chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 8/20 10. JAHRGANG

Fondation Beyeler

RODIN/ARP

13.12.20 – 16.05.21

Leinwand

Ausstellung

Musik

LUDWIG AMMANN ÜBER CINEMA UND CORONA

CRITICAL ZONES ERWEITERT HORIZONTE

RETTUNGSRINGE FÜR KLANGKÖRPER


KULTUR

Der Unsinn der Kanzlerin FREIBURGS KINOBETREIBER LUDWIG AMMANN ÜBER 2020

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von Ludwig Ammann

as Jahr ist abgehakt, und zwar schon etwas länger. Anders als die Politik, die sich im Sommer anscheinend der Hoffnung hingab, dass der Winter und damit die zweite Welle ausbleiben könnte, haben wir unsere Hausaufgaben zeitig gemacht und üben uns seither in Schadensbegrenzung und Galgenhumor. Dabei hatte das Jahr vielversprechend angefangen. Die dreimonatige Schließung des Friedrichsbaus wegen einer Brandschutzmaßnahme des Eigentümers war vorbei, es ging wieder aufwärts und wir hätten jeden Eid geschworen, dass wir das Schlimmste, was sich denken lässt, schon hinter uns hatten. Im März wurden wir eines Besseren belehrt: Drei Monate ein Kino zu lässt sich

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ohne Weiteres toppen durch drei Monate alle Kinos zu! Und alles andere auch … Für Wehklagen blieb wenig Zeit, das Einmotten dreier Kinos bedeutet alles andere als Kurzarbeit für die Chefs, die 100 Prozent Kurzarbeit für ihre Mitarbeiter beantragen. Und manches andere mehr: Soforthilfe, Überbrückungshilfe, fast vergessene Referenzfördermittel, Kinoprogrammpreis-Aufstockungen – eine wahre Springflut an Anträgen, die aber, auch wenn einen die Bürokratie erschlägt, einem guten Zweck dient: das Überleben der Kinos zu sichern, indem die monatlichen Verluste begrenzt werden. Bleibt die Frage, warum die Politik sich entschied, die Gewinne der Vermieter zu verschonen und die Last der – substanziell

Fotos: © Markus Herb, Ingo Schneider

Die Leinwand bleibt dunkel: Trotz Hygienekonzept und keiner einzigen nachgewiesenen Ansteckung sind alle Kinos bis auf Weiteres geschlossen. Da ist der von der MFG Baden-Württemberg verliehene und mit 10.000 Euro dotierte Kinopreis für das Jahresprogramm 2019 im „Kandelhof“ ein Trostpflaster.


KULTUR geminderten – Verluste allein uns zwangsgeschlossenen Gewerbemietern aufzubürden. Vielleicht weil man dachte, nach drei Monaten sei der Spuk vorbei? Unterm Strich lebt unsereiner seit März von den Altersrücklagen – ein Jahr Corona heißt für mich zwei Jahre länger arbeiten. Oder auch nicht. Denn die nun ausgerufene Novemberhilfe ist eine Kehrtwende. So sehr, dass mancher zunächst an einen Irrtum glaubte: Der Umsatz des Vorjahresnovembers als Berechnungsgrundlage einer Kompensation in Höhe von 75 Prozent? Es gibt zwar Branchen mit zweistelliger Umsatzrendite, aber in diese astronomische Höhe stoßen allenfalls Suchtmittel vor. Die Überkompensation lässt sich am wohlwollendsten deuten als Versuch, die bisherigen Hilfen rückwirkend um eine UnternehmerlohnKomponente zu ergänzen und damit die ungerechtfertigte Besserstellung der Vermieter auszugleichen. Nach Bewältigung der Antragsflut war dann Gelegenheit, das unerwartete Sabbatical zu genießen: mehr Zeit für die Freunde, die kranke Mutter, fürs Kochen, den Weinkeller und den Dschungel auf dem Balkon. Mehr Zeit fürs Leben. Man kommt auf den Geschmack. Sollte man öfter haben. Ich habe seit Jahrzehnten nicht mit so gutem Gewissen Urlaub gemacht.

Ich habe mich in die Memoiren meines Großvaters vertieft, habe mich darin verloren, bin in seinen wilden Zeiten der Gegenwart entrückt – was ist schon Corona gegen zwei Kriege, Flucht und Neubeginn? Ein Klacks. Wir jammern auf geradezu obszönem Anspruchsniveau. Jetzt sind seine Erinnerungen fast publikationsreif gemacht – auch dafür ist Corona gut.

Erfüllte Auflagen und enttäuschte Hoffnungen Auf die Wiedereröffnung im Juni haben wir uns akribisch vorbereitet mit einem Hygienekonzept, das die Auflagen des RKI auf Punkt und Komma erfüllte und übererfüllte. Die Mindestabstände haben uns im Schnitt 70 Prozent unserer Kapazität gekostet. Kein Kino kann mit so einem Konzept Gewinn machen. Unsere einzige Hoffnung war, dass die Einnahmen vielleicht ausreichen würden, die Lücke zwischen der Überbrückungshilfe und den tatsächlichen Kosten zu schließen, sodass wir mit zwei blauen Augen davonkommen würden. Wir taten es ohne Murren aus Einsicht in die Notwendigkeit – bis zu dem denkwürdigen Tag, an dem die Kanzlerin den November-Lockdown verkünde-

te und uns Kulturveranstalter trotz bewährtem Hygienekonzept wieder schließen ließ, obwohl weltweit kein einziger Fall einer Ansteckung in einem Kino mit Hygienekonzept dokumentiert ist. Die Begründung war der Kanzlerin unwürdig: Aus der schwindenden Nachvollziehbarkeit von Infektionswegen zu folgern, man könne nun nicht mehr sagen, „dass ein bestimmter Bereich zur Infektion überhaupt nicht beiträgt“, ist Unsinn. Aus einer Stichprobe von 25 Prozent kann man ohne weiteres auf die Grundgesamtheit zurückschließen, das weiß die gelernte Physikerin genau. Und sie weiß auch, dass nicht jeder Kontakt zu vermeiden ist, sondern allein Kontakte ersten Grades mit erhöhtem Infektionsrisiko – die Website des RKI klärt darüber auf. Diesen Unterschied zu verwischen, verkehrt die Beweislast und maskiert die Versäumnisse der Politik bei der Vorbereitung auf die kalte Jahreszeit. Vielleicht ist die Novemberhilfe ja auch die Wiedergutmachung für eine unverfrorene Lüge? Die gegenwärtige Schließung von Versammlungsstätten mit überwachten AHA + L-Regeln ist keine wirksame Maßnahme gegen Corona, sie ist ein Placebo – und darum hat der Lockdown Light auch nicht das gebracht, was sich die Politik von ihm erhofft hat.

