HEFT NR. 9/17 7. JAHRGANG
Ausstellung
Musik
Leinwand
WEGBEREITER DER MODERNE
HEISSE BALKANSOUNDS DER HAIDUCKEN
VERSEHRTE HELDEN IN „LIEBER LEBEN“
Foto: © Sammlung Bunte
AUSSTELLUNG
Mit Sonnenbrille mehr sehen? NACH HUNDERT JAHREN KEHRT HÖLZELS KREIS NACH FREIBURG ZURÜCK
E
von Tanja Senn
AUSSTELLUNG Im Laboratorium der Moderne. Hölzel und sein Kreis Augustinermuseum Freiburg 25.11.2017 bis 18.3.2018
in Highlight“. „Eine Ausstellung, wie wir kündigungsplakaten und Flyern ist dieser sie nicht alle Jahre haben“. „Werke von symbolische „Hölzel-Kreis“ dargestellt. bahnbrechender Bedeutung“. Die Städti- Man merkt: Die Beschäftigung mit Farbe schen Museen Freiburg üben sich in Lo- spielte eine große Rolle bei den Wegbereibeshymnen, wenn es um ihre neue Aus- tern der Moderne. Ebenso wie die Liebe stellung im Augustinermuseum geht. zur Abstraktion. Damit war Hölzel seiner Dabei ist die Rede nicht gerade von einem Zeit einen großen Schritt voraus: Bereits A-Promi der Kunstwelt: Adolf Hölzel ist 1905 schuf er mit seiner „Komposition in eher als Lehrer berühmter Schüler be- Rot I“ ein Werk, das heute als wichtiger kannt, denn als Künstler selbst. Die Aus- Schritt in die Gegenstandslosigkeit angestellung „Im Laboratorium der Moderne. sehen wird. Hölzel und sein Kreis“ will sich auf beide Aspekte konzentrie- Avantgarde zu Gast in Freiburg ren. Präsentiert werden daher Dass neue, moderne Denkrichtungen auch Werke seiner Schüler Willi Baumeister, Johannes Itten, Ida Kerkovius, Oskar nicht überall auf Gegenliebe stoßen, verSchlemmer und Hermann Stenner. Höl- steht sich. Auch in Freiburg, wo Hölzel und zels Kreis war schon einmal Mittelpunkt seine Schüler 1916 ihre erste umfassende einer Freiburger Ausstellung – vor rund Ausstellung hatten, wehte ein steifer Gegenwind. „Dass mitten im Ersten Weltkrieg 100 Jahren. in der katholisch-konservativen UniversiEin zwölffarbiger Kreis zieht sich über tätsstadt Freiburg eine Avantgardegruppe den gesamten Boden des Ausstellungs- ausstellte, war außergewöhnlich“, sagt Kuraums. Den meisten Besuchern dürfte er ratorin Verena Faber vom Museum für bekannt vorkommen: Schon auf den An- Neue Kunst. Wie außergewöhnlich, zeigen
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Foto: © Birgit Streicher, Hannover
Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2017
Pressestimmen, die Faber und ihr Team für die Ausstellung herausgesucht haben. So wetterte die Süddeutsche Zeitung etwa gegen die jüdisch-feministische Kunst, die im neu eröffneten Freiburger Kunstverein gezeigt wurde. 21 progressive Künstler stellten damals rund 100 Kunstwerke aus. 15 dieser Werke finden nun zum zweiten Mal den Weg nach Freiburg. Ein halbes Jahr lang haben die Museumsmitarbeiter recherchiert und ausgehend von der damaligen Werkliste geprüft, welche Werke heute noch verfügbar sind. Mehr als 160 Leihgaben – darunter auch einige aus Privatsammlungen – sind so zusammengekommen. Sie sind der Grund, warum die Ausstellung, die vom Museum für Neue Kunst konzipiert wurde, im Untergeschoss des Augustinermuseums zu sehen ist: Strenge Anforderungen an die Luftfeuchtigkeit schließen eine Schau im Museum in der Marienstraße ohne seine Klimatechnik aus. Günstig sind die Leihgaben, Transporte und Versicherungen nicht: Eine halbe Million Euro beträgt das Budget der Ausstellung. Etwa zwei Drittel stammen aus den Töpfen der Städtischen Museen, den Rest finanziert die Ernst von Siemens Kunststiftung. Highlight der Ausstellung sind – obwohl sie nicht einmal zu den wertvollsten Werken der Ausstellung gehören – die Bahlsen-Fenster. Drei der abstrakten Glasfenster, die Hölzel für den Sitzungsraum der Keksfabrik gestaltet hat, sind nun erstmals außerhalb ihres angestammten Platzes zu sehen. Der hintere Teil der Ausstellungshalle widmet sich Hölzel als einem der einflussreichsten deutschen Kunstpädagogen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus seinen Unterrichtsmaterialien wird ersichtlich, welch unkonventioneller Lehrer er war. Seine Schüler hielt er dazu an, die künstlerischen Mittel Linie, Farbe und Form selbst zu erforschen. „Und das mit teils ungewöhnlichen Methoden“, führt Faber aus. „Da wurden mit Kaffeebohnen Flächen geplant oder er hielt seine Schüler dazu an, Sonnenbrillen für ein flächigeres Sehen zu tragen.“ Seine modernen Lehrmethoden waren gefragt: Hölzels Ruf zog Schüler aus verschiedenen Ländern Europas an. So soll im Herbst 1913 ein junger Schweizer Kunststudent für Hölzels Unterricht zu Fuß von Basel nach Stuttgart gepilgert sein. Sein Name: Johannes Itten.
Foto: © Alfred Heinrich Pellegrini
MODERNE KUNST
Neben Hölzels Werken wie seine Bahlsen-Fenster (unten rechts) oder seine Komposition „Legende der Heiligen Ursula“ (S. 54) sind auch Werke seiner Schüler wie die „Komposition mit Badenden“ von Alfred Heinrich Pellegrini (oben) oder Johannes Ittens „Der Bach-Sänger“ (unten links) zu sehen.
Hat viel Herzblut investiert: Kuratorin Verena Faber. Fotos: © tas, Verena Faber Wiederkehrendes Motiv: der zwölffarbige Kreis.
