HEFT NR. 3/18 8. JAHRGANG
Weltpremiere
FONDATION BEYELER 29.4. – 2.9.2018 RIEHEN/BASEL
Alberto Giacometti, Homme qui marche II, 1960, Gips, 188,5 × 29,1 × 111,2 cm, Fondation Giacometti, Paris, © Succession Alberto Giacometti / 2018, ProLitteris, Zurich
SPARKASSE ZEIGT EINZIGARTIGE STONES-SAMMLUNG
Musik AL JAWALAS KULTURSCHOCK FÜR DIE LIEBE
Leinwand WOHNE LIEBER UNGEWÖHNLICH: SCHRÄG & SCHRILL
Public Art KÜNSTLER KAPERN CAFÉS UND KIRCHEN
Der Hang zu menschlichen Abgründen FONDATION BEYELER ZEIGT ERSTMALS GIACOMETTI UND BACON ZUSAMMEN
KUNST
Mitten im Leben FESTIVAL „OPEN ART“ BRINGT KUNST IN CAFÉS, KIRCHEN & CO.
Fotos: © Open Art
I
nstallationen am Dreisamufer, Fotografien im Modegeschäft oder eine Performance im Lieblingscafé: Das Freiburger Festival „Open Art“ will Kunst mitten ins Leben bringen. Für jeden. Ohne Hemmschwelle. Ohne Eintritt. Dafür zeigen mehr als 50 Künstler ihre Werke an Orten, die mit Kunst sonst wenig zu tun haben.
von Tanja Senn
Dreisam oder Archäologische Sammlung: „Open Art“ bringt Kunst in den öffentlichen Raum.
An neun Tagen im Mai verwandeln sich in Freiburg und Umgebung ganz alltägliche Orte in Kunstoasen. Wer dann die Maria-Magdalena-Kirche im Rieselfeld betritt, kann die Werke aus Schafwolle der Isländerin Jóhanna Árnadóttir bewundern. Im Feinkostgeschäft Degusto am Hauptbahnhof zeigt Rachel Schons ihre Gemälde, die an Fotografien aus einem fahrenden Zug erinnern. Und die Archäologische Sammlung erwacht bei der Tanzveranstaltung von Ass-Ocean zum Leben. An 59 solcher Orte zeigen Künstler aus dem In- und Ausland ihre Gemälde, Fotografien, Installationen und Skulpturen ebenso wie Performances, Tanz oder Videos. „Wir wollten eine Plattform schaffen für Künstler aller Richtungen“, sagt Alfonso Lipardi, der das Festival zusammen mit sieben weiteren regionalen Künstlern zum zweiten Mal ehrenamtlich organisiert. „Uns war nur wichtig, dass die Aktionen etwas mit dem Ort zu tun haben, an dem sie stattfinden oder sich auf deren Alltag beziehen.“ Die erste Herausforderung dabei ist, dass die Kunst überhaupt als solche wahrgenommen wird. Schließlich gibt es keine Museumsräume, die den Werken allein durch ihren Rahmen Bedeutung verleihen. So habe es beim
ersten Festival vor zwei Jahren etwa eine Installation in einem Freiburger Stoffgeschäft gegeben, erzählt Festival-Mitorganisatorin Rita Maria Linke: „Einige Kunden haben zunächst gedacht, das wären Muster vom Laden.“ Die Künstler sind deswegen auch immer wieder vor Ort, um mit den Leuten ins Gespräch zu kommen – und sich auch mit Kritik auseinanderzusetzen. Für den Austausch gibt es in diesem Jahr erstmals drei Treffen: Ein Picknick beim T66 Kulturwerk, eine Abendveranstaltung in der Passage 46 und ein Mittagstreff im E-Werk-Restaurant Fluxus. Eingeladen ist jeder: Egal, ob kunstinteressiert oder nicht. „Das ist das Tolle an dem Festival“, so Lipardi. „Die Hemmschwelle, ein Museum zu betreten, fällt weg. So erreichen wir nicht nur Kunstinteressierte, sondern einen viel größeren Kreis an Menschen – direkt in ihrem Alltag.“
INFO Open Art 12. bis 20. Mai Freiburg & Umgebung Eröffnung: Samstag 12. Mai, 11 Uhr Augustinerplatz APRIL 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 3
KULTUR
Der Hang zu menschlichen Abgründen BEYELER ZEIGT ERSTMALS BACON UND GIACOMETTI ZUSAMMEN
Triptychon, Three Studies for Portraits (Including Self-Portrait) (1969), Private Collection, © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / 2018, ProLitteris, Zurich
S
von Valérie Scholten
ie sind beide Protagonisten der Klassischen Moderne. Freunde und Rivalen gleichermaßen. Bei Francis Bacon war es das gemalte Porträt, bei Alberto Giacometti die dreidimensionale Figur, welche die figurative Darstellung des Menschen immer wieder aufgriff. Ihre Werke haben die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich verändert. Zum ersten Mal widmet sich eine Museumsausstellung beiden Künstlerpersönlichkeiten gemeinsam und zeigt Parallelen – aber auch Unterschiede ihres Schaffens. Mit Giacometti und Bacon präsentiert die Fondation Beyeler diesen Sommer zwei Grenzgänger von Kunst und Gesellschaft, die erst auf den zweiten Blick zusammenpassen. Die Idee für die einzigartige Sommerausstellung entstand schon vor rund drei Jahren im Caffè Florian auf dem Markusplatz in Venedig. Die Kuratoren Catherine Grenier, Direktorin der Fondation Giacometti in Paris, Michael Peppiatt, Bacon-Kenner und persönlicher Freund des Künstlers, und Ulf Küster, Kurator an der Fondation Beyeler, möchten in der etwa 100 Werke umfassenden Ausstellung nun die Intentionen Giacomettis und Bacons sichtbar, erfahrbar machen.
4 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2018
„Beide haben immer an der menschlichen Figur festgehalten“, beschreibt Co-Kurator und Kunsthistoriker Ulf Küster eine besondere Parallele beider Künstler, die sich von Anfang an als „Realisten“ verstanden haben. Obgleich auch ihr Verständnis über die Darstellung der Wirklichkeit unterschiedlich war: Giacometti etwa versuchte die Dinge zu reproduzieren, wie er sie sah. Bacon hingegen wollte menschliche Emotionen durch Verfremdung und Verzerrung seiner Motive darstellen. Dennoch verbindet beide die Suche nach der einmaligen und unabänderlichen Wahrheit in ihrem Schaffensprozess. Die Schlüsselrolle, wenn es um die Gemeinsamkeiten beider Künstler geht, spielte die Malerin Isabel Rawsthorne.
Gemeinsamkeiten und Gegensätze Sie unterhielt mit beiden Künstlern eine enge Freundschaft und war zeitweilig die Geliebte Giacomettis. Sie stand beiden Modell und arrangierte das erste Treffen in London. Bacon und auch Giacometti interessierten sich für die Probleme der zweidimensionalen und dreidimensionalen Darstellung von Raum und Bewegung.
