HEFT NR. 6/20 10. JAHRGANG
Ab 22.10. im Kino!
STIMME DES REGENWALDES DIE
Kunst
Theater
Musik
DIE VULVA AUS DEM EXIL HOLEN
PAN:OPTIKUM MIT PEOPLE POWER PARTNERSHIP
FREIBURG HAT DEN BLUES
Kultur „Mal so richtig hinschauen“: Das will das Freiburger Kollektiv vulvaversity.
„Die Vulva aus ihrem Exil holen“
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von Liliane Herzberg
al heiliggesprochen, mal als teuflisch ver- echte Überwindung, dorthin zu kommen urteilt, selten sichtbar: Die Vulva spaltet die und sich ablichten zu lassen, erzählt Indra Gemüter. Bis heute hinkt die Aufklärung Küster von vulvaversity. Vor anderthalb Jahren entstand die Idee oft hinterher. Das Freiburger Kollektiv v ulvaversity hat es sich zur Aufgabe ge- des Kollektivs junger Künstlerinnen und macht, das weibliche Geschlechtsteil zu fotografieIm Jahr 2018 wurden in Deutschland ren, um ein unverfälschtes Abbild zu erstellen. Ab dem 8743 Eingriffe an der Vulva durchgeführt 17. Oktober gibt es die Bilder als Abreißkalender zu kaufen. Warum Künstler zwischen 23 und 30 Jahren: eine Intim-OP sinnvoll sein kann, erklä- „Nachdem wir den Film #Female Pleasure im Kino gesehen hatten, haben wir festgeren zwei plastische Chirurgen. stellt, wie wenig präsent die Vulva auch bei Ein Raum voller Menschen, ein kleines uns ist“, so die 30-Jährige. Deshalb entwick Fotozimmer, Kaffee und Kuchen – wenn elten sie in einer Kneipe den Plan, das weibvulvaversity ihre Fotoshootings abhalten, liche Geschlechtsteil raus aus dem oft sexugeht es heimelig zu. Das muss auch so alisierten Kontext und in ein möglichst sein. Denn für einige Menschen ist es eine wertfreies Licht zu rücken. Spaß solle es
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Fotos: © Vulvaversity
Freiburger Kollektiv will mit Vulva-Kalender mehr aufklären
Info Kalenderverkauf: www.vulvaversity.de Und ab 19.Oktober in der Jos Fritz Buchhandlung, Freiburg
Kulturnotizen Deutschrap-Festival für Freiburg
Foto: © Heroes Festival
machen und ohne die Schwere der Wissenschaft oder der Historie sein. „Mal so richtig hinschauen“, lautet ihr Motto. „Wir haben uns vorgestellt, die gesamte Diversität der Vulva zu zeigen, also im Alter, nach geschlechtsangleichenden Operationen, verschiedene Hautpigmentierungen, während der Schwangerschaft und nach der Entbindung“, erklärt Küster. Für 2021 sei eine Auflage mit 750, für 2022 dann mit 2000 Exemplaren geplant, erhältlich unter anderem auf ihrer Homepage. Dafür mussten sie sich 18.000 Euro von einer Privatperson leihen. „Das Geld müssen wir durch den Kalenderverkauf jetzt wieder reinkriegen.“ 27 Euro kostet ein Kalender. Die Bilder, die Menschen mit Vulva als Vergleichswert haben, seien häufig pornografisch konnotiert und oft retuschiert. So sind sie konfrontiert mit einer „Idealvulva“: klein, versteckt, symmetrisch, hautfarben, nicht wellig. „Heterosexuelle Frauen haben oft noch keine andere Vulva gesehen. Selbst in der Sauna sieht man nicht wirklich was, weil Frauen die Beine überkreuzt halten und sich nicht einfach breitbeinig hinsetzen“, so Küster. Während der Shootings erzählten manche Frauen, dass sie dachten, sie wären krank, weil sich ihre Vulva während der Pubertät in Form und Farbe veränderte. Und mit dem Mythos der haarlosen, mädchenhaften Vulva will das Kollektiv nun aufräumen „und die Vulva aus ihrem Exil holen“. Denn um diesem Bild zu entsprechen, legen sich jährlich viele Frauen unters Messer. Laut International Society of Aesthetic Plastic Surgery gab es 2018 allein in Deutschland 8743 Eingriffe an der Vulva, weltweit waren es 132.664 – das sind 1,3 Prozent aller vorgenommenen ästhetisch-plastischen Operationen. „Schönheitsoperationen in diesem Bereich sehe ich deshalb kritisch, weil dort doch niemand weiß, was ‚normal‘ ist“, ärgert sich Küster. Dass es bei Intim-OPs jedoch selten um die ästhetische Korrektur hin zur Traum-Vulva gehe, erklären Marlene Uhl und Tilman Schottler, Freiburger Fachärzte für Plastische und Ästhetische Chirurgie gegenüber dem chilli. „Bei rund 80 Prozent der Eingriffe geht es darum, funktionelle Störungen zu verbessern, die Frauen durch vergrößerte Schamlippen haben. Sie sind in ihrem alltäglichen Leben eingeschränkt“, so Schottler. Denn in der Regel sollte die Anatomie so sein, dass die äußeren die inneren Schamlippen überdecken. Die Grenzen seien hier natürlich fließend und die Variation groß, dennoch „ist es wichtig, dass die breite Masse erfährt, dass der Eingriff schnell und unkompliziert ist. Das sind Frauen, die sich sehr quälen, bis sie den Schritt zu uns gehen“, berichtet Uhl. Und im Verhältnis zu anderen Operationen sei dieser Eingriff zwar ein kleiner Teil, aber im vergangenen Jahr ist er dennoch deutlich gestiegen
Hip-Hop-Fans aufgepasst: Am 23. und 24. April 2021 kommt das „Heroes Festival“ nach Freiburg. Mit an Bord sind große Acts, bisher im Line-up: Erfolgs-Rapper Apache 207, Trendsetter Luciano und Trap-Ikone Trettmann aus Chemnitz. Weitere Musiker folgen in den kommenden Wochen. Das Deutschrap-Event ist der Ableger des gleichnamigen Originals in Geiselwind. Ziel des Veranstalters, die Konstanzer Agentur Kokon, ist die authentische Abbildung und Förderung der Hip-Hop-Kultur mit etablierten Künstlern und Newcomern der Szene.
60 Jahre Reinhold-Schneider-Preis In der Ausstellung „Gestern – Heute – Morgen“ wird seit dem 9. Oktober in den Räumen von Kunst Koch in der Hanferstraße 26 in Freiburg die 60-jährige Geschichte des Reinhold-Schneider-Preises aufgearbeitet. Das Projekt ist Teil des Freiburger Stadtjubiläums und läuft noch bis zum 29. Januar 2021. Ausgestellt sind Werke der Preisträger des offiziellen Kulturpreises der Stadt Freiburg, die Exposition konzentriert sich dabei ausschließlich auf Bildende Kunst. Zur Ausstellung ist ein Katalog erschienen, der ab sofort für 20 Euro online bestellbar ist.
Freiburger Filmemacher gewinnen Förderung Mit rund 4,3 Millionen Euro fördert die Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg (MFG) 25 Projekte aus den Bereichen Drehbuch, Produktionsvorbereitung und Produktion. Die höchsten Fördersummen über je 700.000 Euro greifen die Produktionsfirmen der Spielfilme „Sie glauben an Engel, Herr Drowak?“ von Nicolas Steiner und „Girona“ von Ruben Fleischer sowie der Animationsfilm „Tafiti – Ab durch die Wüste“ von Andrea Block und Christian Haas ab. Insgesamt fördert die MFG sechs Drehbücher, vier Produktionsvorbereitungen und zwölf weitere Produktionen. Zu den Preisträgern zählt auch die Dreamer Joint Venture Filmproduktion GmbH aus Freiburg, deren Projekt „Der Profiler“ mit 63.200 Euro unterstützt wird. Die Mini-Serie begleitet nach den Anschlägen von Halle und Hanau den Profiler Alexander Horn und geht in der Biografie der Täter der Frage nach: Was macht aus jungen Männern mit Bildung und gutem wirtschaftlichen Hintergrund Serienmörder? Die Regie führt Marc Wiese, der auch das Buch geschrieben hat. herz
Kultur
Eindrucksvoll: Mit „Power of Diversity“ brachte das Freiburger Aktionstheater Pan.Optikum ein multinationales Ensemble mit jungen Menschen aus der EU auf die Bühne. Nun steht das nächste große Kooperationsprojekt in den Startlöchern.
