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Wie sich Sport und Bewegung in den Alltag und das eigene Zuhause integrieren lassen
Die vergangenen PandemieJahre haben die Relevanz von Bewegungsspielen und Sport für Kinder erneut in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt –darin sind sich Prof. Dr. Esther Serwe-Pandrick, Leiterin am Institut für Sportwissenschaft und Bewegungspädagogik, und Dr. Andrea Probst, Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Technischen Universität Braunschweig, einig. Wir sprachen mit den beiden über die Bedeutung von Bewegung im Alltag, Auswirkungen auf die frühkindliche Entwicklung und den inneren Schweinehund, den es zu überwinden gilt.
Warum ist es wichtig, dass man sich regelmäßig bewegt?
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Serwe-Pandrick (SP): Bewegung ist grundsätzlich wichtig, sowohl für die körperliche als auch für die psycho-soziale Entwicklung. Wir kommen dabei in Kontakt mit Menschen, mit Materialien, mit unserer umwelt und mit uns selbst. Die regelmäßige sportliche Betätigung kann demnach sehr grundlegend die gesundheitlichen Ressourcen von Menschen jeglichen Alters stärken und Begegnungsräume schaffen. Außerdem ist die Bewegungs-, Spiel- und Sportkultur ein relevanter Teil unseres sozialen Lebens.
Probst (P): Körper und Bewegung sind ein wesentlicher Teil unserer Identität – auch ganz unabhängig von Sport. Stellen Sie sich nur einmal vor, Sie hätten keinen Körper, dann wären Sie überhaupt nicht wahrnehmbar. Ihre Art sich zu bewegen ist ein großer Teil Ihrer Persönlichkeit. Insofern geht es vor allem darum, den eigenen Körper wahrzunehmen, ihn mit all seinen Fähigkeiten kennenzulernen, seine Grenzen auszutesten und ihn gut zu pflegen. Nur so können Sie gegebenenfalls auch auf ihn hören. Gute grundlegende Bewegungserziehung legt die Basis für ein ganzes Leben.
Welche Bedeutung hat Bewegung insbesondere in der frühkindlichen Entwicklung?
SP: Es geht darum, die Welt zu erkunden und die eigene umgebung im wahrsten Sinne des Wortes zu „begreifen“.
Materialien, Berührungen, Vertrauen, auch Wettkämpfe untereinander sind wichtig, um ein Gespür für seine umwelt und den eigenen Körper zu entwickeln.
P: In den ersten Lebensjahren ist die größte Förderung, die man einem Kind geben kann, die Bewegung. Sprache kommt erst später hinzu. und ich bin der Meinung, dass man durch gute Bewegungsangebote schon im frühkindlichen Alter das Kind fordert und damit im Gehirn viele Bahnen eröffnet, die einem später nützlich sind.
Was passiert mit unserem Körper, wenn wir Sport treiben?
SP: Im Körper werden anatomisch zunächst einmal die Gliedmaße bewegt, gedehnt und belastet. Das Herz-Kreislauf-System wird angeregt und die Geschicklichkeit sowie die Handlungssteuerung werden trainiert. Durch die körperliche Aktivierung werden Hormone ausgeschüttet, die sich positiv auf die Stimmung und die Gedanken auswirken können.
Was gilt es zu beachten, wenn wir uns bewegen?
SP: Das hängt von der Sportart ab. Wichtig ist, sich gut auf die Belastungsintensität und die körperliche Aktivität vorzubereiten und den Körper durch regelmäßige Übungen auf einem gewissen Trainingsstand zu halten. Wichtig ist, dass Herausforderungen und Möglichkeiten der Bewegungsfähigkeit im Einklang stehen.
P: Elementar ist die Ausbildung einer guten Grundbeweglichkeit. Insbesondere Kinder müssen nicht großartige Leistungen vollbringen. Viel wichtiger ist es, dass sie grundlegende Bewegungsfähigkeiten, wie Balancieren, Klettern und Schaukeln üben, dass sie lernen, wie ihr Körper funktioniert und wie sie sich ausdauernd bewegen können.
Was passiert im Umkehrschluss, wenn Kinder sich zu wenig bewegen?
SP: Typische Entwicklungsprozesse von Muskulatur und die Haltung des Körpers generell leiden natürlich unter einem Bewegungsmangel. Aber auch die Bewegungsfähigkeit generell leidet. Also beispielsweise die Kompetenz die Balance zu halten, einen Ball zu fangen oder von einem hohen Hindernis zu springen und sicher zu landen. Das sind alles Dinge, die man durch die Bewegung selbst erlernt.
Der Hampelmann zum Buchstaben A („Der Affe“) und das Chamäleon zum Buchstaben C sind Beispiele von dem Bewegungsposter, das Dr. Andrea Probst in Corona Zeiten mit ihren Kindern entwickelt hat.
In welchem Alter sind wir körperlich am lernfähigsten?
SP: Im Schulkindalter, zwischen neun und elf Jahren. In dieser sensiblen Phase ist die Trainierbarkeit motorischer Fähigkeiten wie beispielsweise Schnelligkeit und Beweglichkeit sehr hoch und zumeist auch die Motivation, sich neue Bewegungsfähigkeiten anzueignen. Alles, was man in dieser Phase lernt, lernt man deutlich schneller und leichter, außerdem verlernt man diese Dinge nicht so schnell. Auch komplexe Bewegungen, wie beispielsweise Skilaufen, können im frühen Alter leicht erlernt werden. Ängste sind dann meistens noch nicht stark ausgeprägt.