Adolf Hölzel, 1853 in Olmütz geboren, lehrte ab 1905 an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Aufgrund seines unkonventionellen Unterrichts mit Raum zur freien Entfaltung wurde sein Atelier auch als Laboratorium bezeichnet. Damit etablierte er neben den Künstlergruppen „Die Brücke“ in Dresden und „Der Blaue Reiter“ in München ein weiteres Zentrum der Moderne. Zu seinen Schülern gehörten Künstler wie Willi Baumeister, Johannes Itten oder Oskar Schlemmer. Zudem unterhielt er in einer Zeit, in der Frauen noch kaum Zugang zu Akademien hatten, eine „Damen-Malklasse“, in der er unter anderem seine Meisterschülerin Ida Kerkovius förderte. Hölzel starb 1934 im Alter von 81 Jahren in Stuttgart.
Foto: © Adolf Hölzel-Stiftung Stuttgart
INFO
Hölzel mit seinen Schülerinnen und Schülern Anfang 1914. NOVEMBER 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 55
MUSIK
Gefährliche Klarinette „DIE HAIDUCKEN“ WOLLEN DAS JAZZHAUS ZUM GLÜHEN BRINGEN
W von Till Neumann
Tanzen und toben: Wenn Die Haiducken auf die Bühne kommen, ist im Publikum oft kein Halten mehr. Jetzt ist das erste Album der Freiburger Klezmer- und Balkan-Band fertig. Fotos: © Fionn Große, Haiducken
enn die fünf anfangen zu spielen, kann man kaum stillhalten. Mit Gitarre, Akkordeon, Cajón, Kontrabass und Klarinette kreieren die Haiducken Klezmerund Balkansounds, die so ziemlich jeden zum Tanzen bringen. Nach fünf Jahren Bandgeschichte haben die Freiburger nun ihr erstes Album aufgenommen. Grund genug, ihnen einen BeNur such im Proberaum abzustatten.
drei Stimmen fehlen für den großen Sieg
Di nakht iz far dansing, heißt das Debütalbum. Die Nacht ist zum Tanzen da. Und das tut man bei den Haiducken am besten im Kreis – bei Vollmond um ein Lagerfeuer. So zu sehen auf dem Cover der neuen Scheibe. Die Releaseparty dürfte anders laufen: Am 9. Dezember feiern die Jungs im Jazzhaus, Feuer auf der Bühne gab’s dort noch nicht. Ob sie das trotzdem machen? „Klingt ziemlich nice, müsste man mit dem Jazzhaus abklären“, sagt Klarinettist Andreas Kinzelmann. Mit seinen Bandkollegen sitzt der 29-Jährige im Probe
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raum in der Schwarzwaldstraße. Es gibt Bier aus der Bügelflasche. Ein Nein des Jazzhauses zum Bühnenfeuer ist wahrscheinlich. Auch wenn die Betreiber den Haiducken gut gewogen sind. Beim Nachwuchscontest „Die Rampe“ im Sommer ist man auf die Gruppe aufmerk-
sam geworden. Nur knapp landeten die Haiducken auf Platz zwei. „Uns haben drei Publikumsstimmen gefehlt“, erinnert sich Gitarrist Mario Hamann. Ein paar Kumpel hätten das Voting knapp verpasst. Schwamm drüber. Dort Release zu feiern, finden sie großartig: „Die coolste Location der Stadt“, schwärmt Kinzelmann. Auch ohne Feuer soll das eine glühend heiße Party werden. Die Haiducken legen sich mächtig ins Zeug. Rund 80 Konzerte haben sie bisher gespielt, allein 30 waren es in diesem Jahr.
KLEZMER UND BALKAN Unter anderem beim ZMF, bei Freiburg Stimmt Ein und Rock am Bach. „An einem Wochenende hatten wir vier Shows“, erzählt Kinzelmann. Ein knackiges Jahr. Alle fünf haben Jobs, wuppen die Band nebenher. Seit einem Jahr arbeiten sie am Album. Und haben dafür weder Kosten noch Mühen gescheut? „Mühen nein, Kosten ja“, sagt Akkordeon-Spieler Jörg Reinhardt und lacht. In Handarbeit und mit viel Geschnipsel seien die Stücke aufgenommen und zusammengebaut worden. Das letzte Klarinetten-Solo war erst kurz vor der CD-Pressung im Kasten. Jetzt ist alles fertig? „Falsche Frage, nächste Frage“, sagen sie und grinsen. Nur eines ist sicher: Im Jazzhaus ist die Scheibe erhältlich. Einmalig für sechs statt zwölf Euro.
Der erste Schweißausbruch kommt beim fünften Song Aufgenommen haben sie es auch in einer Schwarzwaldhütte bei Furtwangen. Mit Decken und Handtüchern wurden Räume gedämmt. Unter anderem eine Besenkammer und ein WG-Zimmer mussten herhalten. Fünf Lieder waren geplant, zwölf sind es geworden. „Beim fünften kam mein erster Schweißausbruch“, scherzt Jörg Reinhardt, der für Aufnahme und Mix zuständig ist. „Ziemlich cool“, finden sie die Scheibe. Vier selbst komponierte Stücke sind drauf. Dazu acht traditionelle Lieder, die sie in ein neues Gewand packen. Bis zu 100 Jahre alt sind die Stücke, viele davon vom Klezmer-Musiker Naftule Brandwein. „Wir machen sie opulenter, moderner, tanzbarer“, sagt Kontrabassist Mutram Peters. Die eigenen Fassungen gefallen ihnen besser als das Original. Die Band ist ein Schmelztiegel, die Einflüsse vielfältig: Metal, Blasmusik, Klassik, Jazz. „Wir können Klezmer und Balkan gar nicht traditionell spielen“, sagt Mario Hamann. Dafür bauen sie Gimmicks in ihre Lieder ein. Auf dem Album sind ein Metal-Riff, Orgelakkorde, ein Didgeridoo und sogar ein Lineal zu hören. Die Melange bringt die Band virtuos auf einen Nenner, wie sie bei der Probe zeigen. Nur die Percussion fehlt an diesem Mittwochabend in den Räumen der Chor- und Orchestergesellschaft Orso. Denn Matthias „Matze“ Kombrink ist derzeit in Ecuador, sein senegalesischer Ersatzmann Beuz Thiombane an dem Abend krank. Der Energie tut das keinen Abbruch. Die Instrumentalstücke entfalten nach wenigen Augenblicken Wirkung, spätestens wenn Andreas Kinzelmann mit aller Kraft in seine Klarinette pustet. „Nach den Konzerten bin ich tot“, scherzt der Referendar. Grundsympathisch kommen die Musiker daher. Trotz ihres gefährlich klingenden Namens. Haiducken waren einst Gesetzlose, Wegelagerer, Plünderer. „Im 19. Jahrhundert hat sich das verändert, Haiducken standen für soziale Gerechtigkeit ein“, erklärt Kinzelmann. Es seien Freiheitskämpfer gewesen, die armen Menschen helfen. „Wir würden uns als die Robin Hoods des Balkan bezeichnen“, sagen sie. Kinzelmann ergänzt: „Gefährlich klingt höchstens die Klarinette.“
VERLOSUNG Für die Releaseparty am 9. Dezember im Jazzhaus verlosen wir unter allen Konzertbesuchern zwei Alben der Haiducken. Diese übergeben die Musiker persönlich am Abend der Show. Wer gewinnen will, schickt eine Mail mit dem Betreff „Haiducken“ und seinem vollen Namen an redaktion@chilli-freiburg.de. Einsendeschluss ist Mittwoch, 6. Dezember. Die Gewinner werden am Tag drauf bis 12 Uhr per Mail benachrichtigt.
