chilli cultur.zeit

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HEFT NR. 8/17 7. JAHRGANG

Sternegucker

Brückenbauer

Komponisten

BESUCH IM PLANETARIUM

ELEKTRO-JAZZER JULIAN MAIER-HAUFF

FILMMUSIK FÜR DIE RUSSISCHEN KULTURTAGE


ASTRONOMIE

Sternegucker unter der Kuppel EIN BESUCH BEIM PLANETARIUMSCHEF THOMAS PRESPER

I

von Erika Weisser

m Freiburger Planetarium schauen jährlich knapp 50.000 Besucher in die Sterne. Allerdings nicht direkt: Das im Obergeschoss des Hauptbahnhof-Gebäudekomplexes untergebrachte visuelle Weltraum-Erforschungszentrum ist keine Sternwarte, in der die Himmelskörper bei ihren Bewegungen und wechselnden Konstellationen live beobachtet werden können. Die Kuppel ist und bleibt geschlossen; ein fein ausgeklügelter Zeiss-Projektor wirft die bewegten Bilder, mit denen die diversen galaktischen Phänomene verständlich gemacht werden, per Full-Dome-Technik an die halbrunde Decke. Seit 2002.

Drei aus dem engagierten Team: Leiter Thomas Presper, Kassenund Ordnungsfrau Janet Suryono und der Wissenschaftliche Mitarbeiter Martin Federspiel. Fotos: © Bernd Schumacher, Erika Weisser

In jenem Jahr ist das 1975 von Lehrern der damaligen Gewerbeschule II gegründete Planetarium in den Bahnhofs-Neubau gezogen. Und wurde von Otto Wöhrbach, der das Haus von 1983 bis 2016 leitete, zu einem virtuellen Natur-Erlebnisraum gemacht, der nicht nur bei Kindern und Schulklassen beliebt ist. Ein Drittel der Besucher, sagt Wöhrbachs Nachfolger Thomas Presper, seien Kinder. Durch spezifische, ständig weiterentwickelte Angebote finden auch Jugendliche und junge Erwachsene den Weg ins Planetarium: Oft, hat der 54-jährige Geowissen54 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2017

schaftler beobachtet, seien „beim abendlichen Hauptprogramm mehr als 100 Plätze besetzt“ – verfügbar sind 140. Besonders gut besucht sei nach wie vor die Präsentation „Sternenhimmel des Monats“, bei der ein Mitarbeiter des sechsköpfigen Teams per Live-Moderation das jeweils sichtbare Firmament samt zu erwartender Himmelsereignisse erläutert. Der Erfolg dieser Veranstaltung, die viele Freiburger regelmäßig besuchen, hat Presper schon vor seinem Amtsantritt im Juni 2016 dazu veranlasst, eine weitere Live-Moderation in das Repertoire aufzunehmen: Für das Familienprogramm am Samstagnachmittag entwickelte er eine Präsentation namens „Reise durch die Nacht“, in der nicht nur die aktuell sichtbaren Sternbilder und Planeten erklärt werden, sondern das Publikum auch entscheiden darf, welcher Planet bei dieser virtuellen Reise besucht und eingehender untersucht wird. Der gebürtige Mainzer, der „schon als Kind gerne Sterne guckte“ und als Dauergast bei der städtischen Sternwarte erste astronomische Forschungen betrieb, hat viel einschlägige Erfahrung nach Freiburg mitgebracht: Nach seinem Studium der Geowissenschaften mit Schwerpunkt Planetologie und Meteoritenforschung, der Promotion über die Zusammensetzung des kosmischen Staubs und Jobs in Hannover und den USA hat Presper 16 Jahre lang im Planetarium in Erkrath gearbeitet. Und „Gefallen an der Popularisierung der Wissenschaft gefunden“. Beim Freiburger Planetarium stehe die Wissensvermittlung, der Bildungscharakter im Vordergrund. Das habe ihn an dieser Stelle gereizt. Und das soll auch so bleiben. Hin und wieder gibt es aber auch ein Starprogramm: So liest am 19. Oktober der Freiburger Autor Dominic Lammert unter dem Sternenhimmel aus seinem Buch „Sinnzirkus“. Und am 23. November gibt die ebenfalls in Freiburg beheimatete Band „Arbre Noir“ ein Kuppel-Konzert mit sphärischen Soundscapes.


PREMIERE

Herzkammer der Literatur DAS LITERATURHAUS FEIERT SEINE ERÖFFNUNG

von Erika Weisser

D

as Literaturbüro wird zum Literaturhaus. Nach der jahrelangen Zwischenmiete im Dachgeschoss des Alten Wiehrebahnhofs sind Leiter Martin Bruch und seine Kolleginnen Katharina Knüppel und Birgit Güde nun in ein dauerhaftes Domizil im Erdgeschoss eines Gebäudes im Innenhof der Alten Universität umgezogen. Und freuen sich auf ihre Arbeit in der Stadtmitte, in „Freiburgs neuer Herzkammer für die Präsentation und Produktion zeitgenössischer Literatur“. Am 22. Oktober wird Eröffnung gefeiert – den ganzen Tag und mit großem Festprogramm. In die neue Herzkammer wurden insgesamt 750.000 Euro gepumpt.

Was lange währt ...: Nach jahrelanger Standortsuche und 18-monatigem Umbau startet das Foto: © Marc Doradzillo Literaturhaus mit einem fulminanten Festprogramm.

18 Monate lang dauerten die aufwendigen Umbauarbeiten, die aus dem früheren studentischen Theatersaal in der Alten Uni ein modernes Forum mit barrierefreiem Zugang und variabler Bühne machten. Mit Platz für 150 Stühle für die Besucher von Lesungen, Literaturgesprächen, Schreibwerkstätten und anderen Veranstaltungen. Das Freiburger Rathaus und die Uni bezahlten den nötigen Umbau mit jeweils 300.000 Euro, die Stadt bezuschusste zudem mit 65.000 Euro die Ausstattung, 85.000 Euro seien, erzählt Bruch, durch Einzelsponsoren, Firmenspenden und das „unermüdliche Engagement der Mitglieder des Förderkreises Literaturhaus Freiburg zusammengekommen“. Besonders an sie ist daher die „Einladung an die Waghalsigen“ gerichtet, die zum Eröffnungs-Sonntag des Literaturhauses ruft. Dieses Motto ist dem gleichnamigen De-

