HEFT NR. 10/17 7. JAHRGANG
Politik
Kultur
Musik
VON KIRCHBACH SCHAUT NACH VORN
FESTIVAL GEHT ÜBER GRENZEN
DIE ZWÖLF BESTEN TRACKS DES JAHRES
KULTUR
„Ich will nicht mehr in den Rückspiegel schauen“ CULTUR.ZEIT-INTERVIEW MIT KULTURBÜRGERMEISTER ULRICH VON KIRCHBACH
U ZUR PERSON Ulrich von Kirchbach wurde am 28. März 1956 in Deggingen geboren. Seit 2002 ist der Sozialdemokrat Bürgermeister für Kultur, Jugend, Soziales und Integration in Freiburg.
lrich von Kirchbach will im kommenden April seine dritte Amtszeit im Freiburger Rathaus antreten. Er habe noch sehr viel Energie, die er für die Stadt einsetzen will, erzählt er im Interview mit cultur.zeit-Chefredakteur Lars Bargmann. Der Sozialdemokrat spricht auch über die GroKo, über Tiefschläge, Höhepunkte und die kulturpolitische Agenda 2018. cultur.zeit: Herr von Kirchbach, die Jamaika- Verhandlungen sind aufs Kläglichste gescheitert. Ihre Partei hatte noch am Wahl abend klar erklärt, dass sie für eine erneute GroKo nicht zur Verfügung stünde. Auf Wunsch des Bundespräsidenten Frank- Walter Steinmeier muss sie sich aber nun wieder damit befassen. Wie bewerten Sie das? von Kirchbach: Die Aussage nach der Wahl war richtig. CDU und SPD hatten deutlich verloren. Jetzt ist aber eine neue Situation entstanden. Neuwahlen will keiner, da würde vielleicht sogar die AfD profitieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass es zu einer qualifizierten Duldung einer Minderheitsregierung, gegebenenfalls auch von CDU/ CSU oder CDU/CSU und Grünen, kommt. Die SPD ginge dabei nicht mit Ministern in ein neues Kabinett, könnte aber in einem Vertrag mit der Regierung etwa die Haushalte und deren Schwerpunkte absichern. Das wäre für Deutschland neu, ist aber in anderen Ländern nicht unüblich. So eine Lösung würde den Parlamentarismus stärken.
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cultur.zeit: Eine neue GroKo kommt für die SPD nicht in Frage, weil sie da in fünf Jahren wieder als Verlierer vom Feld gehen würde? von Kirchbach: Bisher war es ja immer so, dass der Juniorpartner der CDU am Ende als Verlierer dasteht. Aber Angela Merkel wird wohl 2021 nicht in eine fünfte Amtszeit gehen wollen und dann werden die Karten neu gemischt. cultur.zeit: Fürs Inland wäre eine Minderheitsregierung vielleicht eine brauchbare Alternative, aber für Deutschlands Rolle in der EU? von Kirchbach: Die EU braucht eine stabile Regierung in Deutschland. Einen Versuch mit einer qualifizierten Duldung, sicher ein Experiment, wäre das aber wert.
Indiskretion verhindert inhaltliche Debatte cultur.zeit: Das Experiment, die Intendantin Barbara Mundel mal ein Konzept fürs Freiburger Stadtjubiläum entwerfen zu lassen, ohne vorher einen finanziellen Rahmen abzustecken, ist beeindruckend missglückt. Mundel warf hin, es gab viele Beschädigungen … von Kirchbach: Ich würde nicht sagen, dass Mundel hingeworfen hat. Ihr Vorschlag wurde von mir und auch vom Oberbürgermeister Dieter Salomon mit großer Begeisterung aufgenommen. Aber durch eine Indiskretion wurde dann plötzlich nicht mehr über Inhalte, sondern nur noch übers Budget (Mundels Konzept hätte neun Millionen Euro gekos-
INTERVIEW
cultur.zeit: Thiemann kehrt ja gleichsam in den Schoß der Stadtverwaltung zurück, ist in der Kulturszene als Macher der Internationalen Kulturbörse Freiburg (siehe nächste Seiten) top vernetzt … von Kirchbach: … deswegen war auch der OB unabhängig von mir schon auf den Namen gekommen. Nun ist das Jubiläum in meinem Dezernat angesiedelt und wird uns die nächsten drei Jahre intensiv beschäftigen. cultur.zeit: Ein Stadtjubiläum light? von Kirchbach: Das kann man so nicht sagen, es wird ein anderes Jubiläum. Man kann auch mit dem jetzigen Budget etwas Gutes, etwas Sinnvolles machen. Wir brauchen zuerst mal ein Motto, das die Begriffe „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ umfasst. Das Jubiläum ist auch nicht nur eine Kulturveranstaltung, sondern soll für viele Bereiche, etwa den Sport, Chancen bringen, sich darzustellen. Wir wollen feiern, aber es sollte auch etwas Nachhaltiges geschaffen werden. Das Jubiläum darf nach 2020 nicht einfach in Vergessenheit geraten.
von Kirchbach: Ja, Geld allein reicht nicht, wir brauchen auch Veränderungen. Bisher lag zu viel bei einer Person, jetzt haben wir mit Alexander Lepach einen versierten Finanzfachmann beauftragt, die Dinge zu ordnen und mit dem Vorstand das Theater auf eine neue Schiene zu setzen. Wir brauchen als Pendant zur vorhandenen künstlerischen Professionalität auch die Kaufmännische Expertise im Haus. Da gibt es aber auch keinen Dissens. Das Marienbad hat 25 Jahre hervorragende Arbeit geleistet, es wäre kulturpolitisch ein Fehler gewesen, es insolvent gehen zu lassen, zumal die Zuschüsse des Landes (rund 400.000 Euro, d. Red.) dann auch weggefallen wären. cultur.zeit: Ums Geld wird es auch bei der neuen Zielvereinbarung mit dem Stadttheater gehen, die 2018 neu vereinbart werden muss, rechnen Sie mit komplizierten Verhandlungen? von Kirchbach: Der neue Intendant Peter Carp hat einen guten Start hingelegt, wir werden uns sicher einigen.
werden uns zudem mit einem Dokumentations- und Infozentrum zum Nationalsozialismus in Freiburg befassen. cultur.zeit: Fehlt in Freiburg eine Vision für die Stadthalle, in die zur kurzfristigen Flüchtlingsunterbringung stolze 4,3 Millionen Euro geflossen sind? von Kirchbach: Diese Kosten haben wir vom Land zurückbekommen. Das war in einer Notsituation eine sinnvolle Investition, sonst hätten wir Turnhallen sperren müssen. Nun warten wir ab, wann uns das Land wegen der geplanten Erstaufnahmestelle in Freiburg von weiteren Flüchtlingszuweisungen freistellt. Bis 2018 halten wir die Halle vor und nutzen sie auch für Obdachlose als Notfallunterkunft. Danach muss man sich Gedanken machen, wie man das denkmalgeschützte Gebäude nutzen will. Wenn ich meine dritte Amtszeit antreten darf, möchte ich auch noch Weichen für einen Neubau für die Moderne Kunst in Freiburg stellen, von dem auch ein städtebaulicher Impuls ausgehen soll. Fotos: © vas
tet, d. Red.) gesprochen. Und das mitten in schwierige Haushaltsberatungen hinein. Das war sehr unglücklich. Ich will aber nicht mehr in den Rückspiegel schauen. Der Gemeinderat hat bei drei Millionen Euro den Deckel draufgemacht, plus das, was durch Sponsoren möglich wird, und wir haben in Holger Thiemann eine ideale Neu-Besetzung für die Regie des Jubiläums gefunden.
von Kirchbach: Will in seiner dritten Amtszeit die Weichen für einen musealen Neubau stellen.
cultur.zeit: Die Beinahe-Insolvenz des Theaters im Marienbad war der zweite kulturpolitische Tiefschlag des Jahres. von Kirchbach: Das Marienbad war Tiefschlag und Höhepunkt gleichzeitig. Wir haben angesichts der Insolvenzgefahr sofort das Heft des Handelns übernommen, denn das Theater ist aus Freiburg nicht wegzudenken. Finanzbürgermeister Otto Neideck war einverstanden, dem Theater einen zinslosen Kredit von 250.000 Euro zu gewähren, und auch der Gemeinderat hat gleich mitgezogen ... cultur.zeit: … wenn eine vergleichsweise kleine Kulturinstitution trotz 1,2 Millionen Euro öffentlicher Zuschüsse insolvent geht, stimmt offenbar etwas an der Struktur nicht.
cultur.zeit: Welche anderen Dinge stehen auf der kulturpolitischen Agenda 2018? von Kirchbach: Viele Kräfte bindet der letzte Bauabschnitt des Augustinermuseums, das 2020 pünktlich zum Jubiläum so gut wie fertig sein soll. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir die Weichen für eine neue Heimat fürs Stadtarchiv stellen. Das Archiv ist das kollektive Gedächtnis unserer Stadt, wir müssen schauen, dass es nicht an Demenz leidet. Der jetzige Bau ist marode und hat keine Aufnahmekapazitäten mehr. cultur.zeit: Ein Vorschlag ist ein Neubau an der Messe. von Kirchbach: Der Standort ist gut, ich gehe davon aus, dass das klappt. Wir
cultur.zeit: Dieter Salomon hat unlängst beim Wohnungsbau eine überraschende Kehrtwende von der bisherigen Politik hingelegt. Freiburg brauche gar kein Bauen auf Teufel komm raus. Wie bewerten Sie das? von Kirchbach: Ich kann nur sagen, dass sich aus meiner Sicht als Sozialbürgermeister die Wohnungssituation nicht entspannt hat, dass wir weiter einen großen Bedarf vor allem an preiswerten Wohnungen haben. In die aktuelle Flächendiskussion will ich mich aber nicht einmischen. cultur.zeit: Herr von Kirchbach, vielen Dank für dieses Gespräch.