Europäische Kultur-Champions Pan.Optikum erhält zum zweiten Mal Millionen-Förderung
E Foto: © Jennifer Rohrbacher
s gibt viele im Schwarzwald – die hidden Champions. Doch nicht nur unbekannte, global agierende Unternehmen verdienen dieses Prädikat. Auch die Kultur treibt hier ungeahnt internationale Blüten: Fürs Projekt „People Power Partnership“ erhält das Aktionstheater Pan.Optikum aus Freiburg rund zwei Millionen Euro EU-Förderung. Die Maximalsumme aus dem Topf. „Dass ein Lead-Partner zwei Mal gefördert wird, gibt es nicht sehr häufig“, verweist Geschäftsführer Matthias Rettner auf das Vorgängerprojekt „Power of Diversity“, das bereits 2014 mit rund einer Million Euro unterstützt wurde. Zudem war es das erste große Kooperationsprojekt unter künstlerischer Leitung aus Baden-Württemberg, das überhaupt den Zuschlag der EACEA, der Education, Audiovisual and Culture Executive Agency der EU-Kommission, bekam. Rückblickend war es eines der fünf erfolgreichsten Projekte dieser Förderphase. Bei „Power People Partnership“ sind nun 14 Partner aus elf europäischen Ländern dabei, darunter Straßen- und Theaterfesti-
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von Arwen Stock vals, Theaterhäuser, freie Gruppen, städtische Bibliotheken und fürs Monitoring auch die PH in Freiburg. Sigrun Fritsch, Regisseurin und künstlerische Leiterin, erklärt den Ablauf: „In der ersten Phase reisen wir zu den Partnern und wählen jeweils acht junge Menschen, also insgesamt 104, aus.“ Durch die Pandemie ist das Projekt nicht nur künstlerisch, sondern auch organisatorisch eine Herkulesaufgabe. Die Auserwählten entwickeln das Stück zunächst vor Ort miteinander. Ab Mai 2021 geht die Arbeit im Austausch mit acht Kollegen eines anderen Partners weiter. Im Sommer 2022 finden die Proben mit jeweils vier Partnergruppen statt, die zusammen für zwei Wochen in die Freiburger Lokhalle eingeladen werden. 2023 und 2024 tourt das Projekt durch die Welt. Doch bis zur Bühnenreife müssen alle Beteiligten von „People Power Partnership“ zunächst ihre Mobilität und Zusammenarbeit unter Beweis stellen. „Das Stück ist so eine Art Entwicklungsprojekt“, beschreibt Fritsch das Konzept, das in einer Mischung aus Performance, Installationen und Hip-Hop münden soll. Außerdem sind bei den Pan.Optikum-Projekten immer auch Ton-, Licht- und Bühnen-
techniker an der künstlerischen Entwicklung beteiligt. Auf Tour gehen dann rund 40 Reisende aus vier Ländern. „People Power Partnership“ wird von allen Partnern als ein Festival-Höhepunkt in ihrer Heimatstadt aufgeführt. Auch das Publikum kann sich mit einer App einstimmen. Die Shows im öffentlichen Raum sollen alle Gesellschaftsschichten erreichen. „Es ist die härteste Form der Kunst, keinen Eintritt zu nehmen“, kennt Fritsch die Regeln der Straße: Man muss die Leute faszinieren, sonst gehen sie. Pan.Optikum kann sich das aufgrund der Planungssicherheit dank der institutionellen Förderung der Stadt Freiburg und des Landes Baden-Württemberg leisten. Diese konnte sie auch beim Antrag für die EU-Gelder einbringen, denn bei einem Zuschlag verdoppelt die Agentur jedem Partner die eingebrachten Mittel. So stehen den Freiburgern und Partnern fürs aktuelle Projekt rund vier Millionen Euro zur Verfügung. Und dass das Aktionstheater faszinierende Arbeit leistet, das haben die Projekte von Fritsch und Rettner schon unzählige Male bewiesen: in Freiburg zuletzt beim Neujahrsempfang genauso wie bei Shows am anderen Ende der Welt.
Kultur
„Auf Sand gebaut“ 900 + 1: Das Freiburger Stadtjubiläum nimmt wieder an Fahrt auf von Liliane Herzberg
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Bis zu 140 weitere Veranstaltungen sind für 2021 angedacht. Die ursprünglich monatlich geplanten Highlights sind in den Mai, Juni und Juli verschoben: „Wenn es die Rahmenbedingungen zulassen, gibt es am Ende noch mal ein dickes Programm“, erzählt der Projektleiter. Eines der größten Highlights ist voraussichtlich die Festwoche vom 8. bis zum 14. Juli. Große Acts wie Barockorchester, Philharmonisches Orchester und SWR SymphonieorchesEtwa 25 Veranstaltungen mit rund ter sind weiterhin an Bord. Die Veranstaltungen werden von 40.000 Besuchenden waren über die Bühne gegangen, ehe im März alles der Stadt mit 1,5 Millionen Euro zum Stillstand kam. „Eine Pandemie finanziell unterstützt. Die Gesamtist vor allem dann schwierig, wenn kosten der Projekte sind jedoch deutman trotzdem etwas organisieren lich höher. „Wir können jede Spende möchte“, erinnert sich Projektleiter gebrauchen“, so der 68-Jährige. DesHolger Thiemann. Denn „momen- halb wolle er noch mal auf die A ktion tan ist alles auf Sand gebaut“, mal 900 x 900 hinweisen. Für jede 900verbessere sich die Situation, mal Euro-Spende legt die Stadt 900 Euro verschlechtere sie sich, und einige drauf. Jede Unterstützung zähle. Projekte können nur in veränderter, Nur 340 Spenden sind bislang einpandemiegerechter Form stattfin- gegangen. „Der Wind weht uns kräftig ins Geden. Davon ließen sich die Organisatoren allerdings nicht kleinkriegen, sicht mit den steigenden Corona-Fäl„wir haben aus dem Lockdown eine len und den Ängsten vieler Veranstalter und Besucher“, ächzt Thiemann. kreative Pause gemacht“. Weil die Projekte bewusst an private Ver107 Veranstaltungen unter anstalter verteilt sind, neuem Motto „gemeinsam.weiter“ ist die Organisation auch nicht immer einSo steht aktuell bis Dezember ein heitlich. „Es gibt oft intern keine klare Programm mit 107 Veranstaltungen Linie, manche sind mutig, andere verunter dem neuen Motto „gemein- unsichert, das ist schon etwas schwiesam.weiter“. Etwa „Öko-logics. Die rig zu organisieren.“ Und bei manchen neuen Sphären der Welt“ – künstle- Veranstaltungen ist klar, dass sie nicht risch-experimentelle Praktiken und stattfinden können – große Chor aktuelle Theorien zum Thema Öko- projekte etwa. Dennoch sind bisher insgesamt nur logie. Oder das Briefprojekt „Alles Liebe, Dein/e…“, mit dem beispiels- 28 Projekte ins Wasser gefallen. „Da weise eine Schulklasse einen Brief ist aber nicht immer nur Corona schreiben kann, der an Menschen in schuld. Jugend musiziert findet zum Beispiel jedes Jahr in einer anderen 100 Jahren adressiert ist. reiburgs 900. Geburtstagfeier hatte gerade erst begonnen, da war sie auch schon wieder vorbei – wie vielerorts wirbelte die Corona- Pandemie auch in der Green-City alles durcheinander. Nach einer „kreativen Pause“ gibt es nun einen neuen Plan und ein neues Motto. Fast alle ursprünglich geplanten 280 Projekte sollen stattfinden.
Foto: © AB
Bringt Ordnung in das Organisationschaos: Projektleiter Holger Thiemann.
Stadt statt, das können wir jetzt nicht einfach aufs nächste Jahr verschieben, weil es da längst für eine andere Stadt geplant ist.“ Trotz allgemeiner Verunsicherung werde das Jubiläum angenommen. Zwar bedeuten die Corona-Auflagen weniger Besuchende auf einmal, aber „im Verhältnis sind die Veranstaltungen sehr gut besucht, die sind alle ausverkauft“, sagt Thiemann. Und manche Angebote fänden auch ein zweites und drittes Mal statt, damit auch wirklich alle Interessierten die Chance haben, daran teilzunehmen. Das, findet Thiemann, sei ganz große klasse.
