische Sound im Singer-Songwriter-Stil machen die Musik harmonisch und entspannend, manchmal aber auch etwas eintönig. Kürzlich erschien ihr Debütalbum „Sense“, mit dem die beiden deutschlandweit auf Release-Tour waren. Feinfühlig und fast schon verspielt kommen die elf Songs daher. Das Duo liebt es, mit Effekten und Arrangements zu experimentieren, was zwischendurch zu einer neuen, überraschenden Klangästhetik führt – auf die zarte Stimme von Julia gepaart mit der Gitarre folgt am Ende von „Journey“ ein kurzes Schlagzeugsolo von Felix. Vorab hat das Duo bereits drei Lieder veröffentlicht, die auch als Musikvideo aufgenommen wurden: „She said“, „Each other“ und „Little Hearts“. Letzteres hat großes Potenzial – der Song bleibt am längsten im Gedächtnis. Vielleicht auch, weil Julia so emotional davon singt, wie sich zwei Menschen ineinander verlieben. Gitarre, Vocals und Schlagzeug werden zu einem sensiblen Zusammenspiel, sodass die beiden es immer wieder schaffen, den Zuhörer aus dem Alltag zu entführen und ihn auf eine verträumte Reise zu schicken.

(Philip Thomas). „Eat local“, ist oft auf Kreidetafeln der hiesigen Gastronomie zu lesen. „Was gut für den Magen ist, kann für die Ohren nicht schlecht sein“, dachte sich auch der Verein Klimperstube. Das Kulturzentrum hat nun die 8. Ausgabe der Freiburg Tapes herausgebracht. Aus mehr als 70 Einsendungen haben es 15 Tracks auf die Scheibe geschafft. Schwergewichte der Szene wie Fatcat oder Otto Normal sucht man vergeblich. Das Tape duftet trotzdem klar nach Freiburg: Jung, oder zumindest jung geblieben, viel Indie, ein bisschen Weltschmerz, aber auch mit viel Sonne und Optimismus. Den Hauptgang des Sterne-Menüs bilden Gesang und Gitarre: Folk von Catastrophe Waitress und den Rehats, Singer-Songwriter von Juliacoustic Duo und Rock von Mighty and the Jets. Anhänger dieses Genres werden mit gut produzierten und tanzbaren Melodien auf jeden Fall satt. Auch schärfere Noten schmeckt man mit der punkigen Beilage von den Gewohnheitstrinkern heraus. Auf der anderen Seite des musikalischen Spektrums gibt es deutsch-französischen Sprechgesang aus dem Hause Zweierpasch als Salz in der Suppe. Hier und da ein leichter Beigeschmack von Fast-Food, aber insgesamt ist auch die achte Auflage der Tapes ein gelungenes Gericht. Nicht nur für Freiburger Feinschmecker.

Ein Horst sagt so Dinge wie „Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden. Das liegt weit über dem, was bisher üblich war.“ Oder: „Die Migration ist die Mutter aller Probleme.“ Der Vater ist aber selbstredend immer ein oder auch der Horst himself, also er selbst. Es gibt neben dem Horst auch noch den Vollhorst, also wiederum auch der Horst selbst in der Vollversion. Den Adler Horst kennt man aus der Ornithologie respektive dem Bundestag, in Mönchengladbach gab es einige Zeit sogar ein Musikfestival namens Horst – wider Erwarten sogar mit ganz guter Musik. Ein Essener Stadtteil heißt ebenfalls Horst. Wer da wohnt? Vermutlich die Horsts oder gar Vollhorsts dieser Republik. Das Horst (-Wessel) Lied sucht man glücklicherweise in den Charts vergeblich, wir tun unser Möglichstes, damit dies auch so bleibt. Aus der Geologie, um den Bogen vollständig zu überspannen, kennt man eine Verwerfungsstruktur namens Horst, aber verwerfen Sie diese Information getrost wieder. Horst ist ein Vorname wie fast jeder andere auch, der dazu verwendete Nachname ist der Ton, der die Musik im Zweifelsfall schlecht macht. Für alle Halbhorsts mit Grüßen von der Freiburger Geschmackspolizei, Polizeiobermeister R. D. Welteroth


kino

Der Trafikant und die Nazis Bei der Verfilmung seines Romans spielt Robert Seethaler selbst eine kleine Rolle von Erika Weisser