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e n g a a n r F ... 4 ... Arne Bicker
PRINZ PI
WE ARE AUST
Keine Liebe Records
RAR marketed by Motor Entertainment
NICHTS WAR UMSONST
WE ARE AUST
Foto: © tln
„BLUES IST ÜBERALL“
Liebe, Hoffnung, Träume
Zwischen Mystik und Natur
Seit einem Jahr ist das „Bluesclubradio“ On Air. Der Freiburger Journalist und Hobby-Drummer Arne Bicker (53) bietet mit der Sendung Musik, Interviews und Veranstaltungstipps. Zu hören ist sie donnerstags bei Radio Dreyeckland (RDL) auf 102,3 MHz und danach sieben Tage online über die Mediathek. Im Interview mit Till Neumann erzählt Bicker, warum Blues happy macht.
(Anton Moser). Prinz Pi ist zurück. Das Intro von „Nichts war umsonst“ knistert melancholisch, Geigen tragen die Stimme des Berliner Rappers in einen neuen Tag: lauter Wecker, schlechte News in der Zeitung, grauer Alltag. Doch Prinz Pi rappt vom Sandstrand und schon fühlt man sich wie auf Gran Canaria – im Novemberregen. Es folgt ein Liebeslied, nicht das Einzige: In „Original“, „Liebe des Lebens“ und „Vielleicht“ beweist Friedrich Kautz, warum ihn viele Frauen feiern. Doch die Platte kann mehr, der Prinz gibt viel Persönliches preis. Beispielsweise in „Meine Welt“. Er rappt von seinen Kindern, den Hatern, Kreuzberg, weggezogenen und gestorbenen Freunden. „Zahlen zählen nicht“ ist eine Ode an Hoffnung und Optimismus. Trotz „Trump-Sieg, Finanz-Krieg, Klimakatastrophe“. Gerade darin unterscheidet sich Prinz Pi von anderen schwarzmalenden Depri-Rappern. Doch vier Liebeslieder und ein Mark-Forster- Feature sind zu viel. Das Album überzeugt dennoch: Die Tracks schaffen Bilder, wecken Erinnerungen. In „Für Immer“ geht es um die Loyalität. Und darum, immer alles zu geben. „Was ist von unseren Träumen übrig geblieben? 100 Prozent wir haben nicht übertrieben“, singt er. 100 Prozent stecken auch im „Nichts war umsonst“. Ein paar davon sind Pop.
(Jasmin Bergmann). Treibende Drums, wirre Klänge, eine eindringliche Frauenstimme: Die Berliner Band We Are Aust überrascht auf ihrem gleichnamigen Debütalbum mit einem Stilmix: Natur trifft Stadt. Dunkelheit trifft Licht. Pop trifft Elektro und Klassik. Die verwegene Gruppe möchte Freiheit und Wildnis vermitteln. Wild sind die Songs auf jeden Fall – manchmal fast zu verrückt. Gluckser, Blubberblasen und Vogel-Gekrächze ertönen im Hintergrund. Bei „Giants“ glaubt man, Affen kreischen zu hören. Das Album macht Laune. Manchmal fühlt man sich, als würde man auf einer Klippe stehen. Umgeben vom rauschenden Meer und dem peitschenden Wind. Die neun Tracks haben Wiedererkennungswert. Eine Mischung aus Seeed und Mozart. Mit dem Genre Downbeat und Pop. „Someday Soon“ und „Runner“ wirken sinnlicher und melancholischer als die anderen Lieder. Olivia singt mit weicher Stimme, die Hintergrundgeräusche sind gezügelter. Ihre Stimme ist angenehm und klar, dennoch herb. Sie klingt weitreichend, als würde die Sängerin auf einem Berg stehen. Das verleiht der sonst oft stampfenden Musik Sinnlichkeit. Die Band versteht sich als Kunstprojekt: Abgesehen von Olivia tragen die Bandmitglieder Masken. So auch im Video zur Single Wild River.
Arne, wie kam’s zu der Sendung? Der Bluesmusiker Tino Gonzales meinte zu mir: Du bist Radioprofi und magst Blues – mach doch eine Sendung! Das funktioniert nur online, dachte ich mir, dann hat sich der Sendeplatz bei RDL ergeben. Ich hatte, was ich wollte: Ein Programm On Air, das man auch online weltweit downloaden kann. Bei dir läuft, ich zitiere dich, „geiler Scheiß“ ... Ja (grinst). Es gibt das Vorurteil, dass Blues traurige Musik für geistige Baumwollpflücker ist. Das stimmt gar nicht! Ich höre die Musik seit ich 16 bin. Guter Blues macht mich fröhlich. Im Räng Teng Teng tanzen 20-Jährige dazu, ohne zu wissen, dass es Blues ist. Der Blues ist einfach überall. Wie entdeckst du die Musik für deine Sendung? Ich bekomme CDs geschickt, finde aber auch Songs nebenbei: Im letzten Stuttgart-Tatort lief ein cooles Lied. Beim Penny-Einkauf habe ich was an der Kühltruhe gehört. Oder ich bin auf YouTube auf Blues aus Chile gestoßen und habe dann dazu eine Sondersendung gemacht. Verdienst du damit was? Nein, ich mache das ehrenamtlich. Es wäre schön, wenn auch größere Sender das Programm spielen. 58 CHILLI CULTUR.ZEIT NOVEMBER 2017
JULIAN PHILIPP DAVID
MANFRED GROOVE
Vertigo Berlin
Rummelplatzmusik
DÉJÀ VU (EP)
BLUMEN AUS WACHS
DER SOUNDDRECK ... ... zum Lars HEADLINE Viele haben etwas gegen Lars. Verbrechen gegen Lars grassieren seit Jahrzehnten wie Ausschlag in unserer Kriminalstatistik. Das Opfer: Ein konkreter Lars? Wohl kaum. Es stellt sich in der Gesamtheit wohl eher so dar, dass der Lars im Allgemeinen in die Opferrolle geraten ist. „Lars vom Mars“, Urheber J. von der Lippe, fand sich ebenso bei uns auf der Fahndungsliste wie der Minecraft-Klassiker „Lied gegen Lars“ von Arazuhl. Viele weitere folgten.