Info Details zu den Projekten finden sich auf der offiziellen Website des Jubiläums unter www.2020.freiburg.de oktober 2020 chilli Cultur.zeit 53
Kein Leben ohne Kunst OFFENSICHTLICH: RUND 200 KÜNSTLER ÖFFNEN IHRE ATELIERS
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von Arwen Stock
o viele Künstler waren noch nie dabei. Und in diesem Jahr ist es auch Premiere, dass am Samstag nur die städtischen Häuser öffnen und am Sonntag nur die Einzelateliers. Sonst ist das Grundprinzip der „Offensichtlich“-Reihe gleich: An einem Wochenende (17. und 18. Oktober) sind alle Ateliers für Besucher geöffnet. „Normalerweise beteiligen sich zwischen 110 und 120 Künstler, diesmal sind es rund 200“, berichtet der BBK-Vorsitzende und Künstler Michael Ott. Der Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) Südbaden ist es auch, der seit rund zehn Jahren die offenen Ateliers organisiert. Ein Jahr im Voraus werden dafür rund 500 professionelle Künstler in Freiburg und Umgebung angeschrieben. Wer sich meldet, ist dabei. Viele Maler, auch Bildhauer und sogar ein Kunsttheoretiker geben diesmal Einblick in ihre Arbeit. Zum Auftakt gibt es
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am Freitag (16. Oktober, 18 Uhr) ein Eröffnungsfest im Neuen Wiehrebahnhof – wegen Corona vermutlich im ganz kleinen Kreis. Der Freiburger Künstler Dietrich Schön hat den Titelmotiv-Wettbewerb gewonnen, zu dem es rund 30 Einreichungen gab. Freiburgs Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach wird die Laudatio halten und den mit 500 Euro dotierten Preis überreichen. Mal alle Ateliers, dann die im Osten einen Tag, am anderen Tag die im Westen, dann je nach Farbkodierung geöffnet: In den rund 20 Jahren seiner Existenz gab es viele Versuche, das Freiburger Kunst-Event zu strukturieren. Diesmal zeigen nun zuerst die 70 bis 80 Künstler, die in städtischen Häusern arbeiten, ihre Werke und Arbeitsplätze. „Die bewerben dann auch die Kollegen, die am Sonntag ihre Einzelateliers öffnen“, beschreibt Ott das Konzept und verweist darauf, dass sich die Künstler so auch gegenseitig besuchen können.
Fotos: © Atelier Celso Martínez Naves, Barbara Büchel, Katharina Poepping, Dieter Maertens, Dietrich Schoen, STEPHAN LUX
KULTUR
Rund 10.000 Kunst-Interessierte haben in den vergangenen Jahren die Offensichtlich-Reihe jeweils besucht. Ob der BBK auch diesmal ähnlich viele Gäste erwartet? Ott ist es vor allem wichtig, dass sich die vielen Besucher auf dem „Riesen-Raum“ verteilen: „Wir haben kein Interesse daran, dass sich die Veranstaltung zu einem Corona-Hotspot entwickelt.“
Lebendige und vielfältige Szene Einheitliche Regelungen gibt es nicht, jeder Künstler muss die geltenden Vorschriften auf seine Räumlichkeiten anwenden und durchsetzen. Während beispielsweise die Bildhauer im Kunstgehege am Mundenhof großräumig ihre Arbeiten zeigen können, sind im T66 nicht mehr als zwei bis drei Personen pro Raum zugelassen. Es kann zu Wartezeiten kommen – jedoch auch zu ungestörtem Kunstgenuss. „Wir arbeiten daran, dass wir eine Karte auf die Internetseite stellen mit einer Visualisierung der teilnehmenden Ateliers“, berichtet Ott. Wer an Malerei interessiert ist, soll sich dort eine Tour zusammenstellen können. Da die meisten Atelierräume zu klein für viele Besucher
sind, dient das Internet als Ausweichmöglichkeit. Ott selbst wird sich eine Tour überlegen, denn der BBK begleitet die Veranstaltung auf Facebook und Instagram. Außerdem soll die Seite auch nach der Veranstaltung online bleiben, damit Interessierte im Nachgang noch einen individuellen Atelierbesuch mit den Künstlern vereinbaren können. Für alle, die es lieber haptisch mögen, gibt es den druckfrischen Flyer mit allen Ateliers sowie einer Stadt- und Umgebungskarte. Von Umkirch bis Kirchzarten, von Vörstetten bis Wittnau – der Offensichtlich-Radius ist weit gespannt, jedoch manchem nicht weit genug. Ott erklärt die Hintergründe: „Nach Staufen oder in andere Nachbargemeinden expandieren wir nicht, da das zu weit verstreut wäre und unsere Zuschüsse auch für Freiburg gelten.“ Zudem würden andere Städte ihre eigenen offenen Ateliers ausrichten. 14.000 Euro kostet das Kunst-Event unterm Strich – ohne die Aufwendungen, die die Künstler für die Vorbereitungen tätigen. Für die Organisation kommen 3500 Euro vom Kulturamt der Stadt Freiburg, weitere Unterstützung von der Freiburger Sparkasse, vom Regierungspräsidium, dem Kulturwerk, von Sponsoren sowie aus Crowdfunding-Mitteln. Die Gesamtsumme ist laut Ott jedoch „noch nicht ganz zusammen“. Dass auch im Corona-Jahr die Offensichtlich::20 am Wochenende vor den Herbstferien stattfindet, freut den BBKVorsitzenden: „In Freiburg gibt es eine unheimlich lebendige und vielfältige Kunstszene, aber man nimmt die Szene wenig wahr, weil viele Künstler ihr Geld außerhalb verdienen.“ Dieses kreative Potenzial wolle man der Öffentlichkeit zeigen: „Die Ateliers sollen ‚offensichtlich’ werden.“ Freischaffende Künstler haben es in Krisenzeiten besonders schwer. Daher rät Ott den Besuchern, mit den Künstlern ins Gespräch zu kommen und gerne an seinem Lieblingsbild einen roten Punkt zu kleben. „Kunst kostet Geld, ist aber schwierig zu verkaufen“, weiß er aus Erfahrung. Die Klassiker-Fragen an Künstler kennt er: Wie hast du das gemacht? Woher hast du die ganzen Ideen? Kannst du davon überhaupt leben? Die Antwort: „Natürlich nicht, aber ohne kann ich auch nicht leben.
Einblicke in ihre Ateliers bieten dieses Jahr mehr als 200 Künstler. Mit dabei: Celso Martínez Neves (o.l.), Barbara Büchel (o.m.), Katharina Poepping und Dieter Maertens (o.).
Dietrich Schön hat mit dieser Grafik den Titelmotiv-Wettbewerb zur „Offensichtlich::20“ gewonnen.
Auf dem Mundenhof präsentiert auch „Kunstgehegler“ Stephan Lux seine Skulpturen.
INFO www.bbksuedbaden.de/offeneateliers/
OKTOBER 2020 CHILLI CULTUR.ZEIT 55
Musik
„Südwesten wurde entdeckt“ Bei den German Blues Awards gehen drei Auszeichnungen nach Südbaden
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üdbaden hat den Blues. Immerhin räumte die Region bei den German Blues Awards 2020 gleich dreimal ab. Der Freiburger Michael Oertel wurde als bester Gitarrenspieler, das ChaBah in Kandern als beste Location und das Freiburg Blues Festival als bestes Festival ausgezeichnet. Die Preisträger freut’s. Sie wissen: Ihre Musik ist mehr als missmutige Männer.
