First Mover Mythos

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falsche mythen: start der serie (1/3) GESCHWINDIGKEIT

VON WEGEN „DER ERSTE SEIN“ Der Erste sein, schneller als die Konkurrenz – dieses Denken beherrscht nicht nur den digitalen Markt. Doch statt dem Geschwindigkeitsglauben zu folgen, sollte man diese Maxime infrage stellen, fordert Gastautor Christian Hoffmeister. Sein Beitrag ist der Auftakt zu einer dreiteiligen Reihe, in der Hoffmeister mit fest verankerten Mythen aufräumt.

APPLE, GOOGLE, FACEBOOK & CO. ALS PARADEBEISPIELE – ODER?

Mit der von ihm gegründeten Bulletproof Media berät Christian Hoffmeister Unternehmen im Bereich der Produktund Geschäftsmodellentwicklung an der Schnittstelle zwischen klassischen und neuen Medien. Die „Entmythologisierung“ der Digitalbranche, über die Hoffmeister in einer dreiteilige Serie für LEAD digital schreibt, ist auch Thema seines Buchs „Digitale Geschäftsmodelle richtig einschätzen“, das im Sommer im Hanser-Verlag erscheinen wird.

Häufig wird dieser Produktentwicklungs- und Markteintrittsstrategie gefolgt. So schossen die App-Umsetzungen wie Pilze aus dem Boden, kaum war das iPad gelauncht. Man hoffte, so einen First-Mover-Advantage zu erzielen, um die hohe Zahlungsbereitschaft für Apps abzuschöpfen. Sieht man sich einige Beispiele – insbesondere das iPad – näher an, sollte man die These vielleicht hinterfragen. Die Idee eines Tablet-PCs – inklusive einer Siri-ähnlichen Sprachsteuerung – wurde bereits Ende der 80er-Jahre (zu sehen unter www.lead-digital.de/tablet-beispiel) von Apple präsentiert. Mitte der 90er-Jahre brachte Apple den Newton (einen PDA mit

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Touchscreen) auf den Markt. Mit der Entwicklung des iPads wurde 2002 begonnen. Selbst die kürzeste Entwicklungsspanne umfasst acht Jahre. Rechnet man die Zeitspanne von der Idee bis zum Launch, dann sind es über 20 Jahre. Von einer besonders schnellen Produktentwicklung kann hier eher nicht gesprochen werden. Und Google? Als Google nach knapp drei Jahren Entwicklungszeit 1998 an den Start ging, gab es mehr als ein Dutzend Suchmaschinen, mit zum Teil marktbeherrschenden Positionen. MSN, Yahoo, Altavista, Excite, Fireball Lycos und weitere kämpften um die kritische Nutzermasse. Google setzte sich – fast als Letzter gestartet – durch. Hier kann schon von einem Last-Mover-Advantage gesprochen werden – wie bei Facebook auch. Statt dem Geschwindigkeitsglauben blind zu folgen, sollte also die Maxime infrage gestellt werden. Wichtiger scheint es zu sein, fünf Punkte zu beachten:

THESE FÜR DIE ZUKUNFT ENTWERFEN

Google will verstehen, was Nutzer meinen, wenn sie suchen. Die These kann zusammengefasst werden in: „Du bist, was du klickst.“ Auf dem Nutzungsverhalten basierend, wird die digitale Welt für uns von Google angepasst. Facebooks These lautet: „Du bist, was du teilst und mit wem du interagierst.“ Informationen werden um dieses Verhalten herum ausgerichtet. Ohne Leitthese wird die Suche nach Innovationen ein hoffnungsloses Unterfangen. Denn es gibt noch keine digitale Strategieblaupause. Wir befinden uns in strukturlosen Entscheidungssituationen. LEAD digital 05_2013