Fließende Grenzen
Endlos und ungehobelt
(Till Neumann). Julian Philipp David geht seinen Weg: Der in Au bei Freiburg aufgewachsene Rapper hat nach seiner Erfolgs-EP „Herbst“ vom vergangenen Jahr nachgelegt. Sein zweites Mini-Album heißt „Déjà Vu“. Auf fünf fein instrumentierten Beats rappt und singt er von großen Gefühlen und kleinen Alltagsproblemen. Die erste Single „Solange er schreibt“ entführt in Julian Schwizlers Kindheit. Er erzählt von knallenden Türen im Elternhaus und Partys, zu denen er nicht eingeladen wurde. Doch das Schreiben rückt seine Welt wieder gerade, heißt es im Refrain. Texten kann Julian Philipp David zweifelsohne. Nicht ohne Grund hat ihn Universal unter Vertrag genommen. Seine unverwechselbar- heisere Stimme nutzt der Mannheimer Pop-Akademie-Student auch für Gesangseinlagen: Im Liebeslied „Elena“ singt er von toter Liebe, die noch lebt. Songwriter-Rap nennt Julian seine Musik mittlerweile. Die Grenzen sind fließend, er beherrscht beide Genres. Und wird auch politisch: Im energiegeladenen Track „Sirenen“ warnt er vor braunem Gedankengut. „Ist das noch Rap?“, fragt er sich im nachdenklichen Interlude „Where is my Mind“. Ob ja oder nein, wer Sprechgesang und deutsche Songwriter mag, wird Déjà Vu feiern.
(Till Neumann). Augenzwinkernd, sprachverliebt, facettenreich: Das Hip-Hop-Duo Manfred Groove legt sein zweites Album vor. 20 Tracks haben Rapper Milf Anderson und Produzent YellowCookies draufgepackt. Und die sind nicht nur was für Rapfans der alten Schule. Detailverliebte Kopfnickbeats treffen auf den endlos über alles und nichts philosophierenden Reimer mit Hang zur verkappten Pointe. Die Gedankengänge sind wirr und erhellend zugleich. Milf Anderson rappt über sich („Wir haben Eier wie der Mond“), die Welt („Suche nach Lösungen, finde ein Problem“) und unwiderstehliche Frauen („Babe, ich spiel dich wie ein Cello“). Die zwei machen „HipHop für Erwachsene“, nicht immer jugendfrei. Ungehobelt erzählt „Manni“ von Hoden, Bitches und Fäkalien – oft süffisant sarkastisch. Auf die Spitze treibt er das in „Das Schwein“ mit Gastrapper T der Bär. In Battle-Manier nehmen die beiden auf einem bleischweren Synthie-Beat kein Blatt vor den Mund. Tiefschürfender kommt „Hier ist er nicht“ daher. Anderson erzählt eine Geschichte zwischen Glaube und Abgrund. Ohne Happy End. Witzig ist die Platte dennoch. Für Fans des ironisch-ungeschminkten Raps was zum Zuhören, Grinsen, Kopfnicken.
Und jetzt. Eine weitere Attacke gegen Lars: „Wer trinkt ein ganzes Partyfass auf ex, das ist Lars, Wer rechnet in seinem Kopf die letzte Stelle von Pi, das ist Lars, Er ist der Boss und sieht verdammt gut aus!“ Gewissenlos: Satzmaß? Reim? Fehlanzeige. Versetzen Sie sich in die Rolle von einem Lars. Auch vor intimen Details gibt es kein Halten: „Lieber Lars, das ist Dein Lied, ja nur Dein Lied, Denn Du hast das längste, das längste Pferd“ Versetzen Sie sich bitte mal in die Rolle von einem Lars. Kaum zu glauben, dass es hierzu ein Bekennervideo gibt. Die Heideboys reklamieren das Lied für sich. Hintergrund ist eine Playback-Elvis-90er-Technomischung, welche das Bild vervollständigt. „Lieber Lars, das Original, phänomenal, Dein Intellekt, einfach genital. Wer holt die Ladys mit seinem Lasso ran? Das ist ...“ Das ersparen wir Lars. Den Boys wird es wenig nutzen, wenn sie sich in der Heide verstecken. Wenn es gegen Lars geht, sind wir hart.
Star wars? Nein Lars war’s. Für Ihre Geschmackspolizei, Benno Burgey
KINO
Der Don Quijote unter den versehrten Helden GRAND CORPS MALADES BEWEGENDE ODE AN DAS LEBEN von Michaela Moser
Lieber Leben Frankreich 2016 Regie: Fabien Marsaud alias Grand Corps Malade, Mehdi Idir Mit: Pablo Pauly, Moussa Mansaly, Franck Falise u.a. Verleih: Neue Visionen Filmverleih Laufzeit: 111 Minuten Start: 14. Dezember 2017
E
in Unfall verändert Bens Leben. Er kann sich nicht mehr bewegen und blickt von unten auf seine Umwelt. 245 Miniaturquadrate sind das Erste, was Ben an seiner Zimmerdecke wahrnimmt. Sein Blick starrt auf die Halogenlampe über ihm, die die winzigen Lichtquadrate aussendet. Er befindet sich bereits seit einem Monat auf der Intensivstation – bewegungslos. Nur langsam erwacht ein Hauch von Leben in ihm. Ben ist fast vollständig gelähmt, doch er kämpft tapfer gegen seinen hoffnungslosen Zustand und kann nach einiger Zeit wieder seinen linken großen Zeh bewegen. Daraufhin wird er in ein Reha-Zentrum gebracht wo die Geschichte seiner Heilung beginnt.