P: Generell gibt es drei Grundlagen, die in jedem Alter zu trainieren sind. Das sind Ausdauer, Kraft und Koordination. und wenn man altersmäßig die richtigen Phasen, von denen meine Kollegin eben sprach, erwischt und gut koordinativ arbeitet, bleibt das fürs Leben.
Wie lässt sich Bewegung gezielt und einfach in den Alltag integrieren?
SP: Schon kleinste alltägliche Tätigkeiten können mobiler gestaltet, Wege beispielsweise zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Oder Sie nehmen die Treppe anstelle des Fahrstuhls. Außerdem helfen gemeinsame Rituale, beispielsweise mit der Familie oder mit Freunden, Bewegung und Sport in den Alltag zu integrieren. Denn gemeinsam Sport zu treiben verbindet sozial auch unheimlich. Beim Arbeiten selbst oder beim Spielen mit den Kindern können gezielte Bewegungsübungen und auch Pausen in Form von Bewegungen einen tollen Ausgleich bilden.
Nicht immer bleibt dafür viel Platz in den eigenen vier Wänden. Wie kann trotzdem eine animierende Umgebung geschaffen werden?
SP: Inzwischen gibt es von etlichen Herstellern eine Reihe handlicher, platzsparender Sportgeräte, wie Halbwalzen (Das sind halbmondförmige Kissen, die auch als ergonomische Sitzgelegenheit dienen können) und Balancebretter. Aber auch der Sofarand kann für verschiedenste Sprungübungen genutzt werden. An einer freien Wand kann ein Handstand geübt werden. Hampelmann-Übungen benötigen ebenfalls nur wenig Platz. Mein Sohn zum Beispiel klettert gerne den Türrahmen hoch. und eines meiner persönlichen Lieblingsspiele ist „der Boden ist Lava“. Das kennt wahrscheinlich jeder. Wir verteilen dafür Kissen und Zeitungen auf dem Fußboden und hangeln uns von Möbelstück zu Möbelstück.
P: Auch gemeinsame Sing- und Tanzspiele machen Spaß. Meine Kinder und ich haben während der Corona-Pandemie ein neues Spiel erfunden und uns zu jedem Buchstaben des Alphabets eine Bewegung überlegt und ein Poster erstellt. So konnte man verschiedene Wörter „bewegen“, indem man die Übungen für die einzelnen Buchstaben ausführt. Das haben wir täglich eine Viertelstunde lang gemacht: Zum Beispiel den eigenen Namen oder auch wahllos Wörter oder ganze Sätze aus der Zeitung.
Gibt es weitere Sportgeräte, die sich insbesondere für das Kinderzimmer eignen?
SP: Wenn man die Möglichkeit hat, sind Klettergriffe an der Wand, Leitern und Rutschen immer eine großartige Sache für Kinder. Diese Sportgeräte lassen sie kreativ werden und bieten viele verschiedene Bewegungsmöglichkeiten. Oder auch Minitrampoline.
P: Eine kostengünstige Möglichkeit sind zudem Tücher zum Schwingen, die man unter die Decke hängt. Luftballons und Papierflieger sind auch immer eine tolle Möglichkeit, um in Bewegung zu kommen. Oder einfach ein Tischtennisball zum Werfen, Fangen und Zuspielen.
Bleibt noch der innere Schweinehund … Wie kann dieser überwunden werden? Was motiviert?
SP: Wichtig ist, zunächst herauszufinden, was für ein Bewegungstyp man ist – sucht man nach dem nächsten Adrenalinschub oder Entspannung? Außerdem ist die Ritualisierung wichtig.
Was bedeutet das konkret?
SP: Sport kann ein fester Bestandteil des Alltags sein. Man räumt dafür explizit Zeit ein und geht jeden Morgen eine Runde Joggen, trifft jeden zweiten Mittwoch seine Freunde zum Skaten oder geht am Wochenende in einen Verein. Das sind Rituale, die gepflegt werden wollen und dann nach kurzer Zeit nicht mehr wegzudenken sind. Privat nutze ich aber auch Alltagssituationen, um Sport zu treiben.
Haben Sie ein Beispiel für uns?
SP: Im Homeoffice lege ich mich beispielsweise mit dem Laptop vor mir auf den Boden, trage an den Beinen Hanteln mit Laschen und trainiere mit gezielten Übungen meine Beinmuskulatur. Oder ich mache nach jeder E-Mail fünf Sit-ups. Sport ist für mich etwas Positives, meine verdiente Zeit für mich. Hier geht es ausschließlich um mich und darum, meinem Körper etwas Gutes zu tun. Wem das schwer fällt, der kann sich tägliche Bewegungen auch als eine Art Hausaufgabe aufgeben, die erledigt werden muss.
Wie können speziell Kinder motiviert werden, sich mehr zu bewegen?
SP: Bei Kindern bietet es sich an, lästige Dinge wie Hausaufgaben mit Bewegung zu verknüpfen Gewissermaßen als Erholung davon. In einer kurzen Pause wird getobt oder es geht an die frische Luft. Hausaufgaben sind dann kein starres System mehr. Bewegung kann außerdem eine Lernhilfe sein, indem man Dinge, die man sich für die Schule merken muss, mit konkreten Bewegungen koppelt. Wir haben uns früher zum Beispiel Bälle zugeworfen beim Üben des kleinen Einmaleins.
P: Eine weitere Möglichkeit, um speziell Kinder in Bewegung zu bringen, ist eine Art Belohnungssystem. Dabei können die Kinder jeden Tag Bewegungspunkte sammeln und ab