Ludwig Ammann , 59 (l.), ist Publizist, Islamwissenschaftler und betreibt in Freiburg die Kinos Friedrichsbau, Kandelhof und Harmonie. DEZEMBER 2020/JANUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 35


KULTUR

„Tropfen auf den heißen Stein“ FREIBURGS KULTUR-STREAMING-DIENSTE SIND WENIG ZUKUNFTSTAUGLICH

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von Liliane Herzberg

Hat seine eigene Radioshow: Carmelo Policicchio streamt über #infreiburgzuhause live aus dem Swamp. Fotos: © herz, www.infreiburgzuhause.de

egen Corona bleiben Club-Boxen still. Die Streaming-Plattform #infreiburgzuhause (#iFz) unterstützt die Kultur-Szene in der Green City wo sie kann. Bis Ende November mischten auch die Organisatoren von United We Stream Upper Rhine (UWS) mit. Das ehrenamtliche Projekt war aber nicht länger stemmbar und ist mittlerweile beendet. Nicht jeder ist vom Livestreaming in der coronafreien Zukunft überzeugt. „Im Vergleich zum echten Konzert fehlt etwa das Im-Bauch-Spüren von Bässen oder die Lichteffekte“, sagt Tilo Buchholz, Koordinator von #iFz. „Wir sehen das aber nicht als Ersatz für ein Konzert. Unser Ziel war, ein Förderinstrument zu schaffen, mit dem wir Freiburger Spielstätten, Künstler_ innen und Dienstleister unterstützen.“ Das Projekt von Freiburger Sparkasse, FWTM und Kulturaggregat streamt seit Mai kulturelle Veranstaltungen. „Wir möchten, dass das Publikum versteht, dass es Teil einer Säule ist, die den Kulturbetrieb unterstützt.“ Carmelo Policicchio etwa streamt über #iFz eine Radioshow aus dem Swamp. „So ein Abend ist schon entspannt.“ Er wisse aber nicht, ob das den Menschen langfristig genüge. Für ihn tauge es jedenfalls nicht als Daueralternative. „Irgendwann sollte das Swamp schon wieder aufmachen. Die Beträge aus den Spenden sind ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Bisher kamen bei #iFz Sponsorengelder in Höhe von 130.000 Euro netto zusammen. Unterstützer sind die Sparkasse Freiburg-Nördlicher Breisgau, die Freiburg Wirtschaft Touristik und Messe GmbH (FWTM), Lexware, der SC Freiburg und der Rotary Club Freiburg. Durch freiwillige Beiträge kamen weitere 26.840 Euro zusammen. „Grundsätzlich ist bei der Spendenbereitschaft ein Unterschied zwischen subkulturellen und ‚hoch‘-kulturellen Veranstaltungen zu beobachten“, so Mitkoordinator Thomas Walz. Von den Geldern wurden rund 115.000 Euro an die Kulturwirtschaft ausgeschüt-

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tet. Der Rest floss zurück in den Fördertopf, weitere 13 Events sind damit für Dezember und Januar bereits geplant. Danach reiche das Budget für etwa fünf weitere Veranstaltungen, erklärt Walz. Sie seien aber bereits auf der Suche nach neuen Sponsoren. Buchholz wird konkreter: „Das Projekt läuft erst aus, wenn das Geld aufgebraucht ist. Und der Kanal bleibt in jedem Fall bestehen.“ Aktuell sei es Hilfe zur Selbsthilfe. „Aber wenn es nicht mehr nötig ist, werde ich meine Kraft gerne wieder vor Ort einsetzen.“ Ebenfalls seit Mai dabei war UWS. Die Klickzahlen lassen sich sehen: „Es gab Streams, die 8000 bis 9000 Leute währenddessen und danach angesehen haben“, erzählt Simon Waldenspuhl, Mitinitiator des Ablegers vom Berliner Projekt. Finanziert hat sich das Team vor allem mit Sponsorengeldern: „Insgesamt haben wir 18.000 Euro vom Kulturamt, der Berliner UWS-Zentrale und der FWTM gesammelt.“ Die freiwilligen Beiträge blieben eher mau. „Wir haben über den ganzen Zeitraum nur knapp 2000 Euro an Spenden eingenommen“. Nun endete das Projekt. „Vor allem, weil wir das ehrenamtlich nicht mehr stemmen konnten und wollten.“ Waldenspuhl räumt den DJ-SetStreams keine Zukunft ein. „Wenn man auf einer Party ist, wo ein DJ auflegt, dann steht man nicht anderthalb Stunden gebannt vorm Pult, sondern man holt sich ein Bier, geht raus, quatscht, geht wieder tanzen. Das reicht halt nicht als Stream.“ Die großen Klickzahlen bleiben aus. „Ich habe von #iFz und UWS gehört, mehr aber auch nicht. Live-Streams anzusehen hat mich nicht gereizt“, sagt etwa Leo Wittich. Er ist Teil des Kollektivs Nimmersatt, das in Freiburg vor Corona regelmäßig Techno-Partys organisierte. Für ihn gehöre sehr viel mehr zu einer Party als nur der DJ. „Im Streaming sehe ich keinen Mehrwert.“


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KULTURNOTIZEN Deutscher Kleinkunstpreis für Florian Schroeder Der in Lörrach geborene Kabarettist Florian Schroeder hat den Deutschen Kleinkunstpreis 2021 erhalten. Schroeder, der in Freiburg studierte und seit vielen Jahren auch chilli-Kolumnist ist, hatte auf einer Querdenker-Demo in Stuttgart als Redner „inmitten von Verschwörungstheoretikern gezeigt, dass Kabarett für die Gesellschaft unverzichtbar und systemrelevant ist“, heißt es in der Begründung der Jury vom Mainzer Unterhaus, das die Auszeichnung schon seit 1972 vergibt: „Ob als tagesaktueller Kabarettist oder als schlagfertiger Gastgeber seiner Sendungen, ob parodistisch leicht oder sarkastisch pointiert – Florian Schroeder steht immer mit brennender Leidenschaft auf der Bühne.“

Pop-Preis für Johannes Jäck Der Freiburger Musiker Johannes Jäck hat beim Musikförderprogramm Klangspektrum BW einen Hauptpreis gewonnen. Jäck erhielt die Auszeichnung in der Sparte Pop für seinen Musikclip „By Night“. In dem Song gibt es neben dem Gesang auch Beatboxing und Instrumentales – alles aber aus der Kehle des Freiburgers, der dem Jazzchor Freiburg angehört und auch Ensemblemitglied in der A-cappella-Band Anders ist. Der Preis ist mit 3000 Euro dotiert, zudem gibt es noch 1500 Euro fürs Mitmachen. Das haben 1000 baden-württembergische Musiker getan. Alle Videos sind unter https://klangspektrum-bw.de/galerie zu sehen.

100 Wörter auf einer Postkarte Das Literaturhaus Freiburg hatte nach dem Lockdown im November zur Aktion „100 Wörter“ aufgerufen. Literarische Texte sollten eingesandt werden, die maximal 100 Wörter haben und damit auf die Frontseite einer handelsüblichen Postkarte passen. Mehr als 400 Autoren aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Polen, Norwegen und Dänemark machten mit. Eine Jury stellte sodann die Editionen „Quasselasseln“ und „Pardauz“ zusammen, die in Handarbeit an der japanischen Schnelldruckmaschine Risograf produziert wurden. Wenn Corona es zulässt, lädt das Literaturhaus vom 14. bis 17. Januar zum Neujahrsempfang der besonderen Art: 100 100-Wörter-Geschichten können versendet werden, das Porto übernimmt der Förderkreis. Auf dem Instagram-Account sind derweil Gedichtschnipsel und Gedankenspiele von Jugendlichen zu sehen. bar

Julian Windisch: Alarmstufe Rot am Theater.