Fotos: © Neue Visionen
Ben hat jede Menge Pläne und einen ansteckenden Sinn für Humor. Auch Farid hatte einiges vor, bevor er vor vier Jahren durch einen Unfall im Rollstuhl landete. Die beiden begegnen sich im Reha-Zentrum, nachdem Ben sich einen Halswirbel gebrochen hat, durch einen „Köpfer“ ins fast wasserlose Schwimmbecken. Eine lebenslange Behinderung wird ihm prognostiziert – Farid hat sich mit seinem Schicksal schon abgefunden. Ob telefonieren, pinkeln oder essen, nichts geht bei Ben mehr ohne die schusselige Schwester Christia-
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ne und den stets bestens gelaunten Pfleger Jean-Marie. Trotz seiner Verfassung will Ben nicht aufgeben, er reißt beharrlich Witze über die Stationspsychologin und den Blasenkatheter. Ben trifft auch auf die Patienten Toussaint und Steve, die mittels Sarkasmus gelernt haben, das Unglück einfach auszulachen. Dann ist da noch Samir, der seit seinem Unfall kein Erinnerungsvermögen mehr hat und den ganzen Tag nur noch Bob Marley hört, und die bildhübsche, an den Rollstuhl gefesselte Samia, in die Ben sich sofort verliebt. Sie sind eine Truppe voller Knallköpfe und Kämpfer – versehrte Helden, die gemeinsam der Verzweiflung aus dem Weg gehen und jeden Millimeter Bewegung feiern. Auf unverblümte Weise, ohne Pathos, erzählt der Poetry-Slammer Grand Corp Malade, unterstützt von Mehdi Idir, seine eigene Geschichte. „Lieber Leben“ ist eine großartige Verfilmung einer wahren Geschichte. Ohne jede Spur von Sentimentalismus, dafür mit einer ordentlichen Portion an Galgenhumor nimmt uns „Lieber Leben“ mit in die Welt des großen Glücks. Am 8.11. erhielt „Patiens (Lieber Leben)“ den mit 21.000 Euro dotierten Verleihförderpreis, gestiftet von der MFG Filmförderung Baden-Württemberg, Uni france und dem Deutsch-französischen Jugendwerk.
KINO
Frankreich 2016 Regie: Thomas Kruithof Mit: François Cluzet, Denis Podalydès, Alba Rohrwacher u.a. Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 90 Minuten Start: 23.11.2017
Deutschland 2017 Regie: Oliver Kienle Mit: Frida-Lovisa Hamann, Friederike Becht, Christoph Letkowski u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 94 Minuten Start: 30.11.2017
ALTE JUNGS
Foto: © Camino
DIE VIERHÄNDIGE
Foto: © Camino
Foto: © temperclayfilm
OPERATION DUVAL
Luxemburg 2017 Regie: Andy Bausch Mit: André Jung, Marco Lorenzini u.a. Verleih: Camino Laufzeit: 107 Minuten Start: 4.1.2018
An der Schreibmaschine
Frau mit zwei Gesichtern
Aufstand im Altenheim
(ewei). Duval ist gewissenhaft. Zu gewissenhaft: Als der brave Buchhalter kurz vor Feierabend von seinem Chef noch einen Auftrag bekommt, kann er ihn wegen der von anderen verursachten Unordnung der zur Umsetzung benötigten Dokumente nicht zu seiner Zufriedenheit erledigen und erleidet einen Nervenzusammenbruch. Der freilich auch seinem Alkoholproblem geschuldet ist. Zwei Jahre später ist Duval wieder stabil. Und trocken. Doch er hat keinen Job – und mangels Referenzen wenig Aussicht, einen zu bekommen. Zumal er auch nicht mehr der Jüngste ist. Da kommt ihm das über einen Jugendfreund vermittelte Angebot eines dubiosen Mannes gerade recht: Er soll aufgezeichnete Gespräche abhören und sie auf einer altmodischen Schreibmaschine verschriftlichen. Duval erledigt dies mit der üblichen gewissenhaften Routine. Bis er auf ein brisantes Abhör-Protokoll stößt. Und vergeblich auszusteigen versucht. Spannender Polit-Thriller um Macht, Manipulation und Geheimdienste.
(ewei). Horror pur: Zwei kleine Mädchen sitzen am Piano, üben vierhändig eine schwierige Partitur. Plötzlich dringen bewaffnete Fremde in das Haus, töten vor den inzwischen unter dem Sofa verborgenen Schwestern die Eltern – und verschwinden wieder. Jessica, die ältere, verspricht Sophie, der talentierteren, immer auf sie aufzupassen. Das tut sie auch 20 Jahre später noch. Die beiden leben weiterhin im Haus der Eltern; Sophie will Pianistin werden und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung am Konservatorium vor, Jessica sorgt für sie. Besser gesagt: Sie macht sie zum Gegenstand ihres wahnhaften Kontrollzwangs, lässt ihr in ihrem Kampf gegen die angeblich allenthalben lauernden Gefahren keine Luft zum Atmen. Als dann auch noch die Elternmörder aus der Haft entlassen werden, kommt es in der Aufregung zu einem Unfall, den nur eine der Schwestern überlebt. Dennoch geistern weiterhin zwei Frauen herum. Oder doch nur eine – mit zwei Gesichtern und ohne Erinnerung?
(ewei). Jahrzehntelang haben sie, soweit es eben ging, ein freies, selbstbestimmtes Leben gelebt, haben nur die nötigsten Zugeständnisse an gesellschaftliche Normen gemacht – und es dennoch zu etwas gebracht. Hatten: Für Fons, Lull, Jängi und Nuckes, einst Familienväter und im Berufsleben durchaus erfolgreich, ist nicht mehr viel übrig von der Autonomie, die sie sich aufgebaut hatten und die erwachsene Menschen eigentlich ausmacht. Doch sie sind zu erwachsen. Oder eher: zu alt, um noch zu den selbstständig denkenden, entscheidenden und handelnden Menschen gezählt und als solche wahrgenommen zu werden. Sie fristen ihr Dasein im Altenheim, werden dort wie Kinder behandelt, sollen auf Tabak, Wein, Sex und andere Genüsse verzichten, dürfen nicht einmal beim Essen ihre Vorlieben äußern. Das will das eigenwillige, trotz mancher Beschwerden muntere Quartett nicht länger hinnehmen und sinnt auf Ausbruch, auf die Gründung einer autonomen WG. Ein hinreißend querköpfiger Film.