Der Trafikant

Fotos: © Tobis Film Petro Domenigg

Österreich/Deutschland 2018 Regie: Nikolaus Leytner Mit: Simon Morzé, Bruno Ganz, Johannes Krisch, Emma Drogunova u.a. Verleih: Tobis Laufzeit: 113 Minuten Start: 1. November 2018

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D

ie Geschichte der erstaunlichen Freundschaft zwischen einem alten und einem jungen Mann. Und der großen Liebe des jungen Mannes zur falschen Frau. Und eines solidarischen, aber unanpassbaren Freigeists. Und einer fatalen Zeitgeschichte, die ebenso schleichend wie unerbittlich in die persönlichen Lebenswege eingreift, ihnen eine andere Richtung gibt – oder gar keine mehr. Alle diese Geschichten haben miteinander zu tun. Und alle miteinander machen Robert Seethalers Roman „Der Trafikant“ zu einer ganz besonderen Geschichte. Die nun bald zu sehen ist: Im November kommt Nikolaus Leytners sehr geglückte Verfilmung in die hiesigen Kinos. Der junge Mann ist 17, heißt Franz Huchel, ist Lehrling und eben erst nach Wien gekommen. Der alte Mann ist 82, heißt Sigmund Freud, ist Psychoanalytiker und wohnt schon lange dort. Sie begegnen sich im Zeitungs- und Tabak­ laden von Otto Trsnjek, wo der Franz seine Trafikanten-Lehre absolviert und wo der „Deppendoktor“ regelmäßig ein umfangreiches Quantum an Zigarren einkauft. Der starke Raucher gehört zu Trsnjeks Stammkunden, ebenso der Rote Egon, der sich hier täglich mit sozialistischen Zeitungen eindeckt. Der Trafikant kennt die Eigentümlichkeiten seiner Klientel, weiß um ihre kleinen Geheimnisse, die er aufmerksam und diskret zu bedienen versteht. Nur Nazis bedient er nicht, hat ihre Zeitungen nicht in seiner Trafik. Was sein stets lauernder Nachbar, der Judenhasser und Fleischhauer, mit vorausschauender Schadenfreude zur Kenntnis nimmt.

Franz ist gelehrig. Außer dem Zeitungslesen und der Fähigkeit, dadurch die politische Entwicklung um sich herum zu analysieren, bringt der Trsnjek ihm auch bei, die hinter der äußeren Fassade verborgenen Wünsche und Nöte eines Kunden zu entdecken; dank seiner schnellen Auffassungs- und genauen Beobachtungsgabe verfügt er rasch über eine gute empathische Menschenkenntnis. Das bringt ihn ein gutes Stück näher zu dem studierten Analytiker, mit dem ihn denn auch bald eine Freundschaft verbindet. Bei einer Person versagt Franz’ Menschenkenntnis freilich. Und in dieser Angelegenheit kann ihm nicht einmal sein väterlicher Freund Freud helfen: Bei seiner blinden Verliebtheit in die leichtlebige Anezka, die ihn ordentlich an der Nase herumführt. Und die sich, als die Nazis auch in Österreich die Macht übernehmen, längst zum richtigen Mann ins Bett gelegt hat und auf der sicheren Seite ist. Trsnjek, Eugen, Franz und Freud sind es nicht. Sie gehen den Weg so vieler anderer Andersdenkender, wobei Freud es sogar noch ins Exil schafft. Ein schöner, ein trauriger Film, glänzend besetzt und gespielt. Selbst in der kleinen Rolle von Robert Seethaler.