spielte Oertel als 16-Jähriger mal in einer Metal-Core-Band und hatte seine Punk- Phase, auch damals habe er aber die Blues-Platten seiner Eltern gehört und Songs von ACDC auf der Gitarre gezupft. „Mit dem Instrument kann man viel sagen“, so Oertel. Der Freiburger versteht Blues als Spek trum: „Wenn Hörer nach einem Konzert
von Philip Thomas
Der Preisträger gibt sich Metal-Core und Punk-Phase bescheiden. „Es ist schön, da reingerutscht zu sein“, sagt in der Jugend Michael Oertel. Mit seinem Sieg bei den German Blues Awards 2020 unsere Vielseitigkeit loben, ist das ein als bester Gitarrist habe er wegen der schönes Kompliment.“ Entsprechend vielstarken Konkurrenz nicht gerechnet. fältig sind seine Einflüsse. Diese reichen Die Kategorie war mit Szenegrößen wie vom balladischen Sound Eric Claptons Kai Strauss schließlich hochkarätig be- über den Folk von Bob Dylan bis hin zum setzt. „Vielleicht ist es mein Alter“, über- Rock von Oasis, Led Zeppelin und Pink Floyd. Nicht immer stießen Oertels Ideen legt der 32-Jährige. Dem Blues verbunden sei Oertel schon auf Zuspruch: „Es gibt auch Leute, die saimmer. „Ich bin damit aufgewachsen“, er- gen, das ist gar kein Blues.“ Für den Gitarinnert sich der Musiker, der bereits mit risten kein Beinbruch: „Wer Musik macht, drei Jahren am Keyboard klimperte. Zwar muss lernen, dass es nicht jedem gefällt.“ 56 chilli Cultur.zeit Oktober 2020
Kolumne
So sehen Sieger aus: (v.l.n.r.) Harald Brückel, Bernd Fahle, Hermann Sumser vom Freiburg Blues Festival mit Laudator Ulrich von Kirchbach. Oben: Michael Oertel, Gewinner der Kategorie „Gitarre“.
Fotos: © Peter Bach, Benjamin Berthold
Die Auszeichnung sei deswegen eine schöne Bestätigung: „Wir fühlen uns angekommen.“ Wo seine Musik heute steht? „Eher im Underground“, schätzt Oertel. Viele Leute hätten ein bestimmtes Bild vom Blues: Mancher sei gedanklich schnell bei älteren Herren, die laut klagen und ständig auf der Route 66 unterwegs sind: „Es gibt in dem Bereich einige Vorurteile.“ Ein Klischee stimme allerdings: Blues wird in kleinen Clubs gespielt. „Die Besucher sitzen eng beieinander“, sagt Oertel, der in den Sommermonaten deswegen auf große Biergärten ausgewichen ist und sich nun fragt, was der Corona-Winter bringt. Harald Brückel wurde von den Teilnehmern des Online-Votings bei den German Blues Awards gleich doppelt ausgezeichnet: sowohl als Betreiber des besten Blues Clubs, dem Chanderner Bahnhof oder
ChaBah in Kandern, als auch als 2. Vorsitzender des besten Blues Festivals in Deutschland, dem Freiburger Blues Festival. Letzteres ist mit sechs Jahren noch vergleichsweise jung: „Da war die Nominierung schon ein Erfolg.“ „Dieses Jahr wurde der Südwesten entdeckt“, sagt der 50-Jährige über die drei Auszeichnungen. Laut Brückel liegen die Blues-Hochburgen mit Osnabrück oder Hamburg weit im Norden. Der Süden müsse sich allerdings nicht verstecken. „Hier wird viel gemacht, das hat sich bei der Wahl vielleicht gegenseitig befruchtet“, überlegt er. Der Experte weiß: Schon lange gibt es in und um Freiburg gute Blues-Musiker wie Jan Ullmann oder die Band Boogie Connection. Wie Oertel ist auch Brückel dem Blues seit seiner Kindheit verfallen. Bereits als 15-Jähriger habe er im Denzlinger Musikhaus Blueskonzerte organisiert. „Was einem Spaß macht, das soll man durchziehen“, lacht Brückel, der die Geschicke des Chabah seit mittlerweile 23 Jahren lenkt. Auch für ihn ist Blues mehr als zwölf Takte und drei Akkorde. Es gehe nicht bloß um Pessimismus, sondern oftmals um Liebe, Hoffnung und auch Politik. Er betont: „Blues ist abwechslungsreicher als moderne Popmusik.“
„Beim Blues gibt es einige Vorurteile.“ Vielleicht strömten im vergangenen Jahr auch deswegen rund 3000 Besucher zum Freiburger Blues Festival. Das Rahmenprogramm mit Workshops zum Gitarrenbau oder der Besuch im Diakonischen Werk in Breisach sowie Schulen haben bei der Online-Abstimmung den Ausschlag gegeben, vermutet Brückel. Auch dieses Jahr soll das Festival stattfinden, vier Tage lang, drei davon gestreamt aus der Freiburger Wodan Halle. In Deutschland könnten leider nur wenige Künstler vom Blues leben. Trotzdem ist er sicher: „Unsere Musik stirbt nicht aus.“
... zu Santamaria vs. Santa Maria Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmacklose Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.
Der SC Freiburg macht in der Regel wenig falsch, da gibt es kaum etwas zu beanstanden, auch wenn im Stadion schon die ein oder andere anstößige Nummer zu hören war, aber Schwamm drüber, nobody is perfect. Jetzt hat man sich einen Spieler geholt, der namenstechnisch gleich zu Irritationen geführt hat, heißt er doch genau so wie Roland Kaisers bekanntestes Vergehen, nämlich „Santa Maria“. Man wird sofort wieder an diesen un-seligen Schlager erinnert, hat ihn unweigerlich gleich wieder im Ohr: „Santa Maria, Insel die aus Träumen geboren, ich hab meine Sinne verloren, in dem Fieber, das wie Feuer brennt, Santa Maria, nachts an deinen schneeweißen Stränden, hielt ich ihre Jugend in den Händen, Glück für das man keinen Namen kennt ...“ Wenn der Neue so spielen würde wie Roland Kaiser singt und reimt, ginge es steil bergab mit dem SC, aber nach der ersten Begutachtung seiner Künste am Ball kann Entwarnung gegeben werden. Hoffentlich stehen keine weiteren Neuverpflichtungen mit Namen wie Liebmich einletztesmal oder Siebenfässserwein ins Haus, das wäre dann doch des Unguten zu viel. Deshalb: „Santamaria, ein Spieler wie aus Träumen geboren, ich hab meine Sinne verloren, bei seinen fiebrigen Pässen, die wie Feuer brenn’ ....“ Es grüßt jungfräulich für Ihre Geschmackspolizei Freiburg Ralf Welteroth
Musik
Laptop statt Laute
Rapper Wood$tock veröffentlicht sein erstes Album von Philip Thomas
E Foto: © xolypsilon
r macht Musik für die urbane Großstadt, wohnt aber im beschaulichen Waldkirch. Das hat den 19-jährigen Rapper Wood$tock nicht aufge halten, sein Debüt „Home Town“ zu veröffentlichen. Trotzdem habe es Mut gekostet, in der Provinz Trap-Musik zu produzieren. Denn nicht immer wurde seine Heimatliebe erwidert.