FOTOS: Getty Images; Unternehmen

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chnelligkeit und Pioniergeist faszinieren. Der schnellste Mensch der Welt ist ebenso beeindruckend wie der erste Mensch am Südpol. Übertragen aufs Business, wird daraus ein wirtschaftlicher Wettbewerbsvorteil, der sich in zwei Leitsätzen wiederfindet: „First Mover Advantage“ und „Die Schnellen fressen die Langsamen“. Apple überquerte die Ziellinie bei den Tablet-PCs als Erster, und Google war ein Pionier der Suchmaschinentechnologie. Wer heute in einer digitalen Welt erfolgreich sein will, muss schnell sein, sowohl in der Produktentwicklung als auch in der Besetzung der entsprechenden Märkte. Die Ziele, die so erreicht werden sollen, sind klar: erstens Aufbau einer kritischen Masse, die anderen den Marktzugang erschwert, und zweitens Abschöpfung höherer Konsumentenrenten, durch die Schaffung eines First-Mover-Monopols.

CHRISTIAN HOFFMEISTER


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RESSOURCEN UND KOMPETENZEN ANPASSEN

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KONSEQUENT SEIN

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FLEXIBEL BLEIBEN

Die dominierenden Player kaufen immer wieder Kompetenzen passend zu ihren Leitmotiven zu und integrieren diese in eigene Produkte, statt sie als eigenständige Modelle weiterlaufen zu lassen. So kaufte Apple Soundjam und machte daraus iTunes, Lala.com wurde in die iCloud-Technologie integriert. Amazon kaufte Mobipocket und entwickelte daraus Kindle. Die Big Player passen ihre Ressourcen den technischen Rahmenbedingungen immer besser an.

Viele Unternehmen springen von einem Hype zum nächsten, statt konsequent zu handeln. Amazons Ziel wurde schon im Namen verankert: „Der größte Warenstrom der Welt“ – ein digitaler Amazonas. Viele Zukäufe und Produktentwicklungen lassen dieses Ziel immer deutlicher erkennen.

Konsequenz darf nicht mit starrem Festhalten an einem einmal eingeschlagenen Weg verwechselt, sondern muss um Flexibilität ergänzt werden. Google erkannte 2004, dass man, um dem Nutzer bessere Suchergebnisse liefern zu können, diesen kennen muss. Dies geschieht durch die technologische Beobachtung des Verhaltens. So begann Google Dienste anzubieten, bei denen sich der Nutzer anmelden muss. Gerade da sich Rahmenbedingungen noch deutlich ändern können, ist Flexibilität entscheidend. LEAD digital 05_2013

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TIMING IST DIE NEUE GESCHWINDIGKEIT

Die Fähigkeit, zu erkennen, wann sich technische Möglichkeiten mit einer kritischen Masse zu einem Markt vereinen, ist die zentrale Management-Herausforderung. Bill Gates prognostizierte 2001 den Durchbruch der Tablet-PCs für 2006, marktfähig wurden sie aber erst vier Jahre später. Apple wartete bei der Umsetzung des iPhones, bis leistungsfähige Mikroprozessoren für Handys und Touchscreen-Technologien weit genug fortgeschritten waren. Die Touchscreen-Technologie hatte 2006 erst den Durchbruch (zu sehen unter www.lead-digital.de/touchscreen-beispiel). Fazit: Vieles, was die Unternehmen kommunizieren, soll einen Pionier-Mythos erzeugen. Mit der Realität hat es oft nichts zu tun. Die wahren Pioniere sind meist unbekannt. Vielleicht ist es an der Zeit, Mythen der digitalen Welt über Bord zu werfen, um so schneller ans Ziel zu gelangen. Der Geschwindigkeitsmythos gehört dazu. Christian Hoffmeister, Bulletproof

SERIE „FALSCHE MYTHEN“ Teil 2 (LEAD digital 7/2013, 3. 4. 2013): Die Unmöglichkeit, innovativ zu sein – oder warum Apple auch nur Me-too macht. Teil 3 (LEAD digital 9/2013, 2. 5. 2013): „Don’t follow the free“ – oder warum Google und Facebook nichts kostenlos anbieten.

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