Fotos: © privat, Felix Groteloh

„Wir sind noch da!“ WIE DAS THEATER FREIBURG DEN LOCKDOWN MEISTERT von Stella Schewe

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o sonst an den Feiertagen Weihnachtsstücke, Silvesterparty oder ­Neujahrskonzert für festliche Stimmung sorgen, bleibt es heuer dunkel und still. Seit Anfang November ist der schöne rote Vorhang des Theater Freiburg geschlossen, der Spielbetrieb ist vorerst bis einschließlich 14. Januar ausgesetzt. Verzagt ist Theatersprecher Julian Windisch trotzdem nicht. Natürlich sei es traurig für alle Beteiligten – Ensemble wie Zuschauer –, doch zum einen habe man mit weiteren Unterbrechungen des Spielbetriebs gerechnet, zum anderen werde weiter geprobt. „Wir richten den Blick in die Zukunft“, sagt er bestimmt. Wichtig, um sichtbar zu bleiben, seien punktuelle Aktionen wie etwa der bundesweite Aktionstag „Alarmstufe Rot“ des Deutschen Bühnenvereins am 30. November. „Wir sind noch da“, posaunten vier Bläser des Philharmonischen Orchesters vom Theatervordach in die Stadt hinaus. Und abends wurde das Haus rot angestrahlt. Sicht- und hörbar bleibt das Theater auch mit einem „Adventssingkalender“ auf seiner Website. Hinter 24 Türchen verstecken sich musikalische Darbietungen zum Mitsingen wie etwa „Jingle Bells“ – auf-

geführt und gefilmt von Mitgliedern des Ensembles. „Das Orchester dreht nicht Däumchen, sondern spielt bis Weihnachten jeden Tag“, so Windisch. Als positiv nimmt der 36-Jährige auch einen allmählichen Wandel im öffentlichen Bewusstsein wahr: dass Kultur und Theater nicht auf einer Stufe mit reiner Unterhaltung stünden. Nicht, dass man die althergebrachte Formel vom „Theater als moralische Besserungsanstalt“ bemühen müsste, um seinen Wert hervorzuheben. Aber kulturelle Institutionen wie das Theater böten nicht bloß Zerstreuung, sie verhandelten existenzielle Fragen des Miteinanders. Bislang hätten die städtischen Bühnen die Mindereinnahmen durch Spenden des Publikums, Kosteneinsparungen, Kurzarbeitergeld und Überschüsse aus dem Vorjahr ausgleichen können. „Heute gehen wir davon aus, dass wir die finanziellen Herausforderungen so meistern können.“ Auch, weil die öffentlichen Zuschüsse von Stadt und Land sicher seien. „Anders als viele aus der freien Szene, die um ihre schiere Existenz kämpfen, sind wir in einer ungleich komfortableren Position.“ Insofern blickt Windisch mit Zuversicht auf 2021. „Wir hoffen, bald wieder öffnen zu können. Neues Jahr, neues Glück, neue medizinische Erkenntnisse. Und vor allem: neuer Spielplan.“


KULTUR

Anschauliche Lebendigkeit

ERSTMALS GEMEINSAM: WERKE VON RODIN UND ARP IN DER FONDATION BEYELER

Beide Bildhauer zeichnet eine einzigartige künstlerische Innovationskraft und Experimentierfreude aus. Sie schufen Werke, die ihre Zeit stark geprägt haben und bis heute aktuell geblieben sind – wie etwa Rodins „Der Denker“ oder Arps „Ptolemäus und Torso“. Aber auch weniger bekannte Arbeiten machen die künstlerische Beziehung der beiden anschaulich. Bis heute ist nicht bekannt, ob sich die zwei Künstler je persönlich begegnet sind. Doch Verbindungen und Bezüge zwischen ihnen gibt es viele, weiß Raphaël Bouvier von der Fondation Beyeler, und nennt als Beispiele Arps 1938 entstandene „Automatische Skulptur“, die er Rodin gewidmet hat, und sein Gedicht „Rodin“ von

1952. Diese Werke bilden den Ausganspunkt der Ausstellung und seien „ausdrückliche Huldigungen an Rodin“. Daneben gebe es aber noch zahlreiche weitere Verbindungen und Referenzen. So hätten beide Künstler „eine ganz eigene und doch vergleichbare Auffassung von Natur und Kunst, die das Prozessuale in den Vordergrund rückt“. Ihre bewegten Skulpturen faszinierten „durch ein Zusammenspiel von sinnlich-fließenden, makellosen Volumen und versehrten, bruchstückhaften Oberflächen und Formen“. Zum Beispiel in der Figur des Torso. Anknüpfungspunkte erkennt Bouvier auch in ihren Motiven, etwa dem Schatten, der schöpferischen Hand oder der Vase als Gegenstand und Körper: „Nicht selten schöpften sie dabei aus der Literatur, etwa aus der antiken Mythologie oder Dantes Göttlicher Komödie.“ Außerdem hätten sich sowohl Rodin als auch Arp mit „den großen existenziellen Themen wie Schöpfung, Entstehung, Wachstum, Verwandlung und Verfall“ auseinandergesetzt, erzählt der Kunsthistoriker. Dies habe in Darstellungen menschlicher, tierischer oder pflanzlicher Körper gemündet, die auf neuartige Weise miteinander verschmelzen. „Beide Künstler interessierten sich für die Idee des Lebendigen als philosophisches und künstlerisches Grundthema, dem sie in geradezu pulsierenden, sinnlichen Skulpturen Anschaulichkeit verliehen.“ Insgesamt zeigt „Rodin / Arp“ 110 Werke aus internationalen Museen und Privatsammlungen und ist damit eine der bislang umfangreichsten Skulpturenausstellungen der Fondation Beyeler. Zu sehen sind ikonische

Werke wie Rodins „Der Denker“ und „Der Kuss“ oder Arps „Ptolemäus“ und „Torso“. Aber auch weniger bekannte Arbeiten machen die künstlerischen Beziehungen beider Künstler anschaulich. Neben den Skulpturen, darunter eine monumentale Außen­ skulptur im Park des Museums, werden auch Reliefs von Arp sowie Zeichnungen und Collagen beider Künstler zu sehen sein.

INFO Rodin / Arp Bis 16.5.2021 Fondation Beyeler Riehen, Schweiz www.fondationbeyeler.ch

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MAH Musée d’art etd’histoire, Genf, © MAH, Genève, Foto: Flora Bevilacqua; Hans Arp, Torso-Garbe, 1958 (Detail), Marmor (Santelli / Malakoff, 1959), 79,5 x 37 x 28,5 cm, Privatsammlung, © 2020, ProLitteris, Zürich, Foto: © Manolo Mylonas

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inen Dialog zweier Künstler verspricht die neue Ausstellung „Rodin / Arp“, die bis 16. Mai 2021 in der Fondation Beyeler im schweizerischen Riehen zu sehen ist. Darin treffen, erstmals in einem Museum, die Werke der zwei großen Bildhauer aufeinander: das bahnbrechende Schaffen Auguste Rodins (1840– 1917), des großen Erneuerers der Bildhauerei des späten 19. Jahrhunderts, und das einflussreiche Werk Hans Arps (1886–1966), eines Protagonisten der abstrakten Skulptur des 20. Jahrhunderts.

(v.o.n.u.) Auguste Rodin, Iris, Götterbotin, Bronze, 83.3 x 87.0 x 36.0 cm; Fondation Beyeler, Riehen Basel, Sammlung Beyeler, Foto: © Robert Bayer; Auguste Rodin, Der Denker, Originalfassung, 1881/82 (Detail), Bronze (Auguste Griffoul, 1896), 72 x 34 x 53 cm,

von Stella Schewe


KULTUR INTO THE BEAT

DREI TAGE UND EIN LEBEN Frankreich 2020 Regie: Nicolas Boukhrief Mit: Sandrine Bonnaire, Pablo Pauly u.a. Studio: Atlas Film Laufzeit: 115 Minuten Preis: ca. 11 Euro

Deutschland 2020 Regie: Stefan Westerwelle Mit: Yalani Marschner, Alexandra Pfeifer u.a. Studio: EuroVideo Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 12 Euro

MEISTER CHENG IN POHJANJOKI Finnland 2019 Regie: Mika Kaurismäki Mit: Chu Pak-hong, Anna-Maija Tuokko u.a. Studio: MFA+ Laufzeit: 115 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Gegen die Schwerkraft

Überraschende Wendungen

Chinesische Köstlichkeiten

(ewei). Die 16-jährige Katya, eine junge, talentierte und aufstrebende Ballerina, steht kurz vor einem Stipendium für die begehrte New Yorker Ballet Academy. Auch ihr Vater, bis zu seinem Unfall ein gefeierter Ballettstar, will sie unbedingt an dieser Schule sehen. Doch dann trifft sie auf ein paar Breakdancer und ist fasziniert von dem Stil, der alle Regeln der Schwerkraft aufzuheben scheint. Der vom Freiburger Yalani Marschner bestens verkörperte Marlon zeigt ihr die ersten Schritte ...