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KULTUR
Kaleidoskop der Kulturen MACH’S NOCH EINMAL, HOLGER: DIE 30. IKF WIRD THIEMANNS DERNIÈRE
Vorhang auf: Auch die Band Federspiel spielt bei der Eröffnungsgala am 21. Januar im Theatersaal 1 (Tickets ab 23/18 €).
D
von Lars Bargmann
Der Vater der Börse: Auf Holger Thiemann wartet nach 30 Jahren IKF eine neue Herausforderung.
ie 30. Kulturbörse wird seine finale sein: Holger Thiemann, 65, von Beginn an Chef der Internationalen Kulturbörse Freiburg, steht vor seinem großen Finale. Und es wird ein gewaltiges: Mit 350 Ausstellern ist die Messe ausgebucht. Mehr als 150 Künstler aus 25 Ländern geben sich bei rund 200 Live-Auftritten die Ehre. Südamerika und Japan, Israel und die USA, Afrika und Kanada, Guatemala, Syrien und das halbe Europa kommen vom 21. bis zum 24. Januar an die Freiburger Messe. Auch die 30. Ausgabe – die Nummer 29 feierte mit 4500 Zuschauern einen Besucherrekord – wartet wieder mit ein paar Neuheiten auf: So gibt es eine fünfte Bühne für 400 Zuschauer, es gibt eine vierte Freiburger Leiter – der begehrte Förderpreis made in Freiburg ehrt erstmals auch als eigene Disziplin Walk-Acts –, es gibt am Eröffnungstag eine große Walk-Act-Parade und mit der Schweiz auch einen neuen Länderschwerpunkt. Die Börse bietet im deutschsprachigen
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Foto: © Maria Frodl
Raum das vielfältigste und wichtigste Kulturprogramm. „Das wird nochmal eine Riesensache“, erzählt Thiemann beim Redaktionsbesuch. Den Vorhang öffnen werden bei der traditionellen Gala E1NZ, Federspiel, Lara Stoll, Lukas & Aaron, Mick Holsbeke, Patti Basler, Bodo Wartke & Melanie Haupt, Georg Traber, Fanfare Les TraineSavates und Mr. Skotty. Es moderiert Peter Spielbauer. Am Montag hat der Poetry Slam seine eigene Bühne, am Dienstag spielen in der Music Hall die Echoes of Swing. Die vier Jazzer haben zahlreiche hochkarätige internationale Auszeichnungen erhalten. Parallel gibt es den Schweizer Abend, der unFoto: © Michael Bahr ter der Regie von Rolf Corver – Mitbegründer des Casinotheater Winterthur – und Günther Baldauf den Satiriker Andreas Thiel mit Lapsus, Ursus & Nadeschkin, Uta Köbernick, Renato Kaiser, Martin O. sowie Knuth & Tucek zusammenführt. „Das Who-is-Who der Schweizer Szene kommt“, freut sich Thiemann.
BÖRSE Insgesamt 34 eidgenössische Artisten spielen in Freiburg auf, 20 Schweizer Kultureinrichtungen, Festivals und Locations stellen sich vor. Die Nachbarn haben zudem einen 100 Quadratmeter großen Stand auf der Messe. Ein aktueller Trend ist die Renaissance der Volksmusik. Der ehemalige Freiburger Kulturamtsleiter Johannes Rühl hat darüber übrigens mit Dieter Ringli ein Buch (Die Neue Volksmusik) geschrieben. Den Schlussakkord setzt dann der Varietéabend, an dem das Duo Masawa (Tanzakrobatik), Fernando Pose (Ball-Jonglage), Geschwister Sprung (Schleuderbrett), Lazer Wizards (Lazershow), Maicol Gatto (Comedy), Unduzo & Linda Sander (Luftakrobatik/A-Capella), Xavier Mortimer (Magie), Lukas & Aaron (Schleuderbrett) und schließlich Linda Sander, die aus ihrer Waterbowl springt, die Besucher in Staunen versetzen wollen. Alles präsentiert vom Freiburger Leiter-Preisträger Sascha Korff. Die Börse wagt an dem Abend auch einen Spagat von der Messe an den Bahnhof, denn im Jazzhaus spielen zeitgleich keine Geringeren als Stiller Has auf. Aber auch wer ohne Karte auf die Börse kommt, wird einiges zu sehen haben: etwa die Cie Underclouds mit ihrer spektakulären Hochseilartistik in der großen Ausstellerhalle, die katalanische Gruppe Tombs Creatius mit ihrer irrwitzigen Reise in unbekannte Gefilde, das Kollektiv Hotel Regina mit seiner interaktiven Videoinstallationsperformance auf dem letzten fahrenden Flipperkasten der Schweiz (The Big Fat) oder auch den Niederländer Harold Hugenholtz, der als Smartphone-Karikaturist digitales Neuland betritt. Im Foyer wird Georg Traber ein handbetriebenes Bewirtungskarussell aufbauen, das die Messe vermutlich als Kult-Theke wieder verlassen wird. Gerüchten zufolge soll auch ein Beerdigungswagen aufkreuzen, irgendjemand eine Rakete dabeihaben und ein kulturinteressierter Elefant sein Wesen zeigen. „Wir haben wirklich viele großartige Kostbarkeiten gefunden“, sagt Thiemann. Um dieses Programm auf die Beine zu stellen, sichteten 15 Juroren mehr als 600 Bewerbungen. Auch das ein Rekord. Thiemann war zudem das ganze Jahr über unterwegs, besuchte Festivals in Bochum, Eindhoven, Arosa, Barcelona, Linz, Graz, Dresden, Thun oder auch in Bremen, wo er sich von den Echoes of Swing begeistern ließ. Für das Lokalkolorit sorgen Günter Fortmeier, Oropax und die Indie-Rocker EMU, die den diesjährigen Freiburger-Rampe-Contest gewonnen haben. Es gibt viele bekannte Gesichter, aber auch viele Newcomer, elf Sonderschauen und ein ausgesuchtes Seminarprogramm. Und zum Finale gibt es irgendwann auch Gelegenheit, die vielen Freundschaften, die in 30 Jahren Kulturbörse entstanden sind, bei einem geistigen Getränk zu pflegen. Wenn der Vorhang dann gefallen ist, wird sich Thiemann kurz zurücklehnen, bis das nächste Projekt für den 65-Jährigen ansteht: Der Mann soll das Freiburger Stadtjubiläum 2020 organisieren.
