Schreiben über das Schreiben

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Schreiben über das Schreiben Wie viele Buchstaben, Wörter, Sätze, Zeilen, Absätze und Texte habe ich in den vergangenen acht Monaten geschrieben? Wenn ich alles zusammen trage – alle Texte auf meinem Computer, auf meinem Blog, auf Facebook, in E-Mails und in Skype-Konversationen, alle SMS, die drei Notizbücher, das Tagebuch, die Randnotizen zum Studium, den Terminkalender, die wenigen Postkarten und Briefe, die Einkaufszettel und all die Listen – dann kommt ein Buch dabei heraus, dessen Seitenzahl jeden Rahmen sprengt. Ich liebe es, Rahmen zu sprengen und kommentarlos durch schlichte Menge zu beeindrucken. In meinem Schreibjournal wirklich jeden einzelnen von mir geschriebenen Buchstaben zu registrieren, wäre vielleicht doch etwas ambitioniert. Aber wenn wir uns das Buch nun wenigstens vorstellen, lässt sich vor allem eines ablesen: In den vergangen acht Monaten habe ich mehr geschrieben als jemals zuvor. Ich wollte mich ums Schreiben kümmern und habe allerlei Texte produziert, Methoden ausprobiert, Versionen redigiert und schreibend mein Schreiben reflektiert. Beim Schreiben über das Schreiben passiert es zuweilen, dass sich der Kopf verheddert, denn plötzlich hängt alles mit allem zusammen, jede noch so kleine Notiz ist ein Fragment eines großen Ganzen, eines unendlichen Schreibprozesses, der wahrscheinlich nie enden wird – solange ich schreibe. Um von hier an mehr oder weniger unbeschwert weiterzuschreiben, hänge ich meinen Anspruch auf Vollstän3


digkeit also besser an den Nagel. Ich sehe ihn gerahmt vor mir, den Anspruch, aber so langsam ertrage ich die Rahmen-Metapher nicht mehr – wer sucht, der findet den ›Rahmen‹ ganze drei mal in diesem Schreibportfolio. Gemäß seinem Titel ›Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben über das Schreiben‹ stellt dieses Schreibportfolio meine nebenbei entstandenen fragmentarischen Randnotizen über das Schreiben ins Rampenlicht, während Rezension, Synthese, Bericht, Reportage, Glosse, Feature und Essay sowie meine Blog-Texte kleingedruckt in den Hintergrund rücken, der als illustrative Bildebene verstanden werden darf. Nun wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen der Zeilen über mein Schreiben, und bitte nicht vergessen: Alles hängt mit allem zusammen.

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Tatsächlich hat das Schreiben diesen Sinneseindruck produziert,

was der bloĂ&#x;e Gedanke nicht vermochte.

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Angefangen hat es mit dem Sammeln schöner Wörter. Dann schrieb ich gute Sätze mit. Später wurden Absätze daraus und kurze Texte. Ob ich wohl jemals einen Text schreiben werde, der sich nicht ständig selbst unterbricht?

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Entweder oder beides Vor dem Schreiben war das Malen. Mir und allen war klar: Ich werde Künstlerin! Mit dem Lesen und Schreiben begann ein Tauziehen zwischen Pinsel und Füller. Ich werde Schriftstellerin! Oder vielleicht spannender: Journalistin! Aber was ist dann mit dem Visuellen? Also Kommunikationsdesign. Farbe und Pinsel waren mein Ventil, bis das herbeigesehnte Designstudium so viele Regeln in meinem Kopf platzierte, dass heute kein unbegründeter Strich mehr möglich ist. Was wenn bald auch kein Text, kein Satz, kein Wort mehr richtig scheint? Hat jedes Studium den Verlust seiner Ausdrucksmittel zur Folge? Tötet Theorie die Praxis? Dabei dient mir doch das Schreiben als produktives Beruhigungsmittel, wenn Angst, Wut und Leere mich unter sich begraben. Ich schreibe gegen sie an, ich fange sie ein und banne sie in abstrakte Texte, um sie von mir und mich von ihnen zu lösen. Anonyme Blicke zwischen die Zeilen dieser Texte verändern und prägen mein Schreiben im Netz. Wenn es ernst wird, wissenschaftlich oder so, ist keine eurer Schwammigkeiten vor mir sicher, ob visuell oder sprachlich: ich will erklären, veranschaulichen, präzisieren, verdichten, aufräumen. Ich liebe es zu redigieren, zu korrigieren und zu verbessern, in freiwilliger Freiheit auch nachts. Nur wenn einer sagt, das muss so und soll anders und die Zeit läuft aus, dann entstehen abgehackte Sätze von einer roboterhaften Dienstleisterin. Da behält das letzte Wort der Diplomingenieur, der sachund fachkundig an seinen bestehenden technisch-konstruktiven Wortkonstrukten hängt. Die ganze Welt 7


schreibt sich ihren unvermittelbaren Fachwortschatz auf die Visitenkarte, die kein Kind mehr versteht. So nicht!

Christina Schmid Kommunikationsdesignerin & Kulturpublizistin K체nstlerin & Schriftstellerin Sprache & Gestalt Dings, 채hm ... Punkt. .

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!!! Punkt. Nein, Ausrufezeichen! Zwei!! Drei!!! Nun stehen sie da und hallen nach, als hätten sie zu laut gelacht. Sowohl von lautem Gelächter als auch von Ausrufezeichen will man wissen, was davor kam. Und, was war? – Unangemessen überschwänglich und viel zu euphorisch. Der Punkt ist entlarvt. Er vollführt hier seine Akrobatik mit dem Strich, ohne zu beachten, was er da unterstreicht. Aussagen waren gestern. Der alles ironisierende Zeitgenosse bevorzugt den Punkt.

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du das ist zumeist einer, den ich liebe, geliebt habe oder lieben wollte. Oder ich, im Selbstgespräch, die ich mir etwas vorwerfe und mich auffordere endlich anzufangen.

ich das bin ich. Wie ich bin, im Moment, immer wieder anders. Wie ich sein will. Oder wie ich nicht sein will. Mein schreibendes Ich ist wer anders.

ihr meist ein Vorwurf. Eure Welt, eure Regeln, euer System. Ihr seid anders, wollt und erwartet etwas von mir, das ich nicht kann, will und bin.

wir ein Konstrukt in meinem Kopf, erträumt und selbst wenn auch mal real ein wir da ist – mein wir besteht aus mir, und dir – wie ich dich sehe und sehen will.

er wird oft mitten im Text zum du. Wenn ich in Erinnerungen schwelge, mich in Sehnsüchte stürze und dir sagen will, was nie oder zu oft gesagt wurde.

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Alles grau »Das Staunen über die Welt gehört den Kindern, aber das Staunen über die Kinder gehört den Erwachsenen.« Wie sieht es aus, wenn Kinder einfach gehen? Am Ende sind da leere Schulen und Bürgerwehren, ein gespenstisches Endzeit-Szenario, das nur einen Schritt von der Realität entfernt ist, in der der Film Die Vermissten beginnt. Der Berliner Regisseur Jan Speckenbach zeichnet in seinem Langfilmdebüt eine Dystopie des Aufstands der Jungen gegen die Alten: Die Erwachsenen hier werfen den Kindern vor, ihre Zeit zu verschwenden, als gäbe es endlos Nachschub – »Besser als selbst der Nachschub zu sein« für eine Welt, in der alles grau ist. Grau ist der Mantel von Lothar (André M. Hennicke), seine anfangs noch ordentlich zurückgekämmten Haare und immer länger werdenden Bartstoppel, die Stadt und der Himmel, über den graue Tauben hinwegziehen. Traurig verstimmte und zugleich aufreibende und antreibende Geigen begleiten die Suche des unfreiwilligen Vaters nach seiner plötzlich vermissten Tochter Martha, zu der er seit Jahren keinen Kontakt hatte. Fragend steht er vor der wortkargen, zwölfjährigen Lou (Luzie Ahrens), die wie Martha der Gruppe ›Ratten der Lüfte‹ angehört, hämmert gegen die verschlossene Tür von Eltern, deren Sohn vermisst wird, und fährt scheinbar ziellos durch trostlose Landschaft, bis sein Auto im Regenmatsch feststeckt. Dort suchen drei Jugendliche bei ihm Unterschlupf für die Nacht, auch die vermisste Martha, ohne auszusprechen, dass sie ihn erkennt. Am nächsten Morgen steckt das Auto noch immer fest, die Kinder sind weg und mit ihnen Lothars Geld. Nach einem strapaziösen Fußmarsch findet er zurück in die Stadt, wo Polizisten Kleinkinder zum eingezäunten Spielplatz begleiten, weil es Kindern verboten ist, sich allein ohne Erwachsene auf der Straße aufzuhalten. Fast wortlos führt uns der Film zusammen mit Lothar, der zu allem Überfluss Ingenieur für Reaktor-Sicherheit ist, als Beobachter durch eine sich verändernde, scheinbar heile Welt, der das Fundament zu zerfallen droht. Was bleibt ist das Gefühl der Beklemmung über die großen Fragen, die von einer Kindergeneration an die nächste weitergegeben werden. Er wirft Fragen auf, die er nicht beantworten kann, was irritiert oder dazu anregt, sich selbst zu fragen, wann man vom Kind zum Nachschub geworden ist. ›Die Vermissten‹ werfen alles hin und gehen weg, obwohl sie nicht wissen, ob es woanders besser ist. Sie fliehen vor den bewaffneten, alten Männern der Bürgerwehr, die die Kinder gewaltsam in die Welt der Erwachsenen zurückholen will. Der Kinderkreuzzug zieht durch ein verlassenes Dorf der westdeutschen Provinz, vorbei an Lothar, der hier seine Tochter ein letztes mal sieht – und gehen lässt.

Kurs: Textanalyse und Textproduktion Textsorte: Rezension Mentor: Manfred Papst 11


Parkett Eine Kunstzeitschrift als Künstlerin, Kritikerin, Kuratorin, Händlerin und Sammlerin Wer im Theater einen Platz im Parkett ergattern kann, sitzt direkt vor der Bühne und nah beim Künstler. Das Parkett wurde selbst zur Bühne, als 1984 fünf junge Schweizer beschlossen, eine Kunstzeitschrift zu gründen, um nah mit Künstlern zusammenzuarbeiten, anstatt nur über sie zu schreiben. Die Gründer schafften sich mit ihrer Publikation die Möglichkeit, tief in die Kunstwelt einzutauchen und sich mit einer ruhigen, klassischen Form von den etablierten internationalen Kunstzeitschriften abzuheben. Bis heute füllt Parkett die Bücherregale von Kunstliebhabern, Künstlern und Museen mit mittlerweile 90 Bänden der »umfassendsten und innovativsten Buchreihe für Gegenwartskunst weltweit«, wie sich Parkett auf seiner Internetseite anpreist. Wie behauptet sich Parkett in der immer noch schneller steigenden Flut an Kunstpublikationen und Künstler-Monografien? Wir fragen die Mitbegründerinnen und -herausgeberinnen von Parkett Jacqueline Burckhardt und Bice Curiger und bekommen Anekdoten aus 28 Jahren enger Zusammenarbeit mit Künstlern, die sich um die Geschichte von Parkett ranken. In den Redaktionsräumen des Zürcher Parkett-Verlags stellt sich auch der Redakteur Mark Welzel unseren Fragen zum Alltag bei Parkett. Diese Synthese aus Recherche und Gesprächen fasst zusammen, wie das Parkett zur Bühne wurde, welche Rolle Parkett auf den Weltbühnen der Kunstpublizistik und des Kunstmarkts spielt und wie bei Parkett getanzt wird. »Jetzt Reflektieren, Vertiefen und nicht in dieses Art-Fever geraten.« Unsere Gastgeberin Jacqueline Burckhardt empfängt uns inmitten von hämmernden, bohrenden und weißelnden Handwerkern. Noch ein Tag bis zur Vernissage der neuen Galerieräume im Löwenbräu-Areal. Hier sind sie alle versammelt: die 90 Parkett-Ausgaben, ausgesuchte ›Ideen, Variationen und Unikate‹ der Parkett-Künstlereditionen, der Mitherausgeber Dieter von Graffenried sitzt entspannt mit Musik aus seinen Kopfhörern und an einem Brötchen kauend in einem Bürosessel und beobachtet das Treiben. Jacqueline Burckhardt ist sichtlich erfreut uns die Künstlereditionen heute im Original präsentieren zu können. Die gelernte Restauratorin schiebt sich die Lesebrille auf die Nasenspitze und will gerade mit ihrer Sonderführung beginnen, als Bice Curiger den neuen Parkett-Ausstellungsraum betritt. Die beiden Damen erzählen uns nun gemeinsam und abwechselnd von den Anfängen von Parkett: »Anfang der achtziger Jahre gab es in Europa einen Aufbruch in der jungen Kunstszene, der auch in Amerika wahrgenommen wurde. Künstler aus unserer Generation konnten plötzlich in Amerika ausstellen.« Bice Curiger erinnert sich an die damalige Situation in Zürich, wo die ›Bewegig‹ neue Ströme und Gedanken in der Schweizer Kunstszene freisetzte. Das Umfeld sei hingegen frustrierend gewesen: Jacqueline Burckhardt hatte am Kunsthaus Zürich gegen einen Finanzdirektor zu kämpfen, der die von ihr organisierten Performances überflüssig fand, weil sie nur wenig Publikum anzogen, und an ihre eigene 12


Tätigkeit beim Tages-Anzeiger, wo sie sich in journalistische Formen gezwängt sah, die ihrer Leidenschaft für eine reflektierte Auseinandersetzung mit Kunst und Künstlern nicht entsprachen. Aus dieser Frustration heraus fanden sich Peter Blum (Büchermacher), Jacqueline Burckhardt (Restauratorin und Übersetzerin), Bice Curiger (Kunstkritikerin und Übersetzerin), Dieter von Graffenried (Ökonom und Jurist), Walter Keller (Volkskundler) zusammen und erweiterten die damalige Kulturpublizistik um ein neues Format. »Ein Hauch von luxuriöser Narrenfreiheit liegt, so scheint es, über diesem Parkett made in Switzerland«, schrieb die ZEIT schon 1989 zum fünften Geburtstag der Zeitschrift, die den Grundsätzen von damals bis heute treu geblieben ist. Während sich der Kunstbetrieb beschleunigte, Flüge billiger wurden und Informationen immer schneller zirkulierten, entschieden sich die Herausgeber einerseits für ein langsames Medium, das sich Zeit lässt für präzises Arbeiten, Sorgfalt und Qualität, andererseits gegen eine eigene Redaktion, die jeden Monat ein Heft produzieren muss. Im Kontrast zu den Schlagzeilen der damaligen Kunstzeitschriften, sagten sie sich bei Parkett: »Jetzt Reflektieren, Vertiefen und nicht in dieses Art-Fever geraten.« Jacqueline Burckhardt erläutert: »Auf den Künstlern lastet der enorme Druck des Kunstbetriebs, ständig für Ausstellungen und Galerien zu produzieren, nie den Augenblick für sich zu haben und den Rückzug, um zu reflektieren, sich zu vertiefen, zu konzentrieren, um sich wieder ohne Hektik auf ihre künstlerische Arbeit einzustimmen.« In der engen Zusammenarbeit mit den Künstlern kann man sich diesem Druck auch bei Parkett nicht ganz entziehen, aber Parkett gehe es um Inhalte und für Inhalte hektisch zu sein sei eine andere Hektik. Inhalte bei Parkett bedeuten neben langen Bildstrecken vor allem seitenlange Kunsttheorie, mindestens drei Texte von verschiedenen Autoren pro Künstler. In keiner Kunstzeitschrift werden Künstler so umfangreich und mehrstimmig besprochen. »Wir suchten und suchen noch immer Autoren, von denen wir denken, dass sie eine kompetente Stimme haben oder die zu dem Künstler passen, über dessen Arbeiten sie schreiben.«, so Bice Curiger. Die Autoren werden in Absprache mit dem jeweiligen Künstler gesucht, kritische Stimmen findet man wohl eher keine – es sei denn ein Künstler käme mal auf die Idee. Solange die Qualität stimmt, ist der Künstler bei Parkett König. Anfangs wollte Parkett vor allem eine Brücke zwischen europäischer und amerikanischer Gegenwartskunst schlagen. »Wir waren früher wirklich Amerika-orientiert. Nach der Wende ist vieles passiert, was unsere Wahrnehmung der Welt verändert hat. Seit dem Fall der Mauer ist die Welt für uns erst wirklich rund geworden.« Alle Texte erscheinen bei Parkett zweisprachig. Ein begeisterter Parkett-Leser kommentiert das in der Jubiläumspublikation Parkett – 20 Years of Artists’ Collaborations als »Sprachschule, die den Diskurs präzisiert« und als »Diplomatie«: Zuerst der Originaltext, dann die Übersetzung. So musste nie pauschal entschieden werden, welche Sprache im Vordergrund steht. Parkett wird weltweit gelesen, wenn auch die meisten Leser in Europa oder Amerika leben. Die vertretenen Künstler werden möglichst international zusammengewürfelt, soweit die feine Nase für gute Kunst über den kulturellen Tellerrand der Schweiz, Europa und Amerika hinaus eben funktioniert. Diese feine Nase war die Grundvorraussetzung für den Erfolg von Parkett – neben dem gut vernetzten Freundeskreis in der Kunstwelt und dem bis heute währenden Idealismus der Herausgeber. 13