bütroman der Schweizer Autorin Dorothee Elminger entlehnt, die am frühen Fest-Abend ein Experiment wagt: die Verwandlung ihres Prosastücks in ein Live-Hörspiel. Im Anschluss daran eröffnet Kult-Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil mit seinen Überlegungen zu Ernest Hemingway die neu konzipierte Literaturhaus-Reihe „Hommage an einen Waghalsigen“. Und schließlich lädt die Freiburger Autorin Iris Wolff die „geheime Gesellschaft der Schlaflosen“ zur Dunkellesung aus ihrem aktuellen Buch „So tun, als ob es regnet“. In der Woche darauf geht es weiter mit einer hörbaren Buchpremiere, einem Manifest des Unvollendeten, einer literarischen Expedition mit 20 Freiburger Autoren und Übersetzern und dem ersten Freiburger Andruck im neuen Literaturhaus: Annette Pehnt liest aus ihrem soeben erschienenen „Lexikon der Liebe“.

Mehr als 30 Veranstaltungen haben Bruch, Güde und Knüppel noch bis zum Jahresende geplant, einige davon zusammen mit den neuen Nachbarn, der Universität, dem Theater, dem Carl-Schurz-Haus, dem Centre Culturel Français und auch dem Rathaus. Andere auch mit dem alten, dem Kommunalen Kino. Im Fokus steht indessen ein Ereignis, das es schon lange gibt, auf das sich das Team in diesem Jahr aber ganz besonders freut: Das 31. Freiburger Literaturgespräch (Motto: „Das Blaue vom Himmel“) steigt vom 9. bis 12. November zum ersten Mal in den eigenen Räumen. Zwar wird dieses älteste Literaturfest des Landes wie immer im Rathaus eröffnet, doch dann gehen die Teilnehmer gemeinsam die paar Schritte bis zum Literaturhaus, wo alle weiteren Veranstaltungen über die Bühne gehen. Ein ambitioniertes Programm für die Literaturhaus-Macher. www.literaturhaus-freiburg.de OKTOBER 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 55


MUSIK

Brückenbauer JAZZ-TROMPETER UND ELEKTRO-PRODUZENT: JULIAN MAIER-HAUFF LEGT SEIN ERSTES ALBUM VOR

M

von Till Neumann

al spielt er mit einem Orchester, mal in Debütalbum ist gerade erschienen. Doch einem Techno-Schuppen: Der gebürtige einen Gang zurückschalten will er nicht. Lahrer Julian Maier-Hauff wandelt zwi- Seine Platte hat er kürzlich in einer Nachtschen den Welten – und legt sie zusam- schicht neu abgemischt, der Sound war men. Jazz trifft Elektronik, Instrument trifft ihm nicht gut genug. „Picasso hat auch Synthesizer, Spontaneität trifft Moment- nicht gesagt: So, jetzt ist Nacht, ich höre aufnahme. Auf der Bühne baut er sich da- auf “, sagt Maier-Hauff. An der Popakademie Mannheim stufür eine Technik-Kanzel, die aussieht wie das Cockpit eines Raumschiffs: Rund 20 dierte er Jazz-Trompete – und lernte zu Geräte und sieben Instrumente umgeben improvisieren. Sein Instrument war erst den 25-Jährigen, der gerade von Freiburg Ausgleich für ihn, dann engte ihn das nach Mannheim gezogen ist. Seine Musik entsteht im Mo- „Null Prozent sind vorbereitet“ ment, sie zu konservieren ist – nicht einmal fürs Album nicht sein Ding. Dennoch hat er ein Album gemacht. Bis zu zwölf Stunden sitzt Maier-Hauff täglich an seinen Geräten. Probiert neue Grooves, spielt Sounds mit dem Rhodes Piano oder einem Flügelhorn ein, bearbeitet sie. „Das ist schon ein Freakding, aber nur so kann Großes entstehen“, sagt der Popakademie-Student. Dabei könnte er sich aktuell eigentlich etwas zurücklehnen: Seine Live-Shows sind gefragt, das

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Genre ein. Er begann elektronisch zu improvisieren. „Mach deinen Alleinunterhalter woanders“, sagte mal ein Professor zu ihm. Und das tat er: Instrumente kombiniert er mit Elektronik, immer weitere Maschinen kommen hinzu. Das Ergebnis klingt loungig, verspielt und reduziert, dann wieder vertrackt, aus der Reihe tanzend.


ELEKTRO

Inspiriert: Das Debütalbum des gebürtigen Lahrers heißt „Forest for Rest“. Im Wald sammelt er Ideen für seine Musik. Foto: © Florian Forsbach

Im Gegensatz zu vielen DJs kreiert er Songs auf der Bühne. „Null Prozent sind vorbereitet“, betont Maier-­ Hauff. Einzig die Tonart überlege er sich vorher. „Es gibt nichts Besseres als etwas zu erleben, im Moment der Entstehung dabei zu sein“, betont er. Fans muss er bei Shows deswegen immer wieder enttäuschen. Zum Nachhören gibt’s seine Sessions nicht. Was live entsteht, wird bei Maier-Hauff nicht konserviert – aus Überzeugung. Ein Album hat er dennoch gemacht „Das ist ein Widerspruch“, gibt er zu. Doch die Spontaneität bleibt: Auch die veröffentlichten Tracks sind improvisiert. Die zwölf Stücke hatte er für einen Abend im White Rabbit produziert, an dem er ausnahmsweise auflegte: „Ich wollte das mal ausprobieren“, sagt Maier-Hauff. Er merkte jedoch: „Beim Auflegen bin ich nervöser als beim Improvisieren.“ Live habe er mehr Möglichkeiten. Inspiration findet er unter anderem im Wald. Den schätzt er als organischen, echten Raum. Der Albumtitel „Forest for Rest“ war dennoch Zufall. „Das klingt organisch, hölzern“, sagte ihm jemand. So gab er den Songs entsprechende Namen: Buchenkuchen, Eschensession, Du Glasie ... alles Bäume aus dem Schwarzwald – eine Reverenz an seine Heimat. Seine Umgebung ist immer wieder Lieferant für Sounds. Fürs Album war er beispielsweise auf dem Güterbahnhofareal in Freiburg, klopfte auf Metall, zer-