KINO

Frankreich 2017 Regie: Agnès Jaoui Mit: Agnès Jaoui, Jean-Pierre Bacri, Léa Drucker Verleih: Tiberius Laufzeit: 98 Minuten Start: 18. Oktober 2018

Ex Libris

Foto: © NFP

Foto: © Tiberius

The Guilty

Foto: © KOOL Film

Champagner und Macarons

Dänemark 2018 Regie: Gustav Möller Mit: Jakob Cedergren Verleih: NFP Laufzeit: 85 Minuten Start: 18. Oktober 2018

USA 2017 Regie: Frederick Wiseman Dokumentarfilm Verleih: KOOL Film Freiburg Laufzeit: 197 Minuten Start: 24. Oktober 2018

Jahrmarkt der Eitelkeiten

Todesangst in der Stimme

Ein Refugium der Intelligenz

(ewei). Nathalie, eine vielbeschäftigte TV-Produzentin, hat nicht weit von Paris ein Landhaus gekauft, in dessen Garten sie die Einweihungsparty feiert – mit viel Pomp und handverlesenen Gästen, die sich unübertrefflich wichtig fühlen: Illustre Menschen aus TV, Film, Politik und der besseren Gesellschaft geben sich hier ein gleichermaßen oberflächliches wie exaltiertes Small-Talk-Stelldichein. Dieser Reigen des Sehens und Gesehenwerdens wird lediglich von einem ganz normalen Bauern aus der Nachbarschaft gestört, der sich wiederholt über die nächtliche Ruhestörung beklagt. Vergeblich: Die Live- und Konservenmusik, die die Feierlaune der Stars und Sternchen befeuert, schallt weiterhin in unveränderter Lautstärke durch den Garten. Auch der übliche Austausch von Beziehungstratsch und -knatsch sowie sonstiger Nichtigkeiten geht ungebremst weiter. Bis der erzürnte Nachbar dem Jahrmarkt der Eitelkeiten per Jagdflinte ein Ende setzt – mit einem gezielten Schuss auf den Verstärker.

(ewei). In der Notrufzentrale der dänischen Polizei geht ein Anruf ein, der bei dem gerade diensthabenden Polizisten Asger sämtliche Alarminstinkte weckt: Zu hören ist die zitternde Stimme einer Frau, die stammelt, dass sie gerade mit Papa im Auto sitzt und mit ihm wegfahren will. Es hört sich an, als würde diese Iben mit ihrer Tochter sprechen; an der Todesangst in ihrer Stimme erkennt Asger jedoch, dass sie in höchster Gefahr ist. Dass ihr ExMann auf keinen Fall merken darf, dass sie den Notruf gewählt hat und dieses Telefonat nur vortäuscht. Er geht auf ihr verzweifeltes Spiel ein und kann ihr wertvolle Hinweise auf das Auto und den Wohnort des Entführers entlocken, ohne dass dieser Verdacht schöpft. Umgehend informiert er die Einsatzleitung – und seinen ehemaligen Partner, den er angesichts der Dringlichkeit von Ibens Rettung zu einer nicht ganz legalen Aktion auffordert. Spannender, dichter Psycho-Thriller mit einem einzigen, großartigen Protagonisten am Telefon.

(ewei). Die Public Library von New York ist eine der wichtigsten kulturellen Institutionen New Yorks, nicht nur wegen des Umfangs ihrer Archive, Büchersammlungen und Sammlungen zu Film, Theater, Tanz und Kunst. Der Hauptsitz und die Zweigstellen sind über die herkömmliche Bibliotheksarbeit hinaus zu Gemeinde- und Bildungszentren geworden. Hier gibt es Vorträge und Kurse aller Art: Business, Programmieren, Sprachen, Nachmittagsschulangebote und Erwachsenenbildung. Ob als Bühne für Slam-Poeten oder Zuflucht für Obdachlose – die Bibliothek ist eine der demokratischsten Institutionen. Alle sind willkommen – und Menschen aller Hautfarben und gesellschaftlichen Klassen nehmen aktiv am Leben der Bibliothek teil. Was Frederick Wiseman, der Meister des beobachtenden Dokumentarfilms, hier über die Public Library von New York sagt, hat er auch gefilmt. Und der Freiburger Kool Filmverleih bringt die dreistündige Dokumentation über dieses „Refugium der Intelligenz“ in deutsche Kinos.