»Was gibt es alles in der Kunst? Den Künstler, den Kritiker, den Kurator, den Händler und den Sammler. Im Grunde genommen sind wir all das in einer Person.« Parkett-lesend in der New Yorker Subway-Station, Parkett-lesend auf einem Karussell, Parkett-lesend mit blutender Nase, Parkett-lesend als Kaiser von China – eine Fotoserie von Christian Jankowski an der Wand der Galerie im Löwenbräu-Areal. Während uns Bice Curiger durch die Ausstellung der Parkett-Künstlereditionen führt erklärt sie: »Die Editionen haben wir kreiert, um mit dem Verkauf den Drucker zu bezahlen und um nicht total von den Inseraten abhängig zu sein.« In einer Vitrine liegen die berühmten Handschuhe von Meret Oppenheim, den Rahmen bildet der ausgestanzte Buchblock der Parkett-Ausgabe No. 4. Daneben steht das Bücher-Gestell von Franz West von 2004, das Platz für 2 mal 20 Jahre Parkett bietet. Viele der Künstler thematisieren in ihrer Edition, dass sie nun etwas für Parkett machen und orientieren sich am Format der Publikation oder am Medium Buch. Die Künstler werden für die Editionen wie Dienstleister beauftragt, dafür jedoch nicht bezahlt. »Wenn wir produzieren, bekommen sie zehn römisch nummerierte und wir zehn arabisch nummerierte Exemplare. Das ist das Honorar.« erklärt Bice Curiger das ungewöhnliche Finanzierungsmodell. Alle Beteiligten helfen sich somit gegenseitig: Die Künstler werden zum Sponsor für die Querfinanzierung von Parkett, dafür wird über sie geschrieben, Parkett wird zum Kunsthändler und mischt sich so in den Kunstmarkt ein. Die Künstlereditionen sind so konzipiert, dass sie von Privatleuten gekauft und in der eigenen Wohnung ausgestellt werden können. Nicht zu groß und nicht zu teuer. Doch sind die Editionen mittlerweile so begehrt, dass sie auch von Museen gesammelt werden: eine aufblasbare Blume von Jeff Koons, eine lebensgroße Porträtfotografie von Pipilotti Rist, eine Fliegenklatsche von Ai Weiwei, und so weiter. Auf der ganzen Welt suchen die Parkett-Herausgeber nach guter Kunst. Was ist gute Kunst? Jacqueline nennt die Energie, die Impulse, die Kraft, die ein Kunstwerk auslösen kann im Vergleich mit Kunst, die imitiert. »Ein Künstler muss sehr viel wissen, sehr neugierig sein, ständig arbeiten. Talent und Bauchgefühl sind sehr bald aufgebraucht. Es ist mit kolossaler Arbeit verbunden, innerer Arbeit.« Welche Künstler ins Parkett passen, werde Jacqueline Burckhardt und Bice Curiger oft auch zugeflüstert, »von Menschen, die uns wichtig sind. Künstler haben eine sehr schnelle Wahrnehmung von guten Kollegen.« Viele der Parkett-Künstler wurden zu Freunden, ihre erfolgreiche Vermarktung sei ein Effekt, aber nicht die Absicht von Parkett. Parkett sei kein Förderinstitut, wird beteuert. Und doch spielt eine Kunstpublikation eine maßgebliche Rolle dabei, welche Künstler in der Kunstwelt Beachtung finden und welche nicht. Man stelle sich nur mal vor, in der Redaktion von Parkett ›die mysteriöse Liste‹ zu entdecken und daraufhin schnell in die ›richtige‹ Kunst zu investieren. Jacqueline Burckhardt fasst die Rolle von Parkett auf den Weltbühnen der Kunstpublizistik und des Kunstmarkts so zusammen: »Was gibt es alles in der Kunst? Den Künstler, den Kritiker, den Kurator, den Händler und den Sammler. Im Grunde genommen sind wir all das in einer Person. Parkett versammelt als Zeitschrift alle Elemente, die den Kunstbetrieb charakterisieren. Das gibt es nicht oft.« 14


»Es war von Anfang das Bekenntnis, dass wir Partner der Künstler sind.« Parkett bietet seinen Künstlern Platz. Jacqueline Burckhardt blättert durch verschiedene Ausgaben und kommentiert die seltsamen Rubriken und kuriosen Etiketten, die dem schnellen Leser überhaupt nicht sagen, wo es langgeht. Neben ›Insert‹ (von einem Künstler gestaltet), ›Cumulus‹ (ein kritischer Blick auf die Kunst- und Ausstellungsszene), ›Balkon‹ (literarische Beiträge) und ›Infos du paradis‹ (kurze Berichte über einzelne Kunstereignisse) bildet den Hauptteil die ›Collaborations‹ mit je drei Artikeln und zahlreiche Abbildungen pro Künstler, die deren Werk umfassend reflektieren und zugänglich zu machen. Die Künstler selbst dürfen nicht nur bei der Auswahl ihrer Autoren mitreden, sondern auch in die Gestaltung im Buch eingreifen – was sie mal mehr und mal weniger in Anspruch nehmen. Jacqueline Burckhardt nennt uns Nicole Eisenmann, die keine Kunstkritiker wollte, sondern nur Poeten, aus der ›New York School of Poetry‹: »Rohe subkulturelle Texte, in denen es ums Biertrinken geht«. Parkett No. 90 enthält erstmals eine CD von Hans Berg, der die Musik zu Nathalie Djurbergs Filmen schreibt. Dass ihrem Partner in den Texten so viel Aufmerksamkeit zukommt, war der ausdrückliche Wunsch der Künstlerin, der wurde erfüllt. Die 90 völlig verschiedenen Titelblätter von Parkett zeigen die ausgesprochene Vielfalt, welche die direkte Zusammenarbeit mit den verschiedensten Künstlern ermöglicht. Schon die Buchrücken sind kleine Kunstwerke für sich: die Ausgaben eines Jahres stammen von einem Künstler und ergeben nebeneinander im Regal stehend ein zusammenhängendes Bild – oder auch nicht, wie Francis Alÿs, der mit seinen Spines den Eindruck erweckt, als würde zwischen Parkett No. 62 und 63 eine Ausgabe fehlen. Douglas Gordon wollte ein verspiegeltes Titelblatt mit gespiegeltem Text. »Das wurde mit den anderen Künstlern der Ausgabe abgeklärt und die waren einverstanden«, erzählt Bice Curiger. »Es gehört zum Parkett, auf die Künstlerideen einzugehen, denn es war von Anfang das Bekenntnis, dass wir Partner der Künstler sind.« So umfangreich, wie Parkett in die Welt der Kunstproduktion eintaucht, hebt sich die ›Parkett-Reihe mit Gegenwartskünstlern‹ stark von anderen Kunstzeitschriften ab. Um sich nun auch stärker von der Flut an Künstler-Monografien abzugrenzen, hat Parkett in den letzten Jahren sein Format verändert: Zu Beginn erschien Parkett vierteljährlich, dann drei mal und seit 2012 nur noch zwei mal pro Jahr. Dafür wurden die Ausgaben umfangreicher. Parkett No. 19 war die erste Doppelnummer mit Martin Kippenberger und Jeff Koons – »eine Gegenüberstellung: USA – Europa, der eine ein leidender Zyniker – der andere frei von Zynismus. Danach ist zwischen den beiden eine richtige Freundschaft entstanden.«, erinnert sich Bice Curiger. »Irgendwann wurde das Bipolare der Zweier-Nummern langweilig, und wir haben uns entschieden, mit drei Künstlern pro Heft zusammenzuarbeiten.« Aktuell gibt es vier Künstler-Collaborations pro Ausgabe. Die Künstler einer Ausgabe sollten sich nicht zu ähnlich sein, sondern spannungsvoll ergänzen und gegenseitig steigern, so Jacqueline Burckhardt. »Die Künstler, die wir zusammenstellen, bekommen wie eine Art Beziehung zueinander, weil sie hier zusammen erschienen sind: ›You are my partner in Parkett!‹«

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»Wir schreiben uns in die Zeit ein.« Bice Curiger verabschiedet sich zu einem Interviewtermin beim Radio und wir folgen Jacqueline Burckhardt vom Löwenbräu-Areal durch die Straßen zur Redaktion des Parkett-Verlags. Nun sitzen wir eingeklemmt zwischen Bücherregal und Schreibtisch eines provisorisch umgeräumten Büros und befragen den Redakteur Mark Welzel, den Jacqueline Burckhardt als Verstärkung zum Interview dazu geholt hat – obwohl Parkett No. 91 kurz vor dem Druck steht. Mark Welzel beschreibt den Alltag bei Parkett als über das Jahr verteilt dynamisch: »Kurz vor Druck nimmt die Dynamik zu. Am Anfang braucht es eine sehr langsame Zeit, bis alle Bestandteile da sind, das Kontaktieren der Autoren, Texte, Bilder und wir können eigentlich immer erst so richtig beginnen, sobald eine Collaboration komplett ist. Dann fließt es gemächlich dahin und jetzt im Moment ist es, ja, ein bisschen katastrophal.« Wenn die letzten Texte eingetrudelt, alle Layouts ausdiskutiert und das Buch gedruckt und gebunden ist, wird er ein bisschen ins Leere fallen. Doch das nächste Parkett kommt bestimmt. Zumindest hat er nicht mit der Schnelllebigkeit von herkömmlichen Zeitschriften zu kämpfen. »Was wir immer noch sind: eine Zeitschrift, also etwas das sich in der Zeit schreibt, ein Zeitdokument. Wir schreiben uns in die Zeit ein.« Aber: Parkett wird gesammelt und ist als Buchreihe, die sich gut hält, fast schon ein Nachschlagewerk für die Gegenwartskunst der letzten drei Jahrzehnte. Die klassische Gestaltung mit Antiqua-Schrift hat sich seither kaum verändert. Dabei war das Layout für eine Zeitschrift über zeitgenössische Kunst zur Gründung in den 80er-Jahren, einer Zeit der schreienden Fanzines, noch ungewöhnlicher als heute. Parkett blieb dabei. »Auch aus Respekt für die Autoren, für die Übersetzer, für die Leistung – dass man das pflegt und gut lesen kann, da schon die Texte recht kompliziert sind. Das war uns wichtig und das kann man auch behalten. Es ist ein Klassiker, bei dem man umso wilder mit den Inhalten und Bildern umgehen kann.« Jacqueline Burckhardt fügt lachend hinzu: »Wir sind gerne altmodisch. Beständig.« Diese Beständigkeit scheint die Leserschaft an Parkett zu schätzen, auch wenn die Leser niemand so genau kennt. Bewusst biete Parkett keine ergänzende Publikationsform im Internet an, auch weil die Haptik, verschiedene Papiere oder sogar Formate innerhalb des Buches Teil der besonderen Qualität von Parkett seien, so Jacqueline Burckhardt. Sie blättert zu einem ›Insert‹ von John Baldessari. Die eingekürzten Buchseiten ergeben ein Buch im Buch mit halbierten und neu kombinierten Film-Stills. »Wir wollen eine Publikation machen, in der es gar nicht anders geht, als dass es ein physischer Körper ist. Das ist das Kunsthalle-Prinzip: Wir brauchen einen Raum, eine Publikation, die physisch präsent ist.« Die physische Präsenz von 10 000 Exemplaren wird den Parkett- Machern ganz besonders bewusst, wenn ein Ryan Gander seine acht (?) vom Drucker mühsam monochrom bedruckten Seiten aus dem Buch herausgerissen haben möchte und die gesamte Parkett-Redaktion dabei Hand anlegt. So beschaulich geht es zu hinter den Kulissen von Parkett, das auf der Weltbühne der Kunst nicht nur zuschaut, schnüffelt und kräht. Die Besonderheit von Parkett ist das »Eindringen« in den Kunstbetrieb und das »Verwobensein mit der Materie«, was auch der gestickte Parkett-Schriftzug symbolisiert. Zum Abschluss des Nachmittag im Anekdoten- archiv von Parkett zeigen uns 16


Jacqueline Burckhardt und Mark Welzel das Original: 1984 von Bice Curigers Mutter gestickt, hängt das Betttuch mit Schriftzug im Flur des Parkett-Verlags – ungebügelt, aber gerahmt.

Kurs: Interviews mit Gastdozierenden Textsorte: Synthese aus Recherche und Interview Mentor: Ruedi Widmer

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Wir Wer Wir ist, wurde gefragt Wir, das sind alle Alle, die mit im Raum sitzen Wo wir oft gefragte Fragen fragen Wir wurden zu Fans, zu Komplizen Komplizen kennen keine Kritik Kontext, mehr Kontext Doch wir sind begeistert Begeistert bin zumindest ich Die ich Wir schreibe Im Text also auch ihr Weil ein Wir das Ich vermeidet

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Jaja Ich werde gerne zur Komplizin derjenigen, über deren Inhalte ich schreibe. Werde zum Fan, zum Abnicker, zum Ja-Sager, zum Sprachrohr. Habe ich überhaupt eine eigene Stimme? Die kritische Position ist mir unangenehm. Ich glaube mir selbst weniger, als allen, die ein Buch geschrieben, ein Bild gemalt, den Mund aufgemacht haben. Womöglich wurde ich zu harmoniebedürftig erzogen, kann gar nichts dafür, kann nicht raus aus meiner Haut. Kritik bleibt drinnen, für den schönen Schein nach außen.

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Euch interessiert also nur der Rahmen Von Außen nach Innen Das Außen stülpt sich über Alles Vom Vorhang ins Licht Der Vorhang bildet den Hintergrund Vom Rahmen zur Form Der Rahmen erdrückt den Inhalt Welcher Inhalt eigentlich?