GRENZGÄNGER Beide isolierten ihre Figuren von der Umgebung, indem sie käfigartige Gebilde in ihre Werke einbezogen. Beide beschäftigten sich mit dem fragmentierten und deformierten Körper und beide nutzten das Porträt als Stilmittel, um die menschliche Individualität darzustellen. Die dunklen Seiten der Sexualität, Einsamkeit und Melancholie sowie der Hang zu menschlichen Abgründen faszinierte sie. „Bacon ist sehr expressiv. Er hat seine Modelle stark verfremdet“, so Küster, „Giacometti hingegen hat Emotionen wie Schmerz subtiler gezeigt, indem er seine Figuren bis auf ihre zeichenhafte Struktur reduzierte.“ Neben Skulpturen wie „Grand Tête Mince“ (rechts), „Le Nez“ oder „Femme de Venise“ von Alberto Giacometti und dem bekannten „Triptychon“ (links) von Francis Bacon wird es auch multimediale Ausstellungselemente geben. Durch übereinander gelegte Fotografien bekommen die Besucher einen Eindruck der Ateliers beider Künstler. Der niederländische Mediendesigner Christian Borstlap projiziert die kleinen und chaotischen Künstlerateliers in EchtMaß in die Ausstellungsräume der Fondation Beyeler und macht so den Künstler-Kosmos ein Stück greifbarer.
INFO Bacon – Giacometti 29. April bis 2. September, Fondation Beyeler, Riehen / Basel www.fondationbeyeler.ch
Grand Tête Mince (1954), Fondation Alberto et Annette Giacometti, Paris © Succession Alberto Giacometti / 2018, ProLitteris, Zurich ANZEIGE t
Portrait of Michel Leiris (1976), Centre Georges Pompidou, Musée National d‘Art Moderne, Schenkung Louise und Michel Leiris, 1984 © The Estate of Francis Bacon. All rights reserved / 2018, ProLitteris, Zurich Photo: © Centre Pompidou, MNAM-CCI, Dist. RMN-Grand-Palais / Bertrand Prévost
APRIL 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 5
KULTUR
Nackte Mädchen, purer Wahnsinn FREIBURGER SPARKASSE ZEIGT ERSTMALS STONES-SAMMLUNG
E
von Lars Bargmann
s war eine kluge Mail. Thomas Walz, Ver- Olympia-Stadion auf, am 30. Juni in Stuttanstaltungsleiter der Sparkasse Freiburg, gart. Die Stones, das sind lebende Legenschickte sie vor einem Jahr ans Zentrum den; kaum eine zweite Band ist so lange so für Populäre Kultur und Musik (ZPKM) laut und so erfolgreich, prägte Generatioder Uni Freiburg. Ob man die Sammlung nen, begeisterte Millionen von Fans. Ein ganz besonderer war Reinhold Karpp, nicht mal in der Meckelhalle zeigen könnte. Die Sammlung, das ist die „Reinhold Rechtsanwalt aus Bonn, 1964 reiste er zu Karpp Rolling Stones Collection“, vielleicht seinem ersten Konzert ins englische die größte auf dem Erdball, die dem ZPKM Blackpool. Manager Oldham hatte die von Karpps Erben überlassen wurde. Es ist Stones gerade zur „Band, die alle Eltern eine Weltpremiere, die im Mai nun im Herzen von Freiburg zu Die Musik der Stones war das krasse sehen sein wird.
Gegenstück zum strengen Jungen-Internat
Die Ausstellung ist vom 3. Mai bis zum 1. Juni zu bank üblichen Öffnungszeiten in der Meckelhalle des Sparkassen- Finanzzentrums in Freiburg zu sehen. Der Eintritt ist frei. Fotos: © Max Orlich, Sandra Meyndt
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„As years go by“ haben die Kuratoren, Thomas Walz und Michael „Sandy“ Sander, die Ausstellung überschrieben – in Anlehnung an den Song „As tears go by“, den ersten, den Mick Jagger und Keith Richards auf Druck ihres Managers Andrew Loog Oldham selbst komponiert hatten, der aber zuerst von Marianne Faithful gesungen wurde. Die Stones coverten erst später ihr eigenes Stück, das so gar nicht zum bisherigen Repertoire passte. Wie die Jahre vergehen. Seit 1962 stehen die Stones auf der Bühne, am 22. Juni treten sie im Berliner
hassen“ stilisiert und das Konzert wurde – wie so oft – wegen Gewalttätigkeiten unter den hysterischen Fans bereits nach vier Songs abgebrochen. „Es roch furchtbar nach Urin, man trat auf nackte Mädchen und ständig (…) wurden Personen über unseren Köpfen nach vorne gereicht. Es war der pure Wahnsinn“, notierte Karpp später in seinem Tagebuch. „Die Musik der Stones war für ihn der Inbegriff von Freiheit“, erzählt seine Tochter Annette Lene Karpp. Das krasse Gegenteil vom strengen Jungeninternat auf
AUSSTELLUNGEN
Spiekeroog, auf das der Vater gegangen war. Persönlich kennenlernen wollte der die Stones aber nie, das hätte er als aufdringlich empfunden. Als Karpp vor sechs Jahren starb, fanden sich auf seinem Dachboden – in 200 Kartonkisten verpackt – 15.000 Stones-Platten, DVDs, CDs, dazu Tickets und T-Shirts, Bücher und Zeitungen, Sticker, Poster, Bettwäsche, Kappen, Uhren und ein Flipper – einfach alles, was der Mann bei Auftritten und Plattenbörsen in die Hände bekommen hatte. Zu 130 Konzerten war er gefahren oder geflogen, nach New York, nach Johannesburg, nach Tokio, nach Buenos Aires. Es ist ein bemerkenswerter Schatz, der da seit einem Jahr in den Kellergängen der Uni steht und liegt. Für zehn Jahre haben Karpps Erben die Sammlung für Forschungszwecke der Freiburger Uni überlassen. ZPKM-Direktor Michael Fischer sagte bei der Übergabe, dass die Sammlung für die Erforschung der Popkultur der letzten Jahrzehnte „einzigartig“ sei, da sie etwa zeige, wie Fan-Artikel „identifikatorische Momente“ im Leben eines Menschen werden würden. Neue Forschungsergebnisse im engeren Sinn gebe es bis heute aber noch nicht. Damit wäre das Zentrum auch überfordert. Die Ausstellung sei aber fürs ZPKM „ein Glücksfall, weil wir diese Sammlung der Stadtöffentlichkeit und der Region präsentieren können“. Walz und Sander sichteten und sichteten, bewerteten, siebten aus, aber immer noch kistenweise holen sie das Material nun ans Finanzzentrum. Inszeniert wird, passend zu den Kisten, in vier Themenräumen aus Karton. Es gibt eine kleine K neipe,
ein Freakzimmer mit Bett, einen Kiosk, einen Merchandising-Stand. „Für uns war das Visuelle, nicht das Wissenschaftliche der Gratmesser“, sagt Walz. Dabei gilt, „nur schauen, nicht anfassen“, sagt Sander. Im Zentrum steht eine Karton-Pyramide, die der Ausstellung in Zahlen, vor allem aber Reinhold Karpp gewidmet ist. Obwohl die Meckelhalle schon viele Ausstellungen gesehen hat, es spricht sehr viel für einen Besucherrekord. Die Sparkasse hat für die Ausstellung noch eigens vier Graffitis der noch lebenden Stones (Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts und Ronnie Wood) anfertigen lassen, Sander und Walz haben viel recherchiert und wichtige Zitate gefunden, die etwas über die Stones und ihre Wirkungsgeschichte erzählen. Zur Eröffnung werden auch Tochter Annette Lene, die bei ihrem ersten Stones-Konzert erst acht war, K arpps Schwester Ellen Sessar-Karpp, die hier in der Region lebt, und auch Stones-Fan und Karpps Freund Klaus Ritzner aus Essen anreisen. Das Einzige, was fehlt, dürfte die Stones-Musik im Hintergrund sein. Aber schließlich ist die Sparkasse immer noch eine Bank. APRIL 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 7
MUSIK
Einäugig surfen AL JAWALA SCHWIMMEN MIT UND GEGEN DEN STROM
P
von Till Neumann
Bunt für die Liebe: „Lovers“ heißt das neue Album der Multi-Kulti-Band Al Jawala. 8 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2018
sychedelische Farben flackern über die fünf Musiker. Das Saxofon dröhnt, die Gitarre krächzt, ein Hund chillt vor einer Couch. Auf der schlürft Sängerin Steffi Schimmer Schampus. Im ersten Musikvideo zur neuen Scheibe der Jawalas geht’s lässig zu. Seit 18 Jahren sind sie im Geschäft, aber längst nicht müde, zeigt ein Besuch in ihrem Freiburger Proberaum. Kurs halten und sich zugleich neu erfinden – so die Devise.