kino

(ewei). Vor einem weiten Himmel erscheinen die wie auf einer Kette aufgereihten Berge des Schwarzwalds. Davor, in der Ebene am Rand der Stadt, die sich vor dem Schwarzwaldpanorama erhebt, breiten sich Wiesen, Wald und Ackerflächen aus. Ein Traktor durchquert die Landschaft, Störche suchen in den Senken nach Fressbarem. Idylle. Idylle? Mitnichten. Die im ersten Filmbild festgehaltene Niederung heißt Dietenbach – und auf dieser 169 Hek­ tar großen Fläche im Westen Freiburgs soll größtenteils Acker- in Bauland umgewandelt werden. Denn dort soll ein neuer Stadtteil entstehen, mit 6500 Wohnungen für 15.000 Menschen, mit möglichst viel bezahlbarem Wohnraum, mit Tram, Schulen und 19 Kitas. Es gibt indes Leute, die von der Planung nichts halten – und auch dem Versprechen mit dem günstigen Wohnraum nicht recht glauben. Die lässt der Freiburger Filmemacher Bodo Kaiser nun in seinem neuen Film zu Wort kommen: Die Landwirte, die schon lange gegen die großflächige Bebauung von fruchtbarem Ackerboden protestieren – und die Umwelt- und Naturschutzvereinigungen, die sie dabei unterstützen. Der engagierte und polarisierende Film über den Konflikt zwischen Wohnungsbedarf und Landschaftsversiegelung stößt auf großes Interesse: Alle vier September-Vorführungen im Kommunalen Kino waren restlos ausverkauft. Zu sehen ist er noch am Mittwoch, 17.10., 20 Uhr im Gewerkschaftshaus, und am Samstag, 20.10. um 10.30 Uhr beim Samstags-Forum in der Uni: KG I, HS 1098. Abseits von Green City – Die Bauern vom Dietenbach und das Wohnen / Dokumentarfilm 2018, Regie: Bodo Kaiser & Georg Löser DVD-Laufzeit: 45 Minuten, Preis: 20 Euro

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Deutschland 2018 Regie: Thomas Tielsch Dokumentarfilm Verleih: Filmtank Audience Laufzeit: 90 Minuten Start: 1. November 2018

Foto: © Weltkino

Mit dem Bulldog zum Protest: Dietenbacher Land­wirte Foto: © Karl Schwörer wollen ihre Felder behalten.

Wohnen oder Wiesen

Leto

Foto: © Filmtank Audience

voll von der Rolle

An den Rändern der Welt

Russland 2018 Regie: Kirill Serebrennikov Mit: Teo Yoo, Irina Starshenbaum u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 126 Minuten Start: 8. November 2018

Fortschreitende Zerstörung

Porträt eines Lebensgefühls

(ewei). Wie schafft man es, Menschen, die unter Extrembedingungen leben, auf würdevolle Art zu porträtieren? Der abenteuerlustige Naturfotograf Markus Mauthe schafft es – mit Zuneigung und Respekt: Sein Blick auf die Menschen, die er in ihrer alltäglichen Umgebung aufsucht, um Augenblicke ihrer Leben mit seiner Kamera festzuhalten, ist weder mitleidig noch folkloristisch, weder idealisierend noch herablassend. Sondern unverstellt und einfühlend. Die Menschen, die er mit Thomas Tielschs Dokumentarfilmteam in Afrika, Asien, Südamerika und Ozeanien besucht hat und deren Anliegen er nun in unsere Kinos bringt, spüren diesen Respekt, diese Sympathie; bereitwillig gewähren sie den Filmern – und damit uns – Einblicke in ihre Kulturen, ihre Traditionen, ihre Gemeinwesen. Die es – bei der fortschreitenden Zerstörung ihre natürlichen Lebensräume, vielleicht bald nicht mehr gibt. Premiere und Filmgespräch mit ­Regisseur Thomas Tielsch: Samstag, 27.10., 18.30 Uhr, Friedrichsbau.