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Die Kunst und ihre Richter Kunst zu bewerten gehört zum Alltag in Kulturgremien, Kulturredaktionen und Kunsthochschulen. Die Zürcher Hochschule der Künste lud zu einer Tagung mit dem Titel »Kunst-Wertungen – die Kunst und ihre Richter« mit acht Vorträgen plus Podiumsdiskussionen. Die Kunst war nicht eingeladen. »Und? hat es dir gefallen?« Etwas wackelig gefilmt stehen Betrachter um ein Kunstwerk am Boden. »Wie lässt sich das in Worte fassen?« Eine versucht zu beschreiben, was sie sieht: eine Landkarte vielleicht? Ein anderer fällt ihr ins Wort. Nein. Doch. Die Diskussion verebbt auf dem Weg zum nächsten Kunstwerk. Der Linguist Heiko Hausendorf stoppt den kurzen Filmausschnitt und erläutert: In ihrer Unsicherheit greife die Kunstbetrachterin zunächst auf »pragmatisch-semantische Mittel« zurück – Bezug nehmen, beschreiben, deuten, erläutern. Dann wird bewertet. Das Bewerten von Kunst sei allgemein ein »Zugzwang der Kunstkommunikation«. In einem weiteren Filmausschnitt, diesmal eine Ausstellungsszene aus Woody Allens Manhattan, zeigt Hausendorf, wie sogar der eigene Geschmack peinlich werden kann, wenn Jargon und Fachwortschaftnicht stimmt. Damit ist er beim Thema: Das Reden über Kunst. Auf dem Podium neben dem Sprachwissenschaftler sitzen, an einer langen Tafel aufgereiht, ein Kulturkritiker, zwei Kulturpublizisten, drei Juristen und der Moderator, ebenfalls Jurist. Die hier versammelten Kunstrichter arbeiten ausschließlich mit Sprache, was der Jurist Felix Uhlmann als Dilemma der juristischen Kunstbewertung bezeichnet. In der Kunst lasse sich nicht alles ohne weiteres verbalisieren. Doch Künstler einzuladen hätte den Rahmen der Tagung gesprengt, heißt es in der Begrüßungsrede von Thomas D. Meier, Rektor der Zürcher Hochschule der Künste. Viel Raum wird an diesem Nachmittag vor allem den Rechtsfragen gegeben, die schon das Bewerbungsverfahren einer Kunsthochschule mit sich bringen kann, wie Mischa Senn, Leiter des Zentrums für Kulturrecht der Hochschule, in seiner Einführung bemerkt. Richtig und falsch werden ersetzt durch gut und schlecht, aber auch diese müssen plausibel argumentiert werden. Um Beurteilungskompetenz geht es sowohl bei institutionellen Fachjurys, als auch in der Kunstkritik der Massenmedien, und darüber hinaus beim Publikum, dem sich mit dem Internet eine Plattform für Kulturkritik eröffnet. 1. Bewertung durch Experten und Institutionen Der staatlichen Kunstförderung, die sich aus öffentlichen Geldern finanziert, wird besonders auf die Finger geschaut. Welche Kunst gefördert wird, ist auch eine politische Entscheidung, wie aus der Diskussion zwischen dem Juristen Felix Uhlmann und dem Präsidenten der Eidgenössischen Kunstkommission Hans Rudolf Reust hervorgeht. Die Kulturpolitik der Schweiz sehe vor, »das Abendland zu verteidigen« und gleichzeitig die Integration zu fördern. Dies mag ein Grund sein für die »Tendenz zur Gießkanne der Kulturförderung«, so Uhlmann. Nach fünf Jahren in der Schweiz sind auch immigrierte Künstler bei den 21


‚Swiss Art Awards‘ wettbewerbswürdig. Die Preise für Kunst, Architektur und Vermittlung werden jährlich verliehen. Um offenzulegen, wer warum gefördert wird, seien »Transparente Kriterien« notwendig, so Reust in seinem Vortrag. Eine Fachjury aus sieben ständigen und zwei externen Kritikern diskutiere öffentlich vor den 70 bis 80 Kunstbeiträgen in der Ausstellung, die während der Art Basel zu sehen ist. Eine gerechte und respektvolle Bewertung von Kunstwerken bedürfe einer Fachkompetenz, die möglichst nahe an der aktuellen Kunstentwicklung steht. Wenn die Frage nach der Rechtsgrundlage von Kunst-Beurteilungen aufkommt, fühlen sich Juristen laut Uhlmann, wie »Affen, die über Kunst richten«. Er nennt die Probleme: die Wertung, die Artikulation, die Kommunikation, der Aufwand – und die Lösungen: Formalismus, Expertise, Rotation, Kleckern (wieder die Gießkanne). Uhlmann und Reust sind sich einig: Eine professionelle Wertung von Kunst findet sich nicht in handfesten Kriterien, sondern im qualitativen Diskurs. 2. Bewertung durch Kunstkritik Wie die Kunstkritik in den Massenmedien mit Bewertungskriterien umgeht, beschreibt Manfred Papst aus seiner Sicht als Leiter des Kulturressorts der NZZ am Sonntag. Als Kulturjournalist sei er ein »kultureller Vielfraß« und zugleich »Schleusenwärter und Abwehrspieler«, der eine Auswahl treffen muss. »Man steht mit dem Kaffeelöffel am Ozean«, um hier zumindest einen der wohlformulierten Sätze aus Papsts Vortrag zu nennen. In der lokalen Kulturszene sei man nicht nur dem persönlichen Geschmack, sondern »der eigenen Feigheit vor dem Freund« ausgeliefert. Er fordert Distanz, Neugier und Mut für die Kulturkritik. Als Ressortleiter muss er Verantwortung an seine Mitarbeiter abgeben, was nur unter der Vereinbarung kultureller Kriterien funktioniere: Was rein darf, müsse inhaltlich relevant sein, formal überzeugen, eine persönliche Handschrift tragen, informativ sein und einen Fortschritt beim Urheber bezeichnen. Darüber hinaus solle Kulturkritik immer über den Augenblick hinaus aufklären und unterhalten. Die Wertung in Rezensionen ignoriere der Konsument zumeist, die Erwähnung eines Theaterstücks spiele eine wichtigere Rolle als dessen Bewertung. Dem Juristen Herbert Pfortmüller zufolge, wiegt eine schlechte Bewertung schwerer, wogegen eine gute schnell zu Jubelkritik wird. Das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit der Meinungsäußerung und dem Schutz der Persönlichkeit beleuchtet er in seinem Vortrag. Mathias Berger, ebenfalls Rechtsanwalt, erklärt in seinem Vortrag die Kunstkritik zu Kunstform. Das Urheberrecht setze der Kunstkritik kaum Grenzen, es erkläre sogar die besondere Kritikform der Parodie als zulässig. Eine Kunstkritik könne sogar eine unzulässige Wettbewerbsverfälschung darstellen, dann entstehe ein Konflikt zwischen der Meinungsfreiheit und dem Lauterkeitsrecht. Manfred Papst übersetzt: Zwischen Kritikern und Künstlern gibt es eine Hassliebe.

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3. Bewertung durch das Publikum Maßgebend ist immer das Publikum, so Mischa Senn in seinem Vortrag über »die Rechtsfigur des durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsrezipienten«. Stefan Schöbi, Leiter der Internetplattform kulturkritik.ch diagnostiziert ein Image-Problem des Kulturressorts und eine Verschwörung zwischen Kulturjournalisten und ihrer kleinen, aber feinen Leserschaft. Kulturjournalismus müsse sorgfältiger platziert werden und besonders hochwertig sein. Das Projekt kulturkritik.ch gibt dem Kulturpublikum eine Stimme und fördert den kulturjournalistischen Nachwuchs, sowie »echte« Kritik. Diese Demokratisierung der Kunstbewertung bietet Anlass, zurück zur ersten Frage zu gehen: »Und? hat es dir gefallen?« Heiko Hausendorfs sprachwissenschaftlicher Betrachtung der Kunstbewertung von Woody Allens Gegenspielerin Diane Keaton in Manhattan eröffnen drei Argumentationsstrategien, um die Subjektivität des persönlichen Geschmacks untermauern: Erstens die Autorität, also den Rang und den Wert eines Kunstwerks zu benennen. Zweitens die Affektivität, also die persönliche Wirkung und den Eindruck zu schildern. Drittens die Objektivität, also die formale Qualität zu ermessen. Bleibt noch ein Wunsch an die Tafelrunde der Herren Kunstrichter: Lassen Sie beim nächsten mal die eine oder andere Künstlerin den kunstkritischen Rahmen sprengen, oder zumindest zu Wort kommen.

Kurs: Grundfragen der öffentlichen Kulturkommunikation Tagung an der ZHdK, Oktober 2012 Textsorte: Veranstaltungsbericht

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Meine Reportage stellt mich vor Wie du mich heute schon wieder ansiehst – ich halte deinen Blick nicht mehr aus. Von Anfang an konntest du mich nicht so recht leiden. Dabei kann ich doch nichts dafür, dass dir mein Thema nicht passt und schließlich hast du dich selbst entschieden, dass ich eine Reportage über Spielplätze werden soll. Nun ja, ganz frei warst du dabei nicht, aber hallo? Wer will schon was über verstaubte Archivare lesen! Dass du nicht gerne spielst, glaube ich dir nun, so verkrampft wie du mir jetzt, mitten in der Nacht, die Worte immer und immer wieder umdreht, anstatt mit dem Material zu spielen. All das untranskribierte Gesagte macht dich nervös, am liebsten hättest du wohl alle Gespräche abgetippt und ein Stichwortverzeichnis à la Erwin Koch angelegt. Dabei weiß ich genau, wie sehr du an jedem verschriftlichten Satz hängst und meine Stimme dann viel zu kurz kommt. Die Monologe deines Spielplatz-Experten erdrücken mich, egal wie schlau die Dinge sind, die er da sagt. Kannst du dir denn wirklich gar nichts merken und etwas kritischer mit dem Material umgehen? Weniger Selbstkritik während des Schreibens wäre allerdings angebracht. Was dich am Thema Spielplatz interessiert, ist die Sicht der Spielplatzgestalter. Nachdem deine Dozenten immer wieder betont hatten, ich dürfe keinesfalls ein Unternehmensportrait werden, hast du vorübergehend dein Ziel aus den Augen verloren. Deine Suche nach Spielplatzgeschichten war vielleicht etwas halbherzig. 24


Die spielenden Kinder hatten verständlicherweise keine Lust mit dir übers Spielen zu reden, die Mütter am Rand dafür umso mehr, aber nichts Erzählenswertes zu erzählen. Welch unnötiger Umweg! Du hast gesammelt und gelesen und vergessen, dass allein der erste Tag auf der Bildungsmesse und auf drei großartigen Spielplätzen so ergiebig war, dass du mich sofort hättest runterschreiben können. Stattdessen lässt du mich warten und zwar so lange, bis der Abgabetermin meines ersten Fragments immer näher rückt. So sehr du dir vormachst, für diese Zwischenabgabe als Kontrollmaßnahme aus der Grundschule zwischenzeitlich zu alt zu sein – sie scheint notwendig. Nacht für Nacht verbringen wir jetzt zu zweit, aber eigentlich habe ich schon lange genug von deiner schlechten Laune. Ich weiß nicht, ob du uns Reportagen generell nicht magst, aber wenn eine Geschichte sich nicht von alleine erzählt, willst du sie wohl auch nicht konstruieren.

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Mehr Spielraum für alle Wie gestaltet man Orte, die Augen und Ohren, Hände und Füße wachkitzeln? Spielplatzgestalter fordern kleine und große Kinder zum Spielen heraus – und immer auch sich selbst. Dieser Ort ist besonders. Die Hände fühlen sich magisch angezogen von rauem Holz, die Füße wollen jetzt klettern, das Kopfkino geht los: vielleicht ein Abenteuer auf See mit Flucht vor Piraten, eine Jagd über die kleine Rutsche bis auf den hölzernen Berg. Die Aussicht von dort oben ist gut, denn der neue Spielplatz im Basler Erlenmattpark wirkt wie abgestellt in einer verlassenen Mondlandschaft. Das Wohnviertel rings herum muss erst noch gebaut werden. So sind die krummen Baumstämme schon von weitem zu sehen. Sie strecken sich vom hölzernen Kletterturm wie abstehende Haare den tiefhängenden Schlechtwetterwolken entgegen. Zwei silbern glänzende ›Röhrenrutschenkurven‹ winden sich aus den massiven Holzwänden nach unten zum Kiesboden, wo sich eine verwinkelte Spiellandschaft erstreckt: Granitfelsen unter hellen Sonnensegeln neben verschachtelten Gängen aus rostigen Metallwänden und bemalten Holzmauern mit bunten Klettergriffen und Fenstern aus farbigem Plexiglas. Ein lockeres Gewirr aus Holz, wie hingeworfen, aber gut verschraubt. Daneben ein rot bemalter, kugeliger Haufen Holz mit verstecktem Eingang zu einem gemütlichen Nest. Von hier drinnen fühlt sich die Welt dort draußen an, als wäre sie weit weg und das gleichmäßige Rauschen der Hauptstraße wird zur Meeresbrandung. An diesem trüben Vormittag ist Paula noch das einzige Kind auf dem Spielplatz und hat sich gerade eingerichtet: »Das ist mein Haus und das da ist ein Wald. Da hinten, da wo die Gitterstäbe sind, ist ein Gefängnis.« Jetzt will Paula die Rutschen ausprobieren und rennt über den knirschenden Kies zu ihren Eltern. Die sitzen am Rand einer großen runden Schaukel und lassen die Beine baumeln. Alle sollen mit in den Turm klettern – außer die Mama, weil der Babybauch schon so rund ist. Der Aufstieg zu den Rutschen ist ungewöhnlich kompliziert. Der Papa windet sich im Holzgewirr und stellt fest: »Das ist echt ein bisschen tricky zwischen all den Ästen einen Weg zu finden, wenn man so groß ist.« Er versucht Paula von oben zu helfen – die protestiert und kann das schon super alleine. Reservate des Spielens in kinderfeindlichen Städten Schutzräume für spielende Kinder zu bauen wurde ab den 60er-Jahren notwendig, als immer mehr Autos die Städte überschwemmten. Nicht nur Straßen verdrängten die Kinder aus dem Stadtbild, auch Bürgersteige und Innenhöfe mussten parkenden Autos Platz machen. Parallel dazu entwickelte sich ein neues Interesse am Kind. Stadtplaner, Architekten und Pädagogen publizierten Bücher über ›Architektur für Kinder‹ und entwarfen Außenräume mit Spielgeräten, die dem Bewegungsdrang von Kindern gerecht werden sollten. Damals entstanden die ersten Kletterskulpturen aus Metall. In den 70er-Jahren wurde Kunststoff für den Entwurf von Spielgeräten entdeckt, der 26


war billig, formbar, wetterfest und in knalligen Farben verfügbar. Egal welche Materialien gerade im Trend sind, Spielplatzgestalter scheinen alle Freiheiten der Welt zu haben, um anregende Spielräume für Kinder zu schaffen – solange sie sich an die Spielregeln des TÜVs halten. Und doch, wer ›Spielplatz‹ hört, hat eine bestimmte Vorstellung im Kopf: Schaukel, Rutsche, Sandkasten, Wippe. Ein Repertoire, das immer wieder reproduziert wird. Oft auch von Bauherren, die gemäß der Bauordnung bei der Errichtung von Gebäuden mit mehreren Wohnungen einen Spielplatz anlegen müssen, ob in die Wohnungen Kinder einziehen oder nicht. Es ist gesetzlich geregelt, dass ein gefahrloses, besonntes, windgeschütztes Spielen ermöglicht werden muss, aber auch wie oft der Sand ausgewechselt werden sollte und der ›Qualifizierte Spielplatzprüfer nach DIN SPEC 79161‹ zu kommen hat. Fehlt nur noch ein Gesetz gegen die uninspirierte und einfältige Zusammenstellung seriell produzierter Spielgeräte. Hier ist nichts maschinell vorgefertigt Vergnügtes Kindergeschrei weist den Weg vom Dorfkern zum neuen Spielplatz der Gemeinde Riehen in der Nähe von Basel. Als eine von zehn Schweizer Gemeinden trägt Riehen seit 2011 das Label ›Kinderfreundliche Gemeinde‹, das von UNICEF zur Förderung kindergerechter Lebenssituationen in der Schweiz verliehen wird. Dementsprechend investierte die Gemeinde Riehen in die Neugestaltung ihrer ›Wettsteinanlage‹ »Erst wenn man sie aus ihren Vorstellungen befreit, dann kommen super Ideen! Die deutsche Sprache erklärt das ja perfekt: ›Vorstellung‹ bedeutet ›etwas davor stellen‹. So kommt man nicht mehr an das Eigentliche ran.« Bernhard Hanel ›stellt‹ seine Hände wie eine Wand vor sein Gesicht, was ihm offensichtlich die Sicht versperrt. Bei einem kurzen Planungsworkshop von drei Stunden versuchen Bernhard Hanel und seine Mitarbeiter die Kinder mit Bildern davon zu lösen, dass es auf einem Spielplatz nur Schaukel, Wippe und Rutsche gibt. Wenn mehr Zeit ist, wird der Ort, der später Spielplatz sein soll, spielerisch erkundet: »Zum Beispiel mit einem langen Seil und verbundenen Augen durch das Gelände. Zwanzig Meter werden plötzlich irre lang, wenn nichts kommt. Dann wird es plötzlich eng und sie müssen zwischen Büschen durch oder über Steine. So bekommen die Kinder den Ort ganz anders mit.« Ein anderes Spiel versucht die verschiedenen Qualitäten des Außenraums herauszufinden: »Wir verteilen verschiedenfarbige Holzpfähle, die man dort in den Boden steckt, wo sich unbedingt was ändern muss oder dort, wo man den Ort toll findet.« Sich ein Grundstück und seine Umgebung auf diese Weise vertraut zu machen, hilft sicher auch den großen Spielplatzgestaltern von KuKuk dabei, ihre Fantasie anzukurbeln, um auf ortsspezifische und somit neue Spielplatzideen zu kommen. Mit den ›Vorstellungen‹ der Auftraggeber hat Bernhard Hanel ähnliche Erfahrungen gemacht wie mit den Kindern. »Die haben einen KuKuk-Spielplatz gesehen, und wollen dann genau das auf ihrem Schulhof haben. Unsere charakteristischen Holzstrukturen, die Nester und Kobeln, wollen fast alle.« Ganz neu hat Bernhard Hanel eine hölzerne Schatzkiste für die Planung kleinerer Spielplätze: Innen ist der Boden mit weicher Modellbauknete ausgelegt und kann mit Miniaturstöckchen aus einem Setzkasten bespielt 27