(ewei). Nach Vorlage des Romans von Pierre Lemaitre erzählt dieser Film vom Verschwinden eines sechsjährigen Jungen in der Provinz. Die Suchaktionen der Bewohner bleiben ergebnislos. Dann verwüstet ein Jahr­ hundertsturm die Gegend und vernichtet alle Spuren. 15 Jahre später kehrt der Medizinstudent Antoine in das Dorf zurück. Er weiß, was damals geschah. Und möchte unbedingt verhindern, dass das Geheimnis gelüftet wird. Schuld-Sühne-Drama mit über­ raschenden Wendungen.

(ewei). Der Tod seiner Frau motiviert den chinesischen Koch Cheng dazu, mit seinem Sohn zu einem Freund im entlegenen finnischen Dorf Pohjanjoki zu reisen. Dort muss er allerdings verwundert feststellen, dass niemand diesen Freund zu kennen scheint. Kurz entschlossen bleibt er da, beginnt in einem Café zu arbeiten und überrascht die Einheimischen mit Köstlichkeiten aus seiner Heimat. Schnell findet er neue Freunde – und als sein Touristenvisum abläuft, schmieden die Dorfbewohner einen Plan.

IL TRADITORE

SUICIDE TOURIST

Italien 2019 Regie: Marco Bellocchio Mit: Pierfrancesco Pavini, Fausto Russo Alesi u.a. Studio: Pandora Film Laufzeit: 145 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Dänemark 2020 Regie: Jonas Alexander Arnby Mit: Nikolaj Coster-­Waldau, Tuva Novotny u.a. Studio: DCM/Leonine Laufzeit: 87 Minuten Preis: ca. 13 Euro

FRAGEN SIE DR. RUTH USA 2019 Regie: Ryan White Dokumnetarfilm Studio: EuroVideoLaufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 14 Euro

Verräter oder Held?

Zimmer im Sterbehotel

Schlagfertiger Humor

(ewei). Anfang der 1980er-Jahre flieht Tommaso Buscetta mit seiner Familie von Palermo nach Rio de Janeiro. Er hat genug von den zunehmend brutalen Auseinandersetzungen der Mafia-­ Familien Siziliens, die durch Drogenhandel enorme Reichtümer angehäuft haben und keine Skrupel kennen. Doch die Freiheit währt nicht lang, er wird verhaftet, gefoltert und nach Italien ausgeliefert. Dort überzeugt ihn der neue Staatsanwalt Giovanni Falcone, gegen führende Mafiagrößen auszusagen. Mit fatalen Folgen.

(ewei). Max will sterben. Der dänische Versicherungsvertreter hat einen unheilbaren Gehirntumor, und als er eines Tages bei der Aufklärung eines Versicherungsfalles auf das mysteriöse Hotel Aurora stößt, in der Lebensmüde beim Sterben begleitet werden, bucht er dort ein Zimmer. In diesem Wellness-Hotel des Todes kommen ihm dann Zweifel, aber aus dem „Aurora“ kehrt niemand zurück. Eine kluge, stylische und verstörende Antwort auf die inzwischen so beliebte Filmfantasie vom schönen Sterben.

(ewei). Ruth Westheimer ist 92 Jahre alt, war jüdische Widerstandskämpferin und gilt seit 40 Jahren als eine der weltweit bekanntesten Sexualtherapeutinnen. Regisseur Ryan White porträtiert eine außergewöhnliche Frau, die sich zeit ihres Lebens für Offenheit und Toleranz einsetzte. Die Doku lebt von ihrer schlagfertigen, eine ungemeine Lebenskraft und Energie ausstrahlenden Hauptperson. Hinzu kommt ein gelungener Mix aus Archiv­ material, Interviews, beobachtenden Szenen und Animationen.

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KULTUR

Schwebezustände: Im Karlsruher ZKM läuft derzeit eine Ausstellung, die Horizonte einer neuen Erdpolitik eröffnen will.

Intellektuelle Injektion ZKM VERLÄNGERT CRITICAL ZONES

(von o. l. im Uhrzeigersinn): © A. Arènes, S.Hajmirbaba, mit ZKM, SOC, OZCAR, OHGE. Film: S.Levy, Ton: P. Franke; Assistenz: F. Vivet; Karten: A. Arènes & A. Gre-

F

│ Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Elias Siebert; © Forensic Architecture, © ZKM │ Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, Foto: Elias Siebert

goire; Animation: J. Damourette & S.Levy; Musik: G.Lorieeux; Modelle: R. Hauray & M. Jamirbaba, © ZKM │ Karlsruhe, Foto: Elias Siebert; © Sarah Sze © ZKM

von Lars Bargmann

ür den Deutschlandfunk Kultur ist es die „wichtigste Ausstellung des Coronajahres 2020“, die Critical Zones am ZKM in Karlsruhe. Sie sollte bis Ende Februar 2021 laufen, ist aber nun bis zum 8. August verlängert.

Wie verletzlich der für die meisten so selbstverständliche Planet Erde im 21. Jahrhundert doch ist. Die Pandemie überrollt den Erdball, die Spurensuche nach dem Klimawandel ist keine wissenschaftliche Großtat mehr; Greta Thunberg, Fridays for future und extinction rebellion haben am Stammtisch des Alltags längst Platz genommen. In der Ausstellung, die der Philosoph Bruno Latour und ZKM-Chef Peter Weibel planetenweit weg vom Frontalunterricht kuratiert haben, ist eine Art Gedanken-Kompressor für denkende Wesen – und genau diese sind die eigentliche kritische Masse für die Erde. Deren Oberfläche ist eine dünne Haut, in der sich messen lässt, wie es dem Patienten geht. Gemessen wird dieser Zustand weltweit mit Kritische-Zone-Observatorien. Bildlich gesprochen steht morgens, wenn wir den ersten Fuß auf die

Straße setzen, schon ein Schild vor uns: „Achtung, Sie betreten eine kritische Zone.“ Die Ausstellung versteht sich als kritische Zone des Nachdenkens. Neue Perspektiven entdecken steckt in ihrer DNA. Wie das wissenschaftliche Selbstverständnis von Alexander von Humboldt. Ein neues Weltverständnis soll daraus entstehen. Eines, das der Politik als weiteres Werkzeug für künftige Entscheidungen die Hand führen soll. Der Untertitel „Horizonte einer neuen Erdpolitik“ hört sich ein bisschen hochtrabend an – wird aber eindrucksvoll eingelöst. Selbst ein virtueller Ausstellungsbesuch wird über Stunden nie langweilig.

und Morgiges, ganz Kleines (etwa ein Virus) mit ganz Großem. Die Exponate, die geschaffenen Räume mit komplexem Interieur von Kunst und Wissenschaft (kann man aus dem Fließen von Flusswasser einen Sound kreieren?), appellieren wie andere auch an die Lust zur Beobachtung, am ZKM aber an eine teilnehmende, in Gang setzende. Critical Zones sind ebenso eine intelligente Provokation wie eine intellektuelle Injektion.

