chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 7/21 11. JAHRGANG

Galerien-Rundgang SKULPTUREN DER FREIBURGERIN SUNDARI ARLT IN DER GALERIEABOLLHORST b

14.10.

im Kin

o!

DEAR FUTURE CHILDREN Leinwand

Kunst

Literatur

SIEGFRIED HELD ZEIGT GESICHTER DES PROTESTS

BEYELER ZEIGT FRANCISCO DE GOYA

FREIBURGERIN HOLT ERSTEN REBEKKA-PREIS


KULTUR

Wegbereiter der Moderne DIE FONDATION BEYELER PRÄSENTIERT DIE IM DEUTSCHEN SPRACHRAUM BISHER BEDEUTENDSTE AUSSTELLUNG DER WERKE VON FRANCISCO DE GOYA

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von Erika Weisser

Francisco de Goya (1746–1828) hat dieses sich heute in einer Privatsammlung befindliche Bild im Jahr 1785 gemalt, kurz nach seiner Übersiedlung aus seiner Geburtsstadt Saragossa nach Madrid. Als Auf-

(v.l.n.r.) Francisco de Goya: Hexensabbat (El Aqelarre), 1797/98, Öl auf Leinwand, 43 × 30 cm, Fundación Lázaro Galdiano, Madrid. • Doña María Del Pilar Teresa Cayetana De Silva Álvarez De Toledo, XIII Duquesa De Alba, 1795, Öl auf Leinwand, 192 x 128 cm, Fundación Casa de Alba, Palacio de Liria, Madrid. • Portrait of Doña Antonia Zárate (Antonia Zárate y Aguirre), ca. 1805, Öl auf Leinwand, 103,5 x 82 cm, © National Gallery of Ireland, Dublin, Schenkung, Sir Alfred und Lady Beit, 1987 (Beit Collection)

Francisco de Goya: Die Ausstellung in der Fondation Beyeler zeigt den Künstler nicht nur als Hof- und Kirchenmaler, sondern auch sein Schaffen als unkonventioneller Porträtmaler, als „Andy Warhol des 18. Jahrhunderts“, wie Kurator Martin Schwander sagt.

as Gemälde springt einen gleich beim Betreten des Raumes förmlich an. Weniger wegen seiner Dimension, die mit 280 auf 177 Zentimeter durchaus beachtlich ist. Auch nicht wegen des Sujets – die Darstellung der Verkündigung Marias durch den Erzengel Gabriel gehört in der christlich-religiösen Malerei schließlich zu den Basics. Es liegt auch nicht nur daran, dass kein weiteres Bild an der Wand am anderen Ende des Saals hängt: Es ist das Licht, das sofort fasziniert. Diese Lichtstrahlen, die den dämmrigen Raum durchfluten und auf die beiden Figuren herabschweben. Auf Figuren, die nicht vergeistigt-durchsichtig wirken, sondern wie ganz gewöhnliche Menschen – mit kräftigem Körperbau, geröteten Wangen, vollem, dunklem Haar und ohne Heiligenschein.

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tragsarbeit für den Altar der Kapelle des dortigen Kapuzinerklosters San Antonio. Bis dahin, sagt Martin Schwander, habe es „kaum eine Verkündigungs-Darstellung mit einer derart unmittelbaren und realistischen Wirkung gegeben“. Schwander ist Kurator der Ausstellung, die bis zum 23. Januar in der Fondation Beyeler in Riehen etwa 75 Gemälde und mehr als 100 Zeichnungen und Druckgrafiken dieses bildenden Künstlers präsentiert, der als Wegbereiter der Moderne gilt. Zehn Jahre, so Schwander, seien über der sorgfältigen Vorbereitung dieser außergewöhnlichen, in enger Zusammenarbeit mit dem Museo del Prado in M ­ adrid entstandenen Präsentation ins Land gegangen: für die Konzeption, für die Sondierung nicht öffentlich zugänglicher Werke und für Verhandlungen mit den Leihgebern – Museen und Privatsammlungen in Europa und Amerika. Ziel war es, diese chronologisch konzipierte Werkschau so vollständig wie möglich zu gestalten.


KULTURNOTIZEN Raubkunst in Freiburg Die Städtischen Museen Freiburg wollen ihre Arbeit an der Provenienzforschung über Raubkunst intensivieren. Auch in Freiburg gibt es Artefakte mit finsterer Vergangenheit. In der Ethnologischen Sammlung des Museums Natur und Mensch gibt es knapp 2000 Kunstwerke aus Afrika, Asien, Amerika, Ozeanien und Altägypten. 1200 stammen aus der Hochzeit des deutschen Kolonialismus zwischen 1895 und 1914. Der Gemeinderat beauftragte die Verwaltung, Fördergelder von Land und Bund zu beantragen, um mit der Aufarbeitung schneller voranzukommen.

Finale für Pop-up-Store

Oben: Francisco de Goya, Bekleidete Maya (La Maja Vestida), 1800-1807, Öl auf Leinwand, 95 x 190 cm, Museo Nacional del Prado, Madrid, © Photographic Archive. Museo Nacional del Prado. Madrid.

Ein unbestechlicher Chronist seiner Zeit den den weltbekannten, geradezu ikonischen Werken wie der bekleideten Maja (o.), dem Hexensabbat (u.l.) oder den „Schrecken des Krieges“ gegenübergestellt. So wird beim Rundgang durch die Ausstellungsräume – und damit durch sechs Jahrzehnte seines künstlerischen Schaffens – der allmähliche Wandel in Stil, Malweise und den Themen des Hofmalers, Kirchenkünstlers und unbestechlich dokumentarischen Chronisten ­Francisco de Goya nachvollziehbar. Nicht nur an drei Selbstporträts aus ganz verschiedenen biografischen Phasen wird deutlich, wie sein Lebensweg, seine Erfahrung von Krankheit und dem Verlust des Hörvermögens, von Elend, Krieg oder Exil sein Werk beeinflussten. Das von Martin Schwander „göttlich“ genannte Licht der erwähnten Verkündigungsdarstellung ist im Lauf der Zeit immer seltener zu finden – auf Schiffbrüchi-

ge, Verstümmelte, Verhungernde und Ermordete, auf die Insassen von Gefängnissen, Irrenhäusern oder Pestspitälern fällt es ohnehin nicht. Goyas Farben werden zusehends dunkler, die Gemälde düster, oft geradezu bedrohlich. Zu diesen Werken zählen auch die 14 Bilder, die Goya zwischen 1819 und 1823 an die Wände seiner letzten Madrider Wohnung in einer Gehörlosenresidenz malte – vor seiner Emigration nach Bordeaux. „Pinturas Negras“ werden diese nahezu monochromen, teils komischen, teils sehr verstörenden Spätwerke genannt, „schwarze Bilder“. 50 Jahre nach ihrer Entstehung und lange nach Goyas Tod wurden sie von den Wänden genommen, auf Leinwand aufgezogen und in den Prado gebracht. Wegen ihrer Fragilität dürfen sie dieses Museum nie wieder verlassen. In Riehen sind sie dennoch präsent: Der französische Künstler ­Phillippe Parreno hat sie im Prado gefilmt, die Bilder auf die ursprünglichen Wände des immer noch existierenden Hauses projiziert und daraus einen Film gemacht, der im letzten Ausstellungsraum zu sehen ist – mit einer imaginären Klanglandschaft. Es ist eine rundum geglückte Ausstellung, für die sich Prado-Direktor ­Miguel Falomir Faus „keinen besseren Ort vorstellen“ kann.

INFO www.fondationbeyeler.ch

Noch bis einschließlich 31. Oktober hat der von der FWTM initiierte Pop-up-Store in der Schusterstraße 25 in der Freiburger Altstadt geöffnet. Bis dahin bieten die „Freiburger Asmonauten“ eine Kombination aus Kunstausstellung und Lesungen. Öffnungszeiten der Ausstellung (nur mit 3G-Nachweis): Dienstag bis Freitag von 12 bis 18 Uhr und Samstag von 12 bis 20 Uhr. Mehr Infos: www.visionfreiburg.de

5,8 Millionen Euro für NS-Dokuzentrum Foto: © bar

Das ist gelungen: Zu sehen sind einige Werke, die Spanien noch nie verlassen haben, darunter acht von elf Kabinettbildern aus der Sammlung des Marqués de la Romana: Kleinformatige Gemälde mit unter die Haut gehenden Darstellungen der Wirkung von Hass und Gewalt. Diese und andere nur selten gezeigten Bilder wer-

Zentrale Lage für NS-Dokuzentrum: das ehemalige Verkehrsamt am Rotteckring.

Der Freiburger Gemeinderat hat in seiner Sitzung am 5. Oktober mit großer Mehrheit den Bau eines Dokumentationszentrums Nationalsozialismus bewilligt. 4,9 Millionen Euro kostet allein der Umbau der Räumlichkeiten im Rotteckhaus – doppelt so viel wie ursprünglich veranschlagt. 900.000 Euro soll die Einrichtung kosten. Zudem wird das NS-Dokuzentrum jährlich 300.000 Euro Unterhalt verursachen. Geplant sind vier Dauerausstellungen über mehr als 27 Jahre Regionalgeschichte. Im überdachten Innenraum wird es einen öffentlich zugänglichen Gedenkraum geben. bar


KINO

Gesichter des Protests FRANZ BÖHMS DOKUMENTATION PRÄSENTIERT ZUKUNFTS-­AKTIVISTINNEN AUS DREI LÄNDERN von Erika Weisser

Dear Future Children Deutschland 2021 Regie: Franz Böhm Dokumentarfilm Verleih: Camino Laufzeit: 88 Minuten Kinostart: 14. Oktober 2021

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ie Bilder sind bedrückend: Über den Straßen von Santiago de Chile schwebt der Rauch von brennenden Barrikaden, junge Leute mit Gasmasken laufen vor Tränengas und den Gummigeschossen der Polizisten davon – und vor anrückenden Wasserwerfern. Denn diese sind nicht gekommen, um die Brände zu löschen, sondern vielmehr, um die Protestierenden von der Straße zu fegen. „El pueblo unido jamás será vencido“ singen die Protestierenden in einer weiteren Filmsequenz aus der Hauptstadt des lateinamerikanischen Landes – wie vor 50 Jahren, als während der Regierungszeit des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende die unbesiegbare Einigkeit des Volkes beschworen wurde. Doch ein Militärputsch beendete den Versuch, eine gerechte Gesellschaft aufzubauen. „Ein sehr brutaler Diktator“, sagt die Aktivistin Rayen, gelangte an die Macht: Augusto Pinochet. Während seiner Diktatur, erklärt die 24-Jährige weiter, sei die Verfassung erlassen worden, die immer noch gültig und „die Hauptursache für die große Kluft zwischen Reichen und Armen im Land“ sei. Eine Preiserhöhung für die Metro brachte das Fass zum Überlaufen, erinnert sich Rayen „noch ganz genau“ an den 18. Oktober 2019. Viele junge Menschen gingen damals auf die Straße. Sie war dabei – und spürte, dass dies „der Anfang einer Veränderung war“. Auch für Hilda lief irgendwann ein Fass über. Da war die inzwischen international bekannte ugandische Klima- und Bürgerrechts-Aktivistin noch ein Kind: Sie war elf Jah-

re alt, als der Klimawandel die Bauernfamilie zwang, ihre Felder in der einst fruchtbaren Region Kyengera zu verlassen und in der Hauptstadt Kampala nach Überlebenschancen zu suchen. Zuerst, erzählt die 23-jährige Studentin, seien wegen fehlenden Regens die Pflanzen verdorrt. Dann wieder hätten Regengüsse „alles weggespült“. Als wegen der steigenden Temperaturen die Trinkwasserquellen und Bäche versiegten, blieb nur die Flucht. Später, als sie die Zusammenhänge verstand, gründete sie „Fridays for Change“; eine Einstellung zeigt sie an einer Straße – alleine, mit einem Plakat, auf dem zu lesen ist: „Keep Mama Africa Green“. Alleine steht auch die 22-jährige Pepper am Rande einer Manifestation in Honkong. Dort sind im Sommer 2019 viele Menschen zusammengekommen, um gegen die drohende Vereinnahmung der Stadt durch die VR China zu demonstrieren. Anlass war ein geplantes Rechtshilfegesetz, das vorsah, Inhaftierte an China auszuliefern. Damit wuchs die Befürchtung, dass das liberale Rechtssystem Honkongs ausgehöhlt werde – und demokratische Rechte wie Rede- und Pressefreiheit. „Wir wollen keine Diktatur“, spricht Pepper gegen den Lärm von Hubschraubern und Polizeisirenen an, „wir sind nicht das Eigentum Pekings. Wir wollen, dass der Status quo erhalten bleibt: Ein Land, zwei Systeme.“ Einen sehr eingehenden Film über Erfolge und Rückschläge beim Kampf für bessere Lebensbedingungen hat Franz Böhm gedreht – mit drei Aktivistinnen seiner Generation: Er ist selbst gerade 22 Jahre alt. Am 17. Oktober ist er zu Gast im Kino Friedrichsbau.

48 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2021 Fotos: © Camino Filmverleih


KINO AUF ALLES, WAS UNS GLÜCKLICH MACHT

SUPERNOVA

THE FRENCH DISPATCH

Foto: © Prokino

Foto: © Weltkino

Foto: © Disney

Italien 2020 Regie: Gabriele Muccino Mit: Pierfrancesco Favino u. a. Verleih: Prokino Laufzeit: 129 Minuten Kinostart: 14. Oktober 2021

Großbritannien 2020 Regie: Harry Macqueen Mit: Colin Firth, Stanley Tucci u. a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 95 Minuten Kinostart: 14. Oktober 2021

USA 2020 Regie: Wes Anderson Mit: Owen Wilson, Tilda Swinton u. a. Verleih: Disney Laufzeit: 103 Minuten Kinostart: 21. Oktober 2021

Ein Film zum Träumen

Eine lange letzte Reise

Wortwitziges Vergnügen

(ewei). Giulio, Riccardo und Paolo tanzen in einer römischen Disco, während draußen eine Demo stattfindet, bei der sich schwer bewaffnete Polizisten und Demonstranten gegenüberstehen. Neugierig rennen die drei Jungs hinaus und geraten zwischen die Fronten. Dabei wird Riccardo angeschossen und schwer verletzt. Giulio und Paolo retten ihn und bringen ihn ins Krankenhaus. Dabei werden die drei, die sich bisher gar nicht kannten, zu unzertrennlichen Freunden. Gemeinsam kaufen sie einen alten 450er Mercedes, den sie selbst wieder in Gang bringen, und mit dem sie bald durch die Straßen Roms und an die Strände Ostias fahren. Dabei ist irgendwann auch Gemma, die alle drei Freunde gleichermaßen bezaubert. Das Leben treibt die vier auseinander – und bringt sie doch immer wieder zusammen. Ehen werden geschlossen und geschieden, Freundschaften gekündigt und wieder aktiviert; man liebt und trennt sich. Gabriele Muccino zeigt das Leben in all seinen Facetten – ein Film zum Träumen.

(ewei). Seit 20 Jahren sind der Konzertpianist Sam und der Schriftsteller Tusker ein Paar – mit allen Höhen und Tiefen einer Beziehung auf Augenhöhe. Doch als bei Tusker eine Demenzerkrankung diagnostiziert wird, übernimmt Sam zunehmend die Rolle des Sorgenden. Da die Krankheit rapide fortschreitet, gibt er seine Pianisten-Karriere auf: Er will die ihnen verbleibende bewusste gemeinsame Zeit ausschließlich mit seinem Lebenspartner verbringen und ihm die letzten Monate so schön wie möglich gestalten. Auf Tuskers Wunsch hin brechen sie in ihrem alten Wohnmobil zu einer Reise auf – zu Menschen und Orten aus ihrer Vergangenheit. Ziel ist der gleichermaßen naturgewaltige wie idyllische Lake District im Norden Englands, wo sich die beiden einst kennenlernten. Hier gibt es ein großes Fest mit Verwandten und Freunden. Doch nach der Feier erkennt Sam, dass Tuskers Gründe für die Reise nicht nur rein nostalgisch waren. Ein kluges, emotionales Drama um das Leben und Sterben in Würde.

(ewei). Es ist das Jahr 1975. Vor 50 Jahren hat der Verleger Arthur Howitzer Jr. in einem französischen Dorf den French Dispatch gegründet, einen Ableger der Zeitung Liberty, Kansas Evening Star. Nun ist er verstorben und seine Mitarbeiter erinnern sich an ihn zurück – und vier im Laufe der Zeit im Magazin veröffentlichte Geschichten werden zum Leben erweckt. Da ist der in einem Gefängnis einsitzende Maler Moses Rosenthaler, der in seiner Wärterin Simone Muse und Modell findet. Da ist die Redakteurin Lucinda Kremetz, die sich in den Revoluzzer Zeffirelli verliebt und deren journalistische Integrität wegen dieser Affäre in Zweifel gezogen wird. Da ist ein Fahrrad-Reporter, der halsbrecherische Reiseberichte aus den schlimmsten Ecken der Gegend schreibt – und der Sohn eines Kommissars, der entführt und ausgerechnet von einem Koch gerettet wird. Ein ideenreicher Episodenfilm, voller origineller Bilder und skurriler Momente – ein köstliches, nicht nur wortwitziges Vergnügen.


KINO CONTRA

DIE GESCHICHTE MEINER FRAU

EINE HANDVOLL WASSER

Foto: © Weltkino Filmverleih

Foto: © Alamode Film

Foto: © jip Film & Verleih

Deutschland 2020 Regie: Sönke Wortmann Mit: N. Farooq, Ch. Maria Herbst u. a. Verleih: Constantin Laufzeit: 103 Minuten Kinostart: 28. Oktober 2021

Ungarn 2021 Regie: Ildikó Enyedi Mit: Léa Seydoux, Gijs Naber u. a. Verleih: Alamode Laufzeit: 169 Minuten Kinostart: 4. November 2021

Deutschland 2020 Regie: Jakob Zapf Mit: Jürgen Prochnow, Milena Pribak u. a. Verleih: jip Laufzeit: 90 Minuten Kinostart: 11. November 2021

Geschliffene Dialoge

Chronische Eifersucht

Deal-Duell im Keller

(ewei). Als die Erstsemester-Studentin Naima Hamid ein paar Minuten zu spät zur Vorlesung in einem vollbesetzten Hörsaal eintrifft, erhält sie von Professor Richard Pohl eine saftige Rüge. Da diese sich aber nicht nur auf ihre Unpünktlichkeit bezieht, sondern auch mit deutlich rassistischen, sexistischen und religionsfeindlichen Untertönen gewürzt ist, droht der Hochschullehrer von der Uni zu fliegen: Zu viele Kollegen der Jurastudentin waren Zeugen der Beleidigungen, ein entsprechendes Video macht die Runde in Sozialen Netzwerken – die Geschichte landet vor dem Disziplinarausschuss. Die einzige Chance, seinen Job zu retten, wird Pohl vom Universitätspräsidenten und alten Weggefährten Lambrecht geboten: Wenn es ihm gelänge, Naima für einen bevorstehenden bundesweiten Debattier-Wettbewerb so zu qualifizieren, dass sie diesen gewinnt, dann könne er davonkommen. Gleichermaßen entsetzt machen sich die beiden ans rhetorische Dialog-Werk – und finden verblüffende Gemeinsamkeiten.

(ewei). Schon lange fährt Kapitän Jacob Störr zur See. Doch Passagiere sind seine Sache nicht; er transpotiert lieber Güter. Doch selbst zu der Crew seines Containerfrachters hält er Abstand. Während der seltenen Feiern der Matrosen hockt er missmutig in seiner Kabine. Er führt eine seltsam körperlose Existenz, nicht einmal das Essen seines Kochs schmeckt ihm – es bekommt ihm nicht einmal. Der versteht Störrs Schwierigkeiten sich auf die Welt und das Leben einzulassen in einem weiteren Sinne und rät ihm, schnellstmöglich zu heiraten. Wieder an Land, erinnert Störr sich bei einem gemeinsamen Essen mit einem Kollegen an diesen Rat und nimmt sich vor, der ersten Frau, die das Restaurant betritt, einen Heiratsantrag zu machen. Und dann taucht die faszinierende Salondame Lizzy auf. Er setzt sein Vorhaben in die Tat um – und löst ein Drama um Machtspiele im Verhältnis der Geschlechter aus – und die von chronischer Eifersucht geprägte Angst vor Kontrollverlust.

(ewei). Konrad ist meistens schlecht gelaunt. 85 Jahre ist er alt, seit Kurzem Witwer – und nun will seine einzige Tochter Ingrid ihre Freundin heiraten. Damit, fürchtet er, wird sie wohl immer kinderlos bleiben. Das alles ist so gar nicht nach Konrads Geschmack. Die 12-jährige Thurba hat ganz andere Probleme. Nach einem Jahr Flucht vor dem Krieg im Jemen ist sie mit ihrer Mutter und zwei Baby-Brüdern in Deutschland gestrandet. Doch die Familie soll nach Bulgarien zurückgeschickt werden, wo sie erstmals Asyl bekam. Um der Abschiebung zu entgehen, springt Thurba aus einem Fenster der Flüchtlingsunterkunft. Doch nun ist sie allein draußen auf der Straße – und schlüpft in einem unverschlossenen Keller unter. Eines Nachts hört Konrad Geräusche aus seinem Keller, bewaffnet sich mit einer Nagelschusspistole und feuert in die Dunkelheit. Dabei verletzt er Thurba. Er ist völlig durcheinander, doch das Mädchen rührt ihn, ob er will oder nicht. Da schlägt sie ihm einen Deal vor …


KINO

Autoland – abgebrannt FILMEMACHER SIEGFRIED HELD LEGT SEINEN VIERTEN FILM ÜBER SOZIALE BEWEGUNGEN IN UND UM FREIBURG VOR von Erika Weisser

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s ist genau 25 Jahre her: In den frühen Morgenstunden des 20. Oktober 1996 trafen etwa 50 junge Leute in dem bis dahin eher als Möslepark bekannten KonradGuenther-Park im Freiburger Osten ein und machten sich daran, einige der etwa 200 Jahre alten Bäume zu besteigen. Unter der Anleitung professioneller Baumpfleger, erinnert sich der damals etwa 20-jährige Uli Weyer heute, sei man an den Stämmen bis zu einer Höhe von 20 bis 25 Metern hinaufgeklettert. Dort seien provisorische Behausungen errichtet worden – für die „vermutlich erste Baumbesetzung in Deutschland“. Der Freiburger Siggi Held hat eine neue Doku über die damalige Zeit gedreht. „BÖHMische Dörfer GmBh“ nannte sich das Hüttendorf auf und un-

Fotos: © Siggi Held

Vielfältige Proteste: In Breisach per Schiff (o.), Baumbesetzung in Freiburg.

ter den Bäumen, das von einigen Menschen als letzte Möglichkeit angesehen wurde, die Bäume zu retten, die für den geplanten Neubau der B 31-Ost gefällt werden sollten. Seit Jahren schon waren sie mit unterschiedlichen Mitteln gegen diese „Autobahn von Madrid bis Moskau“ durch Freiburg und den Schwarzwald angegangen, nun blieb nur noch diese Hoffnung. Eine vergebliche Hoffnung: Neun Tage später räumte die Polizei das Gelände, die Bäume wurden direkt gefällt und noch vor den Augen der entsetzten Besetzter gehäckselt. Es war ihr Geburtstag, erinnert sich Ellen Koppitsch, und weder zuvor noch hernach habe sie „jemals eine solche Niederlage erlebt“. Koppitsch und Weyer kommen in Siggi Helds neuem Film zu Wort. „Autoland – abgebrannt“ heißt er und er dokumentiert die in den 1980er-Jahren beginnenden Auseinandersetzungen um die bei den jeweiligen Anwohnern allenthalben ungeliebte Straße – mit Archivaufnahmen von damals und rückblickenden Interviews von heute. Dabei unterhält sich der Filmemacher mit Gegnern und Befürwortern der Verlegung der verkehrsreichen Bundesstraße: Zu Wort kommen auch Konrad und Sebastian Haury aus Ebnet, die damals zu der „Notgemeinschaft Ebnet“ gehörten, die sich

Vergebliche Kämpfe: In seinem neuen Film hat Siegfried Held den Widerstand gegen den Neu- und Ausbau der B 31-Ost dokumentiert.

wegen des zunehmenden Schwerverkehrs, der durch den schmalen Ort donnerte und ihn in ein „Drecksloch“ verwandelte, vehement für den Neubau einsetze. Etwa ein Jahr hat der ehemalige Lehrer an dem Film gearbeitet, dem vierten in der Reihe, die die vielfältigen politischen, sozialen und ökologischen Bewegungen dokumentieren soll, die Freiburg „wie keine andere Stadt Deutschlands in den vergangenen 50 Jahren erlebte“– und in denen er teilweise selbst mitmischte. Ein sehenswerter Film mit Bezügen zur Gegenwart des weiteren Ausbaus dieser Straße.

INFO Der Film ist zu beziehen bei: hedko@web.de OKTOBER 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 51


MUSIK

Knisternde Stimmen FREIBURGER POPCHOR „TWÄNG!“ LEGT DEBÜTALBUM VOR

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von Till Neumann

Chorleiter: Adrian Goldner ist der Chef bei Twäng!, er schreibt die Arrangements selbst. Fotos: © Fabio Smitka, Till Neumann

anze 88 Recordingsessions brauchte es, bis alles im Kasten war. Jetzt hat der Freiburger Popchor Twäng! sein Debütalbum veröffentlicht. Die elf Songs bieten modernen A-cappella-Pop, arrangiert von Chorleiter Adrian Goldner. Das Team schwankt zwischen Corona-Frust und Euphorie.

die Gruppe mit zwei Konzerten im ausverkauften Freiburger E-Werk. Nach einer langen Durststrecke müssen Twäng! jetzt kleinere Brötchen backen. Für Goldner ist das bitter. Ausgelaugt habe ihn die Phase: „Wir müssen wieder bei null anfangen.“ Für einen Laienchor geht er äußerst ambitioniert zur Sache. Der mittlerweile in Frankfurt lebende Sänger schreibt die

„Wir sind sowas von aus der Übung“, sagt Adrian Goldner und lacht. Der 29­Jährige ist Chef des preisgekrönten Twäng!-Chors und mit- „Er ist unfassbar gut und kann die genommen von der Corona­ Krise. Die hat Proben und Auf- Leute immer wieder mitziehen.“ ­tritte des 42-Stimmen-Ensem­ bles nahezu unmöglich gemacht. Das hat achtstimmigen Arrangements selbst. AnGoldner beim Releasekonzert der Platte dere Chöre greifen oft auf Vorlagen zugemerkt. Schön sei es gewesen, aber längst rück. Für Sänger Björn Jakob ist das ein entscheidender Vorteil: „Adrian kennt nicht perfekt. Präsentiert hat der Chor seine Platte die Stimmen und kann die Arrangements „Pop!“ Mitte September im ehemaligen dementsprechend anpassen.“ Für Jakob, Autohaus „Südwest-Auto“. Auch die bekannt als Fatcat-Manager, ist der ChorLocation zeugt von der schwierigen Pha- leiter ein Ausnahmetalent: „Er ist unfassse. 2018 hatte Twäng! beim 10. Deut- bar gut in dem, was er macht, und techschen Chorwettbewerb den zweiten nisch abartig krass.“ So könne er die Platz belegt. Ein Jahr später begeisterte Leute immer wieder mitziehen.

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Nötig war das auch für die Albumproduktion. In Jakobs Studio in Gundelfingen startete die Gruppe Mitte 2019 die Aufnahmen. Eineinhalb Jahre dauerte es, bis alles im Kasten war. Auch die Pandemie bremste sie dabei. Goldner berichtet von 88 Recording-Sessions, bei denen er je eine Stimmgruppe aufnahm. „Es hat ultralange gedauert“, sagt der Chorleiter. Mit Björn Jakob und Johannes Jäck arbeitete er an der Produktion. Die nötige Zeit hätten sie „massiv unterschätzt“. Umso glücklicher ist er, dass das Album jetzt da ist. 500 CDs hat er pressen lassen und die Platte bei Streamingportalen eingestellt. Zu hören sind Songs wie Haus am See (Peter Fox), Blinding Lights (The Weeknd) oder Alaska von Maggie Rogers. Letzterer hat sich zu einem der Favoriten des Chors entwickelt. „Das ist der simpelste Song und er klingt am coolsten“, sagt Goldner. Auch der Opener Change on the Rise (Avi Kaplan) zeigt die Qualitäten des Ensembles. Mit pathetisch-basslastigen Flächen, einer stampfenden Beatbox und knisternden Stimmen geht der Song unter die Haut. Auch bei Sängerin Lisa Schmiedeshoff: „Das Lied ging so richtig in den Körper und ins Herz.“

„Die perfekte Mischung aus Freizeitspaß und Ambition“ Gegründet haben den Chor 2014 drei Sängerinnen. Schmiedeshoff ist seit der ersten Probe dabei. „Twäng! ist für mich die perfekte Mischung aus Freizeitspaß und Ambition“, erzählt die 30-Jährige. Bei Wettbewerben mitzusingen, kannte sie bis dahin nicht. „Vor allem durch solche Ziele haben wir extrem viel gelernt und geschafft.“ Trotzdem werde viel gelacht und gescherzt. Dass es Goldner während des Lockdowns bei digitalen Proben „einige Monate mit uns als Alleinunterhalter ausgehalten hat“, findet Schmiedeshoff beeindruckend. Ihr Wunsch wäre lediglich, dass er beim Proben manchmal klarere Ansagen macht, „bei denen er dann auch nach ein paar Wochen noch bleibt“. Das habe sich aber im Verlauf der Jahre schon gebessert, ergänzt sie und lacht. Auch Björn Jakob schätzt die Dynamik der Gruppe: „Es gibt keine klassische Chordiktatur.“ Jeder habe die Möglichkeit, Ideen einzubringen. Die Formation sieht der 26-Jährige mit der neuen Platte bestens aufgestellt: Twäng! könne sich als semiprofessioneller Laienchor im internationalen Vergleich positionieren. Wie groß der Rückhalt ist, hat die Crowdfunding-Aktion zum Album gezeigt: 10.000 Euro kamen dabei 2019 rein. Die Kosten habe das zwar gedeckt, sagt Goldner. Die unzähligen Arbeitsstunden seien aber nicht mit eingerechnet. Er ist dennoch happy: „Den Aufwand war es wert.“ Jetzt hofft er, dass Auftritte wieder normal werden. Bis dahin können sich Fans das Album reinziehen und dabei vielleicht sogar Luftpolsterfolie zerdrücken. Die ist auf dem Albumcover zu sehen. Die Erklärung dafür hat Goldner griffbereit: Weil es „pop“ macht, wenn man draufdrückt.

Trauer um Emanuel Teschke EX-BASSIST DER BAND OTTO NORMAL GESTORBEN Mit 34 Jahren ist der Freiburger Musiker Emanuel Teschke einer Krebskrankheit erlegen. Der von vielen geschätzte Bassist war zuletzt äußerst produktiv: Als „EEEE“ brachte er 2020 sein Debütalbum „Comfort is yours“ heraus. Sogar im Krankenhaus schrieb er Songs für eine EP. Weggefährten trauern um einen virtuosen und bodenständigen Menschen. „EEEE, du bist mit deiner Person, deinen Songs, deinen Späßen und Absurditäten noch so präsent, dass es uns schwerfällt, Abschied zu nehmen“, schreibt die Band Otto Normal auf Instagram. Bei ihr war Emanuel Teschke jahrelang als Bassist aktiv und ein prägendes Gesicht. Auch auf dem noch unveröffentlichten Album „Future Shit“ wird Teschke zu hören sein. Der Freiburger Drummer Frederik Heisler ist ebenfalls jahrelanger Freund. Gemeinsam spielten sie in der Funkbank „Funkreich“ und dem Kollektiv „Mama Magnet“. Heisler beschreibt Teschke als Naturtalent. Autodidaktisch habe er sich das Bassspielen beigebracht. Bei der ersten gemeinsamen Session hätten sie zu Red Hot Chili Peppers gejammt. „EEEE kannte die Songs von A bis Z, das war beängstigend gut ausgecheckt“, erzählt Heisler. Teschke war als Sohn einer Musikerfamilie in Denzlingen und Köndringen aufgewachsen. Später studierte er an der Musikakademie Basel, machte dort 2012 seinen Master als Musikpädagoge. Als Musiker, Komponist und Lehrer spielte Teschke auch Geige, Klavier und Gitarre. Aber am Bass hatte er fast Kultstatus: „Die Fans in der ersten Reihe forderten Soli und haben seine Lines lauter mitgegrölt als den Gesang“, erinnert sich Heisler. Dennoch sei Teschke lieber im Hintergrund geblieben. Im vergangenen Jahr widmete er sich seinem Soloprojekt. Für die zehn Songs seines Debütalbums „Comfort is Yours“ spielte er alle Instrumente selbst ein und sang. „Unentwegt, bis in die Morgenstunden“ habe er dafür geackert, berichtet Heisler. Neben der Musik schraubte Teschke gerne an Autos rum und intensivierte sein Französisch für Reisen und Jazzkurse in Frankreich. Die Freiburger Musikszene hat mit Emanuel Teschke eine prägende Figur verloren. Till Neumann

Geschätzer Musiker: Emanuel Teschke alias EEEE Foto: © Felix Groteloh

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Sound für unterwegs

MONKEY BUSINESS Rock ’n’ Roll

TRÜMMER

FRÜHER WAR GESTERN Indie-Rock

te des M

Foto: © Benedikt Grundberger

3 FRAGEN AN Seraphim Grundberger Einen Wagen voller Musik: Den hat sich Multiinstrumentalist Seraphim Grundberger gebaut. Mit „Seraphim’s Soundmobil“ spielt er als improvisierender Alleinunterhalter. Im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann erzählt der 34-jährige Freiburger von Geklimper, Flexibilität und seinem Namen. Was verbirgt sich hinter Seraphim’s Soundmobil? Ein experimentierfreudiger Musiker mit Liebe zur Improvisation, allerlei kreative Instrumente, gutes technisches Equipment und das nötige „Knowhow“, um einen tollen Sound zu kreieren. Das Soundmobil ist ein individuell gebauter Holzwagen mit Loopstation, Mischpult und Verstärker. Das alles stromautark mit Akku, das schafft maximale Flexibilität für jedes Event. Was für Instrumente nutzen Sie? Touri-Souvenirs aus Lateinamerika, hochwertige Flöten aus Asien, Shrutibox, Handpan, Gitarre, Klangschale. Dazu allerlei Gerassel und Geklimper – eigentlich alles, was mir in die Hände kommt. Natürlich auch die Stimme und meinen Körper als Klangraum. Auch eine gechillte Beatbox ist im Programm. Sie nennen sich Pacha Gingo, warum? Pacha bedeutet Erde in Quechua. Auf einer kleinen Insel diesen Sommer in Costa Rica schrieb ich meinen alten Künstlernamen „Pacha Gringo“ auf eine Kokosnuss und legte sie an einen besonderen Ort. Ein paar Tage später las ich Pacha Gingo ohne „r“. Entweder ich habe das „r“ vergessen oder es ist auf magische Weise entschwunden. www.pachagingo.com 54 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2021

Musikalische Zeitreise

Indie-Rock mit Verstand

(tln). Nina & the Hot Spots – der Bandname klingt aus der Zeit gefallen. Das hat einen einfachen Grund: Das Freiburger Quintett lässt sich von der Musik früherer Dekaden inspirieren: Rock ’n’ Roll, Swing und Rockabilly gehören zu den Zutaten, die Nina und ihre vier Mitmusiker für ihre Songs anrühren. Die Nummern auf dem Debütalbum beflügeln Beine und Vorstellungskraft. Der Vorhang des Kopfkinos geht auf, und der geneigte Hörer steigt mit Doc Brown und Marty McFly aus dem zeitreisenden DeLorean. Haltestelle: Irgendwo in den USA der 1950er-Jahre. Sicher, weltbewegend ist das nicht. Aber zeugt es angesichts einer ganz anders gearteten zeitgenössischen Musik nicht von Kreativität, sich an der Kunst früherer Epochen abzuarbeiten? Sängerin Nina Salhab erweckt die dreizehn Songs mit ihrer ausdrucksstarken Stimme zum Leben, musikalisch setzt vor allem Uwe Pickardt mit seinen Saxophoneinlagen Akzente. Bei Nummern wie dem Titelsong oder der bereits 2020 erschienenen Single „Barber Bop“ wächst die Lust, die Gruppe in einem möglichst vollen Club live zu erleben. Man braucht ja schließlich keinen DeLorean für ein Musikerlebnis im Stile vergangener Tage.

(tln). Fünf Jahre sind seit dem zweiten Album von „Trümmer“ ins Land gezogen. Doch keine Sorge: Die Jungs aus Hamburg haben ihr Handwerk nicht verlernt. Wer auf deutschsprachigen Indie mit unkonventionellen und durchdachten Texten steht, kann getrost zugreifen. Inhaltlich arbeiten sich „Trümmer“ in ihren elf Songs an verschiedenen Themen ab. „Ich wär so gern ein Optimist“, gesteht Frontmann Paul Pötsch im Opener „Wann wenn nicht“ über verzerrte Gitarren und ruft dazu auf, etwas zu einer besseren Realität beizutragen. Deutliche Worte findet das Quartett in der Nummer „Draußen vor der Tür“: Pötsch und Co. positionieren sich dezidiert gegen Populismus und Nationalismus. Und wie nebenbei hat es mit „Tauben an der Ihme“ ein herrlich unkitschiges und ironisches Stück über den großen lyrischen Dauerbrenner, die Liebe, auf den Longplayer geschafft. Musikalisch packt die Band ihre Texte in ein gitarrenbasiertes Indie-Gewand, mal getragen, mal im Midtempo, dann wieder nach vorne. Fazit: Das neue Werk von „Trümmer“ überzeugt. Und motiviert, ganz im Sinne des Titels des Highlights der Platte, mal über den Tellerrand rauszublicken und ein bisschen mehr Utopie zu wagen: „Aus Prinzip gegen das Prinzip“ – eine perfekte Selbstbeschreibung der Band.

on ats

NINA & THE HOT SPOTS

Pl a t

MUSIK


KOLUMNE DIE ÄRZTE

MEEK MILL

Rock

US-Rap

DUNKEL

EXPENSIVE PAIN

... heute extraterrestrisch Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Gute, alte Punks

Schmerz und Glamour

(db). Knapp ein Jahr nach ihrem bisher letzten Album „Hell“ legen Die Ärzte mit „Dunkel“ nach. Die neue Scheibe bietet ein buntes Potpourri an musikalischen Einflüssen: Zwischen Barbershop, EDM und Sergio-Leone-Gedächtnismundharmonika blitzen die obligatorischen treibenden Gitarrenläufe auf, die Fans lieben und erwarten. Das klingt mal ungewohnt, mal virtuos. Die Texte bewegen sich leider in Abstufungen alberner Dümmlichkeit und gratismutiger Belanglosigkeit. Aller Ironie zum Trotz zünden Zeilen wie „Ob wir wohl bald zusammenwohnen? Und hoffentlich hat sie Brüste wie Melonen“ von fast Sechzigjährigen einfach nicht mehr. Anfang der 90er mag es irgendwie subversiv gewesen sein, Nazis als „Arschloch!“ zu bezeichnen. Heute lockt das Statement, Rechtsradikale seien doof, keinen müden Hund mehr hinterm Ofen vor. Apropos: Neue Tricks lernen Hunde im Alter auch nicht mehr. Es fällt also schwer, den Ärzten das vorzuwerfen, was sie kompromisslos seit fast vierzig Jahren am besten machen: verdammt spaßige Rockmusik, die zum Feiern und Mitsingen einlädt und im Zweifel politisch nichts falsch macht. Die treue Fangemeinde der deutschen Rock-Institution wird das Album wieder zu Recht bejubeln. Alle anderen verpassen nichts, wenn sie weghören.

(tln). Erfolg ist der für den Grammy nominierte Rapper Meek Mill gewöhnt. Aber auch den Schmerz. Mit seinem neuen Album „Expensive Pain“ gibt der Mann aus Philadelphia dem Auf und Ab einen Namen. 18 Songs sind auf seiner fünften Soloplatte. Das Intro „Hate on Me“ erinnert flowtechnisch an Kendrick Lamar. Wütend klingt der Rapper, wenn er gegen die anderen austeilt. So geht das auch in „Outside“ weiter. Energie hat das, auf viel Tiefgang darf man nicht hoffen. Für das inflationär verwendete „Bitch“ gäbe es auch Alternativen. Thematisch geht’s bei dem 34-Jährigen auch um psychische Probleme und das US-Strafrecht. Am liebsten erzählt er aber von Ruhm und Reichtum, dem Glamour im Kontrast zu seiner schwierigen Vergangenheit: Als 13-Jähriger habe er kaum etwas zu essen gehabt. Sein Vater wurde erschossen, als er ein Kind war. Ein Highlight ist der Titeltrack „Expensive Pain“. Meek Mill erzählt auf einem souligen Beat seine Geschichte: Es geht um Gefängnisstrafen, Konflikte mit der Polizei und seine heutige Walt-Disney-Traumwelt. Solchen Sound hätte das Album mehr vertragen können. Der Mix aus Trap, R’n’B und Pop-Elementen wirkt willkürlich. Auch wenn das an den Rapskills des erfolgsverwöhnten Künstlers nichts ändert.

Warum sich nicht mal in den Weiten des Weltalls umhören? Wir haben auf der Erde genug zu tun, aber auch im Orbit sollte es gewisse Mindestgeschmacksstandards geben, zumal wir ja irgendwann die verbrannte Erde eh zurücklassen müssen, um uns in der Milchstraße ein neues Zuhause zu suchen. Also zurück in die Zukunft. Der Sänger Andy Andres war diesbezüglich sehr vorausschauend und beschäftigte sich 1978 schon mit fremden Welten. In dem Song „Wenn ein Wega-Junge Liebeskummer hat“ thematisiert er den Liebeskummer eines jungen Mannes vom Planeten Wega. Das ist naheliegend. Ein grüner Junge namens XP² setzt sich aufgrund von Liebeskummer in sein Raumschiff, kurvt durch die Galaxis und landet schließlich auf der Erde, wo er dann auf den Sänger trifft. Dem schüttet er sein Herz aus und bittet ihn um Rat. Er ist sozusagen der Vorläufer von Fred vom Jupiter und Codo von DÖF, nur eben in schlecht. Es fiept und pluckert, ein Synthi wird exzessiv bemüht, die 70er halt – ziemlich crazy und ganz heiß auf die sexy Future. Irgendwann werden die Außerirdischen selber zum Mikro greifen, das Gute daran: Wir verstehen es dann nicht: Sfsdäärüghjzjzzzz nhtääölkkukzklkkzkk äääzkzzkulkjeeöökkkzhjt ? In etwa so – nur dass dies bloß Kaiserstühler Dialekt ist. Die Vulkanier sind ja irgendwie auch nicht von dieser Welt. Von hinterm Mond grüßt Ralf Welteroth für die Geschmackspolizei


LITERATUR

Beharrlich und begeistert DIE FREIBURGERIN CORNELIA HOLFELDER-VON DER TANN ERHÄLT DEN ERSTMALS VERGEBENEN REBEKKA-ÜBERSETZER-PREIS

B

von Erika Weisser

Die Farbe Lila von Alice Walker Neuübersetzung: Cornelia Holfelder-von der Tann Verlag: HarperCollins 2021 288 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro Erscheint am 23. November

ei der Frage, ob sie es je bereut habe, als Übersetzerin zu arbeiten, zögert Cornelia Holfelder-von der Tann nur ganz kurz. „Nein“, antwortet sie dann, sie habe „in all den Jahren nie daran gedacht, etwas anderes zu machen“. Seit genau 45 Jahren übersetzt die 71-Jährige die Werke englischsprachiger Autoren ins Deutsche – und schreckt dabei vor keinem Genre zurück. Nun hat sie den vom „Freundeskreis zur Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen“ in diesem Jahr erstmals vergebenen Rebekka-Preis bekommen. Mehrere Stifterinnen, die anonym bleiben wollen, haben diesen mit mindestens 5000 Euro dotierten Preis ins Leben gerufen; er wird von nun an jährlich verliehen – an Menschen, die seit vielen Jahren beharrlich, begeistert, besonders gut – und häufig schlecht bezahlt – Belletristik und Sachbücher übersetzen. Bei der Entscheidung der Jury für Holfelder-von der Tann, betonte Freundeskreis-Präsidentin Karen Nölle bei der Preisübergabe im Literaturhaus Freiburg, habe auch ihre „enorme Kollegialität“ eine große Rolle gespielt. Die so Geehrte freut sich natürlich über Preis und Lob. Einige der preisrelevanten Eigenschaften, sagt sie, habe sie tatsächlich, etwa Beharrlichkeit und Neugier, sonst hätte sie „diesen Job gar nicht machen können“. Und Kollegialität in Form von Weitergabe von Aufträgen an junge Kolleg·innen, themenbezogenen Handreichungen oder konkreter Unterstützung bei schwierigen Texten sei für sie „eine Selbstverständlichkeit“. Allerdings würde sie als Kriterium für gute Übersetzungen auch noch Redlichkeit anfügen. Freilich nicht im Sinne von „sie hat sich redlich bemüht“, sondern im Sinne von Loyalität zum Originaltext, der den Lesern eines anderen Sprachraums mit all seinen historischen und kulturellen Dimensionen verständlich gemacht werden und dennoch seine Eigenheiten behalten müsse.

56 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2021

Foto: © Erika Weisser

Das gelte insbesondere bei belletristischen Werken, in denen bestimmte orts-, zeit-, klassen- oder bevölkerungsgruppenspezifische Umgangssprachen verwendet werden, wie etwa das Black American English. Hier müsse eine spezielle Sprache gefunden werden, die „den dialekttypischen Eigenschaften des Originals entspricht und hierzulande dennoch keiner Gegend zugeordnet werden kann“: Mississippi-Englisch könne man nicht einfach in den Soziolekt eines Schwarzwaldtals übertragen. Die Dialektübersetzung sei zwar schwierig, mache aber großen Spaß, sagt Holfelder-von der Tann, die nach ihrem Zweiten Staatsexamen lieber Übersetzerin als Lehrerin werden wollte. Nur leider bleibe viel zu selten Zeit für das spielerische Suchen-und-Finden des passenden Ausdrucks: Um „einigermaßen über die Runden zu kommen“, arbeite man immer an mehreren Übersetzungsaufträgen gleichzeitig. Da sei das Internet eine große Hilfe, es ermögliche eine schnelle und tiefgehende Recherche, dadurch werden die Übersetzungen genauer. Davon habe sie auch bei der eben abgeschlossenen Neuübersetzung von Alice Walkers in den 1930er-Jahren spielenden Klassikers „Die Farbe Lila“ profitiert.


FREZI

GENTZEN ODER: BETRUNKEN AUFRÄUMEN

SÄWENTITU

von Bea von Malchus Verlag: Eigenverlag 2021 182 Seiten, broschiert Preis: 25 Euro

von Dietmar Dath Verlag: Matthes & Seitz 2021 604 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro

SCHLUSS MIT DER MEINUNGSFREIHEIT

von Florian Schroeder Verlag: dtv, 2021 368 Seiten, Taschenbuch Preis: 16,50 Euro

Earl Grey und Dosenravioli

Die Suche nach Erinnerung

Die Dialektik des Widerstands

(ewei). Das Buch sieht aus wie ein altes Schulheft. Und die darin enthaltenen Geschichten sind manchmal so kurz wie die Aufsätze, die eine mitten in der Pubertät steckende 13-Jährige halt so zustande bringt. Mit Mühe und Not. Außer wenn sie mal Lust zum Schreiben hat. In Bea von Malchus’ Geschichten – auch den längeren – stecken allerdings weder Mühe noch Not noch Lust- oder Einfallslosigkeit. Im Gegenteil: Sie schreibt witzig, beschwingt und mit einer gehörigen Portion Selbstironie von der Zeit der oft recht orientierungslosen körperlichen und geistigen Umstrukturierung. Und die fällt in ihrem Fall in das politisch ereignisreiche Jahr 1972. Sie kocht sich gerne einen Earl Grey – weil dieser seit 100 Jahren „durchschnittlichen Menschen auf der ganzen Welt das Gefühl gibt, ein bisschen aufregend zu sein“. Sie isst Dosen-Ravioli und backt ungenießbare Kuchen, die sie der Familia als Wunderwerk der Backkunst anpreist. Überhaupt die Familie. Sie liebt und hasst sie – und wirft ihr vor allem vor, sie vom schönen Freiburg ins trostlose Dortmund verschleppt zu haben. Inzwischen ist Bea von Malchus längst wieder im Breisgau, macht Erzähltheater und manchmal Dinge, die sie sonst „eigentlich nicht so macht“ – etwa Bücher wie dieses schreiben.

(ewei). Gentzen hieß mit Vornamen Gerhard und zählte zu den genialsten Logikern seiner Zeit. Doch inzwischen ist dieser Mitbegründer der modernen mathematischen Beweistheorie weitgehend vergessen – auch von Informatikern, obwohl deren Arbeit auf seinen Erkenntnissen aufbaut. Der Freiburger Autor und Reinhold-Schneider-Preisträger Dietmar Dath geht auf Spurensuche – und beginnt mit Gentzens letzten Tagen vor seinem Hungertod 1945. Doch bald geraten die Leser in einen Denkraum, in dem es von mehr oder weniger bekannten Wissenschaftlern, Autoren, Philosophen und Popstars, von Verschwundenen, Namenlosen und sonstigen Protagonisten nur so wimmelt. Darunter ist Dietmar, der seit zehn Jahren an einem Roman über einen berühmten Logiker schreibt, außerdem Frank Schirrmacher, Jeff Bezos und Lady Gaga. Das ganze Personal dieses erstaunlichen „Kalkülromans“ stellt sich in den Dienst der Suche nach der Grundlage des Lebens in der Gegenwart. Ein rasanter, verrückter, anspruchsvoller Roman über Gentzens Beweistheorie, gleichzeitig eine kluge Gesellschaftsanalyse. Allerdings darf man vor Mathematik, Informatik und Logik nicht zurückschrecken und sollte bereit sein, Sätze manchmal mehrfach zu lesen. Das Werk war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis.

(bar). Wer das jüngste Buch von Florian Schroeder von hinten liest, landet bei der „Anleitung zur Meinungsfreiheit“. Zehn Punkte lang. Kurz, knapp, knackig – und konsequent in die Irre führend. Alles, was dort versammelt ist, ist ironisch gebrochen, legt eine Fährte, der nur diejenigen folgen, denen die Lust an der Debatte lange vergangen ist, denen das gründliche Denken, hach, zu anstrengend ist. Für mehr Hirn und weniger Hysterie, heißt es im Untertitel, das bei Schroeders durchaus als grandios zu bezeichnendem Auftritt bei den Stuttgarter Querdenkern seinen Auftakt findet. Hirn zu aktivieren, bevor in den „sozialen“ Netzwerken oder Kommentarspalten anspruchsvollerer Medien getextet wird, ist nun nicht jedermanns Sache. „Warum ich das Internet hasse“, ist ein Kapitel überschrieben und der Rezensent denkt: Genau meine Meinung. Darauf folgt aber „Warum ich das Internet liebe“ und, ja, es gibt auch die liebenswerten Seiten. Genau diese Denkbewegung zieht sich durch das Buch, deren Protagonisten Helen und Hans-Peter sind. Sie ist auf dem hyperkorrekten Moralticket unterwegs, er ein Märtyrer der Meinungsfreiheit. Zwischen den beiden oszillieren die Gedanken hin und her, Schroeder hat Adorno und Horkheimer gelesen, dialektisch zu denken, plumpen Meinungen zu widerstehen ist seine Aufforderung an die Leserschaft. Es gibt trotzdem auch was zu lachen. OKTOBER 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 57


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