werden. »Die Währung sind Holzstämme, dann weiß der Kunde auch gleich, was sein Traumspielplatz kostet.« kommentiert er verschmitzt und schließt vorsichtig den Deckel der Planungskiste. Wo die Großen verhandeln, was gut für die Kleinen ist Besuchern der Didakta in Basel werden gleich am Eingang geräumige, mit bunten Werbebotschaften bedruckte Papiertüten in die Hand gedrückt. Diese füllen sich nach und nach wie von selbst mit Informationsbroschüren und Ansichtsmaterial und werden im rechtwinkligen Slalom durch die grauen Gänge manövriert – vorbei an herausgeputzten Vertretern für digitale Schultafeln. Die Besucher der Bildungsmesse bleiben dort stehen, wo es bunt ist und sich schon Zuschauer angesammelt haben. So auch bei acht geübten Frauenhänden, die kneten, pinseln und zeichnen, was das feinste Künstlermaterial der Schweiz hergibt. Zwei graue Gänge weiter steht in fröhlicher Schrift: ›Das gläserne Klassenzimmer‹ – ein mit Teppichen ausgelegtes, rechteckiges Gehege, in dem gerade die fünf einzigen Kinder in der Halle mit blauen Quadern, Kegeln, Zylindern und Kugeln hantieren. Rings herum stehen Pädagogen und schauen den Kleinen fasziniert beim Spielen zu. »Fehlt nur noch ein Schild, auf dem steht ›Affen füttern verboten!‹«, meint Bernhard Hanel kopfschüttelnd im Vorbeigehen, auf der Suche nach dem Messe-Café. KuKuk hat einen kleinen Messestand auf der Bildungsmesse. Aus der Auftragslage heraus sollte der Spielplatzgestalter heute gar nicht hier sein, aber den Stand musste man früh reservieren und die Didakta in Stuttgart war ein riesiger Erfolg. Viele gute Gespräche, viele neue Aufträge. Mal sehen, was die Messe in Basel bringt. Im Café angekommen stellt sich Bernhrad Hanel in die Warteschlange, telefoniert und balanciert, das Handy zwischen Ohr und Schulter, zwei heiß dampfende Tassen zu dem einzig freien Tisch. Als er auflegt klingelt es gleich noch mal. Mit lachendem Gesicht hebt Bernhard Hanel entschuldigend die breiten Schultern und instruiert eine Mitarbeiterin im Stuttgarter Büro über das technische Vorgespräch mit einer Schule. Dann ist das Handy aus und die Messehalle murmelt weiter. Vor Bernhard Hanel auf dem Tisch liegt ein Stück Papier, auf das er ein großes Rechteck und mehrere Reihen kleiner Rechtecke zeichnet – die Zukunft des Klassenzimmers, wie sie ihm von den Vertretern hier auf der Messe prophezeit wurde: »Vorne die digitale Tafel mit dem passenden Unterrichtsstoff der Schulbuchverlage. Der Lehrer wird dabei mehr und mehr zu jemandem, der das bedient und die Schüler bekommen ihre Aufgaben direkt auf ihr iPad. Die Vision dabei: die Kinder machen ihren Rücken nicht mehr kaputt, weil sie keine schweren Bücher mehr im Schulranzen tragen müssen.« Bernhard Hanel hat sich so lange und grundsätzlich mit dem Spielen beschäftigt, dass er in Kindern die ungleich wertvolleren Menschen sieht. Er blickt misstrauisch auf die Gesellschaft, in der Menschen mehr Zeit mit ihrem Computer als mit ihrem Lebenspartner verbringen und er fürchtet den Einzug von iPads in die Kinderzimmer und Klassenräume. »Alles was auf einem Bildschirm stattfindet, ist keine Wirklichkeit. Das sind nur Bilder von Wirklichkeit. Interaktion wird dabei immer abstrakter. Wir wissen noch gar nicht was da passiert. Wächst da 28


eine amputierte Gesellschaft heran? Was passiert bei denen und was passiert nicht?« Bernhard Hanel ist der Meinung, dass die Kinder etwas verlieren, wenn ihnen das sinnliche ›Begreifen‹ vorenthalten wird. Seine eigenen Kinder schickt er zur Waldorfschule, wo er selbst auch war und der Unterricht wohl kaum auf Bildschirme verlagert werden wird. »Wo lerne ich die Welt kennen, wo gewinne ich Weltvertrauen? Immer nur durch das Spiel! Das alles geht dahin, wenn man nicht mehr weiß, wie die Welt riecht, wie sie schmeckt, ob sie sich hart oder weich anfühlt.« Bernhard Hanel packt demonstrativ mit beiden Händen die Tischkante und streicht mit den Handflächen über die makellose Oberflächenbeschichtung des roten Tisches im Messecafé. »Das ist doch das was mich als Mensch stabil macht! Wenn das nicht stattfindet, ist es kein Wunder, wenn ein Fünfzehnjähriger – da bricht das raus – nicht weiß, wo er hingehört, heimatlos ist.« Da auch Spielplätze nicht die Wirklichkeit sind, stellt der Spielplatzgestalter sogar sich selbst in Frage: »Auch wenn das jetzt meinem Job grundsätzlich widerspricht, ich bin der Ansicht, dass es Spielplätze nicht geben dürfte. Dass man in diese kleinen Käfige geht, um dort zu spielen, ist irrsinnig. Kinder sollten einfach die Türe aufmachen und ohne ständige Aufsicht die Welt in Besitz nehmen können.« Das ›freie Spiel‹ sieht auch der Hirnforscher Gerald Hüther als Grundlage der gesunden Entwicklung. Es sei das beste Training für Kindergehirne überhaupt und für die Entwicklung der Persönlichkeit ganz entscheidend. Seiner Ansicht nach brauche ein Kind fünf Stunden Freispiel täglich, also ohne Zutun von Eltern oder Erzieherinnen. Das Kind soll sich also aus sich selbst heraus, durch seine eigenen Bedürfnisse, leiten lassen und sich dem Spiel hingeben dürfen. Kaum vorstellbar, dass das ›freie Spiel‹ heutzutage Platz findet im durchgetakteten Kinderprogramm zwischen Schule, Hausaufgaben, Sport, Instrumentalunterricht, Freunde treffen und Familienzeit. Was die Großen von ihren Zuschauerplätzen lockt Egal wo, wann und wie lang, ob mit oder ohne Aufsicht: »Ein Kind im Spiel ist eins mit der Welt, der Umgebung und dem Moment. In diese Selbstvergessenheit kommen wir Erwachsene nicht mehr.«, bedauert Berhard Hanel, der wahnsinnig gern mit seinen Kindern spielt und immer wieder aufs neue davon fasziniert ist, was wir alle mal konnten – bevor wir zu alt für den Spielplatz wurden und seither am Rand sitzen. Doch in uns allen schlummert, um es frei nach Gaston Bachelards ›Poetik des Raumes‹ zu sagen, »die Ursprünglichkeit, die allen gehört, den Jungen wie den Alten [den Reichen wie den Armen], wenn sie sich nicht weigern zu träumen.« Der Philosoph beschreibt ›glückliche Räume‹, wie Schlupfwinkel, Muscheln und Nester, die auch die Spielplatzgestalter von KuKuk lieben: »Wir versuchen in Räumen zu denken, in denen man sich als Mensch, egal welchen Alters aufhalten kann und sinnliche Anregungen findet.« Wie ein Spielplatz aussieht, der nicht nur die Kleinen kitzeln, sondern auch die Großen von ihren Zuschauerplätzen locken will, zeigt KuKuk auf der Insel Mainau am Bodensee. Die Blumenbeete halten gerade Winterschlaf unter einer dünnen Decke aus frischem Pulverschnee und die vertrauten krummen Baumstämme tragen weiße Schneemützen. Zwischen all dem Weiß lädt ein leuchtend gelber ›Fadenraum‹ die Sonntagsspaziergänger dazu ein, ›mit den 29


Händen zu denken‹ und durch hunderte von hängenden gelben Schnüren zu ›schwimmen‹. Daneben führt eine hölzerne Treppe nach oben in einen schwarz ausgekleideten, stockdunklen Raum. Ähnlich wie auf dem Spielplatz in Riehen werden hier die Geräusche der Umgebung von zwei außen befestigten goldenen Trichtern eingefangen. Akustisch geht es draußen am ›Summstein‹ weiter. Eine Gebrauchsanweisung erklärt: »Lege Deinen Kopf in das Loch im Stein. Atme tief summend aus. Das Echo ist gewaltig!« Oh ja! »Die Töne scheinen sich zu bewegen und kommen immer wieder. Du kannst auf verschiedene Arten summen. Suche den Ton, bei dem es am stärksten kribbelt.« Es kribbelt und macht Spaß. Der Weg ist das Ziel und doch enden die verschneiten ›Trittsteine‹ bei der ›Klangschale‹, die leider bis zum Sommer ohne Wasser schweigt. Aber die ›Farbscheibe‹ an der Wand dreht sich einwandfrei und zaubert blau-gelbe Farbentänze auf die Netzhaut. Dahinter liegt der ›Rote Farbraum‹: Innen rot gestrichen, filtert er auch noch das Tageslicht von oben durch ein Dach aus rotem Plexiglas. »In all dem Rot wird mir gleich viel wärmer.«, freut sich eine Besucherin und geht auf munteren Füßen, mit denkenden Händen, kribbelnden Ohren und tanzenden Augen hinaus in den Winter.

Kurs: Praxis/Reflexion, Reportage Mentorin: Janine Schiller

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Vorstellungen Randnotiz: Im Grunde geht es mir wie den Kindern, die in ihren Vorstellungen festhängen und sich so den Weg zum eigenen Verstehen und Imaginieren verstellen. Ich plappere nach, was ich gehört, gesehen und gelesen habe, ohne mir über diese Schranke bewusst zu sein. Schranke deshalb, weil Aufgeschnapptes verstanden wurde und somit als richtiger und wichtiger angesehen wird, als mein eigener Einfall, der sicherlich auch nicht eigen ist, denn alle Wirklichkeitswahrnehmung läuft durch diesen Filter des Gelernten, sozial austarierten Konsens. Verschriftlicht gibt es dann einen Brei aus abgelauschten Wörtern, die uns einschränken und vergleichbar machen, gleich.

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In aller Öffentlichkeit Eigentlich ist es zu kalt zum Schreiben. Der rote Handschuh liegt leblos neben mir auf der roten Bank, alles andere ist grau. Ich war zu lange drinnen, bis die Decke nicht mehr aufhörte zu knarren und schließlich auf meinen Kopf knallte. Dass die Wände meines Zimmers schon seit Tagen immer näher zusammen rücken, hätte ich merken müssen, doch ich schrieb und schrieb, bis das mit der Decke passierte. Nun sitze ich hier auf dieser Bank und friere. Links und rechts dröhnt der Verkehr durch den Feierabend. Zehn Zentimeter vor meinen übereinander geschlagenen Beinen gehen eilige Passanten ihren Weg. Gleich dimmt sich das Tageslicht runter, dann geht nicht mal mehr Schreiben. Wenn Worte schwer wiegen, dann bricht bald auch der Boden unter ihrem Gewicht zusammen. Dann bleibt nichts mehr außer Worte, leere Worte, verlorene Worte, schöne Worte, mutige Worte, böse Worte, leise Worte, nichtssagende Worte, Worthülsen aus Schwarz-Weiß-Denken im Kästchen. Der Koffer einer Frau auf spitzen Stöckelschuhen streift meinen Fuß. Ich sitze wohl falsch, brauche zu viel Platz. Ein Dackel schnuppert an meinem Schuh und dackelt desinteressiert weiter. Ein Skater fährt im eleganten Bogen um mich herum. Geht doch. Ich sitze hier und schreibe, was mir in den Sinn kommt, ein Bild aus dem Garten, ich bin wieder klein und in meiner Hand liegt ein winziger Zweig, um den der Stängel eines Gänseblümchens gewickelt ist. Was für ein Gegenstand, ich könnte heulen. Die eiligen Schritte der Passanten erinnern mich, dass diese Behutsamkeit ein für alle 32


mal verloren ist. Irgendwann wusste ich zuviel und kurz darauf dann gar nichts mehr. Wohin gehen all die Leute und weshalb reden sie so streng, warum haben sie es eilig, sehen sie mich überhaupt – Ich hoffe nicht, ich fürchte schon. Sollen sie sich doch ihren Teil denken über die winzige Schrift, mit der ich wie eine Wahnsinnige Zeile um Zeile in mein Notizbuch schreibe. Wer kam bloß auf die Idee an diesen Nichtort eine rote Bank zu stellen? Ich friere wie ein Kind ohne Zuhause, weiß noch immer nicht, wie Erwachsenwerden geht. Die Dunkelheit wickelt mich in sich ein, die Passanten werden weniger, ihre Schritte langsamer, die Kälte klirrt. Dieses Schreiben ist wie Kotzen. Danach geht es mir besser, ich sehe wieder was, bin wieder da. Nur härter und unerbittlicher mit euren Verkleidungen. Nur warum kotze ich in aller Öffentlichkeit?

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Ode an das entspannte Nebenbei Beim morgendlichen Zähneputzen kommt mir plötzlich doch eine Idee. Ganz unerwartet, ganz nebenbei. Diese effiziente Gleichzeitigkeit entspannt mich so sehr, dass ich während des Daten-Uploads in der Wanne liegend einem Hörspiel lauschend ein Marmeladen-Käse-Walnussbrot kauend einfach mal kurz gar nichts mache. Das ist Freizeit hoch drei und spart Zeit, die noch gebraucht wird. Teamprojekte sind am produktivsten, weil es in mehreren Köpfen zugleich vorangeht, dem bahnbrechenden Gruppenziel entgegen. Je mehr Köpfe, desto innovativer. Wäre da nicht die Koordination all der Nebenbeis – die kostet Zeit. Kostbare Zeit, die sich schnell wieder aufholen lässt, indem ich die Bahnfahrt von A nach B nicht als reine Fortbewegung durch das Zugfenster betrachte, sondern dazu nutze, meine Listen so zu strukturieren, dass in B angekommen alles läuft wie am Schnürchen: Besorgungen auf dem Weg vom Bahnhof nach Hause, den ich als entspannten, wenn auch gepäckbeladenen, Spaziergang, also Freizeit betrachte. Im Gehen ein Mittagessen to go und dringende Telefonate, um Nachmittags entspannt, unterbrechungsfrei und zielgerichtet den 9-Punkte-Plan abzuarbeiten. Am Ende bleibt mir vielleicht noch Zeit für Müßiggang. Wären da nicht vorher schon Hunger und Müdigkeit und wieder das Telefon. Da erzählt mir einer von seinem Projekt und kommentiert es auch noch damit, dass er das nur so nebenbei gemacht hat, auf der Fahrt von D nach K mit spontanem Zwischenstopp in H, wo zufällig die richtigen, wichtigen Leute waren für das nächste Projekt in China. Nebenbei bemerkt war ich da ja auch mal dabei, aber nur so, als Freizeit sozusagen. Ich war einfach nur da, ganz ohne Produktivität, und schon damit überfordert. Am Ende lege ich mich doch lieber in mein gemütliches Bett und mache nichts. Außer eines von elf angefangenen Büchern zu lesen, während im Ofen das Gemüse schmort, denn Ofengerichte eignen sich hervorragend, um mich ruhigen Gewissens zu entspannen, da sich zumindest das Abendessen ganz nebenbei von selbst kocht.