brach ein Stück Holz oder trommelte auf ein Schild. Zu erkennen sind die Geräusche nach intensiver Bearbeitung nicht mehr. Seine Musik sei wie Kochen, findet Maier-Hauff. Ob da mal was anbrennt? „Das Risiko ist klein.“ Die Gefahr sei eher, dass es fad schmecke bei so viel Output. Je nach Stimmungslage im Publikum geht er Richtung House oder HipHop, baut Dub- oder Trap-Elemente ein. „Ich bin total flexibel“, betont er. Das Konzept ist außergewöhnlich – er selbst kennt fast keinen, der so arbeitet. Als Exot kommt er rum: Er spielte in Beirut, begleitete die Junge Norddeutsche Philharmonie, improvisierte auf der Sea You in Freiburg oder dem Fusion Festival. Als Studio- und Tourmusiker war er für Samy Deluxe, Manu Chao oder Irie Révoltés im Einsatz. Schon als 18-Jähriger gewann er einen Deutschland-Contest für Loop-Geräte. Damit können Sounds in Endlosschleifen gelegt werden. Seit Kurzem studiert er an der Popakademie auf Master Musikproduktion und -management. „Ich will nochmal angreifen“, sagt er. Klingt als sei er ein alter Hase. Dabei ist er mit 25 Jahren eher ein junger Hüpfer. Der nächste Sprung? „Ich werde mich nicht neu erfinden“, sagt er. Sein Stilmix sei ein wichtiges Statement: „Ich will Schubladen zerbrechen“, betont Maier-Hauff. Positive Resonanzen bekomme er von beiden Seiten: der Elektroszene und den Jazzern. Sein analoges Raumschiff bietet Platz für beides – und baut so intergalaktische Brücken.

Wie im Raumschiff: Der Improvisationskünstler bedient bei Liveshows bis zu 20 Geräte und spielt sieben Intrumente. Alles entsteht spontan. OKTOBER 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 57


e n g a a n r F ... 4 ... Young Jelly

PATTY MOON

AYO

Traumton Records

Believe Recordings

HEAD FOR HOME

AYO

Foto: © tln

RAUMSCHIFF-RAP

Traumreise

Geordnetes Durcheinander

Science-Fiction im Viervierteltakt. So könnte man die Musik des Denzlinger Rappers Marlon Tröscher alias Young Jelly beschreiben. Mit seinem ersten Mixtape legt der 21-jährige Deutsch-Jamaikaner sportlich los: Gleich sechs Videos hat Marlon Tröscher zum Release produziert. Er baut schon ein Raumschiff, erzählt er im Interview mit Till Neumann.

(ank). Es gibt Klänge, die tragen einen fort in eine ganz neue Welt. Es gibt Klänge, die erzählen ihre eigene Geschichte. So ist es bei Patty Moon mit ihrem neuen Album „Head for Home“. Aus zwei wurde eine: Judith Heusch macht auch ohne ihren ehemaligen Kollegen Tobias Schwab weiter. Mit ihrer klaren Stimme und den ungewöhnlichen Sounds schafft es die Freiburgerin, vor den inneren Augen der Zuhörer eine Szenerie zu erschaffen. Die Songs ihres fünften Albums erinnern an Träume, die gehen vom Urlaubsgefühl am Meer mit „Divers“ zu beinahe schon Albträumen in „Choir of bones“. Die Streicher erzeugen in diesem Lied eine Spannung, die man normalerweise nur von Horrorfilmen gewohnt ist. Die Tracks erinnern generell an Filmmusik, manchmal sogar an Musical. Vor allem Sweeney Todd kommt einem da ins Gedächtnis. Bei den Tracks von Patty Moon muss man genau hinhören, um alle Sounds mitzubekommen. Manche sind offensichtlich wie das Wasserrauschen in „River of Guilt“ oder die Kuhglocke in „The Man with the Hat on“. Andere kann man nicht genau zuordnen wie das anfängliche Klappern in „Hopestuff“. Eine ganz besondere Musik, die sich schwer in ein Genre fassen lässt. Sie lässt einen jedoch mit ihren Klängen beinahe davonschweben und regt zum Träumen an.

(ank). Trauer mit Liebe, Englisch mit Französisch, Gesang mit Rap. Auf dem neuen Album von Ayo ist so einiges los. Eines sticht heraus: die Emotionen, vor allem Liebe. Von der Ersten, Unschuldigen („I’m a fool“) bis zur Liebe zu den süßesten Verführungen des Lebens mit „Cupcakes and Candies“. Verzweiflung („I pray“) und Schmerz („Again“) sind auch Teil dieser Gefühle. Doch vor allem die Hoffnung und das Wiederaufrappeln bleiben im Kopf, denn „after the rain, comes the sun“. So heißt es in ihrem spannungsgeladenen Soultrack „Let it rain“, der sich in die Reihe der James-Bond-Lieder stellen kann. Neben ruhigen, gefühlvollen Songs wie „Why“, in dem es um die schwierige Beziehung zu ihrem Vater geht, gibt es Powersongs: Mit Reggae und „Boom Boom“ gibt die 37-Jährige ein Statement ab gegen polizeiliche Gewalt in den USA. Ihre unterschiedlichen Talente beweist die gebürtige Kölnerin, indem sie zum einen auf dem Album rappt („All I want“), zum anderen Paris eine Liebeserklärung auf Französisch macht („Paname“). Durch afrikanische Percussion-Sounds und das Instrument Kalimba ist ihre Vielseitigkeit in der Musik zu spüren. Auf der Platte verschmilzt vieles miteinander. Abwechslungsreich und emotionsgeladen, so ist das fünfte Album von Ayo.