(ewei). Leto ist das russische Wort für Sommer. Und es ist ein Sommer zu Beginn der 1980er-Jahre. In Leningrad machen Alben von Lou Reed und David Bowie heimlich die Runde, die Underground-Rockszene brodelt. Mike und seine Frau Natascha lernen den charismatischen Musiker Viktor Zoi kennen; ihre unbändige Leidenschaft für die Musik verbindet sie bald zu einer eigenwilligen Dreieckskonstellation. Sie werden Teil einer neuen Musikbewegung, verändern trotz staatlich kontrollierter Konzerte die Rock’n’Roll-Szene der Sowjetunion. Nach der wahren Geschichte um die legendäre russische Rockband Kino fängt Leto das Lebensgefühl einer ganzen Generation kurz vor der Perestroika ein. Mit verspielten Bilderwelten und dem pulsierende Soundtrack von Talking Heads, Iggy Pop und Blondie gelingt Kirill Serebrennikov ein mitreißendes und leichtfüßiges Zeitbild einer Jugend zwischen Rebellion und zensiertem Leben. Eine kluge Hymne auf die ungestüme Kraft von Musik, Liebe und Freundschaft.


DVD 3 Tage in Quiberon

Vor uns das Meer USA 2018 Regie: James Marsh Mit: Rachel Weisz, Colin Firth u.a. Studio: Arthaus Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Deutschland 2018 Regie: Emily Atef Mit: Marie Bäumer, Robert Gwisdek u.a. Vertrieb: EuroVideo Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Der Hauptmann Deutschland 2017 Regie: Robert Schwendtke Mit: Max Hubacher, Frederick Lau u.a. Studio: Universum Laufzeit: 114 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Wider besseres Wissen

Ein Hals-über-Kopf-Rennen

Sadistischer Hochstapler

(ewei). Es sind nicht Romy Schneiders letzte Tage, könnten es aber sein: Die von Leben und Krankheit gezeichnete Schauspielerin sucht vergeblich Heilung in einem Kurhotel an der bretonische Küste. Und obwohl sie es besser wissen müsste, gewährt sie einem Stern-Reporter ein Exklusiv-­ Interview. Bald wird daraus eine Art Katz-und-Maus-Spiel, bei dem er die angegriffene Frau eiskalt manipuliert. Ein intensiver Film mit einer glänzend spielenden Marie Bäumer. Deutscher Filmpreis 2018.

(ewei). Mit seinem selbst entworfenen und noch unfertigen Boot nimmt der Amateursegler Donald Crowhurst am Sunday Times Golden Globe Race teil, bei dem es gilt, allein die Welt zu umsegeln. In der Hoffnung, der Schnellste zu sein und mit dem Preisgeld seine Firma zu retten und dadurch seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen, lässt er seine Frau Clare und die gemeinsamen Kinder zurück und begibt sich Hals über Kopf in ein Abenteuer, das Geschichte schreiben wird.

(ewei). Willi Herold ist Wehrmachtsgefreiter und gerade 19 Jahre alt, als er wenige Tage vor Kriegsende in eine zufällig gefundene Hauptmannsuniform schlüpft, zusehends dem Rausch der Macht verfällt und fortan mit einer Truppe von Desperados marodierend durch das Emsland zieht, wo er schließlich in einem Gefangenenlager ein Blutbad anrichtet. Ein beunruhigender Film über die Wirkung der Herrenmenschenideologie – wenn sie durch einmal erlangte Macht in die Untat umgesetzt werden kann.