KINO
Jenseits vom Mainstream SEIT ELF JAHREN WIRD DAS KOMMUNALE KINO FÜR SEIN JAHRES PROGRAMM AUSGEZEICHNET
I
von Erika Weisser
Kommunales Kino im alten Wiehrebahnhof Urachstraße 40 79102 Freiburg 07 61/4 59 80 00 kino@koki-freiburg.de www.koki-freiburg.de
Sonntag, 19.11.2017, 19.30 Uhr: „Bilder finden“ Ein Film über den galizischen Künstler Bruno Schulz, der 1942 von den Nazis ermordet wurde. Er wird an diesem Tag weltweit in 100 Kinos und in mehreren Sprachen gezeigt.
m Kommunalen Kino gibt es Filmkunst und außergewöhnliche Filmformate, die man nirgendwo anders in Freiburg zu sehen bekommt“, sagt Geschäftsführerin Neriman Bayram. Und sie hat recht: Wo gibt es schon Vorführungen, bei denen die Zuschauer, bis auf ein paar Pausen, 12 Stunden am Stück in Kinosesseln sitzen, dennoch gebannt dem Geschehen auf der Leinwand folgen – und die Zeit vergessen? Die experimentierfreudigen Cineasten von der Programmkommission des kleinen Filmtheaters im alten Wiehrebahnhof haben im Juli 2016 mit „Chamissos Schatten“ einen solchen Versuch gewagt – und gewonnen: Das Kino war voll an dem Sonntag, als Ulrike Ottingers poetische Filmreise lief – selbst beim anschließenden Gespräch mit der berühmten Filmemacherin und Künstlerin. Solche Filmgespräche und spartenübergreifende Programme mit Ausstellungen, Workshops, Lesungen, Symposien und Performances sind fester Bestandteil dieses einzigen nichtkommerziellen Kinos in Freiburg. Kuratierte Filmreihen, Werke der deutschen und internationalen Filmgeschichte, Weltkino, Werkschauen, Kinderkino mit Begleitprogrammen, transkulturelle Projekte, Produktionen von Freiburger Filmemachern, Experimentalfilme, und vielfältige Kooperationen in der Stadt, Stummfilmkonzerte und das international beachtete Filmfestival „freiburger film forum“ gehören ebenfalls zum Profil. Für die Übereinstimmung von Profil und Programm ist ein ambitioniertes, aus sechs hauptamtlichen, zehn ehrenamtlichen und mehreren freien Mitarbeitern bestehendes Team zuständig. Sie alle seien, freut sich Bayram, nicht nur mit hoher Kompetenz, sondern auch „mit viel Herz, Engagement und Enthusiasmus dabei“, auch wenn „die intensive Arbeit manchmal an unsere Grenzen geht“. Das Ergebnis dieser Arbeit kann sich indessen sehen lassen. Und preisen: Anfang
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November wurde den Kinomachern für ihr Jahresprogramm von 2016 der jährlich „für herausragende Programme und kontinuierliches Engagement für eine anspruchsvolle Kinokultur in Deutschland“ vergebene Kinopreis des Kinematheksverbundes und des Bundesverbandes Kommunaler Filmarbeit verliehen. Nicht zum ersten Mal: Seit der ersten Auszeichnung für das Jahresprogramm von 2005 ging jedes Jahr ein Preis an das Kommunale Kino. Foto: © KoKi
Das KoKi-Programm-Team freut sich über den Kinopreis (v.l.n.r.: Johanna Metier, Neriman Bayram, Rita Baukrowitz und Florian Fromm).
Dies, betont Neriman Bayram, bedeute jedoch nicht, dass es sich bei der Preisvergabe um einen „Selbstläufer“ handle: „Die Preiswürdigkeit muss jedes Jahr neu erarbeitet werden – durch konstante Qualität auf hohem Niveau.“ Sie müsse sich außerdem vor der Konkurrenz beweisen: Im Bundesverband seien mehr als 140 Kommunale Kinos, nicht gewerbliche Film-Initiativen und studentische Film-Clubs vertreten und viele von ihnen nähmen, wenn auch nicht regelmäßig, an der Ausschreibung des Kinopreises teil. Es habe also schon eine besondere Bedeutung, jedes Jahr unter den Gewinnern zu sein. Sie betrachtet dies auch als Auftrag: Das Kommunale Kino, das „ästhetischen Wagemut mit politischer Relevanz verbindet“, solle bleiben, was es in den 44 Jahren seiner Existenz war: ein weltoffenes Kino für alle.
DVD
KINO FILMTIPPS
USA 2016 Regie: Mike Mills Mit: Annette Bening, Lucas Jade Zumann, Greta Gerwig u.a. Verleih: splendid film Laufzeit: 114 Minuten Preis: 13 Euro
DER JUNGE KARL MARX Frankreich/ Deutschland 2016 Regie: Raoul Peck Mit: August Diel, Vicky Krieps u.a. Verleih: good!movies Laufzeit: 118 Minuten Preis: 14 Euro
In der Zwickmühle
Kein Gespenst geht um
(ewei). Jamie hat es nicht leicht: Der spätpubertierende Junge muss sich nicht nur gegen seine energische und gleichermaßen überbesorgte wie übertolerante alleinerziehende Mutter behaupten, sondern auch gegen zwei jüngere Frauen, die sich die selbstgewisse Mittfünfzigerin zur ihrer Unterstützung und unter Vortäuschung einer offenen Hausgemeinschaft ins Eigenheim geholt hat. Da er sich in die jüngere, ziemlich bockige Mitbewohnerin verliebt, gerät er bald in eine Zwickmühle.
(ewei). Es sind nur vier Jahre aus dem Leben von Karl Marx, die der haitianische Regisseur Raoul Peck in diesem Film nachzeichnet. Doch für den Lebensweg des damals 24-jährigen Philosophen waren es wohl die wesentlichen Jahre. Nicht nur weil er, im Exil in Frankreich lebend, zwischen 1844 und 1848 zweimal Vater wird. Sondern auch, weil seine gesellschaftspolitischen Ideen in der Auseinandersetzung mit Friedrich Engels zur Begründung einer neuen und komplexen Weltanschauung führen.