Marlon, du nennst dich Young Jelly, dein Mixtape heißt Cyberpunk. Was hat’s damit auf sich? Ich rappe seit zwei Jahren. Wenn es geflowt hat, hieß das bei uns immer: Das war „jelly“ (Wackelpudding). So kam’s zum Namen. Ich stehe voll auf Science Fiction, Cyberpunk ist ein düsteres Untergenre davon. Meine Musik soll nach Star Wars klingen: Mit vielen Effekten und elektronischen Sounds. Warum rappst du auf Englisch? Das werde ich ewig oft gefragt. Meine Mama ist aus Jamaika, ich spreche beide Sprachen. Auf Englisch flowt es besser und klingt cooler. Und ich kann so mehr Leute erreichen. Mittlerweile hören mich auch Menschen in Russland oder der Ukraine. Viele Gedanken mache ich mir nicht wegen der Sprache. Ich tu einfach das, worauf ich Lust habe. Wie weit willst du kommen? Das Mixtape hat mich richtig gepackt. Ich will von der Musik leben. Das wächst Stück für Stück. Ich mache das so lange, bis es funktioniert. Bei meinem Ehrgeiz halte ich das für sehr realistisch. Klingt auch ein bisschen nach Science Fiction. Ja klar. Ich baue schon mein Raumschiff. Das kommt dann 2020. 58 CHILLI CULTUR.ZEIT OKTOBER 2017


THE 4 OF US

CARROUSEL

IMG / India Records

Jazzhaus Records

SUGAR ISLAND

FILIGRANE

DER SOUNDDRECK ... ... zu Jamaika

Mit Reagggea konnte ich noch nie wirklich viel anfangen, geschweige denn ihn richtig schreiben. Wolle Kriwanek, die „Schwäbische Bomb“, hat mit seinem „Reggae reggae reggae di uf, no sag mers“ hier sicherlich – wenn auch zweifelhafte – Maßstäbe gesetzt. Seine Nummer „I bin für di bloß dr Näger“ ist nicht weniger bedenklich.

Rückblende

Charme und Chansons

(tas). Nordirland in den 70er Jahren: Anschläge, Kämpfe zwischen Soldaten und IRA, ein Konflikt auf seinem Höhepunkt. In dieser Zeit sind die Brüder Brendan und Declan Murphy im Grenzstädtchen Newry aufgewachsen. Eine glückliche Kindheit in einer dunklen Zeit: Von diesen heiter-melancholischen Erinnerungen erzählt ihr neues Album „Sugar Island“. So beschreibt etwa der Opener „Bird’s Eye View“, wie die Kinder von ihrem Elternhaus auf einem Hügel die Schusswechsel in der Stadt beobachten konnten. Und in „Going South“ erlebt man mit, wie die Familie beim Ausflug ans Meer die schwer bewachten Checkpoints nach Irland passieren musste. Statt mit düsteren Melodien haben die Brüder die Texte mit leichten Folk-Melodien unterlegt. Die scheinen ab und an („Going South“ oder „Just A Drop“) besser auf die Route 66 als in einen irischen Pub zu passen. Man hört, dass Brendan Murphy einige Zeit in der Country-Music-Hochburg Nashville gelebt hat. Sieben Jahre nach dem letzten Album sind die Brüder nun wieder am Start – mit pointierten Texten und Melodien, die ins Ohr gehen. Mehr als ein Song hat das Potenzial an den Chart-Hit „Mary“ aus dem Jahr 1989 anzuknüpfen. Wer sie live sehen will: Am 9. November kommt das Duo ins Freiburger Jazzhaus.

(tln). Die Seele baumeln lassen, sich ein bisschen leichter fühlen, Urlaubsgefühle in den trüben Herbst bringen. Dazu lädt das französisch-schweizerische Duo „Carrousel“ mit seinem vierten Album ein. Sophie Burande und Léonard Gogniat servieren auf „Filigrane“ liebevoll gemachten Folkpop. Auf Französisch singen sie von Aufs und Abs des Lebens: Sie rufen nach mehr Farbe im Alltag (Plus de Couleurs), erzählen von kleinen und großen Reisen (Itinérant) oder der Sehnsucht nach dem Geliebten (La Carte Postale). Das dürfte persönlich gemeint sein: Die beiden sind ein Paar. Auch wenn man die Texte nicht versteht: Die Musik macht Laune, lädt zum Tanzen und Mitsingen ein. Einfache, aber originelle Melodien tragen die Stücke. Klavier, Gitarre oder ein Blasinstrument sind Motor des Klang-­ Karussells. Verspielt klingt das, voller Herz und Seele. Die wenigen melancholischen Momente tun der Platte gut. Etwas zu verträumt könnten die zwei sonst wirken. „Das ist das Leben, kein Traum“, singt Sophie Burande. Dabei klingt ihre Musik gerade nach diesem „rêve“. In einer kleinen heilen Welt – wie als Kind auf dem drehenden Karussell. Ecken und Kanten gibt’s hier keine. Dafür Charme und Chansons. Live: Am 3. November spielen Caroussel im Jazzhaus Freiburg..

Da der Mann bereits tot ist, gilt hier anstands­ halber „de mortuis nil nisi bene“, wie der Schwabe zu sagen pflegt. Udo Lindenbergs Song „Jamaika“ überzeugt auch Nullkommanull. Sorry, echt, Udo, leider ungeil, nix ist klar auf der Andrea Doria. Die Gombay Dance Band aus dem semikaribi­ schen Norderstedt und ihre „Sun of Jamaica“ sind ebenfalls schon lange untergegangen – beziehungsweise nie aufgegangen. Kein Wunder, angesichts solch bedeutsamer Zeilen wie „ Sun of Jamaica, the dreams of Malaika, our love is my sweet memory, Sun of Jamaica, Blue Lady Malaika, someday I‘ll return, wait and see”. Dazu kommt, dass Kiffen und Dreadlocks geschmackspolizeiliche NoGos sind – Kiffen macht blöd (okay, saufen auch), Dreadlocks sehen scheiße aus, speziell bei mitteleuro­ päischen Bleichgesichtern, und das leicht patriarchale Gehabe der Rastafaris ist höflich formuliert unzeitgemäß. In diesem Sinne, halten Sie sich von Jamaika fern, das ist nur was für einheimische Eingeborene und zugezogene Kampfkiffer. Love & Peace, für Ihre Geschmackspolizei, R.D. Welteroth


KINO

Im Sumpf der Heuchelei ALI SOOZANDEHS FILM ZEIGT INNENANSICHTEN EINER WIDERSPRÜCHLICHEN GESELLSCHAFT von Erika Weisser

Teheran Tabu Deutschland /Österreich 2017 Regie: Ali Soozandeh Mit: Elmira Rafizadeh, Zar Amir Ebrahimi u.a. Verleih: Camino Filmverleih Laufzeit: 96 Minuten Start: 16. September 2017

E

in beeindruckendes Spielfilmdebüt legt der gebürtige Iraner Ali Soozandeh mit „Tabu Teheran“ vor. Der in Deutschland lebende Regisseur und Drehbuchautor eröffnet in diesem ziemlich provokanten und unverhohlen gesellschaftskritischen Animationsfilm beredte Einblicke in das widersprüchliche Alltagsleben im heutigen Iran: Innenansichten eines Daseins zwischen streng religiösen Gesetzen und Unterdrückung einerseits, und Korruption, tabuisiertem Sex, Drogen und Vergnügungsindustrie andererseits.