größte Wechsel betrifft sie selbst: Statt Saxophon zu spielen, greift sie neuerdings zum Mikro. „Die Vocals sind tragend geworden“, erklärt die 40-jährige Bandgründerin. Ein nächster konsequenter Schritt sei das. Seit den Anfängen als Straßenband habe man sich immer weiter entwickelt. Stück für Stück haben bei der energiegeladenen Liveband Vocals Einzug gehalten. Auf der jüngsten Tour waren von
Der Ofen bollert im Proberaum an diesem kalten März- Vocoder, Rap, Message-Tracks: abend. Die CD ist im Kasten, die Band geht neue Wege. das Feilen am Bühnenprogramm läuft auf Hochtouren. Erst kürzlich ist die Band umgezogen, sechzehn Tracks schon sechs mit Gehat jetzt mehr Platz, um sich auszuto- sang, erzählt Schimmer. Jetzt gibt es nur ben. Doch nicht nur der Raum ist neu – noch einen ohne Vocals. Dass Al Jawala mit der Zeit gehen, auch der Sound der Freiburger Musikveteranen hat ein Update bekommen: „Die zeigt auch der Vocoder-Einsatz. Die MaMusik hat sich gewandelt“, sagt Steffi schine, mit der Stimmen einen LeierefSchimmer. „Auch wenn wir immer noch fekt bekommen, wird im Proberaum eine non-mainstreamige Band sind.“ Der feinjustiert. Noch klingt nicht alles, wie
BALKAN-BEAT „Magischen Crossover“, nennt die Band ihren MultiKulti-Sound, „tanzbarer Kulturschock“. „Keiner hat immer nur Bock auf Polka“, sagt Steffi Schimmer. Das sei zwar geil, sie hätten es aber lange genug gemacht. Dazu kommt: „Wir stehen einfach auch auf andere Musik.“ Sie holt sich die Inspiration in ihrem Freiburger Garten oder bei Trips nach Jamaika. Die Sängerin ist die unabhängigste der fünf, die anderen sind bereits Familienväter.
„Heute kann jeder Dubel mit einem Rechner Musik machen“
Sich treu bleiben, die Fans überraschen: Al Jawala machen auf ihrer neuen Platte einiges anders. Steffi Schimmer rückt dabei Foto: © Felix Groteloh mehr in den Fokus.
es soll, sagt Bandleader Markus Schumacher (40). Auf dem Album ist das Ergebnis jedoch schon zu hören: Im Titeltrack „Lovers“ singt Schimmer eine Widmung für alle Liebenden. Der Album-Opener ist eine Ansage: Wir gehen neue Wege. Altbekannt ist das Digderidoo. Die Balkan-Beatund Gipsy-Vergangenheit der Band ist weiter präsent. Dennoch klingt „Lovers“ erfrischend modern. Der größere Ohrwurm ist aber die erste Single „Zyklop Surfers“. „Banga Banga Banga“, singt Schimmer im Refrain. Jamaikanischer Slang für „Kumpel“. Der Track kombiniert eine Surfer-Gitarre mit einem griechischen Rembetiko-Thema und indischen BanghraGrooves. Exotisch-bunt. Pflicht bei den Jawalas. Neben Schumacher und Schimmer sind das Bassist Ben Krahl, Saxofonist Krischan Lukanow und Schlagzeuger Daniel Pellegrini. Ihre CD ist ein musikalischer Regenbogen: „Road To Civilisation“ verbindet Dancehall mit orientalischen Klängen, „Shooting Stars“ bietet effektbeladenen Rock mit Rapeinlagen, „Cumbia Corazon“ kommt mit Latino-Vibes und dem Freiburger Gastsänger Tatán González Luis von Flecha Negra daher. Bei „Mama Mea“ gibt’s Balkan-Beat mit rumänischem Gesang. Der Sound klingt saftig, modern, erfrischend.
Die Band-Devise: Sich treu bleiben, die Fans überraschen. Das Recording machen sie weiterhin allein. In ein Profistudio zu gehen, schränke ein, finden die Musiker. Im Proberaum klinge es organischer. Dort probieren sie viel aus, feilen an Details, nehmen in Ruhe alles auf. „Wir haben da unsere Recording-Sklaven“, scherzt Schimmer und zeigt auf zwei Bandkollegen. Alle lachen. Das Knowhow dafür haben sie sich über viele Jahre selbst beigebracht. Die Branche hat sich in fast 20 Jahren Bandgeschichte gewandelt, ist schnelllebiger und digitaler geworden. „Heute kann jeder Dubel mit einem Rechner Musik machen“, sagt Schimmer. Etwas Druck hätten sie schon gespürt, noch einen draufzulegen. „Presse und Veranstalter wollen was Neues“, sagt sie. „Wir hatten aber einfach auch viele geile Ideen“, ergänzt Schumacher. Eine davon kam Schimmer in Jamaika: ein einäugiger Riese aus griechischen Sagen. „Der Zyklop ist das dritte Auge, das sehende“, sagt sie. Verbunden mit der Surfergitarre entstand der Song „Zyklop Surfer“. Auf der Welle der ersten Album-Single wollen die Jawalas nun auf größere Bühnen reiten. Rund 1500 Gigs haben sie gespielt bisher. Vergangenes Jahr traten sie in Karlsruhe nach Sido auf, 25.000 Menschen standen vor der Bühne. So etwas würden sie gerne wiederholen: „Jetzt sind wir bereit“, sagt Schimmer. Auch wegen des Gesangs, der ihnen neue Türen öffnen soll. Ob sie politische Musik machen? „Vor ein paar Jahren habe ich Nein geantwortet“, sagt der Frontmann. Die Antwort sei ihm länger nachgegangen. Die Liebe sei dem Planeten ganz schön abhanden gekommen, findet er. „Es passieren brandgefährliche Dinge“, betont Schimmer. Auf dem Cover ist deswegen ein Herz, das laufen kann. Was das bedeutet, erkennt selbst ein einäugiger Zyklop auf dem Surfbrett.