DIE ERFINDUNG DER WAHRHEIT USA 2016 Regie: John Madden Mit: Jessica Chastain, Mark Strong u.a. Verleih: Universum Film Laufzeit: 132 Minuten Preis: 13 Euro
SMALL TOWN KILLERS Dänemark 2017 Regie: Ole Bornedal Mit: Ulrich Thomsen, Nicolas Bro u.a. Verleih: dcm Laufzeit: 90 Minuten Preis: 13 Euro
Eiskalte Lobbyistin
Schnapsidee mit Folgen
(ewei). Elizabeth Sloane ist Lobbyistin der Extraklasse. Sie beherrscht jeden Trick des Gewerbes, manipuliert die öffentliche Meinung wie keine Zweite, kann damit Gesetzesvorhaben durchbringen oder kippen. Nun steht sie vor einer Herkulesaufgabe: Sie soll verhindern, dass der Kongress ein Gesetz für strengere Waffengesetze verabschiedet. Ihr Auftraggeber Rudolfo Schmidt ist fasziniert von ihren Fähigkeiten – und entsetzt über die Skrupellosigkeit, mit der sie vorgeht.
(ewei). Ib und Edward geht es eigentlich ganz gut: Ihre Handwerksbetriebe in der dänischen Provinz florieren; bei ihren gelegentlichen Kneipentouren müssen sie nicht auf den Cent schauen. Alles läuft bestens – bis auf das Zusammenleben mit ihren Ehefrauen, die ihrer überdrüssig zu sein scheinen. Das wäre nicht so schlimm, das sind sie ja auch. Doch die Frauen wollen die Scheidung – und Unterhaltszahlungen. Da kommen sie auf die Schnaps-Idee, dass ein Killer doch billiger sei ...
voll von der Rolle Foto: © chilli Freiburg
JAHRHUNDERTFRAUEN
Gegner von Waffenexporten: Jürgen Gräslin
Illegale Waffengeschäfte (ewei). Vor zwei Jahren besprachen wir an dieser Stelle die DVD-Veröffentlichung von Daniel Harrichs Spielfilm „Meister des Todes“. Der Real-Thriller war im Herbst 2015 mit der Dokumentation „Tödliche Exporte – wie das G36 nach Mexiko kam“ bei einem ARD-Themenabend ausgestrahlt worden. Es geht darin um illegale Lieferungen von Sturmgewehren des Oberndorfer Waffenherstellers Heckler & Koch in mexikanische Unruhe-Gebiete, die nach den geltenden Ausfuhrbestimmungen zu den gesperrten Provinzen gehören. Er behandelt auch die Verstrickungen der Behörden in das illegale Waffen geschäft – und den Umgang mit Aussteigern. Berater und Rechercheur des Münchner Filmemachers war der Freiburger Friedensaktivist Jürgen Grässlin, der im Film – bis auf zwei kurze Auftritte in persona – von August Zirner verkörpert wird. Seit 30 Jahren beschäftigt er sich mit den Machenschaften der Waffenschmiede am Rand des Schwarzwalds; wegen des Verdachts auf Verstöße gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz und das Außenwirtschaftsgesetz hat er seit 2010 mehrere Strafanzeigen gegen das Unternehmen gestellt. Zu einem Verfahren kam es bisher nicht, obwohl die Staats anwaltschaft Stuttgart im Herbst 2015 beim dortigen Landgericht Anklage erhoben hat. Grässlin gibt indessen die Hoffnung nicht auf, dass er „den Prozess noch erlebt“. Einstweilen freut sich der 60-Jährige über den von Amnesty International verliehenen „Marler Medienpreis Menschenrechte“, den Daniel Harrich und er im Oktober für „Meister des Todes“ erhielten – nach dem Grimme-Preis im Sommer 2016. Im Rahmen der Freiburger Friedenswochen spricht Jürgen Grässlin zum Thema: „Rüstungsexport ist oft Beihilfe zu Menschenrechtsverletzungen und Mord“: Dienstag, 28. 11., 19 Uhr, Uni Freiburg, HS 1221, KG I
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LITERATUR
Ziviler Ungehorsam NEUES BUCH ÜBER WIDERSTANDSBIOGRAFIEN IM SÜDWESTEN
von Erika Weisser
Mut bewiesen. Widerstandsbiografien aus dem Südwesten von Angela Borgstedt, Sibylle Thelen, Reinhold Weber (Hrsg.) W. Kohlhammer 2017 526 Seiten, Broschur Preis: 6,50 Euro zzgl. 3 Euro Versand www.lpb-bw.de/publikation3300
Die Herausgeber des Buches werfen die Frage auf, ob dem Begriff des Widerstands außer aktivem Handeln auch eine unangepasste Haltung zuzuordnen, ob schon die Entscheidung, nicht mitzutun, widerständig sei. Angesichts der immer enger werdenden Handlungsspielräume in der etablierten Misstrauensgesellschaft folgern sie, dass dies ein bedenkenswerter Ansatz sei: Allein die Weigerung, sich im Mainstream mittreiben zu lassen, erforderte Mut. Und bestärkte andere Verweigerer in ihrem Verhalten. Dieser Argumentation folgend, wird nachvollziehbar, dass nicht nur Menschen wie Heinrich Bollinger vorgestellt, dass bei den Widerständigen aus dem Freiburger Raum weder Gertrud Luckner noch Stefan Meier erwähnt werden. Dafür ist die Rede von den „Stenzen von Herdern“, einer zur lokalen Swingjugendszene gehörige Gruppe, deren Mitglieder weiße Schals und längere Haare als normüblich trugen – und zusammen über verbotene ausländische Rundfunksender heimlich Jazz- und andere als entartet verpönte Musik hörten. Oder auch selbst spielten, wie etwa der Schüler Rudi Schmaltz. Ein Beitrag setzt sich mit der Rolle des Schriftstellers Reinhold Schneider auseinander, den die Diktatur in die „innere Emigration“ zwang. Der tiefgläubige Ka-
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tholik, der sich eine religiös begründete Dis tanz zu der herrschenden Ideologie und Politik bewahrte, wird zu den Verteidigern geistiger Freiräume gezählt: Seine 1938 erschienene Erzählung „Las Casas vor Karl V.“ lasse sich, schreibt Angela Borgstedt, „als Kritik an der NS-Judenpolitik lesen“ und sei somit als Akt des Zuwiderhandelns zu werten, der ausgestrahlt habe. Foto: © Erika Weisser
I
m Rieselfeld gibt es einen Geschwister- Scholl-Platz. Der Innenhof der Freiburger Universität heißt Platz der Weißen Rose. Und auch im Freiburger Osten gibt es jetzt einen Ort der Erinnerung an einen jungen Akademiker, der hier zum Umfeld der in München agierenden studentischen Widerstandsgruppe gegen das NS-Terrorregime gehörte: Heinrich Bollinger. Er wohnte in der Schwarzwaldstraße 98, wo unlängst ein Stolperstein verlegt wurde. In den jüngst von der Landeszentrale für politische Bildung veröffentlichten Widerstandsbiogra fien aus dem Südwesten wird er als „Kopf der Weißen Rose in Freiburg“ bezeichnet.