Planetare Vulnerabilität Man landet schnell bei Gaia, dem Konzept von James Lovelock und Lynn Margulis, das aufzeigt, wie allgegenwärtig die Vernetzungen auf dem Globus sind. Das gilt schon beim einfachen Einatmen von Luft. Oder die Frage, was der globale Abbau Seltener Erden mit der Zukunft Grönlands zu tun hat. Critical Zones verschränkt Digitales und Analoges, Schönes und Bedrohliches, Spielerisches und Erschreckendes, Gestriges, Heutiges

INFO Das ZKM (Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe) bietet sowohl eine virtuelle Ausstellung auf einer digitalen Plattform (https://critical-zones.zkm.de)als auch eine analoge vor Ort (www.zkm.de/de/ critical-zones) an. Begleitprogramm unter: www.zkm.de/aktivierungsprogramm

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KULTUR

Licht am Himmel über Straßburg OPÉRA NATIONAL DU RHIN SPIELT ZUM JAHRESWECHSEL von Stella Schewe

INFO Aufführungsorte: Strasbourg Opéra, Mulhouse La Filature, Colmar Théâtre municipal de Colmar Termine: 13.1. bis 7.2.2021 Preise: 6 – 48 Euro Die Oper bittet darum, ihre Hygienemaßnahmen und -anweisungen genauestens zu respektieren. Dazu gehört das Tragen einer Maske, das an allen Veranstaltungsorten und auch während der Aufführung obligatorisch ist. Außerdem müssen Zuschauer vor dem Betreten der Theater ihre Hände desinfizieren und untereinander auf Abstand achten. Sowohl beim Hinein- als auch beim Hinausgehen soll dem Empfangspersonal Folge geleistet werden. www.operanationaldurhin.eu

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ist, dass er seiner poetischen Kraft Körper verleiht“, so Bouché. Tanz ist für ihn die perfekte Kunstform, um „all diesen Empfindungen, diesem Geschmack, dieser Lebenskraft, diesem täglichen Erstaunen, das die Menschen leben, eine Energie, eine besondere Schwingung“ zu verleihen. „Der Atem, das Schweben, der Schwung, der Fall, das Fleisch, die Berührung, der Sprung, die Erde ...“ – all das lasse sich auf ideale Weise tänzerisch ausdrücken. Der Tanz sei „wie ein Licht im Herzen der Nacht der Stadt“. Dabei verbindet Bouché mit großer Empfindsamkeit Musik aus dem Repertoire mit eigens für dieses Ballett kreierten Werken der jungen Londoner Komponistin Jamie Man. Ein tänzerisches wie erzählerisches Highlight zum Jahresende. Live. Und mit Publikum.

Fotos: © Klara Beck HD

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s ist ein Lichtblick in für die Kultur düsteren Zeiten: Auf der anderen Seite des Rheins – in Straßburg, Colmar und Mulhouse – trotzt die Opéra national du Rhin den Covid-19-bedingten Widrigkeiten, öffnet ihre Türen und Vorhänge: Fast alle der zum Jahreswechsel anvisierten Vorstellungen gehen wie geplant über die Bühne. Das sei „eine hervorragende Nachricht“, freut sich Generaldirektor Alain Perroux: „Unsere Entschlossenheit, die lyrischen und choreografischen Künste zum Leben zu erwecken, bleibt ungebrochen.“ Mit einem ausgefeilten und immer wieder neu angepassten Hygienekonzept arbeite die Oper daran, die geplanten Shows präsentieren zu können. Man scheue keine Anstrengungen, um den Zuschauern „Momente der Emotionen und des Vergnügens“ bieten zu können. Highlight zum Jahresende ist – neben Engelbert Humperdincks Oper „Hänsel und Gretel“ – die Uraufführung von „Der Himmel über Berlin“, angelehnt an den berühmten Film von Wim Wenders. Darin gibt ein Engel aus Liebe zu einer Frau sein ewiges Dasein als rein geistiges Wesen auf und betritt die begrenzte irdische Welt, wird ein Teil von ihr. Aus diesem kinematografischen Meisterwerk hat Bruno Bouché ein Tanzstück für das gesamte Ensemble geschrieben: In „Les Ailes du désir“, auf Deutsch „Flügel des Begehrens“, erkundet er das Rätsel der Inkarnation auf musikalische und tänzerische Weise, ohne das Original aus den Augen zu verlieren. „Ich möchte, dass der Tanz eine Hommage an diesen wertvollen Film



MUSIK

„Extrem wichtiger Baustein“ RATHAUS GIBT NOTHILFE: 435.000 EURO FÜR KULTUREINRICHTUNGEN

O von Philip Thomas

The Show must go on: Um zahlreiche Musiker aus Freiburg wurde es dieses Jahr still. Eine Finanzspritze aus dem Gemeinderat soll helfen. Unter den Geförderten: das Freiburger Barockorchester (o.l.) und das ensemble recherche (o.r.). Fotos: © Britt Schilling, Marc Doradzillo

hne Musik wird es still. Aus dem Freiburger Gemeinderat kommt deswegen ein kleiner Paukenschlag: Insgesamt 435.000 Euro für fünf Kultur- und Musikinstitutionen werden ausgeschüttet. Das Jazzhaus erhält 90.000 Euro, das Tanzzentrum Studio pro Arte 50.000 Euro, das ensemble recherche 80.000 Euro, das Freiburger Barockorchester 150.000 Euro und die Albert Konzerte GmbH 65.000 Euro. Die Geförderten sind dankbar, sie betonen aber auch: Das Geld ist dringend notwendig. „Wir haben dieses Jahr überlebt. Wir haben alles getan, um uns über Wasser zu halten“, sagt Beate Rieker vom ensemble recherche in Freiburg. Bei den acht ProfiSolisten und drei Angestellten im Management wurden laut Rieker Löhne in Kurzarbeit um 130.000 Euro und Sachausgaben in Höhe von 88.000 Euro gespart. „Wir haben alle Maßnahmen ­ergriffen“, sagt sie. Schon davor sei das Gehalt einiger Musiker auf dem Niveau eines Maurers im dritten Lehrlingsjahr gewesen. Zwar bekam das Ensemble 170.000 Euro von Stadt und Land, „das deckt aber nicht mal 15 Prozent von dem, was wir machen müssen“, betont die 41-Jährige. Ein Finanzpolster hatten die Preisträger des Schneider-Schott-Preises vor dem Virus laut Rieker nicht.

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Die 80.000 Euro seien nun auch deswegen so wertvoll, weil dadurch die Möglichkeit bestehe, neue Drittmittel zu akquirieren. „Bei vielen Töpfen ist es nötig, Eigenmittel einzubringen. Wenn man diese nicht hat, fliegt man direkt aus dem Antrag“, erklärt sie. Wie das ensemble recherche ist auch das Freiburger Barockorchester ein international gefeierter Klangkörper. Dort werden andere Töne angeschlagen. „Wir sind mit einem blauen Auge durch das Jahr gekommen“, berichtet Martin Bail, der für Dramaturgie und Pressearbeit zuständig ist. Das Orchester beschäftigt 29 Musiker. Dazu kommen noch mal zwölf Mitarbeiter. Insgesamt sei das Orchester liquide. „Wir können Gehälter und auch Ausfallhonorare bezahlen“, sagt der 36-Jährige. Einen Anteil daran hat die Baden-Württemberg-Stiftung sowie die Gesellschaft der Freunde und Förderer des Freiburger Barockorchesters. Beide hielten das Orchester in der Krise mit Spenden von insgesamt 400.000 Euro über Wasser. Bail sei für die Summe dankbar: „Nothilfen für freischaffende Künstler scheinen kaum zu klappen. Deswegen versuchen wir, unsere Musiker zu unterstützen.“ Die 150.000-Euro-Förderung durch den Gemeinderat verschaffe den