INFO Live: Am 4. August spielen Al Jawala im Spiegelzelt des ZMF. APRIL 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 9
e n g a a n r F ... 4
BUCHAREST
Eigenvertrieb
IMU Records
SCHWARZ-WEISS (EP)
BUDAPEST
Foto: © privat
DANIEL BARTH von den Freiburg Tapes
TARANTINO
„AMTLICHES ZEUG“
Düsterer Mond
Garagensound
15 Songs, eine CD. Das ist der Plan für die 8. „Freiburg Tapes“. Bis zum 30. April können Musiker aus Freiburg und Umgebung ihren besten Track einsenden. Zum ersten Mal kümmert sich Daniel Barth vom Verein „Klimperstube“ um die Compilation. Im Interview mit Till Neumann spricht der 31-Jährige über ein neues Konzept, anonyme Bewertungen und Trostpreise.
(Till Neumann). Der HipHop-Produzent Tarantino Beatz meldet sich zurück. Mit den zwei Rappern Nuname & M.I. hat er eine sechs Track starke EP herausgebracht. Conscious-Trap nennen die drei Freiburger den Style. Synthie-geschwängerte Elektrobeats treffen da auf klassisch gerappte Texte. Textlich ist das in der Tat „consious“: Die Rapper reflektieren über sich und die Welt, ohne in üblichen HipHop-Klischee-Kisten zu wühlen. Sie texten über den Niedergang der Gesellschaft, über Abstumpfung und Schuldzuweisungen, über Schicksal und Ziele. Aggression kommt da durch, aber keine Hasstiraden. Düster klingt das von A bis Z, bedrohlich wie der rote Mond auf dem Cover. So auch im stärksten Track: „Symbol“. Eine futuristisch klingende Gesellschaftskritik über Halbwahrheiten, Geldgier und Manipulation. Optimisten sind da nicht zu hören, Schwarz-Weiß-Malerei betreiben die zwei aber auch nicht, wenn sie sich „aus Ruinen einen Palast bauen“. Technisch kommt das Mixtape solide daher, der Flow wird variiert, die Beats sind stimmig. Eine Platte für Freiburger Rapfans, die auf düster-melancholische Tracks zwischen Trap und Boom Bap stehen. Wer bis zum Ende hört, entdeckt sogar Samples der Rapper Kool Savas und Sido.
(Tanja Senn). Alles begann in der Altstadt von Tel Aviv. Hier treffen sich Guy Cohavi, Danny Finkenthal sowie zwei weitere Freunde bereits als Jugendliche und schreiben ihre ersten eigenen Songs. 2011 ist es dann so weit: Ihr erstes selbst produziertes und selbst aufgenommenes Album geht an den Start. Der Erfolg lässt nicht lange auf sich warten – schnell etabliert sich die Band „Bucharest“ in der aufblühenden alternativen DIY-Szene Tel Avivs als eine der populärsten israelischen Indierock-Bands. Mittlerweile wohnen Cohavi und Finkenthal in New York. Mit Drummer Adiel Goldman und Produzent Yaniv Horoviz haben sie dort zwei neue Mitstreiter gefunden. Ihrem Stil sind sie aber auch auf ihrem dritten Album „Budapest“ treu geblieben: Zu hören sind keine im Studio auf Hochglanz polierten Songs. Stattdessen ein Sound, der direkt aus einer Hinterhofgarage stammen könnte. So darf etwa in „Sabotage“ auch mal der Verstärker übersteuern und „Hypothetical“ ist mit seinen Dissonanzen der interessanteste Song der Platte. Doch leider bleibt der Wow-Effekt trotz rockender Gitarren und psychedelischer Tendenzen aus. Der Beat bleibt sich über die acht Songs hinweg treu, spannende Ausreißer sucht man vergeblich.
Auf der Freiburg Tapes Vol. 1 war „Super Girl“ von Reamonn. Gibt’s bald den nächsten Hit? Wir haben bisher rund zehn Zuschriften. Da ist amtliches Zeug dabei. Teilweise ist das sehr experimentierfreudig. Ihr habt ein neues Konzept. Was wird anders? Statt im Jazzhaus oder auf dem ZMF steigt das Releasekonzert im Räng Teng Teng. Sechs Bands können Ende September auftreten. Es wird auf zwei Tage gestreckt. So muss man sich nicht mehr fünf Bands an einem Abend reinklatschen. Wer sitzt in der Jury? Wie entscheidet sie? Sechs Juroren hören sich die Songs an, ohne zu wissen, von wem sie sind. Die Musik soll im Vordergrund stehen, nicht der Name. In der Jury sind Vertreter von Swamp, Slow Club, SWR, fudder, Ahoii Club und der Band Redensart. Wir wollen Musikern eine Plattform bieten. Unter allen Teilnehmern werden zudem Trostpreise verlost: zum Beispiel eine Aufnahme im Tonstudio. Brauchen Freiburger Bands den Support? Ja, für junge Musiker gibt es wenig Möglichkeiten hier. Es fehlt an Proberäumen und Förderprogrammen. Nur vereinzelt starten Bands von hier aus richtig durch. Mehr Infos auf: www.klimperstube.de 10 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2018
QULT
NILS FRAHM
Eigenvertrieb
Erased Tapes
SO VIEL MEHR (EP)
ALL MELODY
DER SOUNDDRECK ... ... auf die Eier
HEADLINE
Titel: Diverse Urheber: Unbekannt/Flüchtig Jahr: 2018 Immer das gleiche Spiel. Mitte April geht es den Eiern an den Kragen. Nicht nur als religiöses Ritual, nein, auch musikalisch geht’s an die Eier. Begonnen hat alles ganz harmlos: KLAUS UND KLAUS mit „Eiermann“: Klingelingeling, klingelingeling, hier kommt der Eiermann, klingelingeling, kommen sie alle, alle an die Eier ran.
Kuckucksuhr-Comeback
Suche nach Sound
(Till Neumann). Vor einigen Jahren traf man Jens Gläsker auf fast jeder HipHop-Par t y in Freiburg. Mit seiner Rap-Kombo Qult mischte er als Jenzen Q fleißig mit. Dann wurde es ruhiger. Jetzt meldet sich Qult zurück. Seine Texte serviert Gläsker neuerdings zu Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard. Und gibt sich gereift. Fünf Tracks sind auf der EP „So viel mehr“. So heißt auch der Titeltrack, der mit einem smoothen Gitarren-Intro und einfühlsamem Gesang überrascht. Dann rappt Gläsker von der Liebe zur Musik und von Gigs ohne Bezahlung. „Ich steh für Originalität und Style wie eine Kuckucksuhr“, heißt es im Chorus. Eine klare Ansage, vorgetragen mit Understatement. Nach innerer Balance klingt der Track. Mit Blick auf die kratzige Vergangenheit ein unerwarteter Wandel. Von dem erzählt er in „Geld oder Liebe“. Ehrlich klingt das. Genau wie das poppige „Sorgenfrei“, wo er zu einem Klavier rappt. Die ruhigen Passagen stehen im Gegensatz zur fauchenden E-Gitarre. Insgesamt kommt das dennoch etwas glatt daher. Etwas mehr K ante und Überraschungsmomente hätten dem Ganzen gut getan. Releaseparty: Qult releast die EP am 27. April im „Walfisch“
(Philip Thomas). Kein Wort auf dieser CD. Dafür dichte Klänge und stimmungsvolle Melodien. Auch wenn das siebte Studioalbum nicht genau das geworden ist, was der Wahl-Berliner eigentlich geplant hatte. Nils Frahm liefert eine tolle Symbiose aus klassischer Musik und elektronischen Tönen. Aufgenommen im hippen Berliner Funkhaus, gelingt es Frahm immer wieder, Bilder und Emotionen zu erzeugen. Zwei Jahre hat er dort verbracht – mit riesigen Instrumenten und einem winzigen Klavier für 50 Euro, um das ihn Schroeder von den Peanuts beneiden würde. Unterbrochen wurde der Schaffensprozess durch gelegentliche Ausflüge zu einem alten Brunnen. Der Akustik wegen, wie er sagt. Frahm schwört auf handgemachte Klänge. Ton aus Strom setzt er ganz bewusst ein. Mal melodisch-melancholisch, mal verspielt, manchmal mit Computer und Klavier in vertauschten Rollen. Bei experimentelleren Stücken wie „Human Range“ tröpfelt die Platte zuweilen vor sich hin, anstrengend oder gar unmelodisch wird All Melody namensgetreu aber nie. Vom Brunnen sieht man nichts. Was dem Hörer bleibt, ist der Sound. Und der ist spitze. Nicht für eine Partynacht, sondern für den Sonnenaufgang danach.