„Im Freundeskreis haben wir viel Hip-Hop gehört“, erinnert sich Alexander Maier an seine Jugend. Schon damals habe er genau wissen wollen, wie seine Lieblingslieder aufgebaut sind und sich für Musikproduktion begeistert. Mit 15 habe er schließlich angefangen, sich durch Youtube-Tutorials zu klicken und eigene Beats zu bauen. „Ich habe mir so alles selbst beigebracht“, erzählt der mittlerweile 19-Jährige, der sich Wood$tock nennt. Der Name solle ihn motivieren und zeigen, was möglich ist. Kein leichter Vergleich: Das größte Musikereignis des 20. Jahrhunderts endete beinahe in einer Katastrophe. Davon ist Maiers Erstlingswerk allerdings weit entfernt: Motivation und Know-how sind seiner Musik schnell anzuhören. Mit der Veröffentlichung auf Spotify und Co. sei für ihn ein 58 chilli Cultur.zeit Oktober 2020
Traum in Erfüllung gegangen: „Ich war wirklich stolz, ein krasser Wow- Effekt.“ Erste Songs seien bereits vergangenes Jahr entstanden, das Debüt hat er schließlich in zwei EPs geteilt. Auf der ersten Hälfte „Town“ wird noch unbeschwert „gebounced“ und verträumt der „Südwesten auf die Karte gebracht“. Zum Track „Claire Laffut“ existiert bereits ein Video. „Mein Freundeskreis hat mir dabei geholfen“, erzählt Maier. Am liebsten würde er alles in Eigenregie machen, „vom Videoschnitt habe ich allerdings keine Ahnung“. Der Clip kommt stil
„Mein Eltern können meine Musik nicht verstehen“ echt in nostalgischer VHS-Optik daher. Für die alten Kassetten könne er sich trotz seines noch jungen Alters begeistern. Auch musikalisch geht der Rapper mit seinem Plattenspieler gerne ein paar Jahrzehnte zurück, hört Jimmy Hendrix, Nirvana, The Cure oder Pink Floyd. Die „Home“-EP versteht Maier entsprechend als A-Seite. Er schlägt dort ruhigere Töne an, singt vom Schönen und den Schattenseiten der Provinz – genreüblich monoton, aber nicht ohne emotionales Auf und Ab. „Diese Songs sind sehr intim und persönlich gewor-
den“, sagt er. Für die Aufnahmen habe er sich in den Keller oder sein Kinderzimmer zurückgezogen. „Ich mochte es gar nicht, wenn dabei andere Leute im Haus waren. Viele Menschen in der Gegend haben kein Verständnis oder Interesse an dieser Musik.“ Auch der Rückhalt in der Familie sei nicht immer so stark, wie der Künstler sich das wünschen würde. „Meine Eltern können meine Musik nicht so recht verstehen und fragen sich natürlich, ob ich davon leben kann“, sagt er. Trotz Dollarzeichen im Namen: Des Geldes wegen mache Wood$tock keine Songs. Trotzdem möchte der Abiturient sein Elternhaus nicht strapazieren: „Ich will natürlich nicht rausgeworfen werden.“ In dem 20.000-Seelen-Ort Waldkirch Metropolen-Musik zu machen, habe viel Mut gekostet. Nach einem Schulwechsel habe er deswegen versucht, Klassenzimmer und Keller strikt zu trennen: „Ich wollte nicht darauf angesprochen werden. Die Zeit war deprimierend.“ Sein alter Freundeskreis sei toleranter: „Vielleicht wollen sie mich nicht verletzten, aber die Rückmeldungen sind positiv.“ Auch außerhalb seiner Blase bekommt er „plötzlich Love“. Der Blondschopf möchte weiterhin Beats produzieren und Musik machen. Eine neue EP ist schon geplant.
Neil Young
Sylvan Esso
Kontra K
Folk / Rock
Pop / Elektro
Rap
The Times
Free Love
Vollmond
Kerniger Protest
Tanzende Töne
Mondfinsternis
(jab). Die neue EP von Neil Young hat es in sich und ist zutiefst politisch. Immerhin ist der gebürtige Kanadier neuerdings amerikanischer Staatsbürger. Wegen seiner Vorliebe für Marihuana ist ihm die Einbürgerung aber erst beim zweiten Anlauf gelungen. Wozu die Mühe, fragen die Fans angesichts der Verhältnisse im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Doch Young hat einen Plan. Auf der neuen Compilation „The Times“ gräbt der 74-Jährige alte Schätze der amerikanischen Folk-Protestmusik aus. Darunter auch eine Coverversion von „The Times They Are A-Changin“, die seinerzeit von Bob Dylan gespielt und als Hymne für den Aufstieg einer neuen Generation gefeiert wurde. Songs wie „Ohio“ oder „Southern Man“ stimmen ähnliche Töne an. Zu kraftvollen Gitarrenriffs und obligatorischer Mundharmonika solidarisiert sich der Altrocker mit der Black Lives Matter-Bewegung, hofft auf Joe Biden als neues Staatsoberhaupt und verurteilt Donald Trump: „He Dont Know Black Lives Matter and We Got to Vote Him out“, heißt es in „Looking for a Leader 2020“. Die sieben Songs wurden in häuslicher Isolation mit einem Ipad aufgenommen. Die Soundqualität lässt daher zu wünschen übrig. Die Songs gehen trotzdem ins Ohr, wo sie noch einige Tage protestieren.
(herz). Auf ihrem dritten Studioalbum „Free Love“ macht das Elektro- Pop-Duo Amelia Meath und Nick Sanborn alias „Sylvan Esso“ gemeinsame Sache. Vorbei ist die Zeit, in der sie den Text und er die musikalische Untermalung beisteuerte. Die Harmonie ist dem frischgebackenen Ehepaar anzumerken. Die neue Scheibe ist so keck wie leichtfüßig, reicht von sanft bis disharmonisch, schlägt aber auch nachdenkliche Töne an. Der erste Track „What if“ punktet mit gebrochenen Takten, sanftem und zugleich metallisch-verzerrtem Gesang, „What if end was begin? Then would men be like mothers?“. Zu „Train“ dürfen alle Hörer die Klamotten von sich reißen, bei „Numb“ ihre bleierne Schwere abschütteln. Im ruhigeren Track „Free“ beobachtet Meath, dass zu lieben oft bedeutet, sich Illusionen des Partners hinzugeben. Um Zuneigung geht es in „Ring“. Im fröhlich trällernden Stück befasst sich das Paar mit ihrer Ehe, „it’s safety and dangerous“. Mit dem finalen Song „Make it easy“ lässt sich das Album zusammenfassen: Tragend und melancholisch, dann plötzlich tanzbar. Die vielgestaltige Musik von Sylvan Esso erfordert Konzentration. Wer die aufbringt, wird mit spannenden Lyrics und mal rhythmischen, mal komplexen Beatspielereien überrascht.
(pt). Kontra K ist zurück. Der erfolgsverwöhnte Rapper wirft mit „Vollmond“ sein nunmehr neuntes Studioalbum auf den Markt. Hart arbeiten, loyal sein, Schmerz aushalten. Das predigt der Berliner seinen Jüngern auch im Corona-Jahr. Die Durchhalteparolen mag so mancher auf der Tretmühle gut gebrauchen, bloß kommen die Texte auch dieses Jahr nicht über den Gehalt von austauschbaren Instagram-Weisheiten hinaus. Der 33-Jährige gibt sich unbeirrt: „Alle quatschen, quatschen, quatschen mir zu viel, aber machen leider nie.“ Auch die Beats sind mit knalligen Synthis und hohen Kicks an vielen Stellen formelhaft und austauschbar, dafür aber absolut massentauglich. Die 20 Texte des Doppelalbums sind entsprechend kinderzimmerfreundlich und kommen ohne Koks und Nutten, dafür aber mit jeder Menge Brüdern daher, Bruder. Auf der Scheibe tummeln sich auch Capital Bra, Ufo361 und AK Ausserkontrolle. Denn umtriebig ist er ja. Und mit schickem Sixpack und Veröffentlichungen am Fließband ist das propagierte Arbeitsethos immerhin authentisch. Das reicht leider nicht: „Zu viele schreiben Hits, aber ohne was zu sagen.“ Trotz Mondlicht schrammt der Rapper an der eigenen Erleuchtung unironisch vorbei und tappt inhaltlich weiter im Dunkeln. Oktober 2020 chilli Cultur.zeit 59
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Aus erster Hand Ein Schelmenstück offenbart Isabelle Hupperts komödiantische Seite
Eine Frau mit berauschenden Talenten Frankreich 2020 Regie: Jean-Paul Salomé Mit: Isabelle Huppert, Hipolyte Girardot, Farida Ouchani, Jade Nadja Nguyen u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 104 Minuten Start: 8. Oktober 2020
Fotos: © Neue Visionen
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von Erika Weisser
atience Portefeux ist pleite. Die Raten für die Steuerschulden, die sie von ihrem längst verstorbenen Ehemann erbte, haben sämtliche Rücklagen verschlungen – und Teile des eher kargen Gehalts, das die alleinerziehende Mutter zweier eigentlich erwachsener Töchter als Arabisch-Dolmetscherin bei der Pariser Kriminalpolizei verdient. Mit der Wohnungsmiete ist sie erheblich im Rückstand, und die horrenden Monatsbeiträge für das exklusive Pflegeheim ihrer Mutter hat sie auch schon länger nicht mehr bezahlt.
Alles läuft nach Plan, der Kurier kommt ohne die teure Ladung zu dem mit zwei Großdealer-Brüdern vereinbarten Treffpunkt. Er wird festgenommen, die Brüder lässt man mangels Beweisen laufen. Patience ist bei dem von ihrem Chef und Liebhaber Philippe geleiteten Einsatz sogar dabei. Und macht sich tags darauf auf die Suche nach dem gewinnbringenden Schatz, der sie von all ihren Geldsorgen befreien würde. Mit der Hilfe eines ausgedienten Polizei-Drogenhunds namens DNA wird sie bald fündig, „beschlagnahmt“ die heiße Ware und bringt sie in ihrem eigenen Keller in Verwahrung.