Fotos: © Camino Filmverleih

Der Ensemblefilm wurde mit echten, ebenfalls in Europa lebenden iranischen Schauspielern gedreht und durch das Rotoskopie-Verfahren zu einer kompromisslosen und realistischen filmischen Graphic Novel; er hatte bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes seine Weltpremiere und kommt Mitte November in die deutschen Kinos. Im Mittelpunkt des Geschehens stehen drei Frauen, zwei Männer und ein Kind, deren Wege sich zufällig kreuzen und deren von weiteren Protagonisten massiv beeinflussten Schicksale sich zusehends miteinander verweben. Zunächst suchen sie nur nach ein wenig mehr Freiheit, nach ein bisschen mehr Selbstbestimmung, nach kleinen Fluchten aus ihrem offenbar streng überwachten und in Stagnation befindlichen Dasein. Doch dann

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geraten sie immer tiefer in den Sumpf von Scheinheiligkeit, Abhängigkeit und Verlogenheit, aus dem sie eigentlich entkommen wollten. Da ist die allein erziehende Pari, die sich von dem wegen Drogenhandels inhaftierten Vater ihres kleinen Sohns Elias scheiden lassen will. Da er keinen Unterhalt zahlt, arbeitet sie als Prostituierte und wird von einem recht einflussreichen Richter ausgehalten, der ihr ein schickes Apartment bezahlt. Dort freundet sie sich mit Nachbarin Sara an, deren Mann ihr nicht erlaubt, selbst zu arbeiten. Dort lernt sie auch den Musikstudenten Babak kennen, der in einem (eigentlich nicht existierenden) Nachtclub als DJ jobbt, dort die schöne Donya trifft – und nach einem One-Night-Stand mit ihr in einer Bredouille steckt, aus der ihn nicht einmal sein stets von unorthodoxen Ideen sprühender Freund Amir befreien kann: Ihnen fehlt das nötige Geld für eine Operation, die Donya noch vor ihrer Hochzeit wieder zur Jungfrau machen soll. Soozandehs Drehbuch ist zwar kunstvoll konstruiert, dennoch ist sein Beziehungsgeflecht weder forciert noch kompliziert: Die Begegnungen und Kontaktaufnahme der Figuren wirkt ebenso plausibel wie die Vorkommnisse, die daraus resultieren. Die animierten Bilder tun ihr übriges: Durch die mit ihr einhergehende Verfremdung entsteht eine (alp)traumhafte Atmosphäre, in der sich nur winzige Hoffnungsmomente andeuten.


KINO MAUDIE

Deutschland 2016/17 Regie: Matto Barfuss Dokumentarfilm Verleih: Camino Laufzeit: 106 Minuten Start: 12.10.2017

GOOD TIME

Kanada/Irland 2016 Regie: Aisling Walsh Mit: Sally Hawkins, Ethan Hawke u.a. Verleih: NFP Laufzeit: 116 Minuten Start: 26.10.2017

Foto: © temperclayfilm

Foto: © Duncan Deyong

Foto: © Matto Barfuss

MALEIKA

USA 2017 Regie: Joshua & Ben Safdie Mit: Robert Pattison, Jennifer Jason Leigh u.a. Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 100 Minuten Start: 2.10.2017

Raubtier mit viel Mutterliebe

Die Farben der Liebe

Von Pech und Polizei verfolgt

(ewei). Von 1996 bis 2002 lebte Regisseur Matto Barfuss in Tansania immer wieder für mehrere Wochen mit einer wilden Gepardenfamilie zusammen; der UNESCO-Fotopreisträger, Maler und Tierschützer ist seither als „Gepardenmann“ bekannt. Im Jahr 2013 begegnete er der Gepardin Ma­ leika – und wich in den nächsten Monaten nicht mehr von ihrer Seite. So war er mit seiner Kamera dabei, als sie im folgenden Jahr sechs Junge auf die Welt brachte. Und auch später verbrachte er viel Zeit bei Maleika, beobachtete und filmte hautnah, wie liebevoll sie ihre Kinder aufzog und zu Geparden machte, die das Leben in der gefahrvollen Wildnis und der unerbittlichen Natur selbstständig meistern konnten. Entstanden ist ein fesselnder Dokumentarspielfilm mit atemberaubenden Natur- und Landschaftsaufnahmen, der zudem tiefe Einblicke in das Sozialverhalten dieser besonderen Raubkatzen eröffnet. Am 18. Oktober ist Matto Barfuss zur 20-Uhr-Vorstellung mit anschließendem Filmgespräch im Kino Harmonie.

(ewei). Everett Lewis gehört nicht eben zu den Menschen, die man als zugewandt bezeichnen würde: Er fristet ein einsames Leben, ist gegenüber seinen Artgenossen mürrisch und unbeherrscht. Zwar muss er als hausierender Fischhändler zwangsläufig mit ihnen in Kontakt treten, doch nach getaner Arbeit zieht er sich schleunigst in seine ärmliche Kate irgendwo an der Ostküste Kanadas zurück. Das ändert sich zunächst auch nicht, als er Maud Dowley als Haushälterin einstellt – eine verschüchterte, seit ihrer Kindheit von schwerer Arthritis geplagten Frau, die indessen lieber malt als kocht oder putzt. Doch bald gefällt sie ihm; er schenkt ihr gar ein Sortiment Ölfarben, mit denen sie farbenfrohe Bilder auf sämtliche Wände und Türen der Hütte zaubert. Und ganz allmählich entstehen bei den beiden sympathischen Außenseitern Gefühle, die bis dahin in ihren Leben nicht vorkamen. Ein freundlicher Film über einen wichtigen Lebensabschnitt der bekannten kanadischen Malerin Maud Lewis.