Eine leicht vulgäre Assoziation mit männlichen Geschlechtsteilen ist möglich, jedoch jedem selbst überlassen. Von daher haben wir 1988 von der Strafverfolgung abgesehen. Ein Fehler, wie sich nun herausstellte. Die Verbrechen gegen Eier konnten sich ungestört entfalten. Hier nur zwei Beispiele aus der bundesweiten Fahndung: Ein Ei, das saß auf einem Baum und strickt ein Strumpf für sich. Es rief, ey du, lauf doch nicht weg, mach mal ein Lied für mich. Ein richtig schönes Eierlied, das mir bis in den Dotter zieht. So FREDRIK VAHLE vor gut zehn Jahren. Und die SELLOUT BOYS im gleichen Jahr: Ich rühre Eier den ganzen Tag, weil ich Eier rühren mag. Mein Kühlschrank, der ist voll mit Eiern, wenn du die alle isst, dann musst du reihern. Doch es geht schlimmer: Gänzlich unbekannt ist uns noch der Urheber des Plagiates von JOHNNY CASHs Ring of Fire: Ich habe einen Ring um meine Eier, das schnürt mich ein und das tut weh, au weja. So was geht uns echt auf die Eier, Benno Burgey für die Geschmackspolizei Freiburg
kino
Patchwork-Nachwuchs-WG Wohnkomödie anderer Art – Grandioses Gute-Laune-Kino von Michaela Moser
Wohne lieber ungewöhnlich Frankreich 2017 Regie: Gabriel Julien-Laferrière Mit: Teilo Azaïs, Julie Gayet, Thierry Neuvic u. a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 95 Minuten Start: 17.05.2018
Fotos: © Neue Visionen Filmverleih
12 chilli Cultur.zeit April 2018
D
er pubertierende Bastien ist Teil einer großen PatchworkFamilie. Obwohl seine Mutter wieder frisch verliebt ist, traut er dem neuen Glück nicht. Er hat schon zu viele Väter kommen und gehen sehen. Und weil nicht nur seine Mutter nach drei Ehen drei Kinder hat, sondern auch die Väter fleißig weiter heiraten, ergibt das nach Patchwork-Arithmetik: sechs Geschwister, acht „Eltern“ und ebenso viele Zuhause. Die Kinder sind Nomaden, tingeln von einem Zuhause zum nächsten, vom Fußballtraining zum Cellounterricht oder zum Ballett, vom Schach- zum Klavierunterricht. Das geht ihnen maximal auf die Nerven. Eines Tages drehen Bastien und seine Halb- und Stiefgeschwister den Spieß um und starten eine Sorgerechtsrevolution. Die riesige Wohnung von Eliots verstorbener Oma ist dafür bestens geeignet: sieben Zimmer, Kühlschrank mit Eiswürfelspender und sogar ein Whirlpool sind super Ausgangsbedingungen für eine Kinder-WG. Bei dem üblichen Betreuungschaos fällt zunächst gar nicht auf, dass die Kinder bei gar keinem Elternteil auftauchen, nachdem sie ihre neues Zuhause in Beschlag genommen haben. Nur Oma Aurore kommt ihnen auf die Schliche. Es dau-
ert ein wenig, bis auch die Eltern ihre Kinder im üblichen Betreuungschaos vermissen und die ungewöhnliche WG auffliegt. Aus der Traum? Nein, denn die Sprösslinge überreichen den acht Elternteilen einen sorgfältig ausgeheckten Betreuungsplan, nach dem diese um die Nachwuchs-WG zirkulieren sollen. Die Erwachsenen machen mit. Widerstrebend zwar, aber immerhin. Und dann kommt das Chaos – aber ein Chaos mit Chancen. Denn es bilden sich ganz neue Bündnisse, und Kinder wie Eltern stellen fest, dass sie nicht mehr nur an sich, sondern auch an die anderen denken. Es entsteht so etwas wie eine „echte“, liebevolle Großfamilie. Bis Papa Hugo auf die Idee kommt, die Wohnung seiner verstorbenen Mutter heimlich zu verkaufen. Die neu geschaffene, glückliche Allianz steht auf dem Spiel. Da sind es wieder diese Kinder, die einen verrückten Plan schmieden ... „Wohne lieber ungewöhnlich“ ist eine mit Witz und Humor inszenierte Komödie, in der es Regisseur Gabriel Julien-Laferrière gelingt, den Zeitgeist moderner Familienkonstellationen aufzugreifen und Ideen für ein gelingendes Patchwork-Glück im 21. Jahrhundert zu skizzieren – schräg, schrill und lachnervenkitzelnd unterhaltsam.
Kino Lady Bird
Madame Aurora
Eleanor & Colette
Foto: © Universal
Foto: © Tiberius+Film
Foto: © Bernd Spauke
USA 2017 Regie: Greta Gerwig Mit: Saoirse Ronan, Laurie Metcalf u.a. Verleih: Universal Laufzeit: 94 Minuten Start: 19. April 2018
Frankreich 2017 Regie: Blandine Lenoir Mit: Thibault de Montalambert, Agnès Jaoui u.a. Verleih: Tiberius Film Laufzeit: 90 Minuten Start: 26. April 2018
USA 2017 Regie: Bille August Mit: Helena Bonham Carter, Hillary Swank, Jeffrey Tambor u.a. Verleih: Warner Bros. Germany Laufzeit: 115 Minuten Start: 3. Mai 2018
Eigensinn gegen Engstirnigkeit
Von der Hitze geplagt
Von der Würde des Menschen
(ewei). Christine ist 17 und voller diffuser Sehnsüchte – und sie rebelliert leidenschaftlich gegen alles, was sie einengt: Sie will sich nicht anpassen, will anders sein als man es von ihr erwartet, will woanders wohnen als im kalifornischen Provinznest Sacramento, will einen anderen Namen. Also lässt sie sich zuerst einmal „Lady Bird“ nennen. Als solche macht die eigenwillige Schülerin einer streng katholischen Highschool mit Gebetszwang und Minirockverbot erste heimliche – und nicht eben himmelhoch erhebende – Erfahrungen mit Jungs, glänzt in der Schule eher durch ihr freches Mundwerk und gewitzte Streiche als durch Leistung, legt sich ständig mit ihrer energischen und ständig von Geldsorgen geplagten Mutter an, die sie natürlich „auf das echte Leben vorbreiten“ will. Und dabei die gleiche, von bissigem Humor geprägte Widerspenstigkeit aufweist wie die Tochter. Greta Gerwigs glänzendes Regiedebüt mit der umwerfenden Saoirse Ronan ergatterte zwei Golden Globes.