Mit viel Geschick gelingt es Patience zwar, an ihrer ziemlich zwielichtigen Vermieterin Colette vorbeizukommen, ohne auf die Schulden angesprochen zu werden. Doch bei der Pflegeheimleiterin hat sie weniger Glück: Während eines Besuchs stellt diese sie zur Rede und kündigt an, dass sie die Mutter nicht länger kostenfrei in ihrer Luxus-Residenz dulden wolle. Da ist schnelles Handeln angesagt – und die Gelegenheit dazu bietet sich bald: In derselben Nacht hört sie in der Überwachungszentrale des Drogendezernats ein Gespräch zwischen einem arabischsprachigen Kurier und dessen Auftraggebern ab und erfährt dabei aus erster Hand, dass eine enorme Menge allerbesten Haschischs auf dem Weg nach Paris ist. In einem weiteren, „für die Ermittlung irrelevanten“ und deshalb nicht für ihre einsatzbereiten Kollegen übersetzten Telefonat des jungen Kuriers mit seiner Mutter erkennt Patience, dass es sich dabei um Khadidja handelt, die liebenswürdige Pflegerin ihrer Mutter. Sie ruft sie heimlich an und bittet sie, ihren Sohn vor der bevorstehenden Verhaftung zu warnen und ihm nahezulegen, die Ware an einem unauffälligen Ort zu verstecken.
Gekonnt und mit sichtlichem Vergnügen mutiert die zerbrechlich wirkende Frau zur gebieterischen und mondänen Drogen-Bossin, die mit Kopftuch, Sonnenbrille und langen Gewändern auftritt und mit zwei einst von ihr überwachten Kleinganoven die Szene aufmischt. Und die – mit tatkräftiger Unterstützung von Colette und Khadidja – allen auf der Nase herumtanzt: den habgierigen Brüdern, die hinter „ihrem“ Stoff her sind, den nichtsahnenden Kollegen und Philippe, der seinen leisen Verdacht nicht wahrhaben will. Ein rasantes Schelmenstück, in dem Isabelle Hupperts komödiantisches Talent bestens zur Geltung kommt.
KINO Mein Liebhaber, der Esel und ich
Winterreise
Die Stimme des Regenwalds
Foto: © wildbunch
Foto: © Real Fiction
Foto: © Camino Filmverleih
Frankreich 2020 Regie: Caroline Vignal Mit: Laure Calamy, Benjamin Lavernhe u. a. Verleih: Wild Bunch Laufzeit: 95 Minuten Start: 22. Oktober 2020
Dänemark 2020 Regie: Anders Østergaard Mit: Bruno Ganz u. a. Verleih: Real Fiction Laufzeit: 88 Minuten Start: 22. Oktober 2020
Schweiz 2019 Regie: Niklaus Hilber Mit: Sven Schelker, Nick Kelsau u. a. Verleih: Camino Laufzeit: 141 Minuten Start: 22. Oktober 2020
Lasttier für Liebeskummer
Allmähliche Annäherung
David gegen Goliath
(ewei). Antoinette ist fassungslos. Vladimir, ihr heimlicher Liebhaber und Vater einer ihrer Schülerinnen, eröffnet ihr, dass es keinen gemeinsamen Urlaub gibt: Er muss mit Frau und Tochter auf Esel-Wanderschaft gehen – auf dem Robert-Louis-Stevenson-Weg in den Cevennen. Kurzentschlossen bucht die hoffnungslos verliebte Lehrerin die gleiche Wanderroute und bricht am nächsten Tag zur ersten Herberge auf. Sie will ihm nahe sein, will, dass er sich endlich entscheidet – natürlich für sie. Doch statt auf Vladimir trifft sie auf neugierige Wanderer, die sie so nerven, dass sie mit Esel Patrick alleine loszieht. Der entpuppt sich indessen bald als äußerst eigenwillig; Antoinette hat ihre liebe Not, nach dem Tagesmarsch die nächste Hütte zu erreichen. Doch nach einer enttäuschenden Begegnung mit dem unentschlossenen Geliebten merkt sie, dass sie all ihren Liebeskummer auf Patricks Rücken abladen kann – und dass Vladimirs Bild zusehends verblasst.
(ewei). Der erfolgreiche US-Radiomoderator Martin Goldsmith wusste lange Zeit nur sehr wenig über die Geschichte seiner Familie. Ihm war lediglich bekannt, dass seine Eltern aus Deutschland stammten und dort Musiker waren, dass sie ursprünglich Günter und Rosemarie Goldschmidt hießen und 1941 in Arizona eine neues Leben begannen. Ein Leben, in dem man keine Fragen stellt. Vor allem nicht nach der Vergangenheit, die jedoch immer wie ein Schatten über der Kindheit des Sohnes lag. Erst nach dem Tod der Mutter gelingt es ihm, von seinem Vater mehr über ihre Zeit in Deutschland zu erfahren – und über ihre Mitarbeit im „Kulturbund Deutscher Juden“ sowie über die ermordeten Verwandten. Der Film zeigt die allmähliche Annäherung des Sohnes an seine bisher nur geahnten Wurzeln. Und seine intensive familiäre Reise mit dem innerlich zerrissenen, zunächst noch ausweichenden Vater, der ganz großartig von Bruno Ganz verkörpert wird – in seiner letzten Rolle.
(ewei). Im Mai 2000 verschwand der Umweltaktivist Bruno Manser spurlos im Dschungel der malaysischen Provinz Sarawak, seit März 2005 gilt er als verschollen. Niklaus Hilbers beeindruckender Doku- Spielfilm zeichnet das Leben des gebürtigen Baslers nach, der 1984 als 29-Jähriger nach Borneo reist, um in einem der ältesten Regenwälder der Welt jenseits der Oberflächlichkeit der Zivilisation zu leben. Dort kommt er zu den Penan, einem der letzten Nomadenvölker der Erde. Bald wird er heimisch bei diesen Menschen, deren Leben nicht von Industrialisierung und Konsum geprägt ist. Bis die ersten Holzfäller anrücken: Die neue Regierung Malaysias hat große Teile der Wälder zur Rodung freigegeben. Mit dem Export von Tropenholz nach Europa soll das Land zu einer Industrienation aufsteigen – ein Vorhaben, das den Lebensraum der Penan zerstören und das Ende ihrer Lebensweise bedeuten würde. Mit allen Mitteln kämpft Manser mit ihnen und für sie.
kino Und morgen die ganze Welt
Doch das Böse gibt es nicht
Résistance – Widerstand
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Deutschland 2020 Regie: Julia von Heinz Mit: Mala Emde, Noah Saavedra u. a. . Verleih: Alamode Laufzeit: 111 Minuten Start: 29. Oktober 2020
Iran 2020 Regie: Mohammad Rasoulof Mit: Ehsan Mirhosseini, Kaveh Ahangar u. a. Verleih: Grandfilm Laufzeit: 150 Minuten Start: 5. November 2020
USA 2019 Regie: Jonathan Jakubowicz Mit: Jesse Eisenberg, Clémence Poésy u. a. Verleih: Warner Laufzeit: 122 Minuten Start: 5. November 2020
Widerstand als Pflicht
Ganz gewöhnliche Menschen
Ein stiller Retter
(ewei). Luisa ist 20 und hat eben ein Jurastudium begonnen. Sie stammt aus gut situierten Verhältnissen, hat ein stabiles Umfeld – und will, dass sich etwas verändert in der Gesellschaft. Alarmiert vom Rechtsruck und von zunehmenden Beliebtheit völkisch-nationaler Konzepte, tut sich die kritische junge Frau mit Gleichgesinnten zusammen, um sich klar gegen Hass und Hetze zu positionieren. Schnell findet sie Anschluss bei dem charismatischen Alfa und dessen bestem Freund Lenor. Die beiden gehören jedoch zu der Gruppe junger Aktivisten, die den Einsatz von Gewalt als legitimes Mittel im Widerstand gegen rechten Terror und faschistische Umtriebe ansehen. Zu diesem grundgesetzkonformen Widerstand, behaupten sie, habe man sowohl das Recht als auch die Pflicht. Bald überstürzen sich die Ereignisse. Luisa muss entscheiden, wie weit sie gehen will. Für ihre „Luisa“ gewann Mala Emde beim Filmfestival Venedig den Preis der Filmkritik als beste Schauspielerin.