Kurs: Textanalyse und Textproduktion Textsorte: Glosse Mentorin: Christine Lötscher

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Sie fürchtet die Trockenheit Ihr Mund ist wie verklebt, als hätte sie aus Versehen ein Glas Honig gegessen. Ihre Lippen machen sehr viel größere Bewegungen, als ihre Stimme. Sie donnert ihr Wasserglas auf den Tisch, Entschuldigung. Sie ist aufgeregt und klebt an ihrem Text. Der Kopf weiß viel, das Publikum nichts, Wörter sind zu klein, ein Film hilft. Diesmal nähert sie sich der Tischplatte in Zeitlupe, kaum zu hören. Sie sagt Arschiv, alle hören es, alle haben gelernt nicht zu lachen. Das Abstellen des Wasserglases geht jetzt zügig und leise zugleich. Filmausschnitt. Filmende. Glas auf Tisch. Jetzt weiß ich, wo ich sie schon einmal gesehen habe! Publikum mit Schniefnasen, fallenden Stiften und klackernden Tasten. Subtext: vielstimmiger Quälgeist. Bei der rein konzeptuellen Arbeit fürchtet sie die Trockenheit. Ich auch, wenn ich an meinen Bericht denke, und an ihr leeres Wasserglas.

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»Man sollte eine Forschungsreise nach Europa antreten.« Die Kunst von Peggy Buth nimmt museale Repräsentations-strategien auseinander und reinszeniert sie. In ihrem Vortrag an der Zürcher Hochschule der Künste gibt sie Einblick in ihre Ausstellung Desire in Representation und und zeigt, was Postkolonialismus für Museen heißen kann.  Afrika ausstellen? In postkolonialen Zeiten scheint es unmöglich geworden fremde Kulturen überhaupt darzustellen. Früher noch unbedenkliche Verfahrensweisen erfuhren eine Krise der Repräsentation. Was bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Fundstück von Forschungsreisen gezeigt wurde, wird heute als Zeichen für koloniale Ausbeutung gelesen. Die Auseinandersetzung mit verstaubten Ideologien in seiner Sammlung bleibt keinem Völkerkundemuseum erspart, Maßnahmen zur Umstrukturierung dauern bis heute an. So auch im Musée royal de l’Afrique centrale (Königliches Museum für Zentralafrika) in Tervuren bei Brüssel, wo die Künstlerin Peggy Buth die räumliche und konzeptionelle Umstrukturierung aufs Korn nahm und dem »Begehren nach Repräsentation« nachging. In ihrem Vortrag an der Zürcher Hochschule der Künste gab die Berliner Künstlerin am 10. Dezember 2012 Einblick in ihre künstlerischen Arbeiten, die auf ihrer Recherche im Musée royal de l’Afrique centrale basieren. Ihr Vortrag bildete den Abschluss einer Vortragsreihe des Departments für Kulturanalysen und Vermittlung zum Thema Konjunktur der Gefühle – Emotion, Affekt, Leidenschaft. Zwei Künstlerbücher von Peggy Buth, ihre erste institutionelle Einzelausstellung im Württembergischen Kunstverein Stuttgart sowie der Ausstellungskatalog dazu stehen unter dem selben Titel wie ihr Vortrag: Desire in Representation. Gleich zu Beginn spricht sie von »Lesekompetenz«, die notwendig sei, um Repräsentationsstrategien von Museen für sich einzuordnen. Um diese Lesekompetenz herauszufordern, arbeite sie mit dem »Grundprinzip der Überforderung«, was ihr immer wieder von Besuchern ihrer Ausstellung vorgeworfen worden sei. Doch Peggy Buth hat etwas gegen überinszenierte Museen, die ihren Besuchern multimedial das Gefühl vermitteln, »man würde jetzt etwas verstehen«. Für Peggy Buth geht es beim Ausstellen darum, die Begierde beim Besucher zu wecken, sich zu öffnen, »sich mehr zu interessieren und nicht nur zu konsumieren«. Das Archiv sei für sie die interessantere Ausstellung, als das inszenierte Museum. Material für ihre Bücher und ihre Ausstellung mit Videound Soundinstallationen fand sie dort, im Archiv, dessen Strategien Wissen abzulegen sie faszinieren – »Obwohl ich der Wissenschaft an sich misstraue.« Die Künstlerin freut sich, wenn sie im Archiv Fehler entdeckt, denn die seien für sie produktiv. Wenn etwas falsch eingeordnet oder unzureichend kontextualisiert ist, macht sie sich auf die Spur der Lücken und nicht erzählten Geschichten im Archiv. Sie hebt hervor, was sie zwischen den Zeilen liest. 36


In ihrem Vortrag zeigt Peggy Buth Ausschnitte aus ihrem Film O, My Kalulu, der sonst nur als Videoinstallation gezeigt wird. Darin greift sie Henry Morton Stanleys Roman My Kalulu, Prince, King, and Slave aus dem Jahr 1874 sowie weitere Reiseberichte des Afrikareisenden auf und überinszeniert den homoerotischen Subtext. Peggy Buth kommentiert schroff das Kichern im Publikum: »Es ist erwünscht, dass gelacht wird. Nur in der nächsten Szene wird das Lachen neu eingeordnet.« Wie vielschichtig die Künstlerin die verwahrten Relikte vergangener Expeditionen zu lesen und »gestaltend gegenzulesen« weiß, zeigt sich im umfangreichen Register ihres Ausstellungskatalogs, der schlicht Katalog heißt. In enger Zusammenarbeit mit dem Leipziger Typografen Till Gathmann feiert Peggy Buth einen typografischen Exzess, der den »Wahnsinn der Verkettungen«1 visualisiert: Eine Fülle an Verknüpfungen, Verweisen und Fußnoten, die als Bild schön anzusehen ist, den Leser jedoch vollkommen überfordert. Dazwischen legt Peggy Buth in zahlreichen Fotografien die Schichten verschiedener Ausstellungsanordnungen frei, die über ein Jahrhundert hinweg Spuren in den Räumen des Musée royal de l’Afrique centrale hinterlassen haben. Zwischen Vitrinen, Skulpturen und Dioramen weisen nur Gerüste und Leitern darauf hin, dass es bald eine neue Präsentation geben soll. »Die natürliche Ordnung der Dinge gibt es nicht«, doch genau darauf hinzuweisen wäre Peggy Buths Ansicht nach der Weg, um Kategorien aufzubrechen, die einst als »Wahrheit« bezeichnet wurden. Völkerkundemuseen sind bemüht, den Forderungen nach einer kritischen Aufarbeitung ihres Archivmaterials nachzukommen. Deren Herausforderung sei, Relikte vergangenen Begehrens nach Macht und die Komplexität von Opfern und Tätern darzustellen. Peggy Buth schlägt vor, endlich die Gegenseite zu zeigen und die westliche Sicht auf das »Exotische« deutlich zu machen: »Man sollte eine Forschungsreise nach Europa antreten.«

Kurs: Grundfragen der öffentlichen Kulturkommunikation Vortrag von Peggy Buth an der ZHdK, November 2012 Textsorte: Veranstaltungsbericht

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Ein Text, drei Köpfe Der Erste fängt an zu schreiben. Ein Anfang. Die Zweite korrigiert und putzt und feilt. Ein Fortschritt. Der Dritte stellt alles auf den Kopf. Ein Desaster. Der Erste hält sich raus, zuckt mit den Schultern. Die Zweite regt sich auf, vereinfacht, vedichtet und kürzt. Der Dritte vermisst seine Sätze, verkompliziert die Wörter. Der Erste hat Mühe, sich rauszuhalten. Die Zweite erklärt, sich dem Text nun fernzuhalten. Der Dritte hat plötzlich anderweitig zu tun. Der Erste seufzt und liest und erkennt den Fortschritt. Die Zweite atmet durch und poliert, bis jedes Wort sitzt. Der Dritte holt Luft und pikst und prüft und nickt.

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Die gemeinsame Stadt Commons Production Agency Detroit Wie können wir eine Stadt ökologischer, ökonomischer und sozialer gestalten? Lässt sich das Prinzip »Carsharing« auf die Architektur übertragen? Unter welchen Umständen sind wir bereit, unser Eigentum zu teilen? Diese Fragen stellten sich die Architekturstudenten Constantin Hörburger und Jakob Rauscher in ihrer Masterarbeit, deren innovativer Ansatz im April 2013 mit dem Next City Award der Universität Stuttgart ausgezeichnet wurde. Ihre Recherche zu Eigentum und Architektur brachte die beiden Architekturstudenten auf die Stadt Detroit, die wie keine andere Stadt vom Eigentumsdenken geprägt wurde. Im Juni 2012 reisten sie in die ehemalige Automobil- Metropole und entdeckten zwischen den Ruinen des privaten Eigentums zahlreiche Spielarten gemeinsam genutzten Eigentums. Ausgehend von diesen Ideen entwickelten die beiden eine Vision für ein kollaboratives Detroit und gründeten in einem leerstehendem Bürogebäude die Commons Production Agency (Commons: engl. Allmende = eine Rechtsform gemeinschaftlichen Eigentums), welche die einzelnen Innitiativen bündelt und die Entwicklung zu einer gemeinsamen Stadt Detroit fördert. Für die Präsentation ihrer Masterarbeit schufen die beiden Architekturstudenten zusammen mit Kommunikationsdesignerin Christina Schmid eine Audio-Slideshow mit Protagonisten, denen sie in Detroit tatsächlich begegnet sind. In dem hier abgedruckten, fiktiven Text werden die Ideen und das Engagement echter Detroiter Teil der Vision für die Stadt im Jahr 2030: Welcome to the ›D‹ Hannah Hunt Moeller plant eine Party. Wie über 30 Personen in ihre 20-Quadratmeter- Wohnung passen sollen? Die Studentin lacht: »Schauen wir uns doch erst einmal um.« Sie eilt aus der Tür und über die Treppe nach unten zum großen, hellen Commons Floor. »Das ist das Wohnzimmer – heute Abend ist es meins!« Neben dem großen Hauptraum gibt es hier Küchen, Wohn- und Freizeitbereiche, sowie Lese- und Unterrichtsräume. »Der Commons Floor«, erklärt Hannah, »wird gemeinschaftlich genutzt und finanziert. Wir Bewohner, aber auch Nachbarn und Gäste, können diese Räume mieten. Die gemeinschaftliche Nutzung der Räume macht sie sogar für mich als Studentin temporär erschwinglich.« Hannah ist Teil des genossenschaftlichen Modellprojekts Commons Production Agency – kurz CPA. Vor 15 Jahren ins Leben gerufen, hat die CPA heute, im Jahr 2030, viele Nachahmer in der ganzen Stadt. Alle zusammen etablierten einen Gegenentwurf zum alten Gesellschaftsmodell, das die Millionenstadt beinahe in den Untergang getrieben hatte. Früher bestückte jeder sein eigenes Haus mit eigenem Partykeller, eigenem Gästezimmer und eigenem Swimmingpool. Heute lebt die Stadt durch gemeinschaftliche Werte von Zugang und Teilhabe. Hannah fährt fort mit ihrer Tour durch das CPA-Gebäude: »Den Ausblick von der Dachterrasse dürft ihr euch nicht entgehen lassen!« Beim Öffnen der Tür 39


ruft Hannah feierlich: »Welcome to the D!« Tatsächlich, der Ausblick ist fantastisch. In einiger Entfernung erhebt sich die Skyline des alten Downtown-Geschäftsviertels und direkt gegenüber das Betongerippe des Michigan Central Depots. Früher war der Bahnhof für hunderttausende Fabrikarbeiter das Tor zur Motor-City: Die alten Bilder der Medien rasen durch den Kopf. Stadt der Autos, Highways, Shopping-Malls, Einfamilienhäuser … Zersiedelte Vororte, Arbeitslosigkeit , Schrumpfung, Leerstand, Gewalt, Ruinen- Porno. Das war Detroit. Hannah beobachtet das bunte Treiben auf dem Bahnhofsvorplatz, heute ist dort Markt. Nach Jahrzehnten als Brache ist hier jetzt viel geboten: »Besucher kommen zu kulturellen Veranstaltungen, Konzerten und Festivals in unser Viertel. Dort drüben seht ihr das neue Busterminal, das Fahrraddepot, den Hackerspace und die verschiedenen Restaurants. Das sind alles Initiativprojekte der Nachbarschaft; unser CPA hier dient allen als Anlaufstelle und gemeinsames Forum.« Der Wandel der letzten Jahre zeigt sich noch deutlicher auf der Nordseite der Dachterrasse. Direkt hinter der Autobahnschneise sind heute Wiesen und Wälder. Hannah erzählt: »Früher wohnten in Nord-Corktown mehrere tausend Menschen. Heute gibt es dort landwirtschaftliche Betriebe, ein paar autarke Höfe und ein Agrar-Ausbildungszentrum. Kommt doch mit zum Markt, dann lernt ihr Rick kennen. Er leitet die CPA-Farm-Kooperative und verkauft hier frisches Obst und Gemüse.« Als Hannah Richtung Aufzug geht, kommt ihr ein Mann mit Gitarrenkoffer entgegen. Hannah begrüßt ihn herzlich und stellt vor: »Das ist Paul Emery. Er gibt Gitarrenunterricht auf dem Commons-Floor und hat versprochen bei der Party heute Abend zu spielen!« Paul berichtet, dass er mit seinem Gitarrenunterricht nun genügend Stunden bei der Time-Bank gesammelt hat, um die Reparatur seiner Veranda anzugehen. Time-Bank? »Das funktioniert als Nachbarschaftshilfe über mehrere Ecken«, sagt Paul und erläutert: »Gerade habe ich Tom unterrichtet, den Sohn von Rick, der das Gemüse anbaut, das sich Hannah kauft, die wiederum beim Umbau meiner Veranda hilft. Die Währung bei diesem Geschäft ist Zeit. Für jede verdiente Stunde, kann ich die Stunde eines anderen in Anspruch nehmen.« Hier wird die Reichweite der Idee einer gemeinsamen Stadt sichtbar. Um den Wandel der Stadt Detroit noch besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück ins Jahr 2012 zu den ersten gemeinschaftlichen Initiativen und zu zwei Architektur-Studenten, die die Commons Production Agency ins Leben riefen. […] ›Model D‹ 1908 baute Henry Ford in Detroit sein Model T. Heute steht Detroit für das Model D. »Zugang statt Eigentum«, so lautet Detroits soziale, ökologische und ökonomische Alternative zum »grenzenlosen Wachstum« der Industrienationen. Sicherlich, der desolate Zustand der Stadt um die Jahrtausendwende beschleunigte das Umdenken vieler Detroiter. Sie waren bereit für neue Visionen, der Anstoß kam zur rechten Zeit. Es muss noch vieles geschehen, doch der Weg ist vielversprechend. Immehr Mentschen zieht es zurück in die Stadt, denn das neue Miteinander bringt ihnen einen finanziellen und gesellschaftlichen Mehrwert. Damit ist Detroit ein wichtiger Vorreiter für eine große Entwicklung. 40


Andere amerikanische Städte des Rustbelts wie Cleveland, Ohio oder Buffalo, New York setzen derzeit ähnliche Stadtmodelle in die Praxis um. Ist das Model D auch auf europäische oder asiatische Städte übertragbar? Inmitten ihrer Party-Gäste erzählt Hannah gut gelaunt von Anfragen aus dem dichten Tokio und aus dem schrumpfenden Osten Deutschlands. »Die CPA teilt ihre Erfahrungen und hilft dabei, individuelle Lösungen zu finden. Wie so oft fragen Interessenten auch hier auf der Party den Leuten aus dem Haus und der Nachbarschaft Löcher in den Bauch. Die beiden dort drüben neben Rick sind Freunde aus L.A. und überzeugte Exporteure des Model D.« Hannah lacht und verschwindet Richtung Tanzfläche, wo Paul gerade zu singen beginnt: Lots of cool people are moving to the D, Hear me now, I’m just sayin’, One of them cool people is me.