Der Kölner Künstler Gunter Demnig bei der Ver legung eines Stolpersteins in Freiburg.
Die Lektüre der Werke Reinhold Schneiders gehörte zum Leseprogramm der Mitglieder der „Weißen Rose“. Doch nicht nur darüber kam Heinrich Bollinger mit ihm in Berührung: Nach Erkenntnissen des Freiburger Historikers Hugo Ott, der den späteren Psychologie-Professor persönlich kannte, trafen sie (und Walter Dirks) sich wiederholt bei einer „Altargemeinschaft für aufgeschlossene Katholiken“ in der direkt neben Bollingers Wohnhaus gelegenen St.-Carolus-Kapelle. Bis Bollinger 1943 als „Volksschädling“ ins Zuchthaus kam. Und ihm sein im Jahr zuvor erworbener Philosophie-Doktortitel aberkannt wurde.
FREZI
THE GIRL BEFORE
von JP Delaney Verlag: Penguin Verlag, 2017 400 Seiten, broschiert Preis: 13 Euro
UNDERGROUND RAILROAD
von Colson Whitehead Verlag: Hanser, 2017 352 Seiten, gebunden Preis: 24 Euro
JENSEITS VON BOLLENHUT UND KUCKUCKSUHR
von Gabriele Hennicke Verlag: Rombach, 2017 128 Seiten, broschiert Preis: 14,90 Euro
Big Brother
Kein Ende in Sicht
Was die Menschen antreibt
(Tanja Senn). Ein hochmodernes Traumhaus mitten in London und das auch noch zu einem moderaten Mietpreis. Jane kann ihr Glück kaum fassen. Doch natürlich gibt es einen Haken. Der Architekt und Besitzer des Hauses hat für seine Mieter mehr als 200 strenge Regeln festgelegt: keine Bücher, keine Bilder, keine Zimmerpflanzen. Stets muss perfekt aufgeräumt sein und der Mieter ist verpflichtet, seine persönlichen Daten regelmäßig ins Intranet einzupflegen. Als wäre das nicht genug, erfährt Jane auch noch, dass ihre Vormieterin Emma in dem Haus gestorben ist. Die Erzählung springt in zwei Strängen zwischen den Frauen hin und her. So wird schnell deutlich, dass Emma und Jane ein sehr ähnliches Leben führen – bestimmt von einem intelligenten Haus, das seine Bewohnerinnen überwacht. Doch der eigentliche Reiz der Story liegt darin, dass der Leser seinen ersten Eindruck von den Frauen immer wieder revidieren muss. Denn immer wieder kommen dunkle Geheimnisse und durchtriebene Lügen ans Licht. Hier ist nichts so wie es scheint, stattdessen jagt eine überraschende Wendung die nächste. Was bleibt, ist die beklemmende Atmosphäre, die JP Delaney schon auf den ersten Seiten aufkommen lässt und meisterhaft aufrechterhält. Ein dynamischer Thriller mit Suchtpotenzial.
(Erika Weisser). Cora ist unterwegs nach Norden. Vom US-Südstaat Georgia aus durchquert sie das Land; sie braucht Wochen für die Reise mit ungewissem Ausgang. In der Gewissheit der Erinnerung, denkt sie an die Odyssee ihrer Großmutter Ajarry, die von Afrika nach Amerika gebracht wurde und bis zum Tod dort blieb. Sie denkt an ihre Mutter Mabel, die fortging, als Cora gerade zehn oder elf Jahre alt war. Dabei wollte sie nie mehr an sie denken: Cora hat Mabel nicht verziehen, dass sie sie bei ihrer Flucht von der Baumwollplantage allein und ohne jeden Schutz vor der dort herrschenden Willkür zurückließ. Doch nun ist die junge Frau selbst auf der Flucht: vor Knochenarbeit, Unterdrückung, Gewalt und Todesangst. Und vor den Sklavenjägern, die sie und andere Entflohene einfangen sollen, bevor sie die Nordstaaten erreichen, wo die Sklaverei bereits abgeschafft ist. Spannend und kenntnisreich verwebt Colson Whitehead die fiktiven Geschichten dieser drei Frauen mit der wirklichen Leidensgeschichte der Afroamerikaner. Er zeichnet sie als Geschichte des bis heute wirkenden Rassismus, aber auch des Widerstands, dessen Kern aus einem illegalen Netzwerk von Fluchthelfern besteht: die Underground Railroad.
(Dominik Bloedner). Dass der Bollenhut ursprünglich aus dem Raum Gutach stammt und derzeit eine vermeintlich entstaubte Renaissance bei Tourismusstrategen feiert, weiß man. Auch über die Schwarzwälder Kuckucksuhr, die Mitte des 18. Jahrhunderts vermutlich in Schönwald entworfen wurde und die derzeit, in modernem Gewand, wieder en vogue ist, ist bereits viel geschrieben worden in den zahlreichen Regioführern. Es sind fast immer die gleichen Geschichten. Umso erfrischender ist der Ansatz der in Münstertal lebenden freien Journalistin Gabriele Hennicke, die sich dem Schwarzwald von einer anderen Seite nähert. Sie beschreibt in 16 Kapiteln Tüftler, Pioniere und Originale und will herauskitzeln, was denn diese Menschen antreibt. Da ist zum Beispiel die Familie Riesterer aus dem Münstertal, die einmal im Jahr an Ostern den Kohlenmeiler in Brand entfachen. Damit setzen sie zum einen eine jahrhundertealte, nahezu verschwundene Tradition fort, zum anderen sind sie dem verstorbenen Vater nah, der einer der letzten Köhler war. Da ist weiterhin der Ökowinzer Heinrich Gretzmeier aus Merdingen, der Trüffel in seinen Weinbergen sucht und findet. Da ist auch der Landwirt Martin Braun aus Hinterzarten, der aus dem Rohstoff Molke eine eigene Kosmetiklinie entwickelt hat. Und da sind noch mehr. Man liest es und denkt, hoppla: Der Schwarzwald bietet mehr als ausgetretene Pfade.
Autorenlesung: Freitag, 1. Dezember, 20 Uhr im Peterhofkeller
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