Hot Dog

Eldorado

Djam Deutschland 2017 Regie: Torsten Künstler Mit: Til Schweiger, Matthias Schweig­ höfer u.a. Studio: Warner Home Video Laufzeit: 101 Minuten Preis: ca. 11 Euro

Frankreich/ Griechenland 2017 Regie: Tony Gatlif Mit: Daphné Patakia, Simon Abkarian u.a. Studio: Alive Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Schweiz 2017 Regie: Markus Imhoof Dokumentarfilm Studio: TCF Home Entertainment Laufzeit: 92 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Schneise der Verwüstung

Die Freude am Teilen

Menschen in Todesnot

(ewei). Luke ist ein knallharter und hitzköpfiger GSG-10-Ermittler, Theo ein schüchterner Schreibtisch-Cop und Paragrafenreiter. Doch die beiden ungleichen Männer lernen zusammen­zuarbeiten, um die hübsche Präsidententochter Mascha aus den Händen ihrer Entführer zu befreien. Dabei können sie mit der Hilfe der smarten Computerexpertin Nicki rechnen. Der Coup gelingt; ohne Rücksicht auf Verluste zerschlagen sie ein Netz aus Intrigen – und hinterlassen eine Schneise der Verwüstung.

(ewei). Die junge Griechin Djam wird von ihrem Onkel, einem ehemaligen Seemann, nach Istanbul geschickt, um ein rares Ersatzteil für sein Boot zu besorgen. Dort trifft sie die 19-jährige Französin Avril, die als Freiwillige in die Türkei kam, um dort in der Flüchtlingshilfe zu arbeiten. Die freche, freiheitsliebende und großherzige Djam nimmt Avril unter ihre Fittiche und teilt mit ihr die Freude am Teilen. Ein Film voller Hoffnung, wundervoller Begegnungen und großartiger Musik.

(ewei). „Das Einzige, was uns am Ende bleibt, sind Erinnerungen, die auf Liebe basieren.“ Sagt Markus Imhoof zu Beginn seiner Dokumentation, die drastisch vor Augen führt, dass die Rettung von Menschen in Not eine humane Selbstverständlichkeit ist. Ohne Wenn und Aber. Der gleichermaßen persönliche und politische Film über die Bergung schiffbrüchiger Flüchtlinge auf dem Mittelmeer ist ein Appell an die Menschenliebe – in Zeiten, da private Seenotretter kriminalisiert werden. Oktober 2018 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Die Literaturbegeisterte

D

von Erika Weisser

Aus dem Georgischen von Katja Wolters:

Luka Bakanidze Das dritte Ufer Verlag: Klak Verlag 2018 282 Seiten, Broschur Preis: 16,90 Euro

Aleko Shugladze Versteckspiel Verlag: Klak Verlag 2018 210 Seiten, Broschur Preis: 16,90 Euro

Nato Ingorokva Zwischenstation (Lyrik & Zeichnungen) Verlag: Corvinus Presse 2018 76 Seiten, gebunden Preis: ca 20 Euro

er Ehrengast der Frankfurter Buchmesse ist in diesem Jahr Georgien. Damit hat das kleine Land zwischen Kaukasus und Schwarzem Meer die Gelegenheit, seine rege literarische Produktion auf der größten Buchmesse der Welt zu präsentieren. Mehr als 60 Autoren sind angereist – mit etwa 80 ins Deutsche übertragenen belletristischen Neuerscheinungen der Jahre 2017 und 2018 im Gepäck. Drei davon hat die Georgierin Katja Wolters übersetzt, die seit 13 Jahren in Freiburg lebt. Ursprünglich wollte die heute 47-Jährige „einen ganz anderen Berufsweg einschlagen“. Nachdem sie ihre Heimat Ende der 1980er-Jahre wegen der politisch ungewissen Zukunft in Richtung Warschau verlassen hatte, studierte sie Rechtswissenschaften sowie Internationale Beziehungen und hatte ein paar Jahre später ihren Abschluss in der Tasche. Und „liebäugelte mit dem Diplomatischen Dienst“. Ihre Sprachkompetenz wäre für eine solche Karriere hilfreich gewesen. In der Familie sprach Wolters schon seit Kindertagen Georgisch, Russisch und Deutsch, in der Schule kamen Englisch und Französisch, in Warschau Polnisch dazu, später auch noch Spanisch. Während des Studiums begann sie, die „immer schon mehrsprachig und viel gelesen“ hatte, mit kleineren Übersetzungen. Und fand bald so viel Gefallen daran, dass sie, selbst als sie schon berufstätig war, „gar nicht mehr aufhören wollte“ mit diesem ganz bewussten Umgang mit Sprache, der nötig ist, um „den Klang, den Rhythmus, die Sensibilität des Originaltextes in der Übersetzung spürbar zu machen.“ Bis heute arbeitet die Literaturbegeisterte für ein in der Hauptstadt Tiflis erscheinendes Literaturmagazin, hat in den vergangenen Jahren für dortige Verlage aber auch große Werke ins Georgische übertragen – etwa Bücher von Gabriel Garcia Márquez und Jorge Luis Borges.