FÖRDERUNG

Musikern nun dringend benötigte Planungssicherheit: „Wir müssen den Januar vorbereiten.“ Gedruckte Programmhefte, Werbung, eingeladene Musiker – noch sei unklar, ob sich die Pläne umsetzen lassen. „Es ist ein Kampf gegen Windmühlen, wir wissen nicht, was passiert.“ Auch Leander Hotaki, der die Geschäfte der Albert Konzerte GmbH leitet, ist nach einem deprimierenden Jahr froh um die Förderung. „Wir waren zuversichtlich und haben darauf gehofft – aber uns nicht darauf verlassen“, sagt er. Die Finanzspritze in Höhe von 65.000 Euro reiche in Summe nicht aus, „aber in Kombination mit Hilfen aus anderen Förderprogrammen und mit Konzerteinnahmen, die wir im September und Oktober hatten und im Frühjahr und Sommer hoffentlich wieder haben werden, ist sie ein wichtiger Baustein.“

„Darauf freuen wir uns tierisch“ Das Freiburger Jazzhaus wurde von der Stadtspitze mit 90.000 Euro bedacht. Eigentlich sollten dieses Jahr dort mehr als 200 Konzerte und Clubnächte stattfinden. „Seit März haben wir mit Ausnahme einiger Wochen im September und Oktober einen kompletten Lockdown. Wir sind seit März in Kurzarbeit und haben Soforthilfe und Überbrückungshilfe erhalten“, sagt Geschäftsführer Michael Musiol. Finanzielle Hilfe für die Freiburger Institution kam auch aus privater Hand. Spenden in Höhe von rund 50.000 Euro konnte das Jazzhaus bisher verbuchen. „Das sind seit neun Monaten unsere einzigen Einnahmen“, so Musiol.

Das Geld aus dem Gemeinderat beruht auf einer Gegenleistung. „Wir stellen das Jazzhaus für Chorproben zur Verfügung und veranstalten auch vereinzelte Konzerte mit Bands aus der Region.“ Dadurch entstehen Kosten. „Um das zu realisieren, werden einige Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen etwas mehr aus der Kurzarbeit geholt.“ Das führt zu Personalkosten. Musiol sieht das Positive: „Das ist aber eine tolle Sache, denn wir wollen endlich wieder zusammen arbeiten und darauf freuen wir uns tierisch.“ Die Förderung sei „ein extrem wichtiger Baustein. Denn durch die Überbrückungshilfen werden nicht die Personalkosten gedeckt. Unser Personal kann nicht zu 100 Prozent in Kurzarbeit, weil wir ständig am Verschieben von Konzerten und Neuplanungen arbeiten.“ Der Musikkeller an der Freiburger Schnewlinstraße plane zwei Jahre im Voraus. „Somit müssen wir kurzfristige und langfristige Planungen ständig ändern und erneut konzipieren.“ Gerade plane er das Freiburger Jazzfestival für den September 2021 – ohne zu wissen, was er genau realisieren kann. Nach der Drucksache im Gemeinderat schätzt die Verwaltung, dass 90.000 Euro für 15 bis 20 Konzerte reichen. Ob das genügt? „Nein, natürlich benötigen wir weiter das Instrument der Kurzarbeit, aber auch Überbrückungshilfen oder andere Gelder“, so Musiol. Unklar sei, wie lange das Jazzhaus noch aushalten muss. „Das System Jazzhaus funktioniert nur mit erfolgreichen Clubabenden oder mit einer ganz anderen Subventionshöhe.“ Dankbar ist Musiol natürlich trotzdem: „Das Geld hilft uns immens und zeigt uns auch, dass wir der Stadt sehr wichtig sind.“ DEZEMBER 2020/JANUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 45


MUSIK

Songvideo für Obdachlose

ANNENMAYKANTEREIT

PAROV STELAR

Indie / Pop

Elektro Swing

12

VOODOO SONIC

Foto: © Samuele Nigro

3 FRAGEN AN Heirs to the Wild Konzerte sind gecancelt. Ruhe gibt’s um die Freiburger von Heirs to the Wild trotzdem nicht. Für ihr neues Video haben sich die Singer-Songwriter mit dem Team von der Straßenzeitung FREIeBÜRGER zusammengetan. Vor den kalten Tagen möchte das Trio um Gitarrist Micha Scheiffele auf die Lage von Wohnungslosen aufmerksam machen. Wie kam es zum Projekt? Scheiffele: Tatsächlich ganz klischeehaft über Kontakte und ziemlich zufällig. Wir waren bereits mit der Videoplanung zu Universe of Fireflies beschäftigt, als Videoproduzent Harry Bejol mit dem Vorschlag auf uns zukam. Durch Harrys Arbeit beim FreieBürger ist dann die Kooperation mit der Zeitschrift entstanden. Wie lief die Kooperation ab? Wir verdanken dem Team von FreieBürger den Probedreh in der Redaktion, das Finden einer geeigneten Location sowie viel Unterstützung am Drehtag. Und wir hoffen natürlich, dass nun mehr Menschen dieses wichtige soziale Projekt durch den Kauf einer Zeitung unterstützen – gerade zur Weihnachtszeit, die auf den Straßen sehr kalt sein kann. Welche guten Dinge nehmen Sie aus 2020 mit? Was Videoschnitt, Online-Präsenz und dergleichen angeht, haben wir uns ein paar praktische Dinge aneignen können, die uns von Nutzen sein werden. pt Das Video im Netz: youtube.com/watch?v=AYxIn_J0nt0

Kreative Pause

Tanzende Töne

(herz). Die Indie-Pop-Band Annenmaykantereit hat spontan ein neues Album rausgehauen. „12“ heißt das gute Stück und ist alles andere als olle Kamelle. Hochbrisant und politisch musizieren sich Henning May, Christopher Annen und Severin Kantereit an sechzehn Stücken durch Themen wie Corona, Moria und Hoffnung. Mit kratziger Stimme erzählt May eine dreiteilige Geschichte: Am Anfang steht ein düsterer Beginn, es folgt ein Aufatmen, die süß-bittere Wahrheit gibt’s zum Schluss. Ein Ganzes ergibt die Platte nur, wenn sie in der richtigen Reihenfolge gehört wird. Dass Teile von der Scheibe über Mails, Voice-Memos oder in gemeinsamer Quarantäne entstanden sind, fällt musikalisch nicht auf. „Auf der Menschenuhr schlägt eine neue Zeit. Zwölf“ heißt es im Intro. Auch der zweite Track zeigt, wohin die Reise geht: „So wie es war, so wird es nie wieder sein.“ Zum Abschluss gibt’s eine spöttische Beobachtung: „Es ist doch erstaunlich, dass jeder meint, es besser zu wissen.“ Mit 12 erreicht das Trio neue Tiefe: Aus Liebesliedern wird Gesellschaftskritik. Gemeinsam betrauern die drei, was fehlt: „Weißt du noch wies ist? Wenn tausend Stimmen singen und die Funken überspringen?“ Ein kleines Kunstwerk, das über den Lockdown-Blues hinwegtröstet.

(herz). Seit 2017 ließ Marcus Füreder, wie Parov Stelar mit bürgerlichem Namen heißt, auf sein neues Werk warten. Nun veröffentlicht er 18 Tracks auf dem Album „Voodoo Sonic“. Männer mit Hosenträgern, Kurzhaarschnitte bei Frauen, Zigarettenhalter für alle: Die Elektro-Swing-Größe „Parov Stelar“ entführt mit der Platte erneut in die frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Die Maskerade ist dieses Mal poppiger als gewohnt. Mit einem Instrumental eröffnet der österreichische DJ seine Scheibe. In „Tango Del Fuego“ singt die verstorbene Georgia Gibbs eine Remix-Version ihres Songs „Kiss of Fire“. Trotz bekannter Stimme erinnert nur der erste Teil der Platte an schwingende Röcke und verschwitzte Tänzer. Ab der Hälfte verlieren die Tracks an Aussagekraft. „Go Wake Up“ etwa erinnert an das Geträllere von High School Musical, trotz gehaltvollen Texts: „Go wake up, know your rights, go wake up get up and fight.“ Der Elektro-Anteil tritt auf der neuen Platte in den Hintergrund, der Swing nimmt etwa in „Piano Boy“ Überhand. „Don’t You Forget“ ist beinahe 90er-Jahre-Disko-Musik und damit mehr Baggy-Pants als Spitzenrock. Die Musik ist vielfältiger, dennoch dürfte so manch eingefleischter Parov Stelar-Fan das ein oder andere Lied beinahe ungehört überspringen.