(ewei). Heshmat ist ein vorbildlicher Ehemann und Vater, jeden Morgen bricht er früh zur Arbeit auf. Doch wohin fährt er? Pouya kann sich nicht vorstellen, einen anderen Menschen zu töten, trotzdem bekommt er den Befehl. Gibt es einen Ausweg für ihn? Javad will seiner Freundin Nana einen Heiratsantrag machen. Doch dieser Tag hält für beide noch eine andere Überraschung bereit. Bahram ist Arzt, darf aber nicht praktizieren. Als ihn seine Nichte Darya aus Deutschland besucht, offenbart er ihr den Grund dafür. Rasoulofs Episodenfilm erzählt Geschichten über Menschen, die vor existenziellen Herausforderungen stehen. Er stellt Fragen, wie integer ein Mensch in einem absoluten Regime bleiben, welche moralische Schuld er tragen kann, ohne zu zerbrechen. Und zu welchem Preis individuelle Freiheit bewahrt werden kann. Goldener Bär, Gilde-Preis der AG Kino-Gilde und Preis der Ökumenischen Jury bei der Berlinale 2020.
(ewei). Während seiner Kindheit und Jugend in Straßburg heißt Marcel Marceau noch Marcel Mangel. Und schon damals fällt der später welt berühmte Pantomime dadurch auf, dass er wenig spricht und seine Gefühle lieber durch Mimik und Gestik vermittelt. Sein großer Wunsch ist ein Leben für die Kunst, doch daran ist in den 1930er-Jahren nicht zu denken. Nur abends kann er sich seinen Traum auf den Kleinbühnen der Stadt erfüllen, tagsüber muss er in der koscheren Fleischerei seines Vaters mitarbeiten. Bei einem Auftritt verliebt er sich in die engagierte Antifaschistin Emma. Er will ihr Herz gewinnen und lässt sich ihr zuliebe auf eine gefährliche Mission ein, die sein Leben verändern wird: 123 jüdische Waisenkinder müssen vor dem Nazi-Obersturmführer Klaus Barbie gerettet und in die Schweiz gebracht werden. Gemeinsam mit Emma und seinem Bruder Alain tritt Marcel dem französischen Widerstand bei. Seine Kunst wird dabei zur Waffe gegen das Grauen.
DVD Lindenberg! Mach dein Ding Deutschland 2019 Regie: Hermine Hundgeburth Mit: Jan Bülow, Julia Jentsch u. a. Studio: DCM Laufzeit: 129 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Die perfekte Kandidatin Saudi-Arabien 2019 Regie: Haifaa Al Mansour Mit: Mila Al Zahrani, Dae Al Hilali u. a. Studio: good!movies Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Das geheime Leben der Bäume Deutschland 2019 Regie: Jörg Adolph Dokumentation: nach Peter Wohlleben Studio: Universal Laufzeit: 96 Minuten Preis: ca. 12 Euro
Eigenwillige Erscheinung
Morastige Schlammschlacht
Eine verborgene Welt
(ewei). Für Udo-Lindenberg-Fans ein absolutes Muss, und für alle anderen eine spannende und überaus unterhaltsame Geschichte über einen inzwischen 73-jährigen Jungen aus der Provinz, der eigentlich keine Chance hat, sie aber dennoch ergreift. Über einen, der genau weiß, wohin er will, und alles dafür tut. Ein starker Film über eine starke und sehr eigenwillige Persönlichkeit, mit viel Zeitkolorit, Musik und tollen Darstellern. Lohnt sich – nicht nur für Gleichaltrige.
(ewei). Maryam arbeitet als Ärztin in einem Krankenhaus einer Kleinstadt in der saudi-arabischen Provinz Riyadh. Allerdings hat sie es schwer mit ihrer Arbeit: Viele männliche Patienten wollen sich nicht von einer Frau untersuchen lassen, außerdem besteht die Zufahrt zum Krankenhaus aus einem Sandweg, der bei Regen so matschig wird, dass Krankenwagen stecken bleiben. Um das zu ändern, kandidiert sie für den Gemeinderat – und gerät erst recht in eine Schlammschlacht.
(ewei). Die ganze Welt spricht über die Umwelt, hört dabei aber oft nicht auf die Natur selbst. Peter Wohlleben hat sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern: Mit „Das geheime Leben der Bäume“ öffnet er uns die Augen über die verborgene Welt des Waldes. Die fesselnde Dokumentation gibt einen faszinierenden Einblick in das komplexe Zusammenleben der Bäume und weckt das Interesse an ökologischen Zusammenhängen, an einem schonenden Umgang mit Ressourcen und natürlichen Kreisläufen.
Der Koch, der Dieb, seine Frau ... GB 1989 Regie: Peter Greenaway Mit: Helen Mirren, Michael Gambon u.a. Studio: justbridge entertainment Laufzeit: 112 Minuten Preis: ca. 20 Euro
Die Familienfeier Frankreich 2019 Regie: Cédric Kahn Mit: Catherine Deneuve, Laetitia Colombani u.a. Studio: Weltkino Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Für Sama GB 2019 Regie: Waad al-Kateab Dokumentation Studio: Al!ve Laufzeit: 95 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Grotesker Klassiker
Unharmonisches Ende
Appell gegen den Krieg
(ewei). Erstmals als Blu-ray gibt es Peter Greenaways groteskes Meisterwerk „Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber“ von 1989. Zu der Sonderausgabe gehören auch eine DVD und ein 20-seitiges Booklet, das viel Bonusmaterial liefert zu der Geschichte des derben Gangsters Albert Spica, der seine Abende mit Komplizen in einem Nobelrestaurant verbringt, sich dabei wie ein pöbelnder Proll verhält und schließlich seine Frau und ihren Lover auf raffinierte Weise beseitigen will.
(ewei). Andrea feiert Geburtstag mit ihrem Mann, den Söhnen, deren Frauen und den Enkeln. Das nur vordergründig harmonische Beisammensein wird empfindlich gestört, als plötzlich und ohne Vorwarnung die älteste Tochter auftaucht, von der man jahrelang nichts gehört hatte. Während die Jubilarin bemüht ist, die Fassade der glücklichen Familie zu retten, brechen lang verdrängte Konflikte auf, kommen unglaubliche Wahrheiten ans Licht. Bitterböse Tragikomödie über desolate Lebenslügen.