Exzerpt einer Architektur-Masterarbeit Verfasst für und mit Constantin Hörburger & Jakob Rauscher Erschienen in AUTONOË 03, Unabhängige Studierendenzeitung der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, Sommer 2013

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Verknotet In den Kopf geht alles rein, verquirlt sich und was rauskommt ist ein spannendes Durcheinander. Nur wenn man zieht, entsteht ein Knoten. Dann kommt gar nichts. Jeder Satz ist wie rausgepresst und was da steht, hat so wenig mit mir zu tun wie die Finanzwelt, die Raumfahrt, Comedy, Hiphop, Erdnussflips, Computerspiele, Zigaretten, Schusswaffen, Autol채rm, Skifahren, Paprika und Z체rich.

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Weiß ich Der Bleistift kratz über das Papier, er wird lauter, immer lauter. Ich kann wegsehen von dem Wahnsinn, der über die Seite jagt, sie füllt und verdunkelt. Nur weghören kann ich nicht: das Ohr hat kein Lid. Plötzlich habe ich dieses Lied im Ohr – das Kratzen wird leiser, auch das Gelächter und das Geschwätz. Ich öffne die Augen und sehe Weiß, Weiß soweit das Auge reicht. Die Welt um mich herum ist ausradiert. Der Radiergummi in meiner Hand zeugt davon, wer all die Produktivität zunichte gemacht hat. Der Druck war zu groß, die Konzentration hat sich in der Stille des bleigrauen Nebels verflüchtigt. Am Anfang war der Bleistift, bis die Mine abbrach und nur ein unbrauchbares Stück Holz zurückblieb. Hätte ich ein Messer, könnte ich spitzenmäßig schnitzen. Und dann ein Klecks Rot in all dem Weiß.

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Sitzende Selbstzerfleischung Sinnlich schiebt sie ihren Finger in die frische Wunde an seinem Hals, voller Leidenschaft beißt sie ihm die Unterlippe ab. Er wimmert und jammert und während ich mir halb die Augen zuhalte, kriecht der Ton unter meine Haut. Reihenweise wird ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, das Kino zu verlassen. Allen ist schlecht. Obwohl er den Film ausgesucht hat und ihn nun schon zum dritten Mal sieht, rutscht auch der Professor unruhig in seinem plüschig roten Kinosessel hin und her und mit ihm der ganze Lehrstuhl für Ästhetik und Kunstvermittlung. Popcorn? Nein danke. Für Monate verunmöglichen diese Bilder Sex ohne Gedanken an diesen angeknabberten Jüngling oder das zarte, verführte, – zum Glück nur vergewaltigte! – und dann aber doch zu Tode malträtierte Fleisch des Dienstmädchens. Trouble every day, wie kann ich dich vergessen? Nach diesem blutigen Vorspiel bohrt das Symposium zur Ästhetik des Fleisches weiter. Ein merkwürdiger, sitzender Ausflug in die Fleischlichkeit vom Kannibalismus zum Inkarnat: Vom gefilmten und geschrieben Fleisch zum Karneval, der dem Fleisch Lebewohl sagt. Von der Inszenierung abwesenden Fleisches in Katakomben zur Inkarnation, zur Fleischwerdung. Vom sündigen Fleisch zu Genderfragen im Fleisch der Welt. Vom lebenden, toten, rohen, gekochten oder verrotteten Fleisch in der Malerei zur Darstellung von Haut und ihren politischen Farben. Mein Blick schweift ab auf den Nacken der Frau vor mir. Auf meine Hand. Unter der Haut schimmert leicht bläulich das Darunter. Die fleischliche Substanz meines Körpers und die aller anderen waren mir nie zuvor so bewusst wie hier. Der Saal pocht und zuckt vor lauter Blut und Nerven und Organen. In uns drehen sich glitschige Uhrwerke durch die Zeit, während hier draußen die Darstellung der Hüllen kunstwissenschaftlich betrachtet wird. Inkarnatsfarbe. Etwas zwischen rosa, orange und braun, in lasierenden, durchscheinenden Schichten aufgetragen, mit Blaustich. Oder die im Handel erhältliche Fleischfarbe 257. Hier hört die Ästhetik auf und fängt die Rassenpolitik an. Ein Jahr später lesen sich meine Notizen wie abgehackte Gliedmaßen. Aus ihnen wird kein lebendiger Organismus mehr. Wie gehe ich nun rein, wirklich rein, zu deinen Innereien, wo du mich doch haben willst! Ich kenne mich da nicht aus, ist mir zu körperlich und zu abstrakt. Bis in meine Träume verfolgt es mich, dass ich nicht lange genug Biologie-Unterricht hatte. Albträume sind das! Sämtliche Abschlüsse werden mir aberkannt und ich muss wieder die Schulbank drücken, nur wegen der Innereien, die ich nicht beschriften kann. Mein Herz pocht, meine Lunge füllt sich mit Luft, mein Magen rebelliert, die Blase drückt, bestimmt ist es der Blinddarm – Katastrophe! Ich schreie Dickdarm! Dünndarm! Speiseröhre! Milz! (was auch immer die macht) – zu spät. Mein rechtes Bein sitzt fest unter den Skalpellen der Ärzte, das Knie liegt nun offen und darin glänzen große, grüne Oliven. Beitrag zum KUSSmagazin Nr. 13, Thema: Innereien 45


Der Versuch eines Essays Mein Vorsatz alles rund um meinen Essay von Hand zu schreiben und später zu montieren, auch zu kollagieren, krankt an zu vielen verschiedenen Aufschreibesystemen. Also wechsle ich doch wieder an den Computer und fange an einen der handgeschriebenen Anfänge abzutippen, was in eine mir gut bekannte Redigierwut mündet. In meinem Tagebuch, in meinem Notizbuch und auf einzelnen Zetteln wabern die Gedanken. Im Computer sitzt ein sprachlich feiner, aber inhaltlich unheimlich dichter, undurchdringbarer Textanfang, der nicht mehr weiß, wohin er will. Ich schreibe so assoziativ und dicht, dass keiner mehr versteht um was geht, nicht mal ich selbst.

Die Worte der Anderen Tausend tolle Zitate über das Tagebuchschreiben habe ich gesammelt, doch kaum eines werde ich verwenden. Die Worte der anderen unterbrechen meinen Schreibfluss, doch sie prägen mein Denken und inspirieren mein Schreiben. Nun könnte ich alles mit Fußnoten tapezieren, und aus den Fußnoten kleine Parallelgeschichten stricken. Aber wird dann überhaupt noch etwas anschaulich und verständlich? Ich entscheide mich gegen Paraphrase, gegen Wissenschaft, gegen all die Tagebücher, die ich gelesen habe. Mein Essay vermutet sich in meinem Tagebuch. Ich extrahiere die Passagen, wo sich das Schreiben selbst zum Thema macht. Der Essay bleibt fragmentarisch. Die kurzen Textpassagen versuche ich durch einen 46


roten Faden zu verbinden, die dichten, vielleicht auch unverständlichen Fragmente zusammenzumoderiereren. Doch so verlieren die Fragmente, die das Tagebuch umkreisen, ihre Kraft und ihre Eigenständigkeit.

Inhalt und Form Den roten Faden finde ich schließlich in der Form: ein Tagebuch, in dem Tag für Tag ein anderer Ton herrschen darf. Schwarz und weiß wechseln sich ab in Tag und Nacht, Tag und Nacht, und so weiter. Mit diesem Schreibprojekt fand ich also doch noch zum Thema meines Studiums: Gestaltung und Schreiben zusammenbringen, das war mein Plan! Und siehe da, seit die Form steht, spielt das Layout mit dem Inhalt und der Inhalt mit dem Layout. Sie durchdringen sich gegenseitig, als hätte ich es so schon immer gemacht. Habe ich ja auch. Doch über all dem Schreiben hatte ich meine Methode aus den Augen verloren und hier nun neu für mich entdeckt.

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»Es ist nicht die Zeit für Ich-Geschichten. Und doch vollzieht sich das menschliche Leben oder verfehlt sich am einzelnen Ich.« Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein

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Insgeheimes Ich Wer Ich schreibt, wird belächelt, aber dennoch gerne gelesen. Dem Ich im Tagebuch ist letzteres nicht vergönnt, belächelt wird es dafür umso mehr. Insgeheim erfriert den vielgelesenen Ichs das Lächeln. Wenn von Standpunkten die Rede ist, mag es helfen, sich selbst zu schreiben, wo man steht und wo das erfrorene Lächlen.

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50 Aleida Assmann

William Randall

Missbrauch, Vernachlässigung, Depression – eines Tagebuchs. Es tut mir leid! Von Anfang an war dies keine zusammenhängende Geschichte, die Tag für Tag weitergeht, kein Projekt, das uns in eine Parallelzeit katapultiert.

»Was wir erleben können: Erwartung oder Erinnerung. Ihr Schnittpunkt, die Gegenwart, ist als solche kaum erlebbar.«

»The stories we Are«

Das Tagebuch als Identitätsspeicher, auf Reisen, ein Stück zu Hause, ein Stück Ich.

Sich aus der Zeit rausnehmen durch das Schreiben

Christa Woolf

Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen.

Guten Morgen. Ich ließ es mir nicht nehmen, den Tag mit blinzelnden Augen lesend zu beginnen. Zu gemütlich war es in meinem Bett, doch wieder »Schöner Tag draußen, die Gegenwart stellt sich von einzuschlafen wäre gefährlich gewesen. Und so selber dar, nicht hingegen die Erfassung der Kritik an begleitete ich Gantenbein zum Amtsarzt, wo er sich der Vergangenheit.« (Rainald Goetz) mehrfach zu verraten drohte, doch auch der Arzt sah nicht, was er nicht sehen wollte. Morgens zu lesen prägt den Stil. Was ich habe ist ein Bild von mir, dem ich gerade selbst Morgens groß denken, nicht gerecht werde. Ich bin nicht bei mir. Ich bin irgendwo abends klein bei geben, zwischen den Zeilen hängen geblieben, habe mich verirrt nachts vergessen. zwischen den Wörtern und Buchstaben. Weiß jemand, wie ich hier raus finde?

Franz Kafka, Tagebuch am 7. November 1921

»Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung: Werde ich von jemandem anderen beobachtet, muss ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muss ich mich umso genauer beobachten.«

NOTIZEN ZUM TAGEBUCHSCHREIBEN


51 Tagebuch schreiben – wegen des Schreibens oder Bleibens?

»Dienstag der soundsovielte.

Ich bin verloren in der Welt der großen Worte. Das Archiv der Ichs murmelt und fragt und jammert und motzt und bemitleidet sich selbst. Ein Ich liegt dazwischen und sucht sein Buch. Es fragt sich von Buch zu Buch und trifft all die Ichs, die selbstbeschäftigt vor sich hin plappern. Die Kopien sind genauso durcheinander wie ich.

Frei nach Rainald Goetz, Chronist des Augenblicks

Heterogenes Ich

Gegenwart, was gerade ist, Aufmerksamkeit Erinnerung, wer ich war, reflektieren, wer ich bin entwerfen Entwerfen der Zukunft: wer ich sein könnte

17. März 2013, 21:39:19. 21:39:24. 21:39:28. 21:39:33. 21:39:33. 21:39:39. 21:39:43. 21:39:50. 21:40:00. – vorbei.

Das Tagebuch materialisiert Zeit, indem Gegenwart beschrieben, Vergangenheit dokumentiert und reflektiert und die Zukunft entworfen wird. Es verschriftlicht die Suche nach der eigenen Identität, dem Ich zwischen Erinnerungen und Selbstentwürfen.

Alles dauert seine Zeit. Das einzige, was wir haben ist Zeit. Sie füllt sich mit Erlebnissen, Erinnerungen, Menschen. Was bleibt sind Gedankenfetzen und Bücher über Bücher voller Ichs, die selbst die Schreibende nicht mehr kennt.

»Wir sind, was wir erinnern und vergessen.«

»Erinnerungen gehören zum Flüchtigsten und unzuverlässigsten, das es gibt.«

»Grundgesetz des Lebens ist das Vergessen.«

»Lebensgeschichte als »Rahmen, der dem, was wir Identität nennen, für den Moment Stabilität oder sogar Existenz verleiht. Grundlage von Selbsterzählungen sind Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen, die mit dem subjektiven Erleben der Person und auch dem Kontext, in dem sie sich erinnert, verbunden sind. Die Konstruktion der eigenen Person wird durch die Absichten und Ziele einer Person, die sich erinnert, beeinflusst.«

Was mich fasziniert ist der Moment des Schreibens: das Jetzt, umrahmt vom vorher und nachher, geprägt durch Ort und Zeit. Die Kontinuität des täglichen Schreibens verlangt eine Disziplin Tag für Tag neu anzufangen, was zur Sucht werden kann. Eine Sucht nach einer schreibenden Suche nach dem Ich, das zwischen den Zeilen aufblitzt.

Ein Ort ohne Zeit, voller Daten und Alltäglichkeiten.

Vielleicht schreibe ich hier nicht vom Schreiben des Ichs, sondern vom Entwerfen und Erfinden des Ichs. Der Unterschied liegt dann wieder in der Zeit, der Tageszeit der Tagebuchs.


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Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein

Die Zeit, die uns immerfort überholt, Vergängnis in jeder Bagatelle«

Er wusste nicht was machen gegen die Zukunft, die mit dem Erinnern schon begann. ...

Irmela Sperl: Theoretischer Rahmen zum Thema Tagebuch. In: Geschriebene Identität – Lebenslinien in Tagebüchern

Identität wird dann zu einem permanent reflexiven Prozess, der auch ein gewisses Maß an Autonomie vorraussetzt.«

Das Erzählen [ist] eine komplexe Form der Erkenntnis und der sozialen Leistung, in der sich unsere Identität und unser Verhältnis zur Welt spiegelt.

[Wir können] Identität in der Postmoderne als einen lebenslangen Konstruktionsprozess begreifen, in dem wir unsere innere und äußere Welt miteinander in Bezihung setzen.

»[...] die Frage »Wer bin ich« immer wieder neu beantworten können und sich in den ständig verändernden Umwelten dennoch gleich bleiben zu können.

Günter Oesterle, Die Intervalle des Tagebuchs – das Tagbuch als Intervall In: @bsolut? privat! Vom Tagebuch zum Weblog

Sie wollten keine Zukunft, das war ihr Schwur: Keine Wiederholung – Keine Geschichte Sie wollten, was nur einmal möglich ist: das Jetzt. Noch gab es für sie keine Wiederholung auch nur der Tageszeit. Kein Gestern, kein Heute, keine Vergangenheit, keine Überrundung durch die Zeit: alles ist jetzt. ...

Aleida Assmann, Identität und Narrationen

»Das Tagebuch lebt von einer eigentümlichen Spannung der Sprunghaftigkeit und Regelmäßigkeit.«

Mit dem Kalender geht er recht salopp um.

Max Frischs editierte Tagebücher als eigene literarische Gattung

Er wollte ins Museum gehen. Um nicht in der Welt zu sein. Allein und jenseits der Zeit wollte er sein.

Wahrscheinlich schlief sie ... und der Schlaf ist das fernste Land, das es gibt.

Alles unverändert: nur ist es nicht gestern, sondern heute. Warum ist immer heute?


53 Georg K. (3134) liest zurück und schreibt in der dritten Person über sich: er erkennt, wie depressiv er damals war.

Christiane M. (9361,7) schreibt über ihre Tagebücher, fasst sich zusammen, reflektiert und schaut spöttisch zurück.