KOLUMNE K.I.Z.

DIE CUBA ADDIS BUCHANAN BOARISCHEN

Rap

Genre Weltmusik

UND DAS GEHEIMNIS DER UNBEGLICHENEN BORDELLRECHNUNG

SERVUS CUBA MANTRA

Diezum ... Freiburger Ballermann Geschmackspolizei im Lockdown ermittelt

Album zum Album

Magische Formel

(pt). Das hat 2020 noch gefehlt: KIZ sind zurück. Mit peppigen Punchlines und anzüglichen Witzchen verwüsten Nico, Tarek und Maxim wieder die deutsche Sprachgesangslandschaft – nach Jahren der Abstinenz vom Mikrofon und ohne DJ Craft an den Decks kein Selbstläufer. Die Berliner scheinen die Fallhöhe zu spüren: „Halbes Jahrzehnt ohne Album ist schon sehr, sehr lange. Wir waren die letzten sechs Jahre frierend in der Berghain-Schlange“, säuselt Tarek auf dem dritten Track des 17 Song starken Albums. Wer sich wegen dessen Titel tatsächlich auf ein Hörspiel gefreut hat, wird enttäuscht. Musikalisch hingegen ist das Werk eine gruselige Gute-Nacht-Geschichte: Die immerhin abwechslungsreichen Beats plätschern vor sich hin, der Rest ist KIZ vom Feinsten: Schwarzer Humor, fiese Pointen und jede Menge Mütter. Das ist manchmal witzig, manchmal gewollt, immer obszön und oftmals über die Grenzen des guten Geschmacks hinaus: „Mein Leibgericht schmeckt überall, nur nicht bei Mutti. Denn mein Leibgericht ist Pussy.“ Das dürfte auch der Sittenpolizei nicht schmecken, ist für eingefleischte Fans aber nur ein Horsd’œuvre. Die Scheibe schafft es letztendlich nur zur Skizze. Nächstes Jahr kommt das echte Album. Der Titel soll lauten: „Rapp über Hass“.

(pt). Musikalisch ist die Freiburgerin Addis Buchanan auf der ganzen Welt zu Hause. Mit sanften Klängen und ruhiger, voller Stimme säuselt die Singer-Songwriterin auf ihrem Debütprojekt Mantra über GenreGrenzen hinweg. Der Mix, der mit Partner und Produzent Thilo Perach in zwei Jahren in einem zehn Quadratmeter kleinen Studio entstand, geht auf: Hohe, aber urige Harmonien und blubbernde Beats lassen bunte Bilder in fröhlichen Farben in jenen Köpfen entstehen, die sich darauf einlassen wollen. Getragen werden die zehn Interpretationen von geheimnisvollem Gesang. Die Grenze zur Esoterik ist fließend, wird dabei aber nie überschritten. Die verspielte Klangkulisse rückt in den Hintergrund, hier und da zu sehr, manchmal wäre weniger mehr. An den besten Stellen erinnern Stücke wie Sarve Bavanthu Sukinah mit langgezogenen Harmonien immerhin an die Neo-Klassik des Berliner Pianisten Nils Frahm. Buchanan greift lieber zur Gitarre, auch ein Mbira darf auf Mantra mit seinen fröhlichen, tröpfelnden Tönen nicht fehlen. Zur Heiligsprechung reicht es Mantra trotz des Namens nicht – für entschleunigte Stunden in den eigenen vier Wänden nach einem aufreibenden Jahr aber allemal.

schon seit fast 20 Jahren gegen Geschmacks­ verbrechen – nicht nur, aber vor allem in der Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt Musik.seit Für fast die cultur.zeit Ralf schon 20 Jahrenverhaften gegen Geschmacks­ Welteroth und Benno Burgey in jeder verbrechen – nicht nur, aber vor allemAusgabe in der geschmack­ lose Werke von Künstlern, Musik. Für die cultur.zeit verhaften Ralfdie das geschmack­ liche Sicherheitsgefühl der Welteroth und Benno Burgey in jeder Ausgabe Bevölkerunglose empfindlich geschmack­ Werke vonbeeinträchtigen. Künstlern, die das geschmack­liche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen. Wir als Polizeibehörde sind natürlich selbstverständlich auch Teil der großen Verschwörungsverschwurbelungspraxis, von Bill Gates ferngesteuerte Robocops, die sich vom Blut abgehalfterter Schlagerstars und Interpreten volkstümlicher Musik ernähren. Reingefallen. Sind wir nicht. Was so anglinarzisstisch „Cancel culture“ genannt wird und als Erfindung linksvermainstreamter Meinungs-haute-volée verkauft wird, gibt’s bei uns tatsächlich: Was scheiße ist, muss in die Tonne geklopft werden. Wer den Bock zum Gärtner macht und in Geschichte nicht aufgepasst hat, muss nachsitzen – in welcher JVA auch immer. Eilmeldung: Die 7-Tage-Inzidenz der ARD wird in absehbarer Zeit leider nicht unter einen Wert von 50 Nuhr fallen – wir bleiben dran. Hier spricht übrigens die echte Polizei und nicht die, die im Netz Fotos von zu Hakenkreuzen zusammengestellten Bierbänken postet – zu wahr, um es zu erfinden. Drei Dinge braucht’s eigentlich nur, mit denen man präventiv vieles erreichen kann: Bildung, Bildung und, genau, Bildung. Zu Weihnachten gilt aber generell: Finger weg von Einstiegsdrogen à la Driving home for last white christmas bells und Feliz Navidad in der Kirmes-Techno-Version.

In diesem Sinne, Halleluja, Ralf Welteroth


LITERATUR

Aufgestapelt: Fahrrad-Bücherkurierinnen mit hoch belasteten Gepäckträgern prägen in diesen Zeiten das Bild der Stadt.

Foto: © Jos Fritz Buchhandlung

Die Lieblinge der Buchhändler HEITERE, SPANNENDE, PREISGEKRÖNTE LEKTÜRE FÜR LANGE ABENDE

Freiburgs Buchhändler haben die Krise trotz der Schließungen im Frühjahr gut gemeistert – mit guten Ideen und mobilem Service. Vor Weihnachten haben sie zwar alle Hände voll zu tun, verraten aber trotzdem noch kurz ihre ganz persönlichen Bücher des Jahres.

BERÜHREND UND HUMORVOLL

ÜBERRASCHEND UND HEITER

„Hamster im hinteren Stromgebiet“ ist der 5. Band aus der autobiografischen Reihe „Alle Toten fliegen hoch“ von Joachim Meyerhoff. Mit gerade 51 erleidet der voll im Leben stehende, sportlich trainierte Autor und Schauspieler einen Schlaganfall. Aus Angst, der nächste Schlaf könnte ihn in den Tod führen, erlaubt Meyerhoff sich des Nachts nur ein Dösen und beginnt mit dem Erzählen von Geschichten, die ihn aus der Krankheit ins Leben zurückführen. Ein Buch über die Macht des Erzählens und wie Komik in Grenzsituationen heilt und hilft. Ein Werk, das berührt und ebenso humorvoll ist und mit seinen meisterhaft skurrilen Beobachtungen lange in Erinnerung bleibt. E lke Siebenrock, Buchhandlung Rombach

Eins meiner Lieblingsbücher aus dem Jahr 2020 ist „Wilde Freude“ von Sorj Chalandon. Jeanne, die Ich-Erzählerin, bekommt zu Beginn der Geschichte die Diagnose Brustkrebs. Ihr Mann ist ihr keine Stütze, sagt von sich selbst, er habe „kein Herz“ mehr dafür, zu viel Seelenkraft haben ihn verschiedene Verluste, unter anderem der des gemeinsamen Sohns, gekostet. Echte Verbündete findet Jeanne in ihren drei Freundinnen. Gemeinsam nehmen die vom Leben Gebeutelten ihr Schicksal selbst in die Hand und schmieden den Plan, den größten Juwelier der Stadt auszurauben. Es ist eine wahre Freude, den Frauen dabei zuzusehen, wie sie sich durch die Kraft der Freundschaft zu Heldinnen ihrer eigenen Geschichte verwandeln. Iris Hakelberg, Buchhandlung Vogel

Joachim Meyerhoff, Hamster im hinteren Stromgebiet, Kiepenheuer & Witsch 2020 320 Seiten, geb., 24 Euro 48 CHILLI CULTUR.ZEIT DEZEMBER2020/JANUAR 2021

Sorj Chalandon, Wilde Freude, dtv 2020 288 Seiten, Hardcover, 22 Euro


LESETIPPS PREISGEKRÖNT UND LUSTIG

BRILLANT UND MITREISSEND

Bob ist Postbote mit Leib und Seele. Mit seinem Raumschiff bringt er den Leuten ihre Briefe in die entlegensten Winkel des Weltalls. Na ja, zumindest in die Winkel des Weltalls, die er kennt. Denn Bob mag es gemütlich und er schätzt seinen wohlgeordneten Tagesablauf. An diesem Tag allerdings ist im Postamt nicht alles so, wie es eigentlich sein sollte … In dem farbenfroh erzählten Comic begegnen wir neben außergewöhnlichen Orten mit beeindruckend fremden Landschaften auch einer ganzen Reihe von Außerirdischen. Darunter einem riesigen blauen Bauern, einer kleinen kakteenartigen Kreatur, dem kleinen Prinzen und einem Rudel kosmischer Hunde, die es kaum erwarten können, einen leckeren Bissen von einem Briefträger zu erwischen. Bobs Abenteuer auf seinen fünf Postrouten sind so aufregend wie lustig und machen diesen preisgekrönten kanadischen Comic zu einem Lesevergnügen für Groß und Klein. Michael Schumann, Buchhandlung X für U

Als Océane an ihrem fünfzehnten Geburtstag von der Schule nach Hause kommt, wird sie Augenzeugin einer brutalen Razzia. Es ist der 11. Juni 1981. Die Polizei beschlagnahmt die Fischernetze der Mi’gmaq, die seit Jahrhunderten vom Lachsfang leben. Viele werden verhaftet, es gibt Tote. Québec, ganz Kanada ist in Aufruhr. Kurz darauf findet der Ranger Leclerc ein indigenes Mädchen, das mehrfach vergewaltigt wurde. Zusammen mit dem Mi’gmaq William versucht er die Tat aufzuklären. Dabei kommen sie einem Netzwerk auf die Spur, in das auch die Polizei verstrickt ist. Taqawan, so nennen die Mi’gmaq den Lachs, wenn er flussaufwärts zu seinem Geburtsort schwimmt. Auch Éric Plamondon begibt sich zu den Ursprüngen: Er verwebt die Geschichte der Kolonisation Ostkanadas mit den Legenden der Mi’gmaq und ihrem Ringen um Eigenständigkeit. Ein packender Roman noir und ein faszinierender Einblick in die Lebenswelt dieser First Nation. Historische Recherche, gesellschafts- und kulturpolitische Studie und Kriminalroman in einem – brillant und mitreißend. Monika Hönig, Buchhandlung Vauban

Guillaume Perreault, Der Weltraumpostbote; übersetzt von Ulrich Pröfrock, Rotopol 2020 144 Seiten, Hardcover, 18 Euro

HOCHSPANNEND UND PLASTISCH Ob sich im Leben ihrer Großmutter alles genau so zugetragen hat, wie es Zora del Buono in ihrem Familienroman schildert, mögen manche LeserInnen bezweifeln. Doch das literarische Porträt dieser herrischen, widersprüchlichen Frau ist schon vom politisch-historischen Hintergrund her hochspannend. Als die Slowenin Zora Ostan kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs den italienischen Radiologen Pietro del Buono kennenlernt, ist in Italien Mussolinis faschistische Bewegung bereits im Aufbruch. Nach der Heirat führen die del Buonos in Bari ein großbürgerlich-antifaschistisches Familienleben, das der Roman in all seinen Facetten plastisch ausbreitet. Auch nach dem Ende des Faschismus engagieren sich Zora und Pietro in der Kommunistischen Partei, werden aber 1948 ausgeschlossen: Sie sind in einen politisch motivierten Raubmord verwickelt, den sie aktiv vertuschen. Von dieser Demütigung hat sich Zora offenbar nie erholt. Im Alter krank und vereinsamt, bleibt ihr als letzter politischer Halt der lebenslang verehrte Marschall Tito. Viele Fäden und Verästelungen der Familiengeschichte werden in Zoras Schlussmonolog im Altersheim aufgegriffen – eine ziemlich bittere persönliche Bilanz, zu der auch mehrere früh Verstorbene gehören, an deren Tod sich Zora indirekt mitschuldig fühlt. Heinz Auweder, Jos Fritz Buchhandlung Zora del Buono, Die Marschallin, C.H. Beck 2020 282 Seiten, geb., 24 Euro

Éric Plamondon, Taqawan, Lenos 2020 208 Seiten, Softcover, 22 Euro

TEMPOREICH UND KLUG Peter Siebert weiß, was alle wollen. Mit absoluter Intuition entwirft er Produkte und Kampagnen, die immer ein Erfolg werden. Doch seine perfekte Fassade täuscht: Er weiß nicht, wer er ist oder was er will. Bis er unversehens den Auftrag seines Lebens landet: Der begehrte Produktdesigner wird von einer Tech-Firma im Silicon Valley abgeworben, die ein Gerät zur Steigerung der Gehirnleistung entwickelt. Und Peter soll es zur Marktreife bringen. Er begibt sich auf eine ziemlich abenteuerliche Reise, die seine Existenz auf den Kopf stellt. Dafür ist auch die mysteriöse Anne verantwortlich, mit der er in eine verhängnisvolle Beziehung gerät – und in ein Gespinst aus Intrige, Macht und Begierden. Dabei versucht er, seinen geheimen Auftrag zu erfüllen und gleichzeitig authentisch zu bleiben. Wie nebenbei werden ihm – und damit den Lesern – tiefe Einblicke gewährt in die Leben etlicher höchst sonderbarer Menschen, die seinen Weg kreuzen. Dabei gelangt er zu der für ihn nicht selbstverständlichen Erkenntnis, dass jeder zufällige Passant ein ähnlich komplexes Leben führt wie man selbst. Eine rasante Mischung aus Abenteuerroman, Wissenschaftsthriller und Liebesgeschichte. Temporeich, spannend und klug. Konstantin Klingberg, Buchhandlung Klingberg Alard von Kittlitz, Sonder, Piper 2020 320 Seiten, Hardcover, 22 Euro DEZEMBER 2020/JANUAR 2021 CHILLI CULTUR.ZEIT 49


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