64 chilli Cultur.zeit Oktober 2018

Foto: © Privat

Wahlfreiburgerin Katja Wolters für den georgischen Übersetzerpreis nominiert

Überwindet erfolgreich Sprach-Grenzen: Katja Wolters

An Übersetzungen ins Deutsche wagt Wolters sich erst seit kurzer Zeit. Es ist schließlich nur ihre „Großmuttersprache“, mit der sie lange Jahre gar nicht mehr in Berührung gekommen war. Seit sie aber in Freiburg ist, hat das Deutsche sich allmählich wieder zu ihrer Alltagsund Lesesprache entwickelt. Und als sie sich darin wieder „sicher und zu Hause fühlte“, schickte sie Probeübersetzungen an die einschlägigen Verlage. Bald hatte sie „richtige Aufträge“ – und ging mit einer Begeisterung ans Werk, die bis heute anhält. Manche Übersetzungen gehen ihr leicht von der Hand – wenn ihr das „sprachliche und inhaltliche Niveau vertraut ist“. Wie bei Aleko Shugladzes „Versteckspiel“, einem humorvollen und selbstironischen Roman über verworrene Beziehungsgeflechte. Mit Luka Bakanidzes preisgekröntem Aussteigerroman „Das dritte Ufer“ hingegen sei es „schon ein wenig komplizierter“ gewesen. Denn dieser Autor spielt mit Straßensprache und obszönen Begriffen, deren Bedeutung Wolters „nicht einmal im Georgischen, geschweige denn im Deutschen kannte“. Doch sie hat sich „durchgebissen“. Mit Erfolg: Ihre Übersetzung dieses eigenwilligen Buchs über die Auflösung einer Gesellschaft ist für den georgischen Übersetzerpreis 2019 nominiert.


FRezi

Rocking The Forest – Ein Müützelwald-Roman

Neujahr

von Juli Zeh Verlag: Luchterhand, 2018 192 Seiten, gebunden Preis: 20,00 Euro

von Cornelius Zimmermann Verlag: Fischer Tor, 2018 368 Seiten, Taschenbuch Preis: 9,99 Euro

Ein anderes Leben findest du allemal

von Renate Klöppel Verlag: Wellhöfer, 2018 350 Seiten, Broschur Preis: 14,95 Euro