»Willst du in diesem Jahr etwa schon wieder genauso anfangen?« – Zerworfenes Geschirr

Frank P. (1980)

»Am Nachmittag habe ich Bilder in mein Fotoalbum geklebt. Ich war schon zwei Jahre im Rückstand.«

»Ich denke, ich habe es angefangen, gegen das eigene Vergessen, wer ich war, wie ich lebte und wie ich dachte.«

Frank P., aus welchen Gründen haben Sie begonnen Tagebuch zu schreiben?

An Silvester begegnen sich die Jahre, das An Silvester begegnen sich die Jahre, das Gestern und das Morgen im Jetzt. Gestern und das Morgen im Jetzt.

Dieter M. R. (3037)

»Warum ich mich überhaupt mit grundsätzlichen Überlegungen herumplage, statt der Erinnerung freien Lauf zu lassen? Vielleicht weil es so schwer ist, ehrlich gegenüber sich selbst zu sein. Die Erinnerung ist ein trügerisches Gut, sie hat die tatsächlichen Ereignisse schon verkürzt oder ergänzt, bewertet und in jeder denkbaren Weise verändert.«

Suchbegriff: »Reflexion über das Tagebuchschreiben«

NOTIZEN AUS DEM DEUTSCHEN TAGEBUCHARCHIV


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Wenn ich mich zwischen den Leben, dem Alter, den Jahreszahlen bewege, gerät mein Kopf so durcheinander, dass ich nicht mehr weiß, welches Jahr wir schreiben.

Anna K., Tagebuchabschrift (1830–1834)

»So jubelten wir denn in‘s neue Jahr. Mein Wunsch, der mir immer während vorschwebte, war: ›Ewig wie heute! Friede im Herzen, Friede im Lande und im Gewissen.‹ Möge ich, soviel in meiner Macht steht, dazu beitragen, dass es in Erfüllung geht.«

Gerhard W. schrieb wohl Tagebuch, bis er Eva S. kennenlernte. Sie schrieb erst später, doch im Tagebucharchiv stehen der junge Gerhard und die alte Eva nebeneinander.

Aus dem Tagebuch von Eva S. (1993)

»Bücher = meine Wahlverwandten. Während meines ersten wirklichen Liebeskummers – der polnische Dirigent Robert Sabanovski – begann ich zu lesen und Trost zu finden. [...] Für dieses Jahr habe ich große Wünsche für die Menschheit: Leben ohne Krieg, ohne Hunger und andere Not – und mit einem Riesendurst nach Literatur. Nach ihrer Kraft, ihrem Trost auch. Und wie nötig ist gerade das in dieser grausigen Computerzeit! Nein, ich wehre mich: ich bin noch nicht abgestorben, sondern dieser wahnsinnige Gebrauch von Computern verflacht die Emotionen. Alltäglichkeit und Verbrechen am Mitmenschen, verbrechen jeglicher Art. Ich hasse Computer.«


Verschlüsselte Privatheiten auf meinem Blog Schreiben, ganz dringend, jetzt. Da muss was raus, sonst platze ich. Wut und Angst und Leere schütten sich aufs Papier, bis der Lärm in meinem Kopf leiser wird. Danach geht es mir besser, sogar richtig gut. Ein wohliges Hochgefühl kommt auf beim Blick auf die produktive Textschöpfung. Produktivität für zwischendurch, aber nicht nur für mich, denn viele dieser emotionalen Ergüsse wandern auf meinen Blog, wo anonyme Leser ihre Blicke auf, zwischen und hinter meine Zeilen werfen. Nicht immer lassen sich die verrätselten Wortkonstrukte entschlüsseln. So spontan der Impuls zum Schreiben auch ist – meine Leser schauen zu. Ihre Blicke haben sich in mein Schreiben eingeschlichen und es nach und nach verändert. Vielleicht sind es nicht die Leser selbst, sondern die propagierte Angst vor persönlichen Daten im Netz, die mir bei der Wortwahl über die Schulter schaut. Der Wunsch die Texte zu zeigen, zu teilen und zu veröffentlichen ist stärker als diese unsichtbare Gefahr. Der Veränderung meines Schreibens auf der Spur, werfe ich einen Blick in meinen ersten Blog von vor fünf Jahren: Ausführliche Wochenberichte beschreiben meine Monate in New York – vom durchdesignten Praktikumsalltag, über flüchtige Freundschaften, bis hin zu kulinarischen Kuriositäten. Diese Eindeutigkeit ist meinem Schreiben abhanden gekommen. Doch die neue Mehrdeutigkeit hat mehr übrig für den zweiten und dritten Blick: Die in Worte gefassten Gedankenströme, vertrackten Wortspiele und vermeint55


lichen Nichtigkeiten lassen viele Sichtweisen und immer neue Interpretationen zu. In erster Linie ist mein Blog ein Archiv produktiver Emotionsbewältigung für mich selbst. Was die Worte bei meinen anonymen Lesern auslösen, bleibt ein aufregendes Geheimnis.

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Noch eine Minute. Vielen Dank, Sie hören von uns. Die unvollendeten Sätze hallen nach, unbeantwortete Fragen hängen in der Luft und die Lücken werden mehr und größer und schwarz. Das wird nix.

Das Gepäck ist weg, wo sind die Koffer? Ich muss zurück, doch all die Leute! Aus der U-Bahn schwappt ein Menschenstrom. Alles drückt und schiebt und drängt mich weiter, dann plötzlich bin ich draußen. Beladen mit Taschen und Koffern kämpfe ich mich durch die Straßen. Das Gepäck beisammen zu halten erfordert alle Kraft und Aufmerksamkeit. Von oben knallt die Sonne, ich schleppe mich weiter, habe es eilig, verliere ein Gepäckstück nach dem anderen, doch weiter, dringend weiter, bis ich mich verlaufen habe. Die Straßen kenne ich, die Städte wechseln, bei Nacht sind sie doch alle gleich. An einer dunklen Ecke stehen meine Koffer. Zu viele Koffer für eine Reisende allein. Als ich sie öffne, fällt mir ein, dass sie leer sind. Das waren sie die ganze Zeit. Schon wieder geträumt, den schwer bepackten Traum. Die Städte wechseln, die Eile bleibt. Eine Traumreise in die Metropolen der Welt, wo ich nichts besseres zu tun weiß, als Terminen und Koffern nachzujagen. Dabei reise ich doch nie mit Koffer!

… eine Allegorie dieses schillernden Umwegs, das formvollendete Pamphlet der spielerischen

geträumt am 26.3.2013

Ein rundes Gefühl in den Armen. Wie ein Plakat mit Kreis, Eine Kuppel auf dem Dach, Oder eine große Kugel tragend. Wir hüpfen im Sitzen über die Wiese.

Rund

Nein

19.3.2013

Vielleicht finde ich mich Im Spiegel wieder Doch da ist nur Haut

Lass mich bitte

Aber – Warum nicht?

Du lachst Ich habe Angst Darf ich reinkommen?

Nur ein wenig Wahnsinn Und etwas mehr Als deine Hände auf der Stufe vor mir liegen Sie könnten zupacken Meine Knöchel umfassen Bis ich rückwärts falle

Das weiß ich nicht Das weiß ich nie

Du schreibst jetzt? Wie lange denn?

Zu viel Luft

Ich schlage das Buch auf und alles ist weg. Dieses Weiß, dieser Kugelschreiber aus blauem Kunststoff – verkehrt zwischen all dem dicken Moos. Dieses Hadern, dieser Unmut über laute Straßen – verstummt zwischen Hombroichs alten Bäumen.

Eisgekühlte Kunst

20.3.2013

Zwölf Minuten

Gepäck

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gelesen am 19.3.2013

Sublimation.

gefragt am 29.1.2013

Wie kann sich so ein junger Mensch mit so viel Vergangenheit beschäftigen?

19.2.2013

Ausgetretene Stufen und festgetrampelte Trampelpfade, verwohnte Wohnungen und zerlesene Bücher, abgegriffene Tische und durchgesessene Sessel. Spuren, die Geschichten erzählen von denen, die vor mir da waren. Nichts Neues. Und doch das, was uns über Generationen hinweg zusammenhält. Spuren, die mich erden.

Spuren

Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel gelesen am 19.2.2013

»Die Gewissheit, dass alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.«

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Wenn man sich abends Gute Nacht sagt und morgens nach dem Schlaf erkundigt, ist es, als hätte jeder dazwischen eine lange Reise unternommen. Keiner versteht so recht, was passiert, wenn er sich in seine Traumwelt verabschiedet.

Gute Nacht

getextet am 4.2.2013

Zuhause bin ich nunmehr im Dazwischen, zwischen Abfahrt und Ankunft, während hier und dort ihren Standort wechseln und mein Wohnzimmer seine Tapete – Heute: Schneemotive.

Mit dem Kopf zwischen zwei Leben. Noch am einen Ort und doch schon nicht mehr da. Hier wie dort fehlt die andere Hälfte der Zeit, Planung und Gepäck geraten durcheinander, in der Hektik geht die Konzentration flöten.

Dazwischen

geträumt am 19.2.2013

Ein kleiner, enger Nachmittag mit Sonne, Die Arme rund, bereit zur Umarmung. Fliehkräfte beim Aufwachen, Im bequemsten Bett der Welt.

Totale Stille, also gar nichts? Kein Wind? Kein Vogel? Kein Radio?

Oh doch

Ich glaube Stille würden wir nicht ertragen.

Die Sinfonie der Lüftung Unaufhörlich Und wenn sie aufhört zu singen Beginnt der Kühlschrank

2503011221 11:52 Jede Klorolle hat ihre Nummer, ihre Zeit

Du bist süß.

Intellektueller Tourismus Nichts weiß ich

Ich starre auf meinen Teller Die Ordnung der Reste zu entschlüsseln

Alles hier in dieser Wohnung Wenn wir tagelang nur uns sehen Uns nicht mehr sehen Weder uns gegenseitig Noch uns selbst

Sie brennt Und zerfällt


Heute weigere ich mich erstmals in diesem Studium ausdrücklich, eine Hausaufgabe zu erfüllen. Doch es raubt mir den Schlaf, also knipse ich den Tag wieder an und lasse den Stift erklären, dass Hausieren nicht mein Medium ist – Kunst hin, Workshop her. Ein Medium vorgegeben zu bekommen widerstrebt mir zutiefst, vor allem wenn der Inhalt dem Medium wegen erst noch erfunden werden muss. Ausgebildet für Inhalt und Form habe ich mir über die Jahre eingebildet, dass Inhalt am besten aus sich selbst heraus entsteht, und erst dann das Haus verlässt, wenn er weiß wie und warum. Solange bleibt er drinnen. Nach vier Monaten Dauerbeschallung von außen, ist es drinnen still geworden. Nun kann klopfen wer mag, ich habe nichts zu sagen, will nicht gestört werden, geschweige denn andere stören und bleibe zu Hause, wo ein dickes, graues, schlechtes Gewissen vor der Tür steht und nervt.

Hausieren

Irgendwie postmoderne Beliebigkeit Wir ertragen nicht, wie sie spricht. Ohne einen Punkt zu finden hangelt sie sich von einem verschachtelten Halbsatz zum nächsten. Ihre fragmentierten Phrasen untermalt sie theatralisch mit einer unangemessenen

getextet am 8.1.2013

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Achtung; U2 nach Botnang fährt ein und mit ihr die Leere, gelb, und sie spricht ausländisch. Ich spreche bald gar nicht mehr und fühle auch nichts, die Hände sind taub, die Augen sehen doppelt. Schwarze Balken, Grauwert, ich bin grau und bleich und müde. Ich brauche Urlaub bis zum Ende meines Lebens. Ihr habt frei und ich verliere mein Weltvertrauen und schreibe dagegen an, bis der Sekundenzeiger oben ist. Früher fuhr die U2 noch nach Hause. Wo das sein soll und ob es das überhaupt je geben wird, weiß ich nicht mehr. Ich schreibe mich müde und schlafe mich gesund. Gesund von leuchtenden Rechtecken der Verinselung, auf denen wir nach Oasen suchen. Schuhe mit Ns drauf, Rucksack mit Kreis, Haare mit Farbe, Sitze mit Quadraten, blau mit gelb, karriert gegen Flecken, schreiben gegen

*geklaut

Ijoma Mangold: Wir Stadtkinder, DIE ZEIT No. 47, gelesen am 21.11.2012

»Die Kehrseite der Individualisierung ist die transzendentale Obdachlosigkeit, die Einsamkeit des Ichs, das in keiner Ordnung mehr aufgehoben ist.«

geträumt am 8.1.2013

Und ich weiß mehr als ich weiß

getextet am 19.2.2013

Ruhe jetzt

Haut?

Heizung

Lüftung?

Zu viel Luft

Deine Lippen sind vertrocknet.

Luft

Dein Mund steht offen.

Es ist sauber Und kalt Arbonia

Kalte nackte Fliesen Meine Zehen frieren Ich zerfalle Habe mich verirrt In diesen vier Wänden


Berührtheit. Ihre langen, dünnen Finger räkeln sich verkrampft und in unendlicher Langsamkeit vor ihrem Körper. Wir halten still und sehen zu Boden oder zur Decke. Nachdrücklich sucht sie nach etwas Greifbarem – und findet Schubladen. Die Zeit hält den Atem an. Ihre Stimme kippt ins Hysterische und trotzdem will keiner hinhören. Ihre und unsere einzige Rettung wäre es, sie zu unterbrechen, doch keine weiß was zu sagen bleibt in diesem luftleeren Raum. »Emotionen um ihrer selbst willen – der Inhalt war wie weg.« Konjunktur der Gefühle, ein vielstimmiger Monolog, ein Wortschwall, dem wir Woche um Woche ausgeliefert sind. Wir sitzen fest in unserer Rolle der Zuhörer. Je mehr sie sagt, desto leerer werden wir.

Kinokauz über »Die Wand«

»Das Schreiben ist der letzte Moment der Selbstreflexion, danach kommt das Ablösen von der Vergangenheit, dem alten Leben, ein Verwandeln hin zu einem großen Ganzen, zu einer großen Gemeinschaft.«

getextet am 14.11.2012

Hinter mir steht ein Koffer. Plötzlich knallt es – nur die Heizung. Der Koffer hinter meinem Rücken macht mich trotzdem nervös. Diese eingepflanzten Bilder. Kofferbombe, Teddybär, Hitler.