OPEN HOUSE
Foto: © Tino Bomelino
Foto: © Fabian Stürz
Mo., 22.1., 20.15 Uhr: Poetry Slam im Theatersaal 3 (Tickets ab 14/12 €) Sophie Passmann / Jean Philippe Kindler Foto: © SaschaKletzsch
Di., 23.1., 20 Uhr: Echoes of Swing in der Music Hall (Tickets ab 19/12 €)
Foto: © ZVG
Foto: © Mirco Rederlechner
Di., 23.1., 20 Uhr: Schweizer Abend im Theatersaal 1 (Tickets ab 24/21 €) Martin O / Uta Köbernick
Foto: © Michael Schaer
Mi., 24.1., 20 Uhr: Stiller Has im Jazzhaus (Tickets ab 27,60 €)
Foto: © Pat Jaffray
Foto: © ZVG
Mi., 24.1., 20 Uhr: Varieté-Abend im Theatersaal 2 (Tickets ab 24/21 €) The Lazer Wizards / Linda Sander
Noch mehr Info: kulturboerse.de DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 61
BÜHNE
24. Januar Carl-Einar Häckner
25. Januar Liese-Lotte Lübke
25. Januar Die bekannte Band Zärtlichkeit mit Freunden
Plüschtiger und Pseudo-Band GRENZENLOS-FESTIVAL GEHT IN DIE 19. RUNDE
M von Tanja Senn
ehr als 20 Veranstaltungen, 14 Festivaltage, 5 Bühnen: Das Grenzenlos Festival bringt vom 12. Januar bis 3. Februar die volle Ladung Kleinkunst nach Freiburg. Da gibt es Rock von der Blockflöte, Krieg im Kinderzimmer oder einen singenden Psychiater. Zwischen 4500 und 5000 Besucher wollen die Veranstalter – Vorderhaus, SWR und Vaddi Concerts – erreichen. Los geht’s am 21. Januar mit einem gemeinsamen Eröffnungsabend der Internationalen Kulturbörse Freiburg und des Grenzenlos Festivals. Hier eine cultur.zeit-Auswahl der lustigsten und skurrilsten Acts.
INFOS & TICKETS Carl-Einar Häckner
Liese-Lotte Lübke 25. Januar um 20 Uhr, SWR-Studio „Wer mal ausschlafen will, wird Künstler“, sagt Liese-Lotte Lübke. Die 28-Jährige will. Daher steht die Hundefriseurin seit 2009 auf der Bühne und kombiniert lebensnahe Lieder am Klavier mit tiefsinnigen Texten. Klassisches Politkabarett gibt’s nicht, dafür Geschichten aus dem Alltag – von Depressionen über Berater beim Arbeitsamt bis hin zu überflüssigen Frauenquoten.
Die bekannte Band Zärtlichkeiten mit Freunden 25. Januar um 20 Uhr, Vorderhaus
24. Januar um 20 Uhr, Vorderhaus Tickets sind über die Homepage, www.reservix.de, bei den bekannten Vorverkaufsstellen und an den Abendkassen erhältlich. Der Vorverkauf läuft. Das komplette Programm: freiburg-grenzenlos-festival.de
Glatt läuft bei dem Schweden mit Zylinder und Hipsterbart eigentlich nichts. Doch egal, ob er sich den Daumen abschneidet, sich ein Messer in den Arm rammt oder plötzlich eine Mundharmonika quer im Mund stecken hat – der durchgeknallte Comedy-Zauberer begeistert mit brachialem Humor und schrägen Gags.
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Hier ist nichts so, wie es scheint: Weder steht bei dieser Band die Musik im Vordergrund, noch sind Ines Fleiwa und Cordula Zwischenfisch so weiblich, wie es die Namen vermuten lassen. Stattdessen betreten zwei selbsternannte Musik-Kasparettisten die Bühne, die mit skurriler Probenraumcomedy überzeugen. So sehr, dass sie mittlerweile mehr
KULTURNOTIZEN Grammy-Nominierung 26. Januar Ariel Doron
1. Februar Wildes Holz
30. Januar Sarah Bosetti
2. Februar C. Heiland
als 20 Kleinkunst- und Comedypreise auf sich versammeln – vom Prix Pantheon bis zum Deutschen Kabarettpreis.
Ariel Doron 26. Januar um 20 Uhr, Theater Freiburg Einfache Lacher gibt es bei Ariel Doron nicht. Wenn der Krieg das Kinderzimmer erreicht, ist das auch nicht zu erwarten. Der israelische Puppenspieler lässt Spielzeugsoldaten sowie einen Plüschtiger lebendig werden und versetzt sie in die brutale Realität des Krieges zwischen Gewalt, Sex, Hass und Angst. Überraschend, lustig, verstörend.
Sarah Bosetti
Wildes Holz 1. Februar um 20 Uhr, Vorderhaus „Highway to Hell“ auf der Blockflöte – schwer vorzustellen. Doch die drei Musiker von „Wildes Holz“ zeigen: Das funktioniert tatsächlich. Und hört sich auch noch richtig gut an. Ihre Holzmusik reicht von Mozart – deutlich rockiger als im Original – über Michael Jackson bis hin zu Kraftwerk. Die Blockflöte wird dabei stets von Gitarre und Kontrabass unterstützt. Wem die Ohren noch vom Ständchen unterm Christbaum schmerzen, sollte sich hier unbedingt von den Qualitäten der Blockflöte überzeugen lassen!
Fotos: © Carsten Schick, Edgar Schröter, Anael Resnick, Anja Rattchen
Freier Blick auf Orgel 88.000 Euro. Diesen Betrag hat das Kuratorium Augustinermuseum in diesem Jahr gesammelt. Der Betrag fließt in die Umgestaltung des Museums und soll ein architektonisches Highlight ermöglichen: den Raum mit dem Orgelblick. Gemeint ist damit der ovale Raum im Haus der Graphischen Sammlung. Hinter einer seiner Wände verbirgt sich die Welte-Orgel, die dank der Spenden sichtbar gemacht werden soll.
Kulturamt fördert neue Projekte Das Freiburger Kulturamt fördert auch im kommenden Jahr Projekte für Kulturelle Bildung. Eine Jury hat nun sieben neue Projekte ausgewählt, die eine Förderung von 29.500 Euro erhalten. Darunter eine Tanzchallenge von Bewegungs-Art mit Freiburger Jugendlichen, das Projekt „Mapping Freiburg“ von ILLU Freiburg oder das Projekt „Traumflug und Libellenschlag“ des Vereins P.A.K.T in Kooperation mit dem Flüchtlingswohnheim an der Höllentalstraße.
C. Heiland
Preise und Auszeichnungen
2. Februar um 20 Uhr, Vorderhaus
Die von Ministerpräsident Winfried Kretschmann verliehene Staufermedaille fand Mitte Dezember den Weg nach Freiburg. Regisseur und Schauspieler Martin Schley erhielt die Auszeichnung für seine ehrenamtliche Theaterarbeit in der Freiburger Justizvollzugsanstalt. Über den deutschen Nachwuchsfilmpreis durfte sich jüngst der Freiburger Simon Schneckenburger freuen. In dessen Trophäenschrank dürfte es langsam eng werden: Der 27-Jährige hat bereits Preise wie den North Carolina Film Award oder den Deutschen Jugendfilmpreis erhalten. Auch der Preis für den „Bücherfreund 2017“ fand den Weg in die Bächlestadt. Genauer gesagt ins Schwarzwaldstadion. Wer hätte es gedacht: Deutschlands größter Bücherfreund ist niemand anders als SC-Trainer Christian Streich.
30. Januar um 20 Uhr, Vorderhaus Sarah Bosetti ist in der deutschen Medienlandschaft keine Unbekannte mehr. Sie tritt in Fernsehsendungen wie „Die Anstalt“ oder „Nuhr im Ersten“ auf, ist Kolumnistin bei radioeins und hat dieses Jahr ihr drittes Buch herausgebracht. Außerdem tourt sie mit ihrer Show „Ich will doch nur mein Bestes!“ durch die Republik. Wunderbar ironisch huldigt sie dem Sexismus, offenbart ihre Angst vor Kühlschränken und erzählt Geschichten vom schönen Scheitern.
Was haben Lady Gaga, Ed Sheeran und das Freiburger Barockorchester gemeinsam? Sie sind alle für den Grammy 2018 nominiert. Die CD „Sacred Cantatas“ mit Kantaten von Bach und HEADLINE Telemann, gesungen von Philippe Jaroussky, hat es in die Kategorie „Bestes klassisches Solo-Gesangsalbum“ geschafft. Es ist nicht die erste Nominierung der Freiburger: Bereits 2007 und 2010 stand das Barockorchester auf der Liste für den wichtigsten internationalen Preis der Musikbranche. Am 28. Januar heißt es nun abermals: Daumen drücken. An diesem Tag werden die Auszeichnungen in New York verliehen.
„Der Mann mit dem Schatten“ – dem Titel von C. Heilands Show muss man eigentlich nichts mehr hinzufügen. Laut Veranstalter-Info arbeitete der Comedian zehn Jahre als Psychiater, bis herauskam, dass er die meisten Pillen, die er verschrieb, selber genommen hat. Nach einem Abend mit Heiland zweifelt da sicherlich niemand mehr dran. Ob Kiffen in der Kita oder Zigaretten rauchende Pferde im Stall – seine schrägen Erzählungen und Lieder lassen nichts aus.
MUSIK
Zwölf Songs, die jeder kennen sollte CHILLI KÜRT DIE BESTEN FREIBURGER TRACKS DES JAHRES
E
xportschlager hat die Freiburger Musikszene 2017 nicht produziert. Doch viele umtriebige Künstler haben in den vergangenen zwölf Monaten wunderschöne Stücke herausgebracht. chilli-Musikredakteur Till Neumann hat die besten zum Jahresabschluss zusammengesucht. Zwölf Lieder, die jeder Freiburger kennen sollte.