(ewei). Waad al-Kateab kommt zum Wirtschaftsstudium nach Aleppo. Von Anfang an beteiligt sie sich an den Protesten gegen das Assad-Regime, die indes gnadenlos niedergeschlagen werden. Als die Situation in einen Bürgerkrieg eskaliert, kommt Waads Tochter Sama zur Welt. Die Mutter beginnt zu filmen, macht Aufnahmen von sich, ihrem Mann, der Familie, ihrem Alltag. Damit Sama, falls die Eltern im Krieg umkommen, einmal weiß, wer sie waren. Eindringlicher Appell gegen den Krieg. Oktober 2020 chilli Cultur.zeit 63
Literatur
Gigaguhl und Peng Peng Parker Freiburger Literaturgespräch zieht heuer ins Historische Kaufhaus um
von Erika Weisser
Sie ist „total begeistert“ vom Programm des diesjährigen Lesefests, weshalb sie allen Literaturbegeisterten – und natürlich auch den Autoren – wünscht, „dass es unbedingt stattfinden“ möge. Knüppel sei indessen guten Mutes, „auch wenn es noch nie so viele Unwägbarkeiten gab wie dieses Mal“. Das Team tue „alles uns Mögliche dafür, damit sich die Gäste sicher fühlen“. Deshalb finden fast alle Veranstaltungen im Kaisersaal des Historischen Kaufhauses statt: Dort Foto: © Peter Andreas Hassiepen haben unter Anwendung der erprobten Erzählt aus der Zuckerfabrik: Abstands- und Hygienekonzepte immerDorothee Elmiger hin 80 bis 90 Personen Platz, ins Literaturhaus passen derzeit höchstens 40. www.literaturhaus-freiburg.de So laufen dort nur zwei kleine Veranstaltungen: Zum wilden Freitag für Abenteuer kinder bringen Barbara Yelin und Alex Rühle ihren Riesen Gigaguhl und dessen Riesen-Glück mit. Der junge Autor Christian Schulteisz erzählt aus seinem Romandebüt „Wense“ vom Wandern, Forschen und Komponieren eines allwissenden Taugenichts, der plötzlich taugen soll. Zur Eröffnung am Donnerstag liest Lutz Seiler aus seinem Roman „Stern 111“, der Foto: © Heike Steinweg mit dem Preis der Leipziger Buchmesse Motto für das Literaturgespräch: 2020 ausgezeichnet wurde und der das Lutz Seilers „Stern 111“ Motto liefert für das ganze Freiburger Lite-
raturgespräch. Ein Roman, der vom November 1989 und damit von einer Zeit erzählt, in der für einen kurzen historischen Moment scheinbar alles möglich war – und in der eine Familie sich auf verschiedene Wege ins Unwägbare begibt und sich für immer trennt. Sein Titel bezieht sich auf das in der DDR sehr beliebte, mit einem Weltem pfänger ausgestattete tragbare Kofferradio „Stern 111“. Er bezeichnet, ist im Programm zu lesen, „zugleich ein Bild für die Beweglichkeit der Sprache, für die Leichtigkeit des Reisens mit Worten, für den unmittelbaren Zugang zu anderen Lebenswelten“. Und genau darum, so Knüppel, gehe es gerade bei diesem Lesefest. Zugang zu diesen anderen Lebenswelten bietet etwa Dorothee Elmigers Roman „Aus der Zuckerfabrik“, der den Spuren des Geldes und Verlangens durch die Jahrhunderte und Kontinente folgt. Er steht auf der Shortlist für den Schweizer Buchpreis, der am Tag nach ihrer Freiburger Lesung am Samstag auf der BuchBasel vergeben wird. Eine weitere Lebenswelt öffnen Nora Gomringer, Philipp Scholz und Philip Frischkorn ebenfalls am Samstag mit ihrem Lyrik-Jazz-Programm „Peng 34. Freiburger Literatur Peng Parker“, in dem sie Texte von Dorogespräch thy Parker, der New Yorker Autoren-Ikone der 1920er-Jahre, aufs Messerschärfste interpretieren.
Info Stern 111 34. Freiburger Literaturgespräch 5. – 8. November Historisches Kaufhaus/Literaturhaus Info: www.literaturhaus-freiburg.de
STERN 111
64 chilli Cultur.zeit Oktober 2020
Illustrationen: © Literaturhaus Freiburg
S
tern 111 – so lautet das Motto der 34. Ausgabe des Freiburger Literaturgesprächs, das an vier Tagen 17 Autorinnen und Autoren miteinander und mit ihren Lesern ins Gespräch bringt. Bringen soll: Derzeit, sagt die stellvertretende Literaturhausleiterin Katharina Knüppel, stehe alles noch unter einem guten Stern. Und sie hofft, dass es so bleibt, dass die Pandemie ihr keinen Strich durch das ebenso abwechslungsreiche wie anspruchsvolle Programm macht.
FRezi
Total alles über den Schwarzwald
von Jens Schäfer, Illustrationen: no.parking Verlag: Folio, Wien und Bozen 2020 Deutsch und Englisch 112 Seiten, Preis: 20 Euro
Streulicht
freiburg.comic
von Deniz Ohde Verlag: Suhrkamp, 2020 286 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro
von Jonatan Alcina Segura & Bertram Jenisch Verlag: Regionalkultur, 2020 72 Seiten, gebunden Preis: 14.90 Euro
Wo Graphiken sprechen
Ungeschminkte Milieustudie
Aufschlussreiche Skelette
(dob). Dass Jens Schäfer mit dem Sujet vertraut ist – keine Frage. In Lenzkirch ist der 1968 geborene Wahlberliner aufgewachsen, mehr Schwarzwald geht fast nicht. Und schon vor mehr als zehn Jahren hat der Autor, der sonst Drehbücher oder Romane schreibt, die lesenswerte „Gebrauchsanweisung für Freiburg und den Schwarzwald“ in jener schönen Reihe des Piper-Verlags veröffentlicht. Dass die vier Frauen vom im nord italienischen Vicenza ansässigen Graphikbüro no.parking ebenfalls ihr Metier beherrschen, das kann man unter anderem in aufwendig-liebevoll gestalteten Sachbüchern des Folio- Verlags über Wien, Südtirol oder die Schweiz sehen. Nun also ein Buch über den Schwarzwald, das auf allzu viel Text verzichtet, das die Region dafür anhand von Graphiken erklärt. Ein geographischer Überblick über einige Attraktionen: Da ist die gelbe Uhu-Tube, die in Bühl produziert wird. Oder der Testturm für Hochgeschwindigkeitsaufzüge von Thyssen- Krupp in Rottweil. Oder das schicke Feuerwehrhaus der Architektin Zaha Hadid bei Vitra in Weil. Oder auch die Flasche Kirschwasser aus Staufen. Alle versammelt auf einer hübschen Übersichtskarte. Und vieles mehr wie etwa alle Details rund um das Hinterwälder Rind, die Torte zur Landschaft – die Black Forest Cake – oder den Sportclub Freiburg. Informativ, lustig, zweisprachig und vor allem schön anzusehen.
(dob). Da ist dieser Industriepark: ein riesiges Areal verschiedener Fabriken, Berge von Kohle und jede Menge hohe Schornsteine, die nachts leuchten, damit kein Flugzeug dagegen fliegt. Der in die Luft geblasene Wasserdampf kehrt als klebriger Industrie schnee an den Boden der umliegenden Gemeinden zurück – dort, wo das Leben sich von der grauen Seite zeigt. Hier wächst die Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes bemerkenswertem Debütroman „Streulicht“ auf, der es zu Recht bis auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft hat. Es ist ein Leben, das von Ausgrenzung und Entsagungen geprägt ist. Vater und Großvater sind Trinker, die Mutter kommt aus einem 500-Seelen-Dorf irgendwo am Schwarzen Meer, und die Protagonistin erfährt täglich aufs Neue, wie es als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund ist, nicht dazuzugehören. Wie es ist, keine Freundin mit nach Hause nehmen zu können, weil das die Eltern nicht mögen und weil sich das Mädchen schämt für die Unordnung, den Zigarettenqualm und die Tristesse in den eigenen vier Wänden. Wie es ist, von Mitschülern mit fremdenfeindlichen Wörtern beschimpft zu werden. Und wie es ist, sich dennoch durchzubeißen und vom schulischen Erfolg dann aber nichts zu haben – außer einer inneren Leere. Deniz Ohde ist mit ihrem Bildungsroman eine präzise, eine ungeschminkte Milieustudie gelungen.
(ewei). Margarete von Oberlinden ist 60 Jahre alt, als sie an einem Morgen im Januar 1510 auf dem Weg zum Brunnen bei der Oberen Linde im Schnee ausrutscht und sich einen Oberschenkelknochen bricht. Nachbarn bringen sie nach Hause und rufen den Bader, eine Art Arzt, der ihr das Bein „richtet“. Doch es wird nicht mehr gut; Margarete muss gepflegt werden. Dank der Altersvorsorge ihres bereits verstorbenen Ehemanns Konrad verbringt sie ihre letzten Jahre im Heilig-Geist-Stift. Ende 1512 stirbt sie und wird auf dem Münsterfriedhof beigesetzt. Die Namen der beiden sind erfunden, ihre Existenz nicht: 2014 wurden Teile des ehemaligen, nördlich des Münsters gelegenen städtischen Friedhofs ausgegraben – und Skelette gefunden, deren Untersuchung aufschlussreiche Details über das Leben und die Leiden der mittel alterlichen Menschen lieferte. Anhand dieser Details rekonstruierte eine Gruppe von Studierenden der PH Freiburg unterschiedliche persönliche Werdegänge im historisch gesicherten Kontext der Stadtgeschichte jener Epoche. Besonders anschaulich wird nicht nur diese Epoche nun im „freiburg.comic“, mit dem der Archäologe Bertram Jenisch und der Historiker und Zeichner Jonatan Alcina Segura eine Brücke schlagen zwischen historischen Fakten und spannender Fiktion. Oktober 2020 chilli Cultur.zeit 65