(ewei). Bei einem missglückten Bank­ überfall wird Constantines jüngerer und behinderter Bruder von der Polizei gefasst und ins Gefängnis gebracht. In einer Nacht voller Adrenalin beginnt für ihn bei dem Versuch, seinen Bruder gegen die Zahlung einer Kaution aus dem Gefängnis zu holen, eine rasante Odyssee durch New Yorks Unterwelt und ein spannungsgeladener Wettlauf mit der Zeit. Robert Pattison, der smarte, blasse und verführerische Twilight-Vampir, ist in diesem düsteren Gangster-Krimi der Gebrüder Safdie nicht wiederzuerkennen. Mit ungepflegtem und unhippem Halblang-Vollbart und völlig missglückter (und später gar noch blondierter) Frisur gibt er den zwar charmanten, doch durchtriebenen Kleinganoven, der ständig vom Pech und der Polizei verfolgt ist. Der aber in sämtlichen Facetten seines Spiels glänzt: Egal, ob Pattison den besorgten Bruder, knallharten Gangster, romantischen Liebhaber, miesen Verführer oder den cleveren Manipulator mimt, sein Auftritt ist immer überzeugend.


KINO

Der Sound der Revolution NEUE FILMMUSIK VON STUDIERENDEN DER MUSIKHOCHSCHULE FREIBURG

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von Erika Weisser

Kino-Revolution: Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ und andere frühe sowjetische Filme werden im Rahmen der Russi­ schen Kulturtage gezeigt – und eine Ausstellung von Film­ plakaten der Avantgarde. Fotos: © Filmplakat-Archiv, Kommunales Kino

n diesem Jahr stehen die vom Zwetajewa-­ Zentrum der Universität Freiburg konzipierten Russischen Kulturtage Freiburg unter dem Motto „Spurensuche“ – und ganz im Zeichen des Ereignisses, das vor 100 Jahren Russland und die Welt erschütterte: Die Oktoberrevolution, die die politischen und sozio­ ökonomischen Verhältnisse auf den Kopf stellte und die Geschichte des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte. Und die in den ersten Jahren der Kunst, der Literatur, der Musik, dem Theater neue Perspektiven eröffnete. Und besonders dem Film. Deshalb gibt es heuer auch eine ganze Reihe von frühen sowjetischen Filmen zu sehen. Vorwiegend im Kommunalen Kino, wo außer einer Ausstellung mit Filmplakaten der russischen Avantgarde auch eine „Kino-Revolution“ stattfindet – mit acht ausgesuchten Stumm- und Tonfilmen zum Thema „Helden, Feinde und Satire“. Auf dem Programm stehen allein vier Werke von Sergej Eisenstein; mit seinem „Panzerkreuzer Potemkin“ wird die Reihe am 27. Oktober eröffnet, dabei ist auch der erst vor Kurzem wieder aufgefundene originale Soundtrack dieses Weltkino-Klassikers zu hören. Allerdings nicht mit Live-Musik. Bei vier anderen Filmvorführungen kommen die – in Freiburg sehr zahlreichen – Freunde dieser Darbietungsform indessen voll auf ihre Kosten: Es gibt regelrechte Stummfilm-Konzerte, von denen Kinomusiker Günter A. Buchwald zwei bestreitet – mit Trio („Das Glück“, 28. 10.) und mit Percussions-Ensemble („Sturm über Asien“,

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2.11.). Die beiden anderen Filme werden von Mitgliedern des Instituts für neue Musik an der Musikhochschule Freiburg begleitet: Thomas Wenk spielt mit Quartett zu „Die ungewöhnlichen Abenteuer des Mr. West im Lande der Bolschewiki“ (31.10.), und am 29. Oktober präsentiert ein weiteres Ensemble desselben Instituts zum Film „Bett und Sofa“ gar eine Uraufführung. Für diese satirische Komödie über freie Liebe und Frauenemanzipation hat eine Gruppe Studierender der Filmmusik-Klasse von Kompositions-Professor Cornelius Schwehr eine ganz neue Musik geschrieben, die eigentlich auf mehr Musiker zugeschnitten ist als im Kommunalen Kino-­ Saal Platz haben. Deshalb wurde das Spiel der für Klavier und Geige bestimmten Partituren aufgezeichnet – und wird, ganz in der experimentellen Tradition der Avantgarde, im Dialog mit den live aufgeführten Parts für Klarinette, Kontrabass und Akkordeon digital zugespielt. Die jungen Komponisten haben noch mehr zu den Russischen Kulturtagen beigetragen: Am 24. Oktober wird im E-Werk ihre neue Filmmusik zu Alexander Medvekins „Glück“ uraufgeführt. Außerdem haben sie auch die Tonspuren zu Filmabschnitten von „Der Mann mit der Kamera“ verfasst. Und Kammermusik. Und die Musik zur Ausstellung „Papas Briefe“ in der UB.

INFO www.russische-kulturtage-freiburg.de www.koki-freiburg.de


DVD DIE ANDERE SEITE DER HOFFNUNG

GET OUT USA 2017 Regie: Jordan Peele Mit: Daniel Kayuula, Allison Williams u.a. Studio: Universal Pictures Laufzeit: 100 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Finnland 2016 Regie: Aki Kaurismäki Mit: Sherwan Haji, Sakari Kousmanen u.a. Studio: Pandora Film Home Laufzeit: 98 Minuten Preis: ca. 15 Euro

NATIONAL BIRD USA / Deutschland 2016 Regie: Sonia Kennebeck Dokumentarfilm Studio: NFP Laufzeit: 88 Minuten Preis: ca. 16 Euro

Beklemmender Alptraum

Eine kurze Atempause

Der ferngesteuerte Krieg

(ewei). Der schwarze Fotograf Chris ist sehr verliebt in seine weiße Freundin Rose – und soll nun endlich ihre Eltern kennenlernen. Der Empfang im weit abgelegenen Familien-Landhaus im Grünen ist überraschend herzlich – und eine Spur zu vertraulich. Und bald ahnt Chris, dass hier etwas nicht stimmt. Bizarre Vorkommnisse verwandeln den vermeintlich entspannten Besuch unversehens in einen beklemmenden Alptraum. Satirisches Horrorstück über latenten Rassismus, der zu tödlichem Wahn mutiert.

(ewei). Der junge Syrer Khaled gelangt als blinder Passagier nach Helsinki. Dort beantragt er Asyl, das ihm aber nicht gewährt wird. Der ehemalige Männerhemden- und Krawattenhändler Wikström betreibt ein heruntergewirtschaftetes Restaurant in einer abgelegenen Gasse, wo er den wieder auf der Flucht befindlichen Khaled eines Nachts schlafend antrifft. Er stellt ihn als Putzmann an, besorgt ihm einen Pass. Für einen viel zu kurzen Moment zeigt ihm das Leben seine Sonnenseite. Grandios.