(ewei). Eigentlich geht es Aurora ganz gut. Die 50-jährige patente und anderen Menschen stets zugewandte Frau lebt mit zwei fast erwachsenen Töchtern in einem kleinen Häuschen, hat durch ihren Job in der Gastronomie ihr bescheidenes Auskommen, eine Menge Bekannte – und eine besonders gute, wenn auch ziemlich verrückte Freundin. Doch plötzlich hat sie auch Probleme: Ihre ältere Tochter wird unerwartet und, wie Aurora findet, „viel zu früh“ schwanger, sie selbst wird – wegen einer gewissen Unverträglichkeit gegenüber dem neuen Chef – plötzlich arbeitslos, außerdem gerät sie häufig und aus heiterem Himmel in lästige Hitzewallungen. Die überaus lebensbejahende Aurora lässt sich indes nicht unterkriegen – auch wenn sie nur geringe Aussichten auf einen gescheiten Job hat, ihre gelegentlichen Beziehungsversuche eher ernüchternd ausfallen und schließlich auch ihre jüngere Tochter auszieht. Mit der großartigen Agnès Jaoui macht selbst das hitzegeplagte Älterwerden Spaß.
(ewei). Eine um Hilfe schreiende, sich mit Händen und Füßen wehrende Frau wird von vier kräftigen Männern gepackt, in einen leeren Raum gezerrt und mit dem Gesicht nach unten auf eine Matte auf dem Fußboden gedrückt. Einer der Männer – es sind Pfleger der psychiatrischen Abteilung des St. Mary’s Hospital in San Francisco – jagt der lediglich mit einem Kliniknachthemd bekleideten Patientin ein Spritze in den Hintern. Als die Injektion wirkt, lassen sie ihre Hand- und Fußgelenke los und verlassen die Isolierzelle. Zurück bleibt das Häufchen Elend Eleanor Riese, die sich in spastischen Krämpfen windet und nicht einmal zur Toilette darf. Jahre zuvor wurde bei ihr paranoide Schizophrenie diagnostiziert, seither wird sie zwangsbehandelt, ohne dass sie bei der Art und der Dosierung der Medikamente mitbestimmen kann. Sie sucht juristischen Beistand – und findet ihn: In der streitbaren Anwältin Colette Hughes, die die lebenskluge Eleanor im Kampf um Würde und Selbstbestimmung begleitet.
kino
voll von der Rolle
Meister der Träume
Der Buchladen der Florence Green
Foto: © temperclayfilm
Foto: © capelight
Frankreich/Deutschland 2017 Regie: Sonia Kronlund Dokumentarfilm Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 85 Minuten Start: 3. Mai 2018
Spanien/Großbritannien 2017 Regie: Isabel Coixet Mit: Emily Mortimer, Bill Nighy, Patricia Clarkson u.a. Verleih: Capelight Laufzeit: 110 Minuten Start: 10. Mai 2018
Im Trend: der Drang zur Selbstoptimierung Foto: © Reinhild Dettmer-Finke
Besser, fitter, schöner (tas). Es ist so etwas, wie das Gebot unserer Zeit: Es ist egal, was du machst, Hauptsache du machst es intensiv. Vom Drang, perfekt zu sein – so erfolgreich, fit oder leistungsfähig wie möglich – erzählt Reinhild Dettmer-Finkes neuer Dokumentarfilm „Du sollst Dich optimieren!“. Für ihn hat die Freiburger Drehbuchautorin und Regisseurin Menschen getroffen, die sich die ständige Selbstoptimierung zur Aufgabe gemacht haben. So etwa der Eventmanager, der sein Leben minutiös per Excel-Tabelle überwacht, oder der digitale Nomade, der mit leistungssteigernden Arzneien nachhilft, um mental und körperlich so fit wie möglich zu sein. „Das Phänomen, sich verbessern zu wollen, ist nicht neu, hat aber durch die technischen Möglichkeiten immens zugenommen“, so Dettmer-Finke. Von Schrittzahlen bis zu Kalorien lasse sich alles messen – und nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit den Werten anderer vergleichen. Etwa in den Sozialen Medien. „Dort wird natürlich immer das beste und schönste Selbst präsentiert – und das schafft Stress.“ Mögliche Folgen: Erschöpfung, Depression, Burnout. „Sie entstehen, wenn ich das Gefühl habe, den Erwartungen nicht gerecht zu werden “, erläutert die 58-Jährige. Doch was entspricht dem natürlichen – und durchaus positiven – Drang des Menschen, sich zu verbessern und was basiert auf Druck von außen? Wie viel ist Chance, wie viel Gebot? Diesen Fragen geht Dettmer-Finke in ihrem aufwendig gedrehten Dokumentarfilm nach, der am 25. April im Forum Merzhausen Premiere feiert. An die Aufführung schließt sich eine Diskussion mit der Filmemacherin, der Soziologin Greta Wagner und dem Geschäftsführer von SpielPlanVier, Florian Städtler, an. Wer das verpasst: Der Film wird am 8. Mai ab 22 Uhr auf ARTE ausgestrahlt.
14 chilli Cultur.zeit April 2018
In einem Land ohne Bilder
Die Macht der Worte
(ewei). Salim Shaheen ist der bedeutendste und beliebteste Filmemacher Afghanistans. Er hat 109 Filme gedreht, ist Schauspieler, Produzent, Regisseur und Held eines von Krieg und Terror geprägten Landes. Er vermittelt auch in der schwierigsten Zeit Hoffnung – indem er eine Welt voller Träume fernab von Traditionen und Bürgerkrieg zeigt. Trotz der Bedenken seiner Familie, trotz einer Gesellschaft, die keine Bilder erlaubt, trotz 30 Jahren Krieg hat er seine Film-Leidenschaft nie aufgegeben. Sein Repertoire kennt keine Grenzen. Er kämpft gegen das Böse, nimmt von den Reichen und gibt den Armen und lehrt Toleranz und Frieden. Die einfühlsame Dokumentation zeigt, wie Shaheen und sein Team in all den Jahren nicht aufgegeben und sowjetische Besatzung, Bürgerkrieg, die Taliban sowie die Bürde der Traditionen überlebt haben. Und wie es kam, dass Shaheens Filme das einzig Beständige in einem zwischen Krieg, Tradition und ungewisser Gegenwart zerrissenen Land sind.
(ewei). Florence Green hat im Krieg ihren Mann verloren. Von dem ererbten und ersparten Geld erwirbt sie in einem verschlafenen Dorf an der Ostküste Englands das heruntergekommene Old House und macht daraus einen Buchladen. Ein mutiges Unterfangen, denn die Arbeiter und Fischer des Ortes haben es nicht so sehr mit der Liebe zum Buch, mit der Lust am Lesen oder der Sehnsucht nach Fantasie und anderen Welten. Zudem hat die örtliche Oberschicht ihre eigenen Vorstellungen davon, was kulturell bedeutsam ist und was nicht. Florences Buchladen ruft insbesondere bei der sehr vermögenden und einflussreichen Violet Gamart großen Unwillen hervor; die Dame mittleren Alters hätte aus dem Old House lieber ein Kulturzentrum gemacht. Sie lässt ihre Beziehungen spielen, geht auf Konfrontationskurs und beginnt, gegen Florence zu intrigieren. Nur Mr. Brundish eilt ihr zu Hilfe – er ist selbst Büchernarr und auch sonst irgendwie anders. Schöne Milieustudie der 50er Jahre.