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[20:54:30] T: ist das das ende? [20:55:07] C: Das Ende: [20:55:13] C: “Schluss für Heute” [20:55:22] C: aber das könnte auch der Titel sein [20:55:45] T: in allen berreichen haben wir zunehmend das ding ohne sein wesen. [20:55:52] T: wir haben bier ohne alkohol [20:56:00] T: fleisch ohne fett [20:56:10] T: kaffee ohne koffein [20:56:15] C: Darf ich dir ein bierreichen [20:56:27] T: und sogar virtuellen sex ohne sex [20:56:42] T: erst wenn du mir das wasser reichen kannst [20:56:56] T: jeseits von kunst und böse [20:56:58] C: oder echten sex ohne alles, ohne blümchen, ohne lust und ohne sinn [20:57:18] C: und ohne brillen, weil davon haben wir zu viele [20:57:23] C: wir sehen alle nichts mehr

Schluss für Heute

getextet am 9.11.2012

Unwirklichkeit, Beton mit Plastik, Mann ohne Frau, Hut mit Schleife, Tunnel ohne Licht, Hand mit Exzem, Nacht ohne Bedeutung, Liebe ohne Eifersucht, Tage ohne Zeit, Zeit ohne dich, du ohne M, Blume im Haar, Grinsen im Gesicht, Knopf im Ohr, Grummeln im Bauch, Lärm im Kopf*, Brille im Gesicht, Schluss für Heute. Mein Ich ist wandelbar, wie jedes Ich Allein wenn ich die Augen schließe Bin ich wer anders und kann jede sein Heute früh sogar ein Mann Wann genau der Traum begann Macht keiner fest Denn Träume geben sich die Klinken Einfach so von Hand zu Hand Ohne Begrüßung, ohne Abschied Kämpft sich das Traumschiff auf und ab Und durch die Wogen Über Wellenberge durch Wellentäler Alles gleichzeitig und manchmal nichts Und viel, so viel, dass beim Aufwachen Brei daraus geworden ist Wie ich wünscht’ ich könnte reimen Dann entsteht am Ende Sinn Doch so bleibt nur das Beschreiben Von Frauen und Männern Die ich selber bin –– Meine Oma wirkt nervös und fahrig Enkel nur Montags und Dienstags Das ist nicht genug Ich schlafe ein und werde nicht wach Als der Dozent fragt wo denn alle sind Die Oma rennt im Kreis Bis sie umkippt, in meine Arme Ein Sessel, ein Glas Wasser Wir sind im Haus meiner Eltern Sie erwacht mit einem Lächeln Hat vergessen wer sie ist Ich erkenne hier nichts wieder


Zu alt und für immer verdorben

gelesen am 31.10.2012

Jetzt bleibt keine Zeit mehr, meinem Blick dorthin nachzugehen, wo er hängen bleibt. Auch nicht für eigne Wege, wegen der Themenschubladen, Journalismusrezepte und Bewertungskriterien, die in zwei Semester

Das große Gejammer um Bachelor, Master, ECTS und Bologna kann ich erst jetzt nachvollziehen, nach zweieinhalb Jahren Freiheit. Bücher gelesen, Texte geschrieben, nachgedacht und Fragen gestellt habe ich erst, als mich keiner mehr danach gefragt hat. Die Anerkennung für meinen Fleiß hat mir dann gefehlt und der Austausch mit anderen Beobachtern, Grüblern und Lesern. Darum bin ich hier.

Ein Silbertablett nach dem anderen wird an meiner Nase vorbei getragen, ich muss nur zugreifen: Wissenshäppchen, nach denen ich nie gefragt habe. Für mein Päckchen undiskutierter Fragezeichen ist hier kein Platz, auch nicht nach Feierabend, denn die Häppchen wollen verdaut werden und die nächste Ladung steht bereit für wissenshungrige Studentinnen – die eigentlich schon satt sind.

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Ich bin so alleine hier. Mein Rock ist zu kurz. Alle starren mich an, weil ich nicht weiß wohin mit meinen Händen, wohin mit mir. Zeit übrig in einer fremden Stadt, die meine werden soll. War das immer so? In jeder neuen Stadt? Was neu ist: die sich immer klarer abzeichnende Aversion gegen

Hermann Hesse gelesen am 19.8.2012

»Unsere Herzschläge gehören nicht nur unserem Körper. Wir betten sie in die Weite der Tage, und sie sind stets leise gerade an den Orten zu vernehmen, die wir zurücklassen müssen. Schreiben hat häufig mit den Orten zu schaffen, die man zurücklässt. Und mit dem Horchen nach dem eigenen Herzschlag.«

getextet am 9.11.2012

[20:57:27] C: außer die rechtecke [20:57:45] C: beleuchtete Unwirklichkeit [20:57:51] C: im Querformat [20:57:58] C: im Kleinformat auch zum drehen [20:58:18] T: schön [20:59:08] T: und im garten blüht die illusion [21:02:02] T: aber wir leben doch die rechtecke [21:02:05] T: oder? [21:02:16] T: also wir sehen nicht mal mehr die? [21:02:22] T: nur die zum drehen

Doch sie erkennt nicht mal mehr mich Sie tanzt zur Tür, zum Garten Wo Dunkelheit sie zu verschlucken droht Im Wahn des Moments will sie weiter Ich halte sie fest Verzweifelt gehe ich zum Telefon Ein Arzt, ein Notfall Die Verbindung zerhackt die Wörter Hallo, hören Sie mich? Vater und Schwester eilen vorbei Keine Zeit für Omas Allüren Sie kommen und gehen Und lassen mich stehen Dann kommen sie wieder Und versprechen zu helfen –– Höchste Zeit, ich bin in den Bergen Mit meinem besten Freund Den ich zuvor noch nie gesehen Er ist verrückt, wie meine Oma Gefangen im Moment, ohne alle Sorgen Vor dem Wandern gehen wir baden Meer, Felsen und Freizeit Buntes Gelächter vom Ufer gegenüber Bis sich der Himmel verdunkelt Der Sittenstrolch hat zugeschlagen Alle Hotels verbarrikadiert Wir warten im Schlafsaal Auf dass die Zeit vergeht Auch ich bin nun ein Mann Haare sprießen auf uns allen Die einen haben Sex Die anderen dösen im Dämmerlicht Vorhänge verdecken die Fenster Doch die Angst kriecht durch die Tür


getextet am 30.10.2012

passen müssen. »Vielleicht bist du zu alt fürs Studieren«, vermutet Antonia und Jakob meint: »Wenn du einmal Freiheit geschnuppert hast, bist du verdorben für so eine Mühle.«

»Texte werden immer wieder korrigiert, variiert, weiterverzweigt, Graphiken mehrschichtig überarbeitet, Bilder und Skulpturen dem Verfall preisgegeben, Zeichnungen in Sekundenschnelle auf einen Papierbogen und dann auf den nächsten geworfen. Über schonungslose Tagebucheintragungen, Filme, Polaroids und Abfallsammlungen werden, zuletzt immer engmaschiger, flüchtige Lebensmomente derart unübersichtlich festgehalten, dass man am Ende nichts mehr

getextet am 19.8.2012

Die Kirchenglocke schlägt im Takt und lacht über meine Kalkulationen und Rechtfertigungen, sie diktiert uns: Geld. Geld. Geld. Geld. Geld. Geld. Geld.

Paul Müller abgelauscht am 19.8.2012

www welt weites warten

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getextet am 19.8.2012

Autos, Menschenansammlungen, Lärm, Kneipenviertel, enge, dunkle, überteuerte Wohnungen, die Wichtigkeit eines jeden, der durch die Straßen eilt. Ich spiele mit. Ich spiele mit dem Gedanken all das hinter mir zu lassen. All die Show, all das Streben, alles nur für diesen Moment des: Guck mal, hab ich gemacht! Meine Ruhe will ich haben, den Himmel vom Bett aus sehen und hören will ich Vögel statt Autos, Klavier statt Diskos, den tropfenden Wasserhahn statt tickender Uhren, das Rascheln von Papier statt piepsender Telefone. Ruhe. Was sind wir nur immer alle am Suchen, um am Ende die Sehnsucht nach dem Nichts zu finden. Leer – mein Blick, mein Kopf, mein Bauch. Wer zeigt mir diese Stadt? Wer macht, dass ich sie mögen lerne? Wer sagt mir wo meine Heimat ist? Wer weiß? Kein anderer kann sehen, wie schön diese Kratzer sind, nur du vielleicht. Du siehst so manches und manchmal sehen wir uns an. Müssen wir und schon bemühen zu sehen, was wir haben? Kommst du mit, kommst du nach? Jetzt weine ich. Weil meine Heimat – das bist du. Du und die kleinen stillen Momente und der Himmel und das Grün des Sommers und der weiche Nebel des Winters und das Wasser und die Luft – die auf jeden Fall nicht so stinkt wie diese und jede Stadt. »Mehr als alles andere ist es die kreative Wahrnehmung, die dem einzelnen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist. Im Gegensatz dazu steht eine Form der Beziehung der äußeren Realität, die sich als Angepasstheit bezeichnen lässt, die Welt (und ihre einzelnen Teile) wird dann nur als etwas wahrgenommen, dessen man sich bedienen kann oder das Anpassung erfordert. Diese Anpassung bringt für den einzelnen ein Gefühl der Nutzlosigkeit mich sich und ist mit der Vorstellung verbunden, dass alles sinnlos und das Leben nicht lebenswert ist. Viele der betroffenen Menschen haben gerade soviel an kreativer Lebensweise erfahren, dass sie zu der quälenden Erkenntnis kommen, die meiste Zeit unschöpferisch zu sein, im Bann der Kreativität eines anderen oder einer Maschine.«

geträumt am 5.12.2012

Sie knarzt und durch den Spalt Schlüpfen zwei Gespenster Schwarzweiß bemalte Gesichter Freundin des einen, Freund der anderen Beide mit Sense und lachendem Hohn Der Sex greift um sich, die Frau trägt Bart Eine Haarsträhne am Ellbogen Was soll das alles und wie geht es Oma Der Wecker klingelt ein fünftes Mal Was kann der Tag schon dazu sagen Nichts weiß er, denn ich bin viele


»›Die Konkreten konnten immer so philosophisch gesicherte, elegante, asketisch einwandfreie Lösungen vorzeigen.‹ (…) Seinem tief ausgeprägten Selbstzweifel blieb die Eindeutigkeit und Vollkommenheit als Ausdruck eines sich als Weltschöpfer verstehenden Geistes, wie es z. B. Max Bill verkündete, naturgemäß fremd.«

»Wörter sind zum Weinen, Bilder zum träumerischen Sich gehen lassen.«

sieht und nichts mehr weiß.«

Bis zum kugelrunden Bauch im Wasser, alle fünf Meter einer, die Angel im Blick, die Ausrüstung perfekt. Fischköpfe dümpeln am

Zwei Tage im Nirgendwo

Paul Ricœur, Zeit und Erzählung gelesen am 13.7.2012

»Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen.«

Aus: Dieter Roth, die Haut der Welt gelesen am 19.8.2012

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Jemanden eingehend und allumfassend über Tage und Wochen zu beobachten, ruft nichts weiter hervor als eine dicke Unterstreichung des ersten Eindrucks. Als ich ihn besser kennenlernte, war mir nicht mehr klar, warum ich ihn anfangs als unsicher und phrasenhaft empfunden hatte. Ich fand ihn schlichtweg langweilig und glaubte keinen Moment, dass er mehr zustande bringen würde, als Material und Ausreden anzuhäufen. Wie ein kleiner, ungeduldiger Schüler trat er von einem Bein auf das andere, drauf und dran einfach wegzurennen, um hinter der nächsten Kurve sein großes Abenteuer zu finden. Wie er nun wieder um den heißen Brei tänzelt, erweckt meinen ersten Eindruck erneut. Wie er sich windet und hinter Floskeln versteckt, mit wippenden, unentschlossenen Schritten den Weg nicht weiß, aber unbedingt irgendetwas machen muss und keinen Augenblick ruhig sitzen bleibt. Er trommelt mit der Hand auf den Tisch, um seine nichtswagenden, oft aufgesagten Worte zu unterstreichen. Er übt deren Aussprache, spricht mit stolzem Akzent und bedient sich der abgelauschten Redewendungen der Amerikaner. Wer bin ich, festsitzend in meinem Käfig der Sprachlosigkeit, so über ihn zu richten? Gab ich mir doch alle Mühe ihn als den abenteuerlustigen, unterhaltsamen, zielstrebigen, sympathischen und attraktiven jungen Mann zu sehen, den er darstellt, wenn

Heiße Luft

Im ständigen Abgleich mit dem Ich von Heute und Gestern und allen anderen. Mindestens täglich denke ich über mein Geschlecht nach und über mein Alter. Zeit im Zeitgeist. Wie alt ich mich fühle. Welche Rolle ich spiele. Als Frau. Mein Frausein so zu durchdenken macht den stets unkomplizierten Umgang mit Männern befremdlich, die Unterschiede überhaupt zu benennen ist dir fremd. Ich suche und frage und schaue zu, bin schläfrig und desinteressiert und desillusioniert. Ich bleibe stehen, während die Zeit an mir vorbei rast. Die Zeit steht still und ich bin eine alte Lady, müde und voller Geschichten. Meine Augen sind satt und noch habe ich nichts verstanden. In mir sitzt ein Kind – neugierig, ungeduldig, hochnäsig, besserwisserisch, überzeugt, jähzornig, pupertierend. Und eine müde Frau – erschöpft, ausgebrannt und leer. Und eine fürsorgliche Mutter. Und eine Großmutter – ruhig, gelassen und mit der Welt im Reinen, der alten zumindest, denn all das Neue geht zu schnell. Ich bin langsam und bremse euch aus. Verzeiht, dass ich euch eure Jugend stehle, weil mich das alles nicht mehr berührt. Ich sehe nicht hin und habe doch alles schon mal gesehen.

Spiegelblind

D. W. Winnicott: Vom Spiel zu zur Kreativität gelesen am 30.10.2012


Ufer, wo die Jungs ihr Anglerglück versuchen. Ausbeute: drei. Auf der Ladefläche sitzend, mit wehenden Haaren den Berg hinauf zum Campingplatz inmitten von grün. Die Klimaanlage tut ihr bestes, um das mobile Provisorium auf soundsovielen Squarefoot kühl zu halten.

getextet am 4.7.2012

Vom Urlaub am Fluss ins Landleben der Morgans. Haus Nummer zwei innerhalb von drei Jahren vollgemüllt, von einem Fuhrpark umrundet, als wären es vergessene Spielzeugautos. Mitten im Nirgendwo aufzuwachsen, lässt einem dicken Jungen wohl keine andere Wahl, als die Tage im Keller mit Videospielen und die Wochenenden mit Angeln oder Schießen hinter sich zu bringen. Die zwei Hunde hecheln und die fünf Katzen schleichen durch ein abgedunkeltes, muffiges Chaos der Konsumkultur. Kulturvermittlung, wo keine gemeinsamen Interessen bestehen. Eine Prinzessin von einem anderen Stern sieht zu und schweigt und beißt in das fritierte, fetttriefende Allerlei. Im Kopf nur Kunst und Bücher, und Gemüse im Fahrradkorb der süddeutschen Kleinstadt. Die Natur ist gemein und Tiere sind doof. Während der Stift über das Papier gleitet, krabbelt eine Ameise im Zickzackkurs zwischen die Zeilen.

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getextet am 13.7.2012

ich ihn zwischen Tür uns Angel, Arbeit und Küche, Architektur und Alkohol antreffe. Und doch, nach jeder unvermeidlichen Musterung seiner Bewegungsabläufe ist er wieder da, mein abschätziger Blick. Sein Gehampel lässt mich noch ruhiger und unaufgeregter dasitzen. Ich werde mir der angenehmen Stille in mir bewusst, während der heiße Wind meine Haare zerzaust, durch die Maisfeldern saust und durch die Bäume rauscht. Je aufgeregter der Wind, desto ruhiger meine Gedanken. Die Wolken ziehen über das Land, Geschirr klappert in der Küche und ich sitze auf der schattigen Veranda. Ja, ich sehne mich nach genau dieser zeitlosen Langeweile wann immer die Welt um mich herum nervös zuckt und brummt und unbedingt irgendetwas machen muss. Das Leben ist in mir und hier, die ganz einfachen Gedanken, die alles erklären und doch nichts verstehen, aber vor allem nichts müssen.

getextet am 2.6.2012

Auf den Spuren des Individualkonsums, dem Amerikanischen Traum schlechthin. Wir besichtigen seine Relikte vom Auto aus, danach frönen wir der Nostalgie auf der Route 66. Destruktive Fragezeichen vom Rücksitz des überdimensionierten Mietwagens.

geschrieben am 13.7.2012

Mein Gesicht ist älter geworden. Aus dem Spiegel blickt mich eine sachliche, freundliche, fast selbstbewusste junge Frau an. Ich mag sie und möchte das Bild mitnehmen, doch ich kann es mir nicht merken. Die Blicke von Fremden prallen auf die Aura meiner inneren Leere und ich vergesse, was sie sehen. Ich wäre lieber unsichtbar, nicht durchsichtig und verblasst wie eine verkleinerte, unscharf verwischte schwarz-weiß-Kopie meiner selbst. Habe ich zu oft in den Spiegel geschaut? Oder waren es doch zu viele Fotografien, die mich – nein, meine Hülle festhalten und in Pixel und Punkt bannen wollten?


blog.christinaschmid.de


Schreiben 端ber das Schreiben Schreibportfolio von Christina Schmid

Z端rcher Hochschule der K端nste Master Art Education, publizieren & vermitteln Textanalyse & Textproduktion Herbst 2012 bis Fr端hjahr 2013 66


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