(ewei). Der Dokumentarfilm begleitet Menschen, die das Schweigen über eine der umstrittensten militärischen Maßnahmen der jüngeren Zeit brechen wollen: Den geheimen Drohnenkrieg der USA. Im Zentrum stehen drei Veteranen der US-Air-Force, die in unterschiedlichen Funktionen selbst an diesem aus der Ferne gesteuerten Krieg beteiligt waren, ihn inzwischen aber verurteilen. Im Verlauf des Films nehmen ihre Geschichten dramatische Wendungen, etwa während einer Begegnung mit den Opfern.

WILDE MAUS Österreich 2016 Regie: Josef Hader Mit: Josef Hader, Georg Friedrich u.a. Studio: TCF Home Entertainment Laufzeit: 99 Minuten Preis: ca. 15 Euro

THE FOUNDER USA 2016 Regie: John Lee Hancock Mit: Michael Keaton, John Carroll Lynch u.a. Studio: Splendid Film Laufzeit: 110 Minuten Preis: ca. 15 Euro

VERLEUGNUNG GB, USA 2016 Regie: Mick Jackson Mit: Rachel Weisz, Tom Wilkinson u.a. Studio: Universum Film Laufzeit: 107 Minuten Preis: ca. 13 Euro

Ein absurder Rachefeldzug

Das Wesen des Kapitalismus

Ein schwieriges Verfahren

(ewei). Erst fliegt der Musikkritiker Georg aus seinem Job bei einer Wiener Zeitung. Dann setzt ihn seine Frau, der er davon nichts erzählt, unter Druck: Sie will noch Mutter werden, bevor es zu spät für sie ist. Georg verbringt seine Zeit im Prater, sinnt auf Rache und begegnet seinem früheren Schulkameraden Erich. Gemeinsam richten sie die Achterbahn „Wilde Maus“ wieder her. Doch Georg lässt sich nicht von seinem absurden Rachefeldzug gegen seinen Ex-Chef abhalten. Abgründige Satire.

(ewei). Ray Kroc reist als Vertreter für Milchshake-Mixer durch die USA. Ohne Aussicht auf Erfolg – bis er in San Bernardino zufällig das Schnellrestaurant der Brüder McDonald entdeckt, das nach einem zugleich simplen und ausgeklügelten Konzept funktioniert. Der gewiefte Kroc erkennt das Potenzial des Ladens sofort und überredet die zunächst widerstrebenden Brüder, ihm die Franchise-­ Rechte zu verkaufen. Und baut ein Imperium auf. Schönes Stück über das Wesen des Kapitalismus.

(ewei). Die amerikanische Universitätsprofessorin Deborah Lipstadt wird unerwartet zur Verteidigerin der historischen Wahrheit, als der britische Autor David Irving sie wegen Verleumdung verklagt: In ihrem jüngsten Buch hatte Lipstadt ihm vorgeworfen, den Holocaust zu leugnen. Durch das britische Justizsystem in die Defensive gedrängt, steht sie nun vor dem schier unlösbaren Problem, nachweisen zu müssen, dass der Holocaust tatsächlich stattgefunden hat. Ein spannender und wichtiger Film. OKTOBER 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 63


LITERATUR

Mord und Landraub KRIMIPREISTRÄGER OLIVER BOTTINI KOMMT MIT SEINEM NEUEN ROMAN NACH FREIBURG

von Lars Bargmann

Der Tod in den stillen Winkeln des Lebens von Oliver Bottini Dumont 2017 512 Seiten, Hardcover Preis: 22 Euro

„Die Bega passte zu ihm. Das Leben hatte auch ihn begradigt, das Unkontrollierte, Zornige der frühen Jahre war nun einbetoniert, die gefährlichen Sümpfe ausgetrocknet. Wie die Bega trieb Ioan Cozma mit müdem Fatalismus dahin.“ So führt Bottini seinen neuen Ermittler ein. Doch die Vergangenheit wird ihn einholen und in Bewegung setzen. Bottini, der Preisträger mit dem großen Erkenntnishunger, hat sich jetzt ins Thema Landraub gegraben. Dachte dabei schnell an Afrika, stellte aber bei der Recherche fest, dass man so weit gar nicht reisen muss: So packte er im Dezember seine Sachen und fuhr – gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung – nach Rumänien, nach Temeswar. Dort traf er sich – eingefädelt übrigens über Kontakte in Freiburg – mit dem örtlichen Kripochef, besuchte NGOs, sprach mit der einstigen Leiterin eines deutschen Kulturinstituts, einem deutschen Farmer, der 4000 Hektar bewirtschaftet und 60 Rumänen Arbeit gibt. Und förderte dabei buchstäblich Landesgeschichte zutage. Auf der Matrix des Land Grabbing spielt die Geschichte, die mit dem in Nahaufnahme geschilderten Mord ihren Anfang nimmt, die den fatalistischen Cozma, ausgerechnet ihn, zum Ermittlungsleiter macht

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und schließlich nach Mecklenburg-Vorpommern führt, wo der Vater der Ermordeten seine Heimat hatte. Je weiter die Handlung voranschreitet, umso spannungsgeladener und vielschichtiger wird der Text von Bottini, der seinem Sprachrhythmus und Sprachgefühl dabei aber treu bleibt. Cozma, dieser völlig unmoderne, einsame, behäbige Ermittler, braucht Foto: © Hans Scherhaufer

G

enau genommen hat seine Karriere als preisgekrönter Autor in Freiburg begonnen. Indirekt zumindest. Denn es war die Freiburger Kommissarin Louise Boni, die dem Schriftsteller Oliver Bottini die ersten Krimipreise brachte. Doch von ihr, die zuletzt 2016 „Im Weißen Kreis“ ermittelte, hat sich der Wahl-Berliner emanzipiert. Erst brachte er den Berliner Hauptkommissar Lorenz Adamek auf die Bühne, nun ist es der Rumäne Ioan Cozma. Der will eigentlich nur noch in Ruhe auf die Rente zusteuern. Doch dann muss er die Ermittlungen beim Mord an der jungen Deutschen Lisa Marthen leiten. Die Tochter eines Großfarmers. Die Spur führt schließlich nach Mecklenburg-Vorpommern.

