chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 7/20 10. Jahrgang

Interview mit dem Freiburger REGISsEUR Pepe Danquart

Leinwand

Musik

chilli kreiert sechs Freiburg-Krimis

Der Mann der 100 Grammophone

Literatur

Neue Studie: Wie Menschen Freiburg gestalten


Kultur

Freiburg goes Crime City! chillisten schreiben SCI-Fi-storyboard für einen neuen Krimi

N

von Arwen Stock & Philip Thomas

etflix, ZDF und Co. haben Freiburg als Krimi-Drehort entdeckt. Doch auch jenseits von Blauer Brücke, Münster, UB und Platz der Alten Synagoge gibt es tolle Locations für Filmproduktionen. Das chilli stellt sechs starke Spots und potenzielle Plots dazu vor.

„Nur Tarnung“ Das Wasserschlössle im Sternwald sieht märchenhaft aus. Seit 1895 versorgt es den Freiburger Stadtteil Wiehre mit Wasser. Doch historische Fassade und Innenraum könnten auch der perfekte Drehort für einen Krimi sein.

Fotos: © iStock/RgStudio, badenova/Jonas Conklin, FWTM/Schoenen, Patrick Hermann

Die Sommernacht ist lau. Der Mond scheint auf Sternwald und Wasserschlössle. Ein Mann und eine Frau küssen sich auf der Wiese vor der eindrucksvollen Fassade. Plötzlich ein Geräusch, als ob eine Tür ins Schloss fällt. Das Paar erschrickt, flüchtet.

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„Na endlich“, hallt es im Inneren des Wasserschlössles. Der Kegel einer Taschenlampe schillert auf der Wasseroberfläche. Der Pegel in den Kammern Märchenhaft: die historische Fassade des Wasserschlössles im Sternwald


Kultur liegt tief. Nackte Frauenfüße bewegen sich kaum hörbar auf dem Steg zwischen den Kammern, die Stilettos schwingen in der Hand. „Zuerst das Geld“, sagt die junge Frau. Doch der Freier will nicht warten, reißt die Schöne an sich. Sie wehrt sich. Er schlägt sie, so fest, dass die junge Frau mit dem Kopf an die Stegkante knallt und ohnmächtig zu Boden geht. „Du blöde Schlampe“, tobt der Mann. Rasend vor Zorn packt er sie und wirft sie in die Wasserkammer. Am nächsten Morgen melden die Sensoren mangelhafte Wasserqualität. Ein Techniker fährt zur Überprüfung zum Wasserschlössle: In einer der Wasserkammern schwimmt die Leiche der jungen Frau. Die weiteren Ermittlungen ergeben, dass sie Studentin war. Von ihrem „Nebenjob“ wusste niemand, auch nicht die Freundin in ihrer WG. Und wie konnte sich der Mörder Zugang zum alarmgesicherten Wasserschlössle verschaffen? Auch die Aufzeichnung der bewegungsaktiven Videoüberwachung weist keine Auffälligkeiten auf. Die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Erst als sich das Paar meldet, das durch das Türgeräusch in seinem Liebesspiel gestört wurde, erhalten die Beamten den entscheidenden Hinweis. Es ist nicht der Bericht über das Geräusch, das weiterhilft, sondern die Fähigkeit der beiden IT-Doktoranden. Sie können die Bilder des manipulierten Überwachungssystems wiederherstellen. Denn die brandneue Software zum Tarnen von digitalen Informationen hatten die beiden mit ihrem Professor erarbeitet.

Der Solar-Tower am Hauptbahnhof ist nach dem Münster das zweithöchste Gebäude in Freiburg

„Höhenrausch“ Der Solar-Tower am ­Freiburger Hauptbahnhof ist seit 1997 nicht nur das höchste Solarkraftwerk Süddeutschlands, sondern nach dem Münster auch das zweithöchste Gebäude Freiburgs. Ein exponierter Ort mit fantastischen Perspektiven – auch auf die Drogenszene. 240 Solarmodule an der Südfassade, 19 Stockwerke hoch: Es ist ein früher Morgen im Sommer, die Sonne geht bereits auf. Zwei Jugendliche klettern die Fassade des Solar-Towers hoch. Der Schnellere macht sich oben mit seinem Jumpsuit bereit, um über die Schienen in den Stühlinger zu gleiten. Da bleibt der andere an der Aufhängung eines Solarmoduls hängen, kann sich nicht befreien. Doch es ist zu spät: Sein Kumpel ist schon zum Flug über die Schienen gestartet. Während der Festhängende

verzweifelt um Hilfe ruft, ist für den anderen die Ablenkung während des Fluges folgenschwer. Er stürzt und stirbt. Genauso wie sein Freund, den die Kraft verlässt. Roofing oder Rooftopping nennt man diese illegalen, brandgefährlichen Kletteraktionen. Während die Kriminalbeamten zunächst von jugendlichem Leichtsinn ausgehen, ergibt die Obduktion der zwei Leichen, dass sie bei der Tat unter starkem Drogeneinfluss standen. Die Substanz im Blut der Toten ist jedoch unbekannt. Bei den weiteren Ermittlungen melden sich Freunde der beiden, die ebenfalls von diesem Drogencocktail probiert haben, und berichten von größenwahnsinnigem Mut. Die Spur führt in die Drogenszene auf dem Stühlinger Kirchplatz und von dort zu einem ominösen Forscher. Bei der Durchsuchung seines Labors stoßen die Beamten auf ein illegales Experiment, das Menschen zu manipulierbaren, übermutigen Kämpfern machen soll. Die beiden jugendlichen Kletterer waren so leichtsinnig, die neue DesignerDroge zu probieren – und wurden dabei zu Versuchskaninchen eines Wahnsinnigen.

Ein Hingucker: die bunt leuchtende Bar der Pizzeria Picasso

„Picassos Tränen“ Dank der RTL2-Show „Die Kochprofis – Einsatz am Herd“ ist die Pizzeria Picasso bereits dreherprobt. Vor gut einem Jahr kam noch die leuchtend neue Cocktail-Bar dazu. Geschäftsführer Baris Demir würde auch für einen Freiburg-Krimi seine Location zur Verfügung stellen. Na dann: Film ab! Die farbig leuchtende Bar erhellt die dunkle Herbstnacht. Vor der Pizzeria Picasso in der Freiburger Hummelstraße 20 ist es ruhig. Der Verkehr hat nachgelassen. Innen kauft noch ein Gast zwei Cocktails und zwei Pizzen, murmelt leise: „Bitte zum Mitnehmen“. Der Mann ist klein, unscheinbar. LoungeMusik klingt durch den Gastraum. Draußen ist es still. Der Mann trägt Pizzen und Cocktails Richtung Kronenbrücke. Seine Schritte hallen zwischen den Häusern, vermischen sich mit dem surrenden Geräusch der Straßenbahn, das stadtauswärts verschwindet. Plötzlich sind da vier Hände, zwei greifen nach seinem Hals, zwei nach der Lieferung. Der Mann wehrt sich. In einer weiteren Hand blitzt ein Messer. Dunkelheit.