Redensart
Brothers of Santa Claus Figure It Out Der Bandname klingt nach Rentierschlitten, roten Mützen und Last-Christmas-Coverband. Doch die fünf Jungs bieten handgemachten Indie-Synthie-Rock-Pop für alle vier Jahreszeiten. Auf „Figure It Out“ zeigt Maximilian Bischofsberger die Klasse seiner samtweichen Stimme. Entspannte Riffs und gediegene Drums umgarnen den verstrubbelten Sänger. Der stärkste Song ihres zweiten Albums „Not Ok“, das sie im April rausgebracht haben. Mit einem grandiosen Video.
Unduzo
Malaka Hostel
Brothers of Santa Claus Unojah
ANHÖREN Alle Tracks zum Nachhören gibt’s online auf bit.ly/chilli_zwoelf
Otto Normal Auf Der Stelle Der Major-Label-Deal ist geplatzt, doch die Ottos machen weiter – normal. Und scheuen wie gewohnt weder Kosten noch Mühen für das große Ding. Im März haben die Urban-Popper ihre zweite Akustiksession veröffentlicht. „Auf der Stelle“ heißt einer der exzellent instrumentierten Tracks. Reibeisen-Raps von Pete, feine Backgroundsängerinnen, pathetische Geigen, knackige Drums. Wuchtig ist das und gefühlvoll zugleich.
Unduzo
Unojah Go Jalal „Colour to the People“ heißt die Platte der Reggae-Weltmusiker Unojah. Der größte Wurf darauf ist „Go Jalal“. Zu einer lauschigen Akustikgitarre singt Chaldun Schrade von einem Jetsetter mit fünf Pässen, doch nur einer Identität. Einem Freund ist der Song gewidmet, er könnte aber auf die fünf Unojahs zutreffen. Spätestens, wenn die Flöte kommt, ist Fernweh garantiert.
Superman Die Freiburger Accapella-Crew hat Superkräfte. Das beweist sie auf ihrer Scheibe „Schweigen Silber, Reden Gold“. Im retro-mäßigen Sahnestück „Superman“ geht’s zwar nicht ganz jugendfrei zu, aber die fünf Vokalartisten liefern Entertainment vom Feinsten. Sänger Cornelius Mack kommt „am schnellsten“ und hat einen Hitze-Röntgen-Superblick. „Geil“, ruft die entzückte Backgroundsängerin. Garniert mit US-Filmsamples. Großes Kino. 64 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018
El Flecha Negra El Capitán Mantarraya Loco, lässig, latino. Die Musiker aus Chile, Peru, Spanien und Deutschland feiern am 20. Januar Album-Release im Jazzhaus. Den Mix aus Cumbia, Reggae und Mestizo-Sound gibt’s im großartigen „El Capitán Mantarraya“ zu hören. Bei so viel Percussion, Bläsern und spanischem Gesang schmilzt der Schnee – egal wie dick.
JAHRESRÜCKBLICK Cosmic Mints And It Remains Wer die sechs schrillen Typen beim Festival „Freiburg Stimmt Ein“ gesehen hat, kann sie nur mögen. Ein Album haben die Cosmic Mints noch nicht. Doch die ersten Songs der Funk-Rocker machen Laune. „And It Remains“ klingt ausgefeilt und trotzdem ungeschliffen. Truckerfahrer Alexander Emmert singt zerbrechlich vom goldenen Licht im Schatten. Die E-Gitarre bittet zum Bouncen. Fatcat
The Rehats
Redensart Lass Gut Sein
Otto Normal
Patty Moon
Nur wenige Freiburger Stimmen haben so viel Wiedererkennungswert wie die von Danny Mc Clelland. Mit Redensart macht er Indie-Folk-Pop, der weit über Freiburg hinaus begeistert. Im verschneiten Schwarzwald haben die vier Musiker vergangenen Winter das Video zur Wohlfühl-Nummer „Lass gut sein“ gedreht. Da will nicht nur die besungene „Cecile“ mitträllern.
Malaka Hostel Coyotes De l’Amor Restless Feet Cosmic Mints
La Flecha Negra
Kaum eine Band hier reißt das Publikum so mit wie Malaka Hostel. Cumbia, Ska, Klezmer, Rock’n’Roll – alles, was in die Beine geht, ist gut. 2017 stand unter anderem das ZMF und das neu eröffnete Artik Kopf. Mit „Coyotes de l’amor“ haben die sechs Jungs das passende Video zum Sound geliefert. Verwegen, humorvoll, eskalativ. Nicht nur gut, um sein Spanisch aufzupolieren.
Fatcat
The Rehats
Wishing Well
Nothing But The Truth
Das Album „Champagne Rush“ von Freiburgs angesagtester Kapelle ist Ende 2016 erschienen. Anfang Dezember haben die Funk-Katzen jetzt nachgelegt. Vier Songs haben sie als Live-Session veröffentlicht. Darunter auch „Wishing Well“. Eine butterweiche Laidback-Nummer, auf der Frontmann Kenny Joyner zeigt, dass er der Krempe seines neuen Riesenhuts gewachsen ist.
Mit „Nothing but the Truth“ haben The Rehats einen IndiePop-Ohrwurm-Song hingelegt. Tolle Stimme, Gute-Laune- Gitarren und ein grausig-schönes Video vom preisgekrönten Freiburger Filmemacher Simon Schneckenburger. Die Nummer klingt kuschelig entspannt, damit ist aber spätestens dann Schluss, wenn im Video Blut über den Holzbalken rinnt.
Patty Moon
Restless Feet Empire Of Gold
Sound On Me Voller Schmerz und Sehnsucht ist die Musik von Patty Moon. Schön klingt sie trotzdem. Zarte Streicher tragen die engelsgleiche Stimme durch neblige Flächen. Erst das Piano lässt ein paar Sonnenstrahlen durchschimmern. Feinfühligeres in Freiburg zu finden, wird schwierig. Lieder für ruhige Momente im Patty-Moon-Schein. Fotos: © tln, Felix Grotheloh, Linn Marie Hahn, Promo
Laut, jung, wild. Restless Feet machen Irish-Folk-Punk. Mit ihrem im März veröffentlichten Album „Homeward Bound“ kann man zu Hause schon mal für die Konzerte der sechs Jungs vortanzen. Zum Beispiel mit „Empire of Gold“. Das Kontrast-Programm zur Weihnachtsballade. Guinness statt Plätzchen. Grölen statt trällern. Klingt hochprozentig und pustet die Winterkälte ruckzuck weg. DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 65
e n g a a n r F ... 3 ... Adrian Goldner von Twäng!
ALEX CAMERON
LOKOMOTOR
Forced Witness
RAR marketed
SECRETLY CANADIAN
WIR SIND (26.1.2018)
Foto: © tln
„UNFASSBAR“
Pöbelnd durch die 80er
Erfrischend anders
Der beste Popchor des Landes kommt aus Freiburg: „Twäng!“. Die Truppe von Chorleiter Adrian Goldner hat sich mit einem Sahneauftritt in der Kategorie „Populäre Chormusik – a cappella“ für das Bundes finale qualifiziert – das im Mai in Freiburg steigt. Goldner (26) erzählt im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann von motivierten Sängern, schweren Stücken und einem spannenden Heimspiel.
(Philip Thomas). Ein Macho stößt auf Ablehnung und wir tanzen dazu. In Stulpen, Leggins und ballonseidener Trainingsjacke. Damit man sich dabei nicht schlecht fühlen muss, hat der Australier Alex Cameron für sein zweites Album eine ambivalente Kunstfigur geschaffen, die man als Zuhörer schadenfroh studiert. Und damit die Platte auf zehn knackigen Songs nicht zu kopflastig gerät, wird er dabei unterstützt durch Synthesizer und Saxophon, die direkt in die Beine gehen. In witzigen Texten und einer fantastischen Mischung aus Synthie-Pop und Rockeinflüssen randaliert der unheimliche Außenseiter durch aberwitzige Szenarien: Einer Onlinebeziehung schickt er auf „True Lies“ heimlich Geld „even if she’s some nigerian guy“. Auch außerhalb des Internets treibt die tragische Figur ihr Unwesen und bleibt dabei herrlich inkonsequent. Einem Machospruch wie „There is blood on my knuckles, ’cause there’s money in the trunk“ folgen Momente tiefer Unsicherheit. Dabei will er nur geliebt werden, oder zumindest Bestätigung. Komplimente à la „my face has a Beckham-like quality“ willkommen. Die Musik, die im Kontrast zum Wort steht, ist wunderbar eingängig, dabei keinesfalls platt, sondern farbenfroh und nuanciert, um den Hörer mit einer großartigen Scheibe Musik zu amüsieren.