Oliver Bottini: Recherche in Rumänien

sehr lange, bis er versteht, worum es überhaupt geht. Und er ist nicht allein in MeckPomm, auch andere sinnen auf Gerechtigkeit. Eine Geschichte voller Gier und Machthunger, dunklen Kapiteln der Vergangenheit, durch die nur hin und wieder das Gute im Menschen scheint. Der Zustand vieler osteuropäischer Länder hängt eng mit der Landwirtschaft zusammen, weiß Bottini heute. Mit Großkonzernen, die den Kleinbauern für – nur auf den ersten Blick gutes Geld – ihre Arbeitsgrundlage abkaufen. Mit korrupten Politikern, gegen die in Rumänien heutzutage Hunderttausende auf die Straße gehen. „Das“, sagt Bottini, „ist eine wichtige Entwicklung für dieses Land.“ Oliver Bottini liest aus seinem am 8. November erscheinenden Neuling am 16. November ab 20 Uhr in der Freiburger Buchhandlung Rombach. Eintritt:12 (10) Euro. Das chilli verlost fünf hand­ signierte Exemplare auf chilli-freiburg.de


FREZI

DAS LEBEN DES VERNON SUBUTEX

von Virginie Despentes, aus dem Französischen von Claudia Steinitz Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2017 400 Seiten, gebunden Preis: 22 Euro

FREIBURG IM NATIONALSOZIALISMUS

MA

von Aya Cissoko Verlag: Wunderhorn, 2017 180 Seiten, gebunden Preis: 24,80 Euro

von Tilmann von Stockhausen & Peter Kalchthaler (Hg.) Verlag: Rombach, 2017 240 Seiten, gebunden Preis: 26 Euro

Auf dem Weg nach unten

Lob der Beharrlichkeit

Facetten der Gleichschaltung

(dob). Von wegen Stadt der Liebe. Paris kann manchmal richtig kalt sein. Vor allem für die, die im Winter auf den Parkbänken ausharren. So wie Vernon Subutex, der antriebslose ehemalige Plattenladenbesitzer, der aus seiner Wohnung geflogen ist, weil sein Gönner und Zahler der Miete, der Sänger Alex, den Rock’n’Roll-Tod in einer Hotelbadewanne gewählt hat. Nun schlägt sich Vernon also durch, schläft mal hier, mal da, mit einem Mädchen, mal luxuriös. Doch die Kurve zeigt nach unten. Die in die Académie Goncourt aufgenommene französische Schriftstellerin, Feministin und ehemalige Porneuse Virginie Despentes hat mit ihrem im August auf Deutsch erschienenen Roman „Das Leben des Vernon Subutex“ einen fulminanten Gegenwartsroman geschrieben, ein fein komponiertes Sittengemälde der neoliberalen, verängstigten Gesellschaft. Koksende Filmproduzenten, transsexuelle Prostituierte, ein muslimisches Mädchen, das in der Religion ihre Zuflucht sucht, neurotische Damen aus der Oberschicht, ein Frauenverprügler – all diese Charaktere kreuzen Vernons Weg nach unten. Das Buch – es ist der erste Band einer im Frühjahr 2018 fortzusetzenden Trilogie – oszilliert zwischen dem Pop eines Nick Hornby und dem düster-melancholischen Blick eines Michel Houellebecq. Grandios, jeder Satz sitzt.

(ewei). „Ce numa nini ca furu“, sagt Ma Massiré Dansira zu ihrer Tochter, als ihr deren Ausflüge in die selbstbestimmte Eigenständigkeit zu viel werden: Such dir einen guten Mann und heirate ihn. Dabei hat die Mutter, die mit 15 Jahren als Drittfrau ihres Mannes aus Mali nach Frankreich kam, das halbwüchsige Mädchen immer verteidigt, wenn traditionell denkende Nachbarinnen ihr einen Ehemann verpassen wollten. Standhaft hatte die selbst zwischen Tradition und Moderne schwankende, mittlerweile verwitwete Frau den Kupplerinnen stets die Tür gewiesen: Aya werde erst die „faransi lecoli“, die französische Schule, beenden und dann den Beruf und den Mann, mit dem sie leben wolle, selbst wählen. Doch jetzt findet sie, dass der Bogen überspannt sei: Aya liebt einen Araber – und will Boxerin werden … Das wurde sie auch: Aya Cissoko übertrug ihren aus der Widersprüchlichkeit ihres Daseins resultierenden Kampfgeist auf diesen Sport, hörte nicht auf den Rat ihrer Mutter und wurde 2006 Amateur-­ Boxweltmeisterin. Heute ist sie Politikwissenschaftlerin – dank der von Ma geerbten Beharrlichkeit, die ihr als Jugendliche zwar oft peinlich war, die sie in ihrem von der Freiburgerin Beate Thill übersetzten autobiografischen Roman jedoch sehr lobt und bewundert. Eine interkulturelle Fundgrube.

(ewei). Fast ein Jahr lang, seit November 2016, war im Augustinermuseum die erste große Ausstellung zum Thema „Nationalsozialismus in Freiburg“ zu sehen – und zog über 80.000 Besucher an. Bei der Finissage wurde das Buch präsentiert, das unter dem Titel „Freiburg im Nationalsozialismus“ die Vorträge versammelt, die im Wintersemester 2016/17 in der Vorlesungsreihe Samstags-Uni gehalten wurden. In den Beiträgen werden die verschiedenen Facetten der Gleichschaltung und der darauf folgenden Ausgrenzung und Verfolgung derer be­leuchtet, die aus politischen, „rassenbiologischen“, kulturellen, gesundheitlichen oder sexuellen Gründen als nicht zur „Volksgemeinschaft“ zugehörig betrachtet wurden. Eine Praxis, die ab 1933 in Freiburg ebenso üblich war wie anderswo. Der Historiker Heiko Haumann setzt sich etwa mit der „Ausmerze und Vernichtung artfremder Rassen“ auseinander; stellt dar, welche Auswirkungen Weisungen wie „Zigeuner sind wie Juden zu behandeln“ auf die Betroffenen in Freiburg und Umgebung hatten. Weitere Beiträge der durchweg renommierten Autoren beschäftigen sich außerdem mit Mittätern und Mitwissern der Freiburger Universitätsmedizin, mit dem damaligen Uni-Rektor Martin Heidegger sowie Erzbischof Conrad Gröber. Ein wichtiges Buch zur richtigen Zeit. OKTOBER 2017 CHILLI CULTUR.ZEIT 65


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