Abgründe der Freiheit

Rock’n’Roll-Märchen

Ohne Glaube, Liebe, Hoffnung

(dob) Lanzarote: viele Vulkane, viel Wind, viel Sand. Michel Houellebecq, der traurige Franzose, hat diese karge kanarische Insel mal als einen Ort „für Außerirdische“ beschrieben. Wirklich warm ums Herz kann einem auch bei Juli Zehs aktuellem Roman „Neujahr“ nicht werden. Da erscheinen unter der Sonne Schatten der Vergangenheit. Es ist der Neujahrsmorgen. Henning, der Familienvater, bei dem es eigentlich so halbwegs läuft, ist mit dem Fahrrad unterwegs in die Berge – und denkt nach über das, was war, was ist, vielleicht noch kommen wird. Eine Mittelschichtsfamilie, die üblichen Problemchen. Aber auch regelmäßige Panikattacken. Henning ist erschöpft, landet in einem Haus oberhalb eines Bergdorfs, wird von einer Frau empfangen – mit einfühlenden Worten. Dann die Déjà-vus. War er nicht schon einmal hier, als kleiner Bub mit seiner Hippie-Mutter? Und der Gärtner, den er mit ihr im Bett erwischte? Und wie war das mit seiner kleinen Schwester Luna, um die er sich kümmern musste, als die Geschwister auf einmal allein in diesem Haus waren? Verlassen von den Eltern? Dieses Trauma aus der Kindheit begleitet die beiden fortan, gesprochen wird darüber jedoch nicht. Zeh erzählt von dem Sich-Stellen. Ein schnörkelloser Stil, etwas Küchenpsychologie, Reflexionen über das Zusammenleben, ein bisschen Thriller obendrauf. Doch leider auch eine ziemlich erwartbare Gegenwartsanalyse.

(mak). Zehn Tage vor dem 237. Rocking The Forest Band Contest stehen die legendären Müützel Monotones vor dem Aus: Iggy, der Wolfmorf, ist von seiner eigenen Band zum Teufel gejagt worden. Ein doppelter Verrat, da Hirschkäfer Bapf, der Wilde Weberknecht Johnny-Bo und die Mondwespe Sichssss-P schon heimlich die Freaky Coconuts gegründet haben. Jetzt kann nur noch Produzent Blubb die Pfütze helfen, der irgendwo am Ufer des Wogenden Pilzmeeres haust. Was Iggy auf seiner Odyssee quer durch den Müützelwald erlebt, ist ein durchgeknalltes und fabulierlustiges Roadmovie mit frechen Glockenbolden, musizierenden Quacksilberquallen, Eumelschnecken, Kleisterlingen, Muchtenknilchen und Cemeisen, von den fiesen, doofen Libellenpoppern ganz abgesehen. Zu allem Überfluss verknallt sich Iggy noch unsterblich in Leadsängerin Lila, wenig später wird Blubb entführt … „Ein Rock’n’Roll-Märchen“ nennt der 1978 in Waldkirch geborene Cornelius Zimmermann sein Romandebüt und quatscht als Autor immer wieder launig dazwischen. Geschrieben hat er eine freche Fantasy- und Musikszenen-Parodie um einen raubeinigen Metal-Helden samt Suff und wilden Sessions, deren Plot zwar etwas absehbar ist, dank sprachlicher Rotzigkeit und überbordender Detaillust aber bestens unterhält.

(ewei). Lisa lebt in einem kleinen Haus am Waldrand, das zu einem stattlichen Schwarzwaldhof gehört. Bei einer ihrer ziellosen Reisen war sie zufällig in einer Dorfwirtschaft gelandet, mit dem Besitzer von Hof und Häusle ins Gespräch und später in eine unverbindliche Beziehung geraten. Zum ersten Mal in ihrem Leben führt die Frührentnerin nun ein selbstbestimmtes Dasein, setzt sich mit der emotionalen Einsamkeit auseinander, in der sie immer lebte. Nach dieser Erfahrung fühlt sich Lisa imstande, ihre verdrängte Vergangenheit und damit die Ursachen für ihre Ziel- und Beziehungsunfähigkeit zu ergründen. Sie reist zu den Orten ihrer bedrückenden Kindheit, in der statt Glaube, Liebe und Hoffnung nur Lüge, Demütigung und Angst herrschten. Und der vertuschte Alkoholismus der Mutter. Und das Schweigen über den plötzlich entschwundenen älteren Bruder Die Freiburger Autorin Renate Klöppel nimmt ihre Leser mit auf eine umsichtig recherchierte Zeitreise in die beklemmenden gesellschaftlichen Verhältnisse der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit. Und bringt ihnen diese so authentisch nahe, dass sie sich bald als Teil der Geschichte fühlen Lesung bei der 30-Jahr-Feier des Literaturforums Südwest: Sonntag, 21.10., 19.30 Uhr im Literaturhaus. Oktober 2018 chilli Cultur.zeit 65


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