(Tanja Senn). Obwohl „Wir sind“ ihr Debütalbum ist, sind die fünf Musiker von LOKOMOTOR keine Unbekannten mehr. Als Support von Adel Tawil, Andreas Bourani, Mark Foster oder den Söhnen Mannheims erobern sie seit sieben Jahren die deutschen Bühnen. Doch das Quintett aus dem Norden Frankens wollte nichts überstürzen. So hat es eine Weile gedauert, bis die Jugendfreunde-Band – alle Mitglieder kennen sich seit dem Sandkasten – mit ihrem Erstling zufrieden war. Das kann sie auch sein: Ihr „native speaking ghost pop“ bewegt sich im Spannungsfeld von mitreißender Energie und seufzender Melancholie. Manch ein Song erinnert dabei stark an Silbermond („Lass mich endlich los“), auch weil Rebekka Knoblichs klare, ausdrucksstarke Stimme der von Silbermond-Frontfrau Stefanie Kloß sehr ähnelt. Dass LOKOMOTOR aber keineswegs einen Stil kopiert, zeigt die Bands mit Songs wie dem eindringlichen „Wanderer“ oder dem rockigen „Menetekel“. Die eingängigen Melodien kombiniert sie mit tiefgreifenden Texten, die sich erfrischend vom „Menschen Leben Tanzen Welt“-Einerlei abheben. So wird das Album sicherlich nicht das letzte bleiben, was man von den Franken hört. Denn wie singt Knoblich: „Hallo Leben! Ich lauf dir entgegen. Ich will noch mehr.“
Adrian, ihr habt beim Landesfinale satte 24,4 von 25 Punkten geholt ... Das war unfassbar. Erst so langsam stellt sich die Erkenntnis ein, was wir geschafft haben. Die Jury hat uns nur 0,6 Punkte abgezogen. Krass. Definitiv einer unserer besten Auftritte. Wie habt ihr das Ding gerockt? Die Akustik und Technik waren nicht so gut. Also mussten wir uns doppelt konzentrieren – ein Vorteil. Jeder Chor singt 15 bis 20 Minuten: Pflicht war „Secret of Life“ von James Taylor. Unsere weiteren Songs waren „Haus am See“ von Peter Fox, „Nightcall“ von Kavinsky aus dem Film Drive und das wahnsinnig schwere „Fever“, das auch Elvis gesungen hat. Alle haben Spaß gehabt, das ist das Wichtigste. Das Bundesfinale wird ein Heimspiel. Das will man gewinnen, oder? Es ist eine große Ehre, dabei zu sein. Die Konkurrenz kenne ich aber nicht wirklich. Wir werden uns das ein oder andere Video anschauen. Ich habe ein gutes Gefühl, wir müssen uns da sicher nicht verstecken. Wir haben etwa 40 super motivierte Sänger und eine Organisation, die ich bei einem Chor so noch nicht erlebt habe.
MURAT COSKUN
STEREO DYNAMITE
Pianissimo Musik, 2017
Eigenvertrieb
VISIONS
BY(E) DEFAULT
DER SOUNDDRECK ... ... zum Ende des Saunddreckjahres
Das ist der Letzte. Der Allerletzte. Wirklich. In diesem Jahr zumindest. Es reicht aber auch. Was sollen wir uns denn noch alles bieten lassen. Rhetorische Frage, sie haben’s gemerkt. Nein, mal ehrlich und – Hand auf den Geldbeutel – schlimmer geht’s kaum noch. Gegen diese Geschmacklosigkeiten ist kein Kraut gewachsen, hilft aber auch nicht mal Glyphosat in rauen Mengen.
Grenzenloses Groovistan
Druck und Dampf
(Till Neumann). Der Freiburger Perkussionist Murat Coskun geht mal wieder über Grenzen. Mit zwei illustren Gästen hat der renommierte Rahmentrommler eine facettenreiche CD aufgenommen: Visions. Coskun, Organisator des Tamburi Mundi-Festivals in Freiburg, hat zum einen David Friedman an Bord. Der 73 Jahre alte Vibrafon- und Marimbaspieler ist eine Koryphäe, gilt als „Grandseigneur“ des Jazz Vibraphons. Zum anderen ist die Iranerin Arezoo Rezvani mit von der Partie. Sie singt und spielt das persische Instrument Santur, eine Art Geige mit 72 Seiten. Der musikalische Schmelztiegel kommt auf 17 Stücken vielfarbig daher: Mal laden treibende Trommelrhythmen zum Tanzen ein, dann wird’s atmosphärisch-meditativ, bis plötzlich wieder stampfende Schläge den Takt angeben. Die drei harmonieren exzellent auf den improvisierten Liedern. Mit ihren Visionen schaffen sie gar ein neues Land: „Groovistan“. Das so betitelte Lied von Murat Coskun pulsiert nahezu atemlos, sein intensiver Gesang entführt in ferne Welten. Greifbar werden die musikalischen Versionen auch dank eines ausführlichen Booklets. Da erfährt man, dass die Kinder Coskuns auf der CD verewigt sind und die CD von fliegenden Kamelen erzählt.
(Till Neumann). Achtung! Explosiv. Die Freiburger Jungs von Stereo Dynamite machen ihrem Namen auf ihrer neuen Gratis-EP alle Ehre: E-Gitarren kreischen um die Wette, der Bass drückt, die Drums krachen. Mit dem „By(e) Default“ melden sich Sänger und Gitarrist Matze, Bassist Hanni und Schlagzeuger Gäschi lautstark zurück. Kleine Gesten, große Wirkung. Mit dem Motto wollen sie Standards überwinden. Musikalisch und menschlich. Der Schlüssel sei, bei sich selbst anzufangen. „We cry for help, but we can‘t see, it starts with you and me“, singt Matze in der Single „Blackout Routine“. Das Video dazu begleitet eine trotzig-verzweifelte junge Frau auf dem Weg durch Freiburg. Sie redet die Musiker an. Schreit ihnen ins Ohr. Keine Reaktion. Bis sie am Ende ins Glas der spiegelnden UB schaut und lächelt. Etwas leisere Töne schlagen die Stereos in „Judge Us“ an. Im Track mit Gastsänger Christoph von Freydorf von der Metalband Emil Bulls geht’s um Vorurteile und Anderssein. Auch da entlädt sich Spannung: Der Appell für mehr Authentizität mündet in einem brachialen Finale. Druck aufbauen, Dampf ablassen – so die Essenz der Tracks. Ein Funken mehr Ruhe hätte dem guttun können. Da bleibt By(e) Default aber konsequent: kompromisslos und energiegeladen.
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Das einzig Positive an diesem bescheidenen Jahr 2017 ist, dass der Beweis erbracht wurde, dass es keinen Gott gibt, weil so eine Kreatur wie Horst Seehofer kann sich selbst ein noch so perfider Gott nicht ausgedacht haben, geschweige denn einen Markus Söder, obwohl es doch in der Bayernhymne heißt: „ Gott mit dir, du Land der Bayern, deutsche Erde, Vaterland! Über deinen weiten Gauen ruhe seine Segenshand.“ Wenn schon, dann ist die CSU keine Partei, sondern eine der biblischen Plagen. Fehlt eigentlich nur noch das Comeback der Rockballade kurz vor Ende dieses WürselenJamaikaAmigoStuttgart21KlimaDebakeljahres. Wenn sich dann wieder harte Männer mit schütterem Haar und glasigen Augen nach dreizehn Asbach gedopt schluchzend in den Armen liegen, sich gegenseitig den Sabber ans Holzfällerhemd schmieren und „Empty rooms, where we learn to live without love“ nuscheln. Schönen Dank auch. Es kann eigentlich nur besser werden, daraus wird aber wohl nichts. Wir sind auf alles gefasst. Fast.