DVD Das grüne Gold
Suburbicon
Berlin Falling
Schweden/Deutschland/Finnland 2016 Regie: Joakim Demmer Mit: Jörg Hartmann Vertrieb: good!movies Laufzeit: 80 Minuten Preis: ca. 17 Euro
USA 2017 Regie: George Clooney Mit: Matt Damon, Julianne Moore, u.a. Vertrieb: Concorde Video Laufzeit: 104 Minuten Preis: ca. 10 Euro
Deutschland 2017 Regie: Ken Duken Mit: Ken Duken, Tom Wlaschiha u.a. Vertrieb: Warner Bros. Laufzeit: 88 Minuten Preis: ca. 10 Euro
Kampf um Ackerland
Brutale heile weiße Welt
Erschreckend realitätsnah
(pt). Filmemacher Joakim Demmer stößt auf ein Kuriosum: Während Hilfsorganisationen seit Jahrzehnten versuchen, Lebensmittel nach Afrika zu importieren, schafft Äthiopien Nahrung aus dem hungernden Kontinent wieder heraus. Grund ist die Goldgräberstimmung zahlungskräftiger Investoren, die es auf das fruchtbare Ackerland der hilflosen Bevölkerung abgesehen haben. Um dort eigene Profite zu säen, sind Enteignungen und Vertreibung die Folge. Unter der Schirmherrschaft der Regierung und von der zuständigen Weltbank im Stich gelassen, eskaliert der Konflikt schließlich. Sechs Jahre lang verfolgt Demmer die Entwicklung, nimmt den Zuschauer mit auf gerodete Flächen, auf denen nun Planierraupen statt Wildtiere zu beobachten sind. Investoren, Bürokraten, Aktivisten, verfolgte Journalisten und vertriebene Bauern wollen oder können in der heiklen Angelegenheit oft nicht frei sprechen. Ein wichtiger Film, nicht immer mit der letzten Nachdrücklichkeit.
(ewei). Die Einfamilienhäuser in der Vorstadt einer Kleinstadt im Herzen Amerikas wirken so makellos wie die zu Beginn des Films eingeblendeten Hochglanzprospekte, mit denen ein paar Jahre zuvor junge aufstrebende und vor allem: weiße Familien für das Siedlungsprojekt geworben wurden. Allenthalben herrscht traute Nachbarschaft, gleichen sich nicht nur die ordentlichen Vorgärten und die davor geparkten chromblitzenden Straßenkreuzer, sondern auch die Abläufe: Während die krawattentragenden athletischen Männer irgendeiner wichtigen Arbeit in irgendeinem schicken Büro nachgehen, pflegen die wohlfrisierten blonden Ehefrauen den Haushalt, passen auf die hoffnungstragenden Kinder auf und probieren neue Rezepte aus. Dass darunter auch todbringende Mixturen sind, stellt sich erst heraus, als sich eine feine Saubermann-Familie gegenseitig zerfleischt, was in der Siedlung aber wegen der durch den Zuzug einer schwarzen Familie aufbrandenden Tumulte unbemerkt bleibt.
(vas). Frank hat seine Existenz als Elitesoldat in Afghanistan hinter sich gelassen. Anstatt sein Leben wieder auf die Reihe zu bekommen, trinkt er. Als er nach langer Zeit seine Tochter Lilly wiedersehen darf, will er sein Leben neu ordnen. Auf dem Weg zum Berliner Hauptbahnhof trifft er an einer Tankstelle auf Andreas, der eine Mitfahrgelegenheit sucht. Widerwillig lässt er ihn mitfahren. Eine folgenschwere Entscheidung: Andreas entpuppt sich nach nur wenigen Kilometern als brutaler Terrorist, der mit Franks Hilfe eine Bombe im Berliner Hauptbahnhof hochgehen lassen will. Der Schauspieler Ken Duken erzählt mit seinem Regiedebüt eine ziemlich realitätsnahe Geschichte. Authentisch inszeniert er ein Thriller-Roadmovie, das nicht viele Spezialeffekte braucht, um eine starke Wirkung zu erzielen. Das schafft allein der Plot des Films, dessen Allgegenwärtigkeit erschreckend ist. Die schauspielerischen Leistungen von Ken Duken und Tom Wlaschiha tun ihr Übriges.
2 DVDs zu gewinnen! Teilnahme über www.chilli-freiburg.de – Stichwort: „Das grüne Gold“
2 DVDs zu gewinnen! Teilnahme über www.chilli-freiburg.de – Stichwort: „Suburbicon“
2 DVDs zu gewinnen! Teilnahme über www.chilli-freiburg.de – Stichwort: „Berlin Falling“
LITERATUR
Ohne Moos nix los DAS LITERATURHAUS MUSS SICH TROTZ FÖRDERUNG STRECKEN, UM SEIN VIELFÄLTIGES PROGRAMM ZU FINANZIEREN
E
von Erika Weisser
Mit variablen Elementen, die als Tribüne oder Sitzgelegenheit Verwendung finden, kann das Literaturhaus im Handumdrehen für jeden Zweck umgestaltet werden. Aufklappbare Buchlampen sorgen für das richtige Licht. Programm: www.literaturhaus-freiburg.de Fotos: © Erika Weisser
16 CHILLI CULTUR.ZEIT APRIL 2018
in halbes Jahr ist seit der Eröffnung des Literaturhauses Freiburg im Theatersaal der Alten Universität vergangen. In dieser Zeit hat Literaturhausleiter Martin Bruch mit seinen Kolleginnen Birgit Güde und Katharina Knüppel ein Programm auf die Beine gestellt, das in der Stadt viel Beachtung fand: Mehr als 5000 Besucher aller Altersgruppen kamen zu den bisher realisierten knapp 70 Veranstaltungen, die von herkömmlichen, oft hochkarätig besetzten Lesungen und Autorengesprächen über ungewöhnliche neue Formate bis zu innovativen Experimenten reichten. Manche Angebote lockten so viele neugierige Literaturbegeisterte an, dass die 140 Sitzplätze in dem 260 Quadratmeter großen Saal ziemlich schnell ausverkauft waren; dasselbe gilt für die Veranstaltungen, die wegen des erwarteten Andrangs von vorneherein in dem doppelt so großen Kaisersaal des Historischen Kaufhauses anberaumt wurden: Auch für die Lesungen von Daniel Kehlmann und Bernhard Schlink gab es schon bald nach ihrem Bekanntwerden keine Tickets mehr. Das klingt nach reichlich Umsatz. Zumal das Literaturforum Südwest als Trägerverein des Literaturhauses die 45.480 Euro teure Jahresmiete nicht selbst bezahlen muss; die übernimmt das Rathaus, die Summe ist im städtischen Doppelhaushalt 2017/18 fest verankert. Doch mit dem Geld aus dem Kartenverkauf, sagt Martin Bruch, sei nur ein Teil der Ausgaben für die Veranstaltungen und Projekte zu begleichen: „Wir halten die Eintritts
preise mit 9 Euro für Erwachsene bewusst niedrig, außerdem geht immer ein Kontingent an kostenlosen Tickets an den ‚Kulturwunsch‘, damit auch Leute mit kleinem Geldbeutel zu uns kommen können.“ Deshalb verbringen er, Güde und Knüppel einen großen Teil ihrer Arbeitszeit nicht nur mit der Planung der inhaltlichen und organisatorischen Konzeption der Veranstaltungen, sondern auch damit, Anträge an die verschiedenen Stiftungen und Fonds zu stellen, Kooperationspartner zu suchen, Sponsoren zu finden. Dabei, erklärt Bruch, sei es ihr Anspruch, das dem Literaturforum Südwest aus dem städtischen Haushalt zugestandene Budget von jährlich 152.550 Euro „zu vermehren, nach Möglichkeit sogar zu verdoppeln“. Denn dieser Betrag fließe zum Großteil in die Personalkosten und mache es überhaupt erst möglich, dass das Literaturhaus-Team arbeiten kann. Deshalb sei es ihr Ziel, für die Veranstaltungskosten mindestens ebenso viel Geld „selbst einzuwerben“. Bei der Möblierung des Literaturhauses ist ihnen dies gelungen: Der einmalige städtische Investitionskostenzuschuss von 65.000 Euro wurde mit selbst erworbenen 90.000 Euro sogar noch übertroffen. Dazu hätten außer dem eigens gegründeten „Förderkreis Literaturhaus Freiburg“ mit seinen 130 Mitgliedern auch viele Freiburger Einzelspender und Institutionen beigetragen. Aber auch Hersteller, die ihnen bei Stühlen, Lampen und den passgenau angefertigten und variablen Holzmöbeln „großzügige Rabatte einräumten“. Ihre Namen haben einen Ehrenplatz über der Ausgangstür.
FREZI
PATRIA
LEERE HERZEN
von Fernando Aramburu aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen Verlag: Rowohlt, 2018 768 Seiten, gebunden Preis: 25 Euro
von Juli Zeh Verlag: Luchterhand, 2017 352 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro
SCHWALBEN ÜBER DEM FLUSS
von Ulrike Halbe-Bauer Verlag: Wellhöfer, 2017, 302 Seiten, Broschur Preis: 14,95 Euro
Hass, Mord, Vaterland
Cinema des Zynismus
Barrikaden am Schwabentor
(dob). Bumm, bumm, feige Schüsse aus dem Hinterhalt. Txato liegt in seinem Blut, vor seiner Haustüre, in seinem Dorf, hingerichtet von den fanatisch-nationalistischen Killern der ETA, einer von mehr als 800 Toten in der blutigen Geschichte dieser Bande. Dabei ist Txato, der Fuhrunternehmer, der die sogenannte Revolutionssteuer nicht zahlen konnte und wollte, doch einer von ihnen: „Verdammt; sagen sie denn nicht, sie kämpfen für das baskische Volk? Wenn ich nicht baskisches Volk bin, dann möchte ich wissen, wer es ist“, fragte er seine Frau ein ums andere Mal. Fernando Aramburu, 1959 in San Sebastián geboren und seit 30 Jahren in Hannover lebend, zeichnet in „Patria“ das seelische Protokoll zweier Familien nach. Wie sie sich entfremden, wie Misstrauen und Missgunst Freundschaft verdrängen, wie für die einen das Leben zur Hölle wird in diesem kleinen, kleingeistigen Dorf. Doch Schuldzuweisungen vermeidet Aramburu, auch geht es ihm nicht um die politische Analyse des Konflikts. Ihm ist ein sehr dickes und sehr kurzweiliges Buch voller Empathie gelungen, eine Geschichte aus der Perspektive der kleinen Leute, die unter der großen Politik leiden. Angesichts der gegenwärtigen Posse in Katalonien, wo sich einige an ihrem Katalanentum berauschen, wo in Dörfern Menschen ausgegrenzt werden, wo Hass geschürt wird, ist „Patria“ hochaktuell, hochpolitisch und wichtig.
(bar). Deutschland, 2025. Nach Merkel regiert die rechte BBB, die Besorgte Bürger Bewegung. In die Szenerie von Überwachungsstaat und Gleichgültigkeit, Egozentrik und Entmündigung stellt Juli Zeh – 50 Jahre nach 1968 – radikal entpolitisiertes Personal auf die Bühne. Britta und Babak etwa. Sie gefühlskalt und erfolgreich, er ein IT-Nerd aus dem Irak. Sie verheiratet mit Töchterchen, das nur die mangelhafte Mütterlichkeit der Mutter zeigt, er fischt Selbstmordkandidaten aus dem Netz. Die beiden betreiben die „Brücke“. Vorneherum eine Heilanstalt für Suizidale, hintenrum eine Gelddruckmaschine, weil sie Terrornetzwerken oder Öko-Radikalen geprüfte Selbstmordattentäter liefert. Zum guten Plot des Romans gehört, dass am Leipziger Flughafen zwei Attentäter aufkreuzen, die nicht über die „Brücke“ gegangen sind. Neue Konkurrenz auf diesem bizarren Markt: die „empty hearts“ bedrohen das Geschäftsmodell. Neben dem sehr dominanten Handlungsstrang gibt es auch Szenisches: Britta, ihr Mann Richard, das befreundete Pärchen Janina und Knut am Tisch: „Habt ihr gehört, dass die UNO aufgelöst werden soll“, fragt Knut. „Völkerrechtlich klingt das auch irgendwie nach 20. Jahrhundert“, sagt Janina. Im Cinema des Zynismus ist das großes Kino. Zeh will der Gesellschaft den Spiegel vorhalten, das bleibt aber unvollendet.
(ewei). Vor 170 Jahren, am Osterwochenende vom 21. bis 24. April 1848, warteten republikanisch gesinnte Freiburger auf die Ankunft von Friedrich Hecker. Eine Woche zuvor hatte er zusammen mit Gustav Struve in Konstanz die Republik ausgerufen und das Volk zur bewaffneten Erhebung für Freiheit und Gleichheit aufgefordert. Danach war er mit seinen Freischaren nach Freiburg und zur Landeshauptstadt Karlsruhe aufgebrochen. Die aufständischen Einwohner der Stadt Freiburg, die sich unter der Belagerung badischer Regierungstruppen für neutral erklärt hatte, wollen indessen nicht nur warten: An den Stadttoren werden Barrikaden errichtet, in so mancher Werkstätte werden Kugeln gegossen und Waffen geschmiedet. Unter den Barrikadenbauern am Schwabentor ist die junge Arbeiterin Emma, die ein Jahr zuvor nach einer entbehrungsreichen Odyssee durch halb Deutschland in der Nähseidenfabrik des liberal-pietistischen Unternehmers Carl Mez endlich eine menschenwürdige Arbeitsstelle gefunden hatte. Und die bald mit den freiheitlich-republikanischen Lesezirkeln aus der Harmonie in Kontakt gekommen und von deren Ideen angesteckt worden war. Um diese Emma rankt sich der spannende und gut recherchierte Roman über die politischen Verhältnisse, die damals zur Revolution geführt hatten. APRIL 2018 CHILLI CULTUR.ZEIT 17