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Kultur

Imposant: die parapsychologische Beratungsstelle in der Freiburger Hildastraße

mit seinen feinen Freunden den Mord geplant hatte – verwöhnt, arrogant und kalt. Für den Bruder war er nicht gut genug für die Tochter aus feinem Hause. Doch die junge Frau weint um den jungen Mann aus einfachen Verhältnissen. Im Picasso bricht sie ihr Schweigen.

„Wie von Geisterhand“ Sie ist deutschlandweit einzigartig: Die parapsychologische Beratungsstelle in der Freiburger Hildastraße geht Spukphänomenen auf den Grund. Und das Villengebäude in der Wiehre selbst scheint perfekt für einen Grusel-Krimi zu sein. Eine ältere Frau hetzt durch ihr vornehmes Vorstadthaus, gefolgt von kreischenden Geräuschen, Türen schwingen zu, Möbel fallen um. In Panik flieht sie ins Dachgeschoss. Das Fenster der Dachgaube steht offen: Der Sprung nach draußen soll sie retten. Doch sie stürzt tödlich. Die Ermittler können sich den Tod der Frau nicht erklären. Auch das Durcheinander wirft Fragen auf. Ein Experte der parapsychologischen Beratungsstelle in Freiburg meldet sich und berichtet, die Frau habe sich wegen der Phänomene bereits an ihn gewandt. Schritt für Schritt entwirren Ermittler und Spukforscher die Hintergründe des ominösen Sturzes, der das gewünschte Ziel eines perfide geplanten Racheaktes war.

„Antrag abgelehnt“ Das Prüfungsamt der Albert-Ludwigs-Universität ist unter Studierenden berüchtigt. Die Gemeinsame Kommission der Philologischen und der Philosophischen Fakultät hat schließlich unzählige akademische Karrieren auf dem Gewissen. Im Treppenhaus riecht es nicht nur nach Angstschweiß, auch der Geruch von einem 2012 verübten Buttersäureanschlag weht noch durch die Gänge. True Crime: Vor dem Prüfungsamt der Uni fürchten sich Studierende mehr als vor jedem Krimi

Sven steht der Schweiß auf der Stirn. Seine zittrigen Hände versuchen seinen eilig ausgefüllten Antrag auf Wiederholung einer Studienleistung nicht zu zerknittern. Der Medien-Student sitzt in langer Reihe auf der knarzenden Holztreppe im Freiburger Prüfungsamt. Im Kopf geht er seine Darstellung immer wieder durch: „Es tut mir aufrichtig leid, ich habe mich leider für das falsche Modul eingetragen und konnte meine Anmeldung in dem fünftätigen Zeitfenster wegen der Feiertage nicht rückgängig machen.“ Sven kämpft wie ein Löwe, doch gegen die Papiertiger der Gemeinsamen Kommission ist der junge Mann machtlos. Sein Antrag wird mit einem dicken, roten Stempel abgelehnt. Kurz vor seinem Abschluss muss der bisherige „Mozart der Medienkulturwissenschaft“ die Uni verlassen. Er sinnt auf Rache. Sven nutzt sein Wissen fortan für das Böse, kapert bald Radiostationen, Druckerpressen, Social-Media-Kanäle und stürzt Freiburg mit

Fotos: © pt

ner Pizzeria. Gleich auf der ersten Seite sieht er das Gesicht des unscheinbaren Gastes wieder: „Leiche gefunden“ titelt die Presse und „Polizei bittet um Hilfe zur Identifizierung“. Unter der angegebenen Telefonnummer erreicht er die Mordkommission. In der Folge enthüllt sich die Geschichte um einen sehr schüchternen jungen Mann, der zum Studium nach Freiburg kam und blieb – einer heimlichen Liebe wegen. Die Polizei kann anfangs kaum weitere Kontaktpersonen des jungen Mannes ermitteln, so zurückgezogen und schüchtern hatte er all die Jahre in einem Kellerzimmer nahe der Dreisam gelebt. Dann kommt eine junge Frau in die Pizzeria. Sie kommt dem Geschäftsführer etwas verwirrt vor, stellt komische Fragen. Irgendwie passen weder ihr Alter noch ihr Auftreten zum gepflegten Erscheinungsbild. Der Picasso-Betreiber ruft den zuständigen Kommissar an, verwickelt dann die junge Frau in ein Gespräch. Später finden die Ermittler heraus, dass der Bruder der heimlichen Liebe des jungen Mannes


Kulturnotizen

„Die Camper“ Die Freiburger Wohnungsnot ist akut: Zahlreiche Bürger satteln um, kaufen sich ein Wohnmobil und ziehen auf den großen Stellplatz im Stadtteil Stühlinger. Die Parallelgesellschaft ist dem Rest der Stadt ein Dorn im Auge. Als Bagger für den Bau teurer Penthouse-Wohnungen anrollen, eskaliert die Lage um die Wagenburg. Ingrid und Werner sind seit zwei Wochen stolze Besitzer eines brandneuen Wohnwagens. Das schicke Teil hat ein kleines Vermögen gekostet, war aber immer noch billiger als drei Monatsmieten in ihrer alten Wiehre-Wohnung. Die beiden gewöhnen sich schnell an das Leben im Wagen. Das wird immer ursprünglicher. Bald wächst Obst und Gemüse zwischen Reifen, Wasser gibt’s aus dem kleinen Bach, der den Stellplatz umspült, und hinter Wänden aus Kunststoff und Holz wird bald Joster gebrannt. Die Siedlung wird selbstständiger und schließlich autark. Eigenes Ärztehaus, eigene Verwaltung, schließlich herrschen in „Freiburg-Burg“ eigene Gesetze. Während die Spaltung vom Rest der Stadt Ingrid große Sorgen bereitet, wird ihr einst schweigsamer Mann Werner zum Häuptling und spirituellen Anführer der Siedlung. Gerüchte von Tieropfern und Götzenbildern grassieren in Freiburg. Es kommt zum offenen Konflikt. Als im nahegelegenen Bauamt Planungen laut werden, den Stellplatz mit teuren Wohnungen zu verdichten, stellt sich Ingrid zwischen die Fronten.

Neu: kulturrettungfreiburg.de Die Fraktionsgemeinschaft „Eine Stadt für alle“ unterstützt die von Freiburger Kulturschaffenden initiierte Petition zur Rettung der Kultur in Freiburg. Der nahezu komplette Stillstand im Konzert- und Theaterbetrieb, der fast unmöglich gewordene Ausstellungs- und Lesungsbetrieb und der extrem eingeschränkte Betrieb in der Musikausübung und Musikausbildung sei für die Stadt Freiburg „eine Katastrophe“ und für Künstler, Kulturschaffende und Kultureinrichtungen eine „existenzielle Bedrohung“. Die Petition fordert einen Kultur-Rettungsplan für Freiburg, der gezielt und schnell greift und alle Sparten der Kultur einschließt, einen runden Tisch mit Oberbürgermeister Martin Horn und Sozial- und Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach für die „schnellstmögliche“ Entwicklung der wichtigsten ersten Schritte des Kultur Rettungsplans, Räume für die Musik-, Tanz- und Theaterausübung und Ausbildung, die unter Corona-Bedingungen möglich sind. Horn und von Kirchbach sollen die Forderungen aufgreifen, um gemeinsam einen Kultur-Rettungsplan für Freiburg zu entwickeln.

Neu: Let’s talk about 89 Spielfilme, Fernsehserien, Romane, Comics, Schlager oder Hip-Hop: Auf der neuen Website „89goespop“ bietet das Team um die Historikerin Anna Lux von der Universität Freiburg einen Überblick über die vielfältige Repräsentation des deutschen Wendejahres 1989 in der populären Geschichtskultur. Entlang der Kategorien Musik, Digitales, Film und Literatur stellen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das recherchierte Material vor, betten es in ihre Kontexte ein und liefern Analysen zum Thema. Die Forschenden untersuchen, wie die Ereignisse von 1989 die Gegenwart prägen und mit heutigen politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen zusammenhängen. Im Freiburger Teilprojekt stehen die populären Darstellungen des Wendejahres im Mittelpunkt, erklärt Lux, „denn auch sie sind zur Erforschung von Erinnerungskultur relevant, auch sie prägen unsere Geschichtsbilder und das Geschichtsbewusstsein breiter Wendejahr: Wie die Ereignisse die Gegenwart Bevölkerungsgruppen“. prägen, steht im Kern der Forschung. Foto: © S89goespop

Fake News und Falschmeldungen ins Chaos. Wahrheit und Lüge sind nicht zu unterscheiden. Und den Behörden gelingt es nicht, den untergetauchten Ex-Studenten zu stoppen. Denn auch im Polizeifunk läuft seit Tagen nur der Wetterbericht.

Gefördert: Freiburger Kolonialprojekt

Unterwegs zu Hause: Wohnmobile auf dem Stellplatz im Stühlinger

Das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste hat mehr als eine Million Euro für acht Forschungsprojekte im Bereich koloniale Kontexte bewilligt. Darunter auch ein gemeinsames von der Freiburger Universität und dem Arnold-Bergstraesser-Institut für kulturwissenschaftliche Forschung: Die Provenienzforschung an der Alexander-Ecker-Sammlung beschäftigt sich mit menschlichen Überresten, die der Region Afrika zugeordnet sind. Das Projekt wird sowohl interdisziplinär als auch transnational und in Zusammenarbeit mit Kultur-, Sozial- und Politikwissenschaftlern und Praktikern aus den Herkunftsregionen ein Konzept reziproker Forschung entwickeln und für die Sammlung einen praxisorientierten Umgang mit menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten erarbeiten. chilli



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Musik

Das Knistern gehört dazu In Horben liegt Europas gröSStes Archiv von Schellackplatten und Grammophonen

von Philip Thomas

mals außerdem noch kostenlos 30 Schellackplatten aussuchen dürfen. Der Vorläufer von Vinyl ist mit 25 Zentimetern Durchmesser kleiner, hat tiefere Rillen und ist zerbrechlicher. Auf eine Seite passt ein Song. „Meine ersten Platten habe ich allesamt ruiniert“, lacht der

Andreas Schmauder hatte „Meine ersten Platten schon immer ein Faible für alte Dinge. „Mit sieben Jahren habe ich allesamt ruiniert“ habe ich auf dem Flohmarkt meine Comichefte verkauft“, erzählt er. Sammler in seinem Haus in Horben. Was Sogar den eigenen Kinderwagen habe er Schmauder damals nicht wusste: Eine dort versilbert. „Davon habe ich mir dann Grammophonnadel ist auch wegen der alte Bücher gekauft“, so der heute 57-Jäh- schweren Tonabnehmer praktisch nur ein rige. Von Baden-Baden bis Freiburg hat er Lied lang zu gebrauchen. Der spitze Stahl dann auf Trödelmärkten in die Klamot- wird deswegen in Packungen zu 200 Stütenkisten geguckt. „1986 bin ich schließ- cken verkauft. Die Döschen sind heute lich auf einem englischen Flea Market begehrte Sammelobjekte. Zwar gebe es auch andere Grammoauf ein altes Grammophon gestoßen“, berichtet er. Für 55 Pfund habe er sich da- phonsammler und auch große Platten-

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Fotos: © iStock/ mammuth, Bruno de HOGUES, pt

A

ndreas Schmauder ist stolzer Besitzer von rund 100 Grammophonen und der wohl größten Sammlung historischer Tonträger auf dem Kontinent. In seinem Plattenantiquariat „Phonopassion“ stapeln sich Schellackscheiben sortiert bis unter die Decke. Alt, aber modisch: Ein Freiburger DJ legt ihren Sound neu auf.


Musik kollektionen. In der Größenordnung sei die Kombination von Musikabspieler und Medium allerdings ziemlich einmalig. Viele seiner 80 bis 100 Grammophone haben rund 90 Jahre auf dem Buckel. Nicht jedes der gut gepflegten Geräte trägt den charakteristischen Trichter. „Die sind Mitte der 20er-Jahre verschwunden“, erklärt Schmauder. Auch auf Flohmärkten sind die Geräte immer seltener zu finden. Grammophone gräbt der studierte Archäologe dort heute kaum noch aus. „95 Prozent sind mittlerweile Nachbauten aus Indien“, sagt er. Für schöne Stücke besuche er Spezialbörsen und Sammlungsauflösungen. Sein Hobby hat er bald zum Beruf gemacht. Der Händler verkauft im Jahr rund fünf Grammophone und bis zu 10.000 Schellackplatten mit sechsstelligem Umsatz. Dass der Schellack-Sound nicht tot ist, beweist auch Sascha Brosamer. Der Klangkünstler aus Freiburg legt seit 2016 mit Reise-Grammophonen in Clubs und Kunstausstellungen auf und spannt einen Bogen zu moderner, elektronischer Musik: „Ich bediene mich bei alter vergangener Technologie und mache daraus abstrakte elektronische Musik.“ Der 36-Jährige experimentiert dazu auch mit präparierten Schellackplatten. Auch für ihn sind die Nebengeräusche und das Maschinenartige der Grammophone ein Mehrwert: „Das entspricht der Idee von Techno.“ In Schmauders Archiv Phonopassion rotieren die Platten mit konstanten 78 Umdrehungen pro Minute. Laut dem Besitzer ist es das größte Schellack-

platten-Antiquariat in Europa. Weil der Platz in seinem Haus langsam eng wurde, habe Schmauder vor einigen Jahren anbauen müssen. Sein Ladenbestand umfasst rund 300.000 Tonträger, die bis 1960 datieren. „Danach wurde Musik praktisch nicht mehr auf Schellack gepresst“, erklärt er. Sieben Jahre habe es gedauert, um die Platten abseits seiner rund 50.000 Exemplare großen Privatsammlung numerisch zu sortieren. Wegen ihres Zustands oder unterschiedlicher Lagermethoden klingen keine zwei Scheiben gleich. „Manche sehen aus, als wäre der Ton mit einem rostigen Nagel abgenommen worden“, lacht Schmauder. Wie viel die Sammlung insgesamt wert sei, könne er nicht sagen: „Keine Ahnung. Manche Platten kosten vierstellig. Andere haben nur sentimentalen Wert.“ Und dann gebe es noch Stücke, die es zwar nur einmal gibt, aber niemand haben möchte. Komplett werde seine Sammlung wohl nie sein. Noch heute entdecke er in Archiven immer wieder neue Raritäten: „Man weiß gar nicht, was man nicht kennt. Es ist wie im Trüben fischen“. Längst nicht jede Platte in seiner Sammlung habe er selber gehört. „Aber ich könnte. Und das ist das Schöne.“ Schmauder legt die Platte einer Schweizer Jazzband auf. Die Aufnahme knistert. „Die Nebengeräusche höre ich gar nicht mehr“, kommentiert er. Für Schmauder gehören sie dazu: „Ich bin kein Fanatiker, der das Rauschen braucht, aber bei der Digitalisierung von Musik gehen nun mal Dinge verloren.“ Gut erhaltene Scheiben sind ihm trotzdem lieber: „Ich bin nicht der Ritter des schlechten Klangs.“

Klangwelten: Sascha Brosamer (o.) nutzt alte Technologie für moderme Technomusik. Schmauder (u.l.) verkauft jährlich 10.000 Schellackplatten, in seinem Laden gibt es einen bunten Mix aus historischen Artefakten. November 2020 chilli Cultur.zeit 41


Musik Crucchi Gang

Woodkid

Die Ärzte

Indie / Pop

Alternative-Pop

Rock

Crucchi Gang

S16

Hell

Vacanza e Musica

Epische Töne

Himmel und Hölle

(herz). „Italien, Land der deutschen Sehnsucht. Wir lieben sie, sie lieben uns nicht. Wir hören ihre Popmusik, sie nicht die unsere“, stellten Sven Regener (Element of Crime) und Francesco Wilking (Die Höchste Eisenbahn) erstaunt fest und beschlossen, das zu ändern. Die Folge: Die Indie-­ Elite Deutschlands um Clueso, Faber oder Sophie Hunger singt jetzt auf Italienisch. Als Crucchi Gang feiern sie ihre Liebe zum Stiefelland. „Crucco“, das meint – nicht ganz spottfrei – „Brot“ oder auch „Deutscher“, „Crucci“ ist der Plural. Die zehn Songs auf der gleichnamigen Platte sind Cover eigener Stücke, übersetzt in die Sprache von Amore, Vino und Gelato. Der Einstiegssong „Al mio locale“ der Band Von Wegen Lisbeth entpuppt sich als „Die Kneipe“. Fröhlich-schunkelnd stoßen Steiner und Madleina in „La dolce Vita“ an, Francoise Cactus von Stereo Total wagt sich als Einzige an ein Lied aus fremder Feder: „Da Da Da“ von Trio. Im Kontrast singt Faber das ruhig-traurige „Vieni qui“. Reisen ist gerade nicht drin – aber mit „Crucchi Gang“ gelingt zumindest ein musikalischer Ausflug zu Sommer, Sonne, Sonnenschein. Die Lyrics sind nicht für jedermann, so heißt es mit dem Gesamtwerk luftig-leichtes Feeling zu tanken. Das ist den Künstlern klar gelungen. Eine Platte wie Eis essen an der Riviera.

(herz). Die Musik von Woodkid lebt von Dramatik. Der 37-jährige Franzose zeichnete schon auf seinem ersten Album mit Alternative-Pop die Stimmung einer herannahenden Katastrophe ab. Der Formel bleibt er auch auf dem Nachfolgewerk „S16“ treu: Das Kürzel steht im Periodensystem für Schwefel. Der ist unverzichtbar für organisches Leben, aber auch der Teufel spielt mit dem Element. Bereits im ersten Track „Goliath“ sorgen aufwühlende Streicher-Passagen für das überwältigende Gefühl, mitten in einem Blockbuster gelandet zu sein. Nicht weniger dramatisch sind die Nachfolger „In Your Likeness“ und „Pale Yellow“. Immer wieder wechseln sich rasselnde Beats und wirbelnde Trommeln mit ruhigen Geigenparts ab und zeugen vom technischen Know-how des Solokünstlers. Mit Track Nummer fünf verschwinden die schnelleren Beats, die nächsten Songs sind melancholisch, bewegt, düster und zeichnen das Bild einer verhängnisvollen Dystopie. Live-Auftritte zeigen, was Woodkid drauf hat, die elf Tracks des Albums fangen die Bandbreite nicht ein, schließlich kann er auch optimistisch und vergnügt. Das Album ist für graue Herbsttage oder die Untermalung eines Kino-Kassenschlagers wie gemacht. Sommerkinder genießen lieber in kleinen Häppchen.

(pt). Jahrelang herrschte in Deutschland akuter Ärztemangel. Nun sind Bela, Farin und Rod zurück. „Hell“ ist ihr erstes Album seit dem völlig in Vergessenheit geratenen „Auch“ von – wahrscheinlich – 2012. „Führt uns wieder zurück ins Rampenlicht, aber eigentlich brauchen wir die Lampe nicht, denn wir leuchten im Dunkeln, wir blitzen und funkeln“, erschreckt Frontmann Farin Fans gleich zu Beginn mit Autotune. Nicht jeder Gag zündet. So wie auch die erste Single „True Romance“, in der die beiden Sprachassistenten Siri und Alexa mit feixen Zweckreimen miteinander verkuppelt werden. Dafür klingt „Das letzte Lied des Sommers“, direkt nach „Westerland“ und die Single „Morgens Pauken“ erinnert mit geschrammelten Riffs angenehm an „Unrockbar“. Mit Falten im Gesicht und dem Schalk im Nacken sezieren die gealterten Ärzte Politik, Populismus und ihre eigenen Pointen: „Warum spricht eigentlich niemand über Gitarristen“, fragt ausgerechnet der Klampen-Künstler der Combo auf dem gleichnamigen Track. Himmlisch: Auf dem obligatorischen AntiAFD-Song „Woodburger“ torpedieren die drei Ulknudeln Faschismus mit rosaroten Klischees. Das Warten hat sich gelohnt. Die drei Punks sind in Würde gealtert.

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Kolumne James Blake

Azad

Elektro / Pop

Rap

Before

Goat

... zum Ballermann im Lockdown

Durchtanzte Nächte

Frankfurter Schule

(herz). Der mittlerweile erblondete James Blake überrascht Fans schon das gesamte Jahr mit neuen Schnipseln und einzelnen Tracks. Die Zeit des Stillstands hat der Brite außerdem genutzt, um die Vier-Track-EP „Before“ zu produzieren. Den ersten Song „I keep calling“ startet Blake mit überraschenden Elektro-­ Dubsteb-Beats und öffnet eine Tür in beinahe vergessene Welten, voll mit Festivals, Bierduschen und wogenden Massen. Wer meint, Blake zu kennen, erwartet anschließend ruhige Elektro-Pop-Töne. Weit gefehlt. Auch der namensgebende Track „Before“ ist für die Verhältnisse des 32-Jährigen treibend. Und startet nach kurzen Startschwierigkeiten richtig durch. Kein Wunder, dass der Künstler zum Release ein Boiler-Room-Set auflegen durfte – ein Format, in dem er zuletzt vor sieben Jahren zu hören war. Der dritte Track, „Do You Ever“, klingt mit verzerrtem Gesang und eingängigem Elektro mehr nach dem altbekannten Blake. „Summer of Now“ startet mit sanften Orgel-ähnelnden Klängen, mündet aber bald in einen wilden Ritt aus schnellen Beats und elektronischem Gesang. Der Engländer scheint sein musikalisches Ich in der Ruhephase neu erfunden zu haben. Zu Recht. Nach Abklingen der letzten Note bleibt der Wunsch nach mehr.

(pt). Thron, Sturmmaske, Nebelschwaden. Den JAW-Award für ausgefallenes Coverdesign gewinnt Goat nicht. Und auch musikalisch ist ­vieles auf dem neuen Azad-Album schon dagewesen: Banger-Beats, gemacht für dicke Anlagen in tiefergelegten Karossen. Garniert werden die 15 Songs auf Studioalbum Nummer 14 mit Pitbulls, Aks und natürlich jeder Menge Straat. „Nach diesem Album ist Deutsch­ rap fresher denn je”, tönt der Bozz und verhöhnt die jungen Wilden der Szene, ohne jemals Namen zu nennen. Wenig namhaft sind bis Farid auch die Features: Faiz Mangat unterstützt Azad auf „So High“ nach Kräften, ins Ohr geht dabei aber nur das soulige Return of the Mack-­Cover des einstigen Casting­Show-­ Teilnehmers. Zuvor hatte noch Ramo mit – natürlich – Autos, Schmuck und Waffen geprahlt. „My Eyes“ startet mit Rocky-Sample, verliert dann aber mit Autotune das Wesentliche aus den Augen. Alte Fans des Frankfurters kommen mit GOAT auf ihre Kosten: Gradliniger Battlerap ohne viel Schnickschnack, der vor nichts Halt macht, Mütter aber bemerkenswerterweise verschont. Zum Greatest Of All Time wird das Deutschrap-­ Urgestein mit dieser Scheibe deswegen aber nicht.

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralf Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe geschmack­lose Werke von Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Die Ballermann-Szene beschäftigt uns seit Jahren immer wieder, insbesondere Micki Krause, die deutsche Antwort auf eine so nie gestellte dämliche Frage. „Sie hatte nur ne Maske an“ ist die aktuelle Corona-Version seines EverNoGos „Sie hatte nur noch Schuhe an“. Berühmt-berüchtigt ist er auch für solch feingeistig-lyrische Zeilen wie „Finger in Po, Mexiko. Paris, Athen, Aufwiedersehn“. Der Lockdown sollte für diese Branche niemals enden. Corona hat auch sein Gutes: Keine gesund­heitsgefährdenden Schlagerpartys, und in der Notaufnahme kann man sich am Wochenende nun endlich auch wieder um andere Patienten als um eimersaufende Landeier kümmern. Nur Micki Krause, der gibt keine Ruhe. Auch sein musikalischer Aufruf „Finger weg von Sachen ohne Alkohol“ scheint leider weiterhin Gehör zu finden. Da sollten wir uns schleunigst etwas einfallen lassen: Maulkorb 24/7. In diesem Sinne, maulfaul grüßt, für Ihre Freiburger Geschmackspolizei Ralf Welteroth


kino

„Ich war wie elektrisiert“ cultur.zeit-Interview mit dem Filmemacher Pepe Danquart

I

von Erika Weisser

Filmemacher Pepe Danquart (o.) bei den Dreharbeiten zum Film „Vor mir der Süden“ . Foto: © Neue Visionen

m Jahr 1959 setzte sich Pier Paolo Pasolini in Ventimiglia in seinen Fiat Millecento und fuhr an der italienischen Küste entlang bis nach Triest. Knapp 8000 Kilometer legte der Autor und Filmemacher zurück, um eine Reportage für die Zeitschrift „Successo“ zu schreiben. Genau 60 Jahre später unternimmt der in Freiburg geborene Filmemacher Pepe Danquart die gleiche Reise, ebenfalls in einem Millecento. Und macht daraus einen Film: „Vor mir der Süden“ startet am 17. Dezember. Im Interview mit cultur.zeit-Redakteurin Erika Weisser spricht Danquart über sein cinematographisches Herz, Ausbeutungsorgien und Begegnungen, die Geschenke sind. cultur.zeit: Wenn der Film am 17. Dezember auch in Freiburgs Kinos kommt, werden Sie persönlich dabei sein? Danquart: Natürlich. Für mich ist das ja beinahe ein Heimspiel. Ich war ja nie so ganz weg, habe fast den ganzen Sommer in Freiburg verbracht. Ich bin oft dort, kann mir auch vorstellen, mich irgendwann wieder mehr in Richtung Südwesten zu orientieren. Soweit ich weiß, soll die Kino-

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tour sogar in Freiburg starten. Ich freue mich schon auf die Gespräche. cultur.zeit: Was werden Sie dem Publikum hier erzählen? Danquart: Dass sie den Film anschauen und ihn gefälligst weiterempfehlen sollen (lacht). Dass ich ihn als eine Hommage an den Autor, Filmemacher und Philosophen Pier Paolo Pasolini verstehe, und dass er die heute sichtbaren Folgen des damals gerade aufkommenden Tourismus und der noch fast unmerklich beginnenden Globalisierung vorausgeahnt hat. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Film und sein Inhalt bei den Freiburgern auf besonderes Interesse stoßen. Man lebt dort ja ziemlich mediterran, die räumliche Nähe zu Italien ist spürbar, es gibt viele Italophile wie mich. Es gibt zudem eine lebendige und offene Kulturszene, für die Pasolini kein Fremdwort und Kultur nicht Konsum oder Wellness ist. cultur.zeit: Hatte und hat Pasolini eine besondere Bedeutung für Ihren eigenen Werdegang?


Interview Danquart: Als er ermordet wurde, war ich gerade 20, hatte eben angefangen, in Freiburg Kommunikationswissenschaften zu studieren. Ich hatte aber vorher schon erste Super-8-Filme gedreht und natürlich auch viele Filme gesehen. Und da hat mich Pasolini und besonders seine analytische Sichtweise auf die Widersprüche in der Gesellschaft von Anfang an fasziniert. Seine frühen neorealistischen Filme trafen mein politisches und cinematographisches Herz, waren stilbildend und wegweisend für einen jungen Menschen wie mich. Das ist auch später, als ich das Filmen selbst zu meinem Beruf machte, so geblieben. Während meines ganzen beruflichen Lebens begleitet er mich als Vorbild. cultur.zeit: Was hat Sie an seiner Reportage denn so fasziniert, dass Sie sich nun auf diese Spurensuche begaben? Danquart: Dass es dazu kam, hat auch wieder mit Freiburg zu tun. Ich kannte diese Reportage nämlich gar nicht. Und das wäre vielleicht so geblieben, wenn ich nicht vor ein paar Jahren im Schaufenster meiner sehr geliebten und vertrauten Jos-­Fritz-Buchhandlung ein Buch mit dem rätselhaften Titel „Die lange Straße aus Sand“ gesehen hätte. Ich hatte nie davon gehört, da der Autor aber Pier Paolo Pasolini hieß, kaufte ich es unbesehen – und legte es daheim erst einmal auf den Stapel der zu lesenden Bücher. Als ich es nach Wochen zur Hand nahm, war ich wie elektrisiert: Vor mir breitete sich plötzlich die Reise rund um den italienischen Stiefel aus, die zu unternehmen ich hin und wieder vage in Erwägung gezogen hatte, doch nie angegangen war. Und nun lag sie vor mir, beschrieben in poe­ tischen und prophetischen Worten und Zusam-

menhängen, die genauso aktuell waren wie vor fast 60 Jahren. Die textbegleitenden Bilder des berühmten Fotografen Paolo di Paolo taten ihr Übriges: Ich beschloss, mich endlich auf den Weg zu begeben und statt einer nur privaten Reise einen Reisefilm zu machen – über das heutige Italien, vor dem Hintergrund seiner Feststellungen und Visionen von damals. Und

Alltagszwänge und Aus­ beutung bestehen weiter dabei unter den Gesichtspunkten auf das Land zu schauen, die ihm damals wichtig waren: Tourismus, Migration und Konsumismus. Mit Zwischenstopps an Orten, die in seiner Reportage und in seinem Leben von Bedeutung waren. cultur.zeit: Ein Road-Movie? Danquart: Es ist kein Road-Movie in dem Sinne, dass der Weg das Ziel oder die Reise selbst der Sinn und Zweck des Films ist. Und er soll auch nicht das Begehren nach einer Auszeit oder die Illusion wecken, dass man den Zwängen, denen man im Alltag unterworfen ist, entfliehen kann. Denn für die Menschen, die dort leben, wo wir hinreisen, herrschen Alltagszwänge, Ausbeutung, Entfremdung und extreme Verteilungsunterschiede ja weiter, werden durch den Massentourismus eher noch befördert. Davor sollte man die Augen nicht verschließen. Auf die Widersprüche, die Härten, die Zerstörung muss man in dem Dokumentarfilm schauen, sie sichtbar machen. Denn nicht überall ist die Ausbeutungsorgie so manifest wie auf Sizilien, wo afrikanische Migranten unter unsäglichen Bedingungen auf den Tomatenplantagen schuften. In unserem Film kommen sie zu Wort.

cultur.zeit: In dem Film kommen sehr viele und sehr unterschiedliche Menschen zu Wort. Wie habt ihr sie gefunden und wie kam es, dass sie sich beim Sprechen so geduldig filmen ließen? Danquart: Das waren alles Zufallsbegegnungen, keine einzige war verabredet. Aber nach der Lektüre des Buches wusste ich ja, was wo geschehen war, und dann fährt man halt hin und sucht sich die Leute, die etwa von den Hafenarbeiterstreiks in Genua erzählen können. Ich hatte ja ein zweisprachiges Team dabei, das viel Erfahrung in wertschätzender Kommunikation mit Menschen hat. Wenn man den Leuten freundlich begegnet, sie ernst nimmt, dann verschließen sie sich in der Regel nicht. Und Italiener sind ja ohnehin offener für Gespräche. Und es gab ja ein Thema, zu dem die meisten etwas zu sagen hatten: Pasolini, der dort noch sehr lebendig ist. cultur.zeit: Sie haben in Ostia einen alten Mann getroffen, der sichtlich bewegt eines seiner Gedichte rezitierte. Sie haben es in voller Länge übernommen. Was hat das mit Ihnen gemacht? Danquart: Ja, das war total emotional, das hat mich sehr berührt. Der Mann war schon als kleiner Junge mit Pasolini befreundet, hat ihm später sein ganzes Leben verschrieben. Er hat uns filmen sehen und kam dann von sich aus auf uns zu. Der lebt dort auf der Straße, hat einen Laden, in dem es auch Bücher gibt. Er kannte mindestens 30 Gedichte auswendig, erzählte uns viel von seiner inneren Beziehung zu Pasolini. Solche Begegnungen sind Geschenke, für die ich sehr dankbar bin. cultur.zeit: Herr Danquart, vielen Dank für dieses Gespräch.

Auf den Spuren Pasolinis fand Regisseur Pepe Danquart (o.l., u.r.) Schiffsfriedhöfe und begegnete Fischern, die von ihrer Arbeit nicht leben können. Foto: © Neue Visionen

Foto: © Neue Visionen

Foto: © Jim Rakete

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kino Falling

Curveball – wir Machen die Wahrheit

Was geschah mit Bus 670?

Foto: © Prokino

Foto: © Filmwelt

Foto: © MFA

USA 2020 Regie: Viggo Mortensen Mit: Viggo Mortensen, Lance Henriksen u. a. Verleih: Prokino Laufzeit: 122 Minuten Start: 3. Dezember 2020

Deutschland 2019 Regie: Johannes Naber Mit: Sebastian Blomberg, Dar Salim u. a. Verleih: Filmwelt Laufzeit: 108 Minuten Start: 3. Dezember 2020

Mexiko 2020 Regie: Fernanda Valadez Mit: Mercedes Hernández, David Illescas u. a. Verleih: MFA Laufzeit: 97 Minuten Start: 10. Dezember 2020

Bockiger alter Mann

Fakten, Fake und Fake Facts

Allmähliche Annäherung

(ewei). John hat es schwer mit seinem Vater Willis. Das hatte er schon immer, nicht erst jetzt, da er altersstarrsinnig und dement ist und John und dessen Ehemann Eric in übelst homophober Weise beschimpft. Willis war schon immer ein Haudegen, der seinen kleinen Sohn mit zur Jagd nahm und stolz auf dessen erste erlegte Ente war, ein sturer und testosterongesteuerter Macho, der seine Eifersucht nicht unter Kontrolle hatte, ein übergriffiger „Herr in meinem Haus“, der seine Familie tyrannisierte. So sehr, dass seine Frau Gwen ihn eines Tages verließ. Dabei hatten sich die beiden einmal sehr geliebt. Die Trennung machte das Leben von John und seiner Schwester Sara zwar erträglicher, doch wenn die Kinder bei Willis sein mussten, gingen die Demütigungen weiter. Bis in deren Erwachsenenalter: Bei dem Versuch der Geschwister, den bockigen alten Mann aus der Einsamkeit seiner Farm in ihre Nähe zu holen, eskaliert die Situation. Starkes Regiedebüt von Viggo Mortensen.

(ewei). Arndt Wolf, Biowaffen-Experte beim BND, sucht 1997 im Irak vergeblich nach versteckten Laboren für Massenvernichtungswaffen. Die Mission wird abgebrochen, er wird zurück nach Hause beordert. Zwei Jahre später wird Wolf wieder beordert – in die BND-Zentrale, wo man ihm einen möglichen Beweis für den nie aufgegebenen Verdacht der geheimen irakischen Biowaffen-Produktion präsentiert: Der in einem Flüchtlingsheim wohnende Iraker Rafid Alwan behaupte, an der Produktion von Milzbrand-­Erregern beteiligt und Zeuge eines tödlichen Biowaffen-Unfalls gewesen zu sein. Dieser Alwan erweist sich als Hochstapler – mit entsprechenden Folgen für Wolf, der ihn als zuverlässige Quelle eingestuft hatte. Doch 2001, nach dem Anschlag vom 11. September, interessiert sich plötzlich die CIA für die Geschichte. Die „eine wahre Gschichte“ ist. „Leider“, wie es im Vorspann des Films heißt. Denn die Fälschung diente den USA als Vorwand für den Krieg im Irak.

(ewei). Mateo, ein alter Mann, der mit einem Bus im gefährlichen, von Bandenkriegen heimgesuchten Norden Mexikos unterwegs war, überfallen und schwer misshandelt wurde und seither nicht mehr sehen kann, bricht sein Schweigen erst nach vielen Wochen: In drastischen Bildern erzählt er einer ihm unbekannten Frau von dieser Reise, sagt, dass es der Teufel persönlich gewesen sei, der dort mordete. Und nur ihn am Leben ließ. Diese Frau, Magdalena, ist von weit her gekommen – auf der Suche nach ihrem Sohn Jesús, der mit seinem Freund Rigo Monate zuvor in Richtung USA aufbrach und kurz darauf spurlos verschwand. Alles deutet darauf hin, dass er im gleichen Bus unterwegs war wie Mateo. Zwar kann er sich nicht an Jesús erinnern, wohl aber an ein besonderes Merkmal im Gesicht seines Freundes. Dessen Leiche wurde inzwischen gefunden und identifiziert, Jesús’ Tasche in seiner Nähe entdeckt. Magdalena sucht weiter nach ihm – und nähert sich allmählich einer schrecklichen Gewissheit.


DVD Die KänguruChroniken

Sibyl – Therapie zwecklos

Deutschland 2019 Regie: Dani Levy Mit: Dimitrij Schaad, Rosalie Thomass u.a. Studio: X-Edition Laufzeit: 90 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Frankreich 2019 Regie: Justine Triet Mit: Virginie Efira, Sandra Hüller u.a. Studio: Al!ve Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Wagenknecht Deutschland 2020 Regie: Sandra Kaudelka Dokumentation Studio: Edition Salzgeber Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 15 Euro

Eine chaotische WG

Aus den Fugen

Nicht wegzudenken

(ewei). Der dauerverschlafene Klein­ künstler und Anarchist Marc-Uwe bekommt unverhofft einen Mitbewohner in seiner Kreuzberger Altbau­ wohnung: Ein kommunistisches Känguru voller Tatendrang. Die beiden raufen sich in einer chaotischen WG zusammen und werden beste Kumpel. In einer absurden Aktion durchkreuzen sie die Pläne eines Nazi-Immobilienmaklers, der ihren Kiez für ein gigantischen Bauprojekt plattmachen will. So ziemlich der schrägste Film des Jahres.

(ewei). Die Psychotherapeutin Sibyl beschließt, sich nur noch dem Schreiben zu widmen und alle Patienten abzuweisen. Bis auf Margot, eine junge Schauspielerin am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sibyl taucht immer tiefer in deren völlig aus den Fugen geratenes Leben ein, verarbeitet es gar in ihrem Roman – und bricht dabei alle professionellen Regeln. Als sie zu Margots psychologischer Betreuung zum Filmset auf Stromboli reist, wird sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert.

(ewei). Als Sandra Kaudelka mit ihrer Dokumentation begann, steckte Sahra Wagenknecht im Bundestagswahlkampf 2017. Bei unzähligen Terminen hält sie Reden, gibt Interviews – um der Links-Partei zu einem guten Ergebnis zu verhelfen. Doch dann beginnen die Grabenkämpfe zwischen Fraktions- und Parteiführung, die schließlich mit ihrem Rückzug aus der Fraktionsspitze enden. Pointiert beobachtetes Porträt einer streitbaren Frau, die aus der Politik nicht wirklich wegzudenken ist.

Germans & Jews

Die Kunst der Nächstenliebe

Undine Deutschland 2020 Regie: Christian Petzold Mit: Paula Beer, Franz Rogowski u.a. Studio: Euro Video Laufzeit: 86 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Deutschland 2019 Regie: Janina Quint Dokumentation Studio: Lighthouse Laufzeit: 76 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Deutschland 2018 Regie: Gilles Legrand Mit: Agnès Jaoui, Tim Seyfi u.a. Studio: good!movies Laufzeit: 103 Minuten Preis: ca. 12 Euro

Keine einfachen Antworten

Unter Wasser

Eitles Helfersyndrom

(ewei). Bei einer Dinnerparty in Berlin diskutieren jüdische und nichtjüdische Deutsche über ihre sensible Beziehung zueinander. Dabei entsteht ein lebendiger und erfrischend offener Austausch über historischen Antisemitismus und Schuld aus heutiger Sicht. Gleichzeitig unbequem, provokant und aufschlussreich öffnet der Film auch den Blick auf aktuelle rechtsextreme und antisemitische Tendenzen in Deutschland. Zu Wort kommen auch Fritz Stern, Rafael Seligman und Herbert Grönemeyer.

(ewei). Die junge Undine lebt in Berlin, wo sie stadthistorische Spaziergänge anbietet. Als ihr Freund sie verlässt, bricht ihre Welt zusammen. Nicht nur aus Liebeskummer, sondern wegen eines über ihr schwebenden Fluchs, der besagt, dass sie, die Wasserfrau, den treulosen Mann töten und ins Wasser zurückkehren muss. Zwar wehrt sie sich dagegen, verliebt sich in den Industrietaucher Christoph und verbringt mit ihm glückliche Tage. Doch die sind gezählt ... Silberner Bär 2020 für Paula Beer.

(ewei). Isabelle engagiert sich bei etlichen gemeinnützigen Einrichtungen und unterrichtet Lesen und Schreiben in einem Sozialzentrum. Als dort eine Kollegin ihr die Schüler abspenstig macht, nimmt ihr Helfersyndrom gefährliche Züge an. Als sie auch noch eine kostenlose Fahrschule für ihre Schützlinge gründet, versucht ihre Familie, mehr Aufmerksamkeit von ihr zu bekommen. Sittenkomödie mit schlagfertigen Spitzfindigkeiten und einem Röntgenblick auf menschliche Eitelkeiten und Schwächen. November 2020 chilli Cultur.zeit 47


Literatur

Routinen einer Schwarmstadt Wie Stickerinnen, Streiter, Geigenbauer und Grenzgänger Freiburg gestalten

W von Erika Weisser

Alltag findet Stadt von Sarah May (Hg.) Verlag: Waxmann, 2020 176 Seiten,gebunden Preis: 24,90 Euro

as ist Alltag? Was macht ihn aus, wie verbringen Menschen ihren Alltag in einer Stadt – und wie erschaffen sie in und mit ihrem Alltag diese Stadt? Diese Fragen sind Thema einer Studie, die Masterstudierende des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg nun vorgelegt haben. Im Fokus ihrer analytischen Forschungen darüber, wie sich urbane Eigenheiten und Alltag gegenseitig bedingen, stand die Stadt, in der sie selbst leben, studieren und forschen: Freiburg. Acht Kulturanthropologie-Studierende waren an der Feldforschung vor der eigenen Haustür beteiligt. Herausgekommen sind 16 ethnografische Einzelstudien über ganz unterschiedliche Lebenswelten, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Im Kapitel „vermitteln“ geht es etwa um den Nachbarschaftsstreit beim Späti: Hier wird untersucht, welche latent vorhandenen Ressentiments aktiviert werden, wenn schwer miteinander zu vereinbarende Bedürfnisse aufeinanderprallen. Und welche Kräfte (Ordnungsamt, Müllabfuhr, Streetworker) bei der Schlichtung eines Konflikts wirken, der sich nach Ansicht des Autors „keinesfalls nur um Lärmbelästigung dreht“, sondern auch um Routinen des Zusammenlebens. In einem weiteren Kapitel werden solche Routinen sofort erkennbar: Es nimmt die Leute unter die Lupe, die jeden Werktag eine Grenze überqueren, um zu arbeiten – meist zur immer gleichen Urzeit, im immer gleichen Zug, mit der immer gleichen Pendlergruppe. Auch sie gestalten den Alltag Freiburgs mit, lassen Schlüsse zu über die

48 chilli Cultur.zeit November 2020

Foto: © Finn-Louis Hagen

Lebensqualität in der Stadt: Sie wäre eine andere, wenn Pharma- und Chemiekonzerne hier angesiedelt wären, die viel mehr Einpendler bringen würden. Die aber nur ungern in einer Industriemetropole wohnen und nach der Arbeit wieder in ihre etwa von Kleingewerbe, Dienstleistung und Landwirtschaft geprägte Heimat zurückkehren würden. Möglicherweise hängt das Kapitel „wachsen“ mit diesem Phänomen zusammen. Es fokussiert den „erheblichen, für viele im Alltag spürbaren Mangel an Wohnraum“ und untersucht, warum trotz allenthalben sichtbaren Bauens nicht genügend bezahlbarerer Wohnraum entsteht und wie die hohen Preise für Bauland, Gebäude und Wohnraum das urbane Leben Freiburgs verändern. „Die Befriedigung des Wohnungsbedürfnisses geht weit über rein privatwirtschaftliche Bedeutung hinaus, sie ist vielmehr eine Frage des gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens“, so das Fazit. Ein Kapitel beschäftigt sich mit Frauen, die sich regelmäßig in einem Wollladen zum Stricken treffen, ein anderes geht der Frage nach, warum es ausgerechnet in Freiburg so viele Geigenbauer gibt. Neben den Radfahrern, Bächleputzern und all den anderen für Freiburg fast schon symbolischen Gruppen, gestalten auch diese eher unsichtbaren Akteurinnen das „individuelle Gebilde Stadt“ mit, das in einem wechselvollen Zusammenhang „zwischen den spezifischen Strukturen und den Handlungen der Menschen, die dort leben“ entsteht, wie Projektleiterin Sarah May in der Einleitung zu diesem höchst informativen Sonderband der Reihe „Freiburger Studien zur Kulturanthropologie“ schreibt.


FRezi

Grand Hotel Europa

von Ilja Leonard Pfeijfer, aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm Verlag: Piper, 2020 560 Seiten, gebunden Preis: 25,00 Euro

Kreuzberg Blues

von Wolfgang Schorlau Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2020 350 Seiten, gebunden Preis: 22,00 Euro

Ich bin ein japanischer Schriftsteller

von Dany Laferrière, aus dem ­Französischen von Beate Thill Verlag: Wunderhorn, 2020 200 Seiten, gebunden Preis: 22,00 Euro

Ach, Europa

Entmietung mit Ratten

Befreiendes Gelächter

(dob). Da sitzt er in seiner Wahlheimat Venedig, der eitle Dandy mit Krawatte und Manschettenknöpfen, und sieht sich das bunte Treiben an. Ilja Leonard Pfeijfer, der Ich-Erzähler, sieht, wie die sonnenverbrannten lärmenden Horden in Flip-Flops von gigantischen Kreuzfahrtschiffen aus die alte, verfallende Stadt entern. Er amüsiert sich, schüttelt den Kopf und denkt darüber nach, was der Massentourismus so anstellt, und warum es so weit kommen musste. Später logiert der Schriftsteller im Grand Hotel Europa in den Bergen, um zu arbeiten und um sich die Wunden zu lecken nach einer enttäuschten Liebe. Mit dem jungen Pagen Abdul, einem Geflüchteten, unterhält er sich öfter bei einer Zigarette. Dessen Geschichte geht anders: Der Blick zurück schmerzt, für ihn ist die Vergangenheit ein schlechter Ort, den man möglichst schnell vergessen sollte. Abduls Blick geht nach vorne. Pfeijfer, ein in Deutschland bislang wenig bekannter niederländischer Bestsellerautor, ist mit „Grand Hotel Europa“ ein beeindruckendes Essay gelungen über unser Denken und Tun, unsere Werte, unser Reisen (vor Corona!) und über brennende politische Fragen wie die der Migration. Garniert ist das Buch mit einer erotischen Verbindung zur Kunsthistorikerin Clio und der Suche nach einem verschwundenen Kunstwerk des Renaissance-­Malers Caravaggio. Durchaus anregend.

(ewei). Georg Dengler ahnt nichts Gutes, als seine eben noch so entspannte Freundin Olga während eines Anrufs plötzlich wie unter Schock steht. Und als sie sich mit einem entschlossenen „ich fahre morgen früh los“ verabschiedet, weiß der scharfsinnige Privatermittler, dass die vereinbarten paar Tage Privatleben vorbei sind, ehe sie begannen. In der Kreuzberger Wohnung ihrer Freundin Silke, erzählt Olga, sei Schreckliches passiert: Eine riesige Ratte sei auf das Bett ihrer kleinen Tochter Lena geklettert und habe dem schlafenden Kind eine Fingerkuppe abgebissen. Das ganze Haus sei voller Ratten gewesen – im Treppenhaus, im Keller und in einigen Wohnungen hätten sie sich auf einmal zu Dutzenden getummelt. Dengler beschließt, mitzufahren nach Berlin. Auch wenn er starke Zweifel hegt an der Behauptung von Silke und den anderen Mietern, dass die „Deutsche Eigentum AG“ hinter der Rattenplage steckt. Und dass der Bauunternehmer Kröger, der das zu günstigen Preisen vermietete Wohnhaus mit allen Mitteln leer kriegen will, im Auftrag dieser Firma handelt. Er beginnt zu recherchieren und ist bald mitten im Häuserkampf um das Recht auf Wohnen. Dann fällt ein Spekulant vom Dach – die Lage eskaliert. Spannend und mit abgründigem Realitätsbezug.

(ewei). Allen, „die gerne jemand anderes wären“ widmet Dany Laferrière sein Buch, von dem er – oder sein literarisches Ich – behauptet, dass er es nicht einmal habe schreiben wollen. Dass er bis zum Beginn des Schreibens nur den Titel im Kopf gehabt habe. Und der habe ihn einfach nicht mehr losgelassen, ganz besessen sei er gewesen von der Idee, tatsächlich ein japanischer Schriftsteller zu sein. Gar nicht so einfach, wenn man schwarz ist, aus Haiti stammt, seit 40 Jahren im Exil in Quebec lebt – und von dem Land keine Ahnung hat. Also begleitet er erst einmal den Dichter Basho auf seiner Wanderreise durch das Japan vor 350 Jahren. In Montreal begegnet er der japanischen Sängerin Midori, will einen Film über sie und ihre Clique queerer Manga-Mädchen drehen, sieht sich durch ein Harakiri aber bald in einen Mordfall verwickelt. Er wird berühmt und kann sich kaum mehr vor japanischen Fans retten. Dany Laferrière ist ein überaus belesener Meister des gewitzten, virtuosen und vor allem selbstironischen Wortes. Und seine Freiburger Übersetzerin Beate Thill ist eine Meisterin der wortgewandten Übertragung dieser mitreißenden Leichtigkeit. Ein respektloser Lesegenuss zum angeblich so schweren Thema Identität – mit viel befreiendem Gelächter. November 2020 chilli Cultur.zeit 49


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