Hallelujah, für Ihre Geschmackspolizei Ralf Welteroth
KINO
Flachdach als Proberaum RACHID HAMI BRINGT IN SEINEM ZWEITEN SPIELFILM VIELE SAITEN ZUM KLINGEN von Erika Weisser
La Mélodie – der Klang von Paris
Fotos: © Prokino
Frankreich 2017 Regie: Rachid Hami Mit: Rénely Alfred, Kad Merad, Samir Guesmi u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 102 Minuten Start: 21. Dezember 2017
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ls die Schüler der neu gegründeten Orchesterklasse einer Brennpunktschule einer Pariser Banlieue ihren Violinen die ersten schrägen Katzenjammer-Töne entlocken, erscheint plötzlich das Gesicht des späteren Stars der Truppe am Fenster. Sehnsüchtig schaut der dunkelhäutige Arnold vom Schulhof aus in den Proberaum, in dem er auch gerne wäre. Doch bei dem Musikprojekt, das die Pariser Philharmonie eigens für sozial benachteiligte Jugendliche anbietet, war für ihn kein Platz mehr; er wurde mit der anderen Hälfte seiner Klasse dem Sportförderprogramm zugeteilt. In der Pause schleicht sich Arnold jedoch in den Raum, um eine der dort eher achtlos abgelegten Geigen zu berühren. Dabei wird er von Projektleiter Simon erwischt. Doch wider Erwarten feuert der arbeitslose Berufsmusiker, der den Job nur widerwillig und wegen fehlender Orchesterangebote annahm, keine Schimpfkanonade ab, sondern fragt den schüchternen Jungen, ob er mitspielen wolle. Und als er ihn ohne Umschweife einfach in die Musikklasse aufnimmt, kann Arnold sein Glück kaum fassen. Voller Dankbarkeit wird er zum fleißigsten Schüler; er verliebt sich förmlich in das Instrument, nutzt jede freie Minute zum Üben – manchmal gar auf dem Flachdach des Hochhauses, in dem er mit Mutter und Schwester wohnt. Da er neben seiner Begeisterung auch noch über ein außerge-
wöhnliches Talent verfügt, wählt Simon ihn bald für den Solopart des Stücks aus, das die Schüler zusammen mit den Instrumentenklassen anderer Schulen demnächst in der Philharmonie aufführen sollen. Doch zunächst sieht es nicht so aus, als würden die halbwüchsigen Rabauken überhaupt jemals dort spielen. Denn die keineswegs mit klassischer Musik vertrauen Mädchen und Jungen tun sich ziemlich schwer mit der Disziplin, dem gegenseitigen Respekt, dem Zusammenspiel – und mit dem Lehrer, der ihnen zu streng und zu unnahbar ist und der viel zu hohe Ansprüche stellt. Denn Simon ist Perfektionist und hat in seiner Milieuferne überhaupt kein Verständnis für die Rangeleien, die Aggressivität und die Provokationen seiner Schüler. Erst nach einem Beinahe-Zusammenstoß mit einem besonders renitenten Eleven ändert er seinen Unterricht – und findet doch noch einen Weg zu ihnen. Auch dabei spielt Arnold, zu dem er eine Vater-Sohn-Beziehung entwickelt, eine wichtige Rolle. Kad Merad, der bisher eher in Komödien glänzte, zeigt in der Rolle des zart besaiteten Musikers Simon sein erstaunliches Talent für ernsthafte Parts. Und der junge Laiendarsteller Renély Alfred könnte die große Schauspieler-Entdeckung des Jahres werden. Authentisch und mit größter Selbstverständlichkeit spielt er den Arnold, ist auch bei der Darstellung zutiefst persönlicher Angelegenheiten überzeugend. Ein schöner Film – gerade richtig zur Weihnachtszeit.
KINO DIE KANADISCHE REISE
OPER – L’OPÉRA DE PARIS
LOVING VINCENT
Foto: © temperclayfilm
Foto: © Kool
Foto: © Weltkino
Frankreich/Kanada 2016 Regie: Philippe Lioret Mit: Pierre Deladonchamps u.a. Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 98 Minuten Start: 14. Dezember 2017
Frankreich/Schweiz 2017 Regie: Jean-Stéphane Bron Dokumentarfilm Verleih: Kool Laufzeit: 110 Minuten Start: 28. Dezember 2017
Großbritannien/Polen 2017 Regie: Dorota Kobiela & Hugh Welchmann Animationsfilm, mit Douglas Booth, Saoirse Ronan, Chris O’Dowd u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 95 Minuten Start: 28. Dezember 2017
Der unbekannte Bruder
Ein Stier auf den Brettern
Detektivische Bilderreise
(ewei). Mathieu lebt ein ziemlich unspektakuläres Leben in Paris: Er ist Mitte 30, arbeitete als kaufmännischer Angestellter in einem mittelständischen Unternehmen, verbringt mehr als jedes zweite Wochenende mit seinem Sohn, der bei der von Pierre getrennten Mutter wohnt; er trifft sich ab und zu mit Bekannten, hat ein geheimes Faible für’s Schreiben. Seine Mutter, die ihn allein aufzog, ist bereits verstorben, seinen Vater hat er nie gekannt. Eines Tages erhält er einen mysteriösen Anruf aus Kanada, mit dem ein Mann namens Pierre ihn über den Tod seines besten Freundes und Mathieus Vater Jean informiert. Und über ein Paket, das er für ihn hinterlassen habe. Kurzentschlossen fliegt Mathieu nach Kanada; er will seine bisher unbekannten Halbbrüder kennenlernen, von denen Pierre sprach. Doch eine Annäherung mit den erbstreitigen Brüdern findet nicht statt, dafür kommt er ganz anderen Geheimnissen auf die Spur. Ein faszinierender Film.
(ewei). Herbst 2015. An der Pariser Oper bereitet der neue Direktor Stéphane Lissner seine erste Pressekonferenz vor. Hinter der Bühne üben Künstler und Techniker zur Saisoneröffnung Schönbergs „Moses und Aaron” ein. Und während die Ankündigung eines Streiks und die Ankunft eines Stiers als Nebendarsteller für Unruhe sorgen, tritt an der Akademie der Oper der vielversprechender junge russische Sänger Mischa Timoschenko an. Gut anderthalb Jahre filmte Jean- Stéphane Bron in den Korridoren, den Büros, den Proberäumen, auf der Bühne und hinter den Kulissen der Bastille-Oper, die sich zu jener Zeit im Umbruch befand; selbst das Ballett erhielt mit Benjamin Millepied einen neuen künstlerischen Leiter. Vom diesem Ballett bis zum Musiktheater setzt Brons großartige Dokumentation die menschlichen Leidenschaften abwechselnd ironisch, heiter und ernst in Szene. Und der Freiburger Verleih Kool Filmdistribution bringt diese Einblicke in die deutschen Kinos.
(ewei). Armand, der Sohn des Postboten Joseph Roulin, erhält von seinem Vater den Auftrag, den jüngst aufgetauchten letzten Brief des vor einem Jahr verstorbenen Malers Vincent van Gogh an dessen Bruder Theo auszuliefern. Falls er ihn ausfindig machen kann: Roulin, der einzige wirkliche Freund des gleichermaßen berühmten wie umstrittenen Künstlers, konnte Theos genaue Anschrift bisher nicht in Erfahrung bringen. Widerwillig begibt sich Armand auf den Weg nach Paris; er hatte nie viel für den verrückten Maler übrig. Doch als er erfährt, dass Theo kurz nach dem Bruder selbst verstorben ist, wird er neugierig. Er beginnt, sich mit Vincents Leben, seiner Krankheit und seiner Beziehung zum Arzt Paul Gachet und dessen Tochter zu beschäftigen. Und kommt mit detektivischem Spürsinn zu überraschenden Erkenntnissen. In dieser frei erfundenen, von 200 Künstlern komplett gemalten Handlung wird van Gogh in seinen eigenen Bildern „reanimiert“. Wunderschön.
KINO
voll von der Rolle
DIE SPUR
DIE VIERHÄNDIGE
Mittagspause während der anstrengenden Wanderschaft. Foto: © Patrick Allgaier, Gwendolin Weisser
Kinophänomen des Jahres (ewei). Zwei junge Leute wollen um die Welt reisen, ziehen los – und kommen 3 Jahre und 110 Tage später wieder am Ausgangsort Freiburg an. Das allein ist ja nicht phänomenal. Ebenso wenig die Tatsache, dass sie keinen einzigen Kilometer dieser Tour du Monde in einem Flugzeug zurücklegten, sondern zu Fuß, per Anhalter, mit Bahn, Bus und Schiff. Phänomenal ist auch nicht, dass die beiden, die unterwegs auch noch Eltern wurden, mit einem Tagesbudget von 5 Euro auskamen, nur das Allernötigste dabei hatten und ihr Unterwegssein mit der Filmkamera festhielten – das Letztere tun schließlich viele. Doch Gwendolin Weisser und Patrick Allgaier haben aus ihren Aufzeichnungen einen Film gemacht, den sie im Frühjahr 2017 in ein paar ausgesuchten Programmkinos in Deutschland zeigen wollten: „Weit. Die Geschichte von einem Weg um die Welt“. Und schon die erste der vier im Kino Friedrichsbau anberaumten Premieren hatte so viel Publikum, dass der Film ins reguläre Programm aufgenommen wurde. Seit dem 27. März hat diese sehr persönliche, wie ein Reisetagebuch gestaltete und mit grandiosen Bildern versehene Dokumentation dieses Kino nicht mehr verlassen: Anfang Dezember, gibt Michael Wiedemann Auskunft, wurde die magische Grenze von 50.000 Kinobesuchern überschritten. Allein in Freiburg. Und das ist nun wirklich phänomenal. Doch es geht noch phänomenaler: Seit 52 Wochen läuft der Film bundesweit – und rangiert mit bisher über 300.000 Besuchern auf einem der ersten 10 Plätze der Arthaus-Charts. Kein Wunder, dass den beiden Freiburgern bei der Leipziger Filmkunstmesse ein Preis verliehen wurde, den es bisher noch nicht einmal gab, der eigens ihretwegen kreiert wurde: Kinophänomen des Jahres. Herzlichen Glückwunsch! Jetzt auch als DVD; Info: www.weitumdiewelt.de/
Foto: © Film Kino Text
Foto: © Camino
Polen 2017 Regie: Agnieszka Holland Mit: Agnieszka Mandat-Grabka u.a. Verleih: Film Kino Text Laufzeit: 128 Minuten Start: 4. Januar 2018
Deutschland 2017 Regie: Oliver Kienle Mit: Christoph Letkowski u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 94 Minuten Seit 30. November im Kino Harmonie
Von Jägern und Gejagten
Schwestern auf Horrortrip
(ewei). In einem malerischen kleinen Dorf inmitten einer grandiosen Berglandschaft lebt die pensionierte Bau ingenieurin Janina Duszejko. Mit ihren beiden Hündinnen wohnt die eigenwillige und leicht verschrobene Tierfreundin in einem Häuschen am Ortsrand, gibt an der Schule ehrenamtlich Englischunterricht und scheint ansonsten an ihrer Nachbarschaft nicht sonderlich interessiert zu sein. Jedenfalls nicht an jenen, die sich in den weiten Wäldern der Gegend regelmäßig ausgiebig als Jäger betätigen. Und das tun fast alle, zumindest die Männer. Irgendwann verschwinden ihre Hunde spurlos. Bald darauf wird einer ihrer Nachbarn, ein berüchtigter Wilderer, tot vor seinem Bett gefunden. Im Laufe der Zeit gibt es noch mehr Tote: ein Polizist, ein Fuchsfarmbesitzer und schließlich der Bürgermeister. Alle sind Jäger, und alle weisen Tierspuren auf. Das Leben wird gefährlich für Janina und ihre ebenfalls außenseiterischen Freunde. Ein köstlicher Ökothriller.
(ewei). Schon von außen wirkt die altmodische Villa wie ein Geisterhaus: Irgendwie verloren, als letzter Überrest einer einst lebendigen Stadtrand idylle steht sie da, inmitten eines hochmodernen und dennoch apokalyptisch anmutenden Gewerbegebiets, in dem nachts keine Menschenseele unterwegs ist. Das Interieur des Hauses scheint auch nicht viel belebter zu sein: Hier wohnen die Schwestern Jessica und Sophie, die zwar jung sind, aber sehr alt zu sein scheinen. Und die in fataler Weise voneinander abhängig sind. Zwanzig Jahre zuvor hatten sie ein Erlebnis, das sie gründlich traumatisierte: Als die Mädchen vierhändig Klavier spielten, wurden die Eltern von unbekannten Eindringlingen vor ihren Augen ermordet – in dem Haus, in dem die Geschwister immer noch wohnen. Die Ältere hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Jüngere zu beschützen – und setzt damit einen Psycho-Horrortrip in Gang, wie man ihn in deutschen Filmen selten sieht.
DVD DER WEIN UND DER WIND Frankreich 2017 Regie: Cédric Klapisch Mit: Pio Marmaï, François Civil u.a. Studio: Studiocanal Laufzeit: 112 Minuten Preis: ca. 15 Euro
DER WUNDERBARE GARTEN DER BELLA B. Großbritannien 2016 Regie: Simon Aboud Mit: Jessica Brown Findlay, Andrew Scott u.a. Studio: Eurovideo Medien Laufzeit: 101 Minuten Preis: ca. 13 Euro
DIE GESCHICHTE DER LIEBE Kanada/Rumänien 2017 Regie: Radu Mihaileanu Mit: Gemma Arterton, Derek Jacobi u.a. Studio: Prokino Laufzeit: 134 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Ein Jahr auf dem Weingut
Rosen gegen Neurosen
Odyssee der Gefühle
(ewei). Ein Weinland im Lauf der Jahreszeiten: Ein Jahr lang hat sich Cédric Klapisch immer wieder auf dem kleinen, in der Bourgogne gelegenen Weingut seines Schauspielerkollegen Jean-Marc Roulot aufgehalten, um dort für dieses wunderbare Erzählkino nicht nur die jahreszeitlichen Veränderungen dieser besonderen Landschaft festzuhalten, sondern auch die Arbeit der Winzer. Und die Probleme zu benennen, die sich zwischen Tradition und Moderne, zwischen Geldmangel und Ökologie auftun.
(ewei). Bella Brown ist einsam. Sie leidet unter Zwangsneurosen, lässt niemanden in das kleine Häuschen, in dem sie zur Miete wohnt. Dort herrscht pedantische Ordnung, gibt es für jeden Wochentag eine eigene Zahnbürste, hängen die Kleider nach Farben sortiert im Schrank. Den Garten lässt sie hingegen verwahrlosen: Die Unvorhersehbarkeit der Natur macht ihr Angst, bedroht ihre Sicherheit. Doch dann wird ausgerechnet er zu dem Ort, an dem sie leben lernt. Und lieben. Fantastisch!
(ewei). Leo liebt Alma. Und sie ihn. Doch bevor sie sich zusammentun können, werden sie durch die politischen Verhältnisse getrennt: Sie gehören zur jüdischen Gemeinde eines polnischen Dorfs und die Nazis sind dabei, das Land zu besetzen. Alma und ihrer Familie gelingt eine überstürzte Flucht in die USA, Leo bleibt zurück, verspricht ihr, sie ihr Leben lang zum Lachen zu bringen. Und sucht sein Leben lang nach ihr. Und nach dem Buch, das er für sie schrieb und einem Freund mitgab.
IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS Deutschland 2017 Regie: Matti Geschonnek Mit: Bruno Ganz, Hildegard Schmahl u.a. Studio: X Edition Laufzeit: 97 Minuten Preis: ca. 12 Euro
DIE RÜCKKEHR NACH MONTAUK
INNEN LEBEN Belgien/Frankreich/ Libanon 2017 Regie: Philippe van Leeuw Mit: Hiam Abbass u.a. Studio: Universum Film Laufzeit: 85 Minuten Preis: ca. 13 Euro
Deutschland/Irland/ Frankreich 2017 Regie: Volker Schlöndorff Mit: Ivo Pietzcker u.a. Studio: Wild Bunch Germany Laufzeit: 102 Minuten Preis: ca. 14 Euro
Gemüse für den Friedhof
Die Schrecken des Kriegs
Reise in die Vergangenheit
(ewei). „Bringen Sie das Gemüse auf den Friedhof“, sagt Wilhelm Powileit an seinem 90. Geburtstag zu den Gratulanten mit Blumen. Und ahnt nicht, wie nahe er, der Veteran der Arbeiterklasse, diesem Ort schon ist. Und mit ihm die ganze DDR, deren letzte Tage in diesem Oktober 1989 ebenfalls angebrochen sind. Noch poltert er herum, beschimpft Nachbarn und Angehörige – und hofft auf den Orden der Völkerfreundschaft. Doch der Countdown läuft. Skurriles Stück über die Arroganz der Ignoranz.
(ewei). Oum Yazan hat sich mit Familie und Nachbarn in ihrer Wohnung in Damaskus verschanzt. Draußen wütet der Krieg, lauern Scharfschützen, explodieren Sprengsätze. Verzweifelt versucht sie, das Dröhnen der Kampfhandlungen auszublenden. Es gelingt nicht: Die Einschläge kommen näher; zwei Männer dringen in die Wohnung ein. Die Bewohner verstecken sich. Und werden in Todesangst Zeugen von fürchterlichen Geschehnissen. Ein verstörendes und eindringliches Plädoyer für den Frieden.
(ewei). Der in Berlin lebende Schriftsteller Max Zorn reist zur Premiere seines neuen Romans nach New York. Dort nimmt er Kontakt zu der erfolgreichen Anwältin Rebecca auf, von der er sich vor fast 20 Jahren trennte – und es hinterher bereute. In der leisen Hoffnung auf ein Revival der Beziehung fährt er mit ihr nach Montauk, wo sie einst glückliche Zeiten erlebten. Doch die Reise ans Meer entwickelt sich anders als erhofft. Gelungene Verfilmung von Max Frischs persönlichstem Buch.
DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 71
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LESETIPPS
Wichtig, fulminant, spannend DAS SIND DIE BÜCHER DES JAHRES FÜR DIE CHILLI-REDAKTION
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ährend es auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse zu Schlägereien und Tumulten kam, hat die chilli-Redaktion die Planung für den letzten Literaturaufmacher des Jahres ganz und gar friedlich, ja durchaus gemeinschaftlich gestaltet: Wir schreiben mal nicht über andere Autoren, sondern bieten unseren Lesern unsere ganz persönlichen „Bücher des Jahres“.
FARBENBLIND von Trevor Noah, Blessing Verlag, 2017, 335 Seiten, 19,99 Euro Der Mann weiß, wovon er spricht: Trevor Noah wuchs in Soweto auf, einer Town ship am Rande von Johannesburg. Seine Geburt war der erste Gesetzesbruch: Seine Mutter eine schwarze Xhosa, sein Vater Schweizer. Ein Unding im absurden Apartheidregime von Südafrika. Noah erzählt aus seinem Leben, er lässt den Leser über seine Schulter schauen, in seine Gedanken eintauchen, er führt ihm – nicht ohne Ironie – vor Augen, mit welchen ebenso bizarren wie unmenschlichen Methoden die Regierung ihre Bürger trennt. Er selber, der Nobody, der nirgendwo Zugehörige, schaffte es aus dem Slum auf die großen Comedy-Bühnen der Welt. Ein wichtiges, richtiges, kaum wegzulegendes Buch. Lars Bargmann 72 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018
Und die beackern ein weites Feld: Sie spielen in Südafrika oder Leningrad, in Brandenburg oder Italien, handeln von politischen Kämpfen und Abenteuern, Kriegsgeschichte und sieben Sünden, Goldgräbern, Tragödien und einer roten Ampel. Für uns haben diese Werke weit mehr als nur ihre Geschenk ability bewiesen. Wir wünschen anregende Lektüre.
DIE GESTIRNE von Eleanor Catton, btb Verlag, 2017, 1040 Seiten, 14 Euro Im Jahr 1866 betritt ein Fremder ein Hotel im neuseeländischen Goldgräberstädtchen Hokitika. Zwölf Menschen haben sich hier versammelt. Warum, wird erst viel später klar. Denn was mit dem Tod eines Einsiedlers beginnt, weitet sich zu einem Netz an ungelösten Kriminalfällen aus. Zugegeben: Die 1040 Seiten verlangen ihrem Leser Durchhaltevermögen ab. Die Goldgräbersaga ist mit ihren vielen Verstrickungen, der wortgewaltigen, etwas steifen Sprache und den wechselnden Perspektiven kein leichtes Lesestückchen. Doch wer sich hineingefunden hat, wird unweigerlich in den Sog dieses rasanten Epos gezogen. Tanja Senn
LESETIPPS SIEBEN NÄCHTE
STADT DER DIEBE
von Simon Strauß, Aufbau Verlag, 2017, 144 Seiten, 16 Euro Ist dies das Buch für die nächste Generation? Dies behauptet zumindest Florian Illias, der mit der „Generation Golf “ ja so etwas versuchte. „Sieben Nächte“ von Simon Strauß, Jahrgang 1988 und wie einst Illies im Feuilleton der FAZ beschäftigt, ist zumindest etwas, was Hoffnung macht: Auf eine neue Generation der „angry young men“, auf eine Renaissance der Leidenschaft, der Re-Politisierung und des Aufbegehrens. Der Protagonist in diesem schmalen Band schließt mit einem Fremden einen Pakt: Jede Nacht wird er eine dieser sieben Sünden begehen und darüber schreiben. Das ist fulminant! Das ist groß! Dominik Bloedner
von David Benioff, Blessing Verlag, 2008, 381 Seiten, 10,99 Euro Leningrad im Januar 1942: Um dem eigenen Kriegsgericht zu entgehen, erhalten der junge Lew und der Deserteur Kolja in der eingekesselten und ausgehungerten Stadt den aberwitzigen Auftrag, für die Hochzeitstorte eines sowjetischen Generals zwölf Eier zu besorgen. Auf 381 Seiten durch Trümmer und Kälte bilden der schüchterne Teenager und der selbsternannte Frauenheld dabei ein ungleiches Paar zwischen den Fronten. In einer entbehrungsreichen Zeit schafft es der Autor, die Spannung aufrechtzuerhalten, den herrschenden Schwermut durch dosierten Humor aufzubrechen und schließlich eine dichte Abenteuergeschichte zu erzählen. Philip Thomas
DIE NACHT SCHREIBT UNS
DAS HAUPT DER WELT
von Dani Atkins, Knaur Verlag, 2016, 446 Seiten, 9,99 Euro Dani Atkins hat es wieder getan: Nach ihrem Debüt mit „Die Achse meiner Welt“ hat sie eine zweite Liebesgeschichte geschrieben, die sich fast so spannend wie ein Thriller liest. Hauptfigur Emma steht kurz vor ihrer Hochzeit mit Jugendliebe Richard. Am Abend ihres Junggesellinnenabschieds kommt es zu einer Tragödie, die das Leben aller Beteiligten verändert. Eine ergreifende Geschichte, mit einem nicht so vorhersehbaren Ende, wie man es eigentlich hätte vermuten können. Dabei werden verschiedene Themenfelder von Freundschaft und Liebe, Verlust und Trauer sowie das Leben mit der Krankheit Alzheimer abgedeckt. Isabel Barquero
von Rebecca Gablé, Bastei Lübbe, 2015, 861 Seiten, 10,90 Euro Brandenburg 929: Beim Fall der Brandenburg nimmt das deutsche Heer unter Heinrich I. den slawischen Fürstensohn Tugomir und seine Schwester gefangen. Beide müssen von nun an in Magdeburg leben. Tugomir hasst diese neue Welt. Trotzdem rettet er dem Königssohn Otto das Leben und es entsteht eine Art feindliche Freundschaft. Nach Ottos Krönung bilden sich Intrigen, um ihn zu stürzen, auch aus den eigenen Reihen … Rebecca Gablé schafft es, mit diesem Buch deutsche Geschichte erlebbar zu machen. All das Leid und die Freude der Charaktere durchlebt man selbst. Ein Buch, das von Anfang bis Ende spannend und überraschend bleibt! Annkathrin Pohl
TOTE MÄDCHEN LÜGEN NICHT
SID SCHLEBROWSKIS KURZER SOMMER DER ANARCHIE UND SEINE SUCHE NACH DEM GLÜCK
von Jay Asher, cbt Verlag, 2009, 283 Seiten, 9,30 Euro Spätestens nach dem Start der Netflix- Serie „Tote Mädchen lügen nicht“, die Anfang des Jahres Aufsehen erregte, ist auch der Roman von Jay Asher wieder auf die Bildfläche zurückgekehrt. Als Clay Jensen eines Nachmittags aus der Schule nach Hause kommt, liegt ein Päckchen mit 13 Kassetten vor seiner Haustür. Als er das erste Band in einen alten Kassettenrekorder legt und auf Play drückt, kann er seinen Ohren kaum trauen. Er hört die Stimme von Hannah Baker – seiner Mitschülerin, seiner besten Freundin, seiner ersten Liebe –, die sich wenige Tage zuvor das Leben genommen hat. Ashers Roman ist nicht nur eine Coming- of-Age-Geschichte, er setzt sich gefühlsgewaltig und schonungslos mit dem Thema Mobbing und dessen Konsequenzen auseinander. Valérie Scholten
von Klaus Bittermann, Edition Tiamat, 2016, 240 Seiten, 18 Euro Nancy und Sid ergeht es wie den Blues Brothers: Ihnen wird die Nichtbeachtung einer roten Ampel zum Verhängnis. Nach wenigen Metern stoppt eine Polizeistreife die beiden minderjährigen Ausreißer und verhaftet sie direkt nach der Durchsuchung des Kofferraums ihres geklauten Autos. Schlimmer noch: Sie trennen sie. Dabei hatte das abenteuerlustige diebische Pärchen doch gerade erst die Liebe entdeckt und noch so viel vor – zumindest die Fortsetzung ihres rasanten Trips, der ihnen in Norditalien unglaubliche Begegnungen mit zeitgeschichtlichen Ereignissen und ihren Protagonisten beschert hatte – und wundersame Gelegenheiten zur Expropriation diverser Expropriateure. Ein hinreißend heiteres Buch. Erika Weisser DEZEMBER 2017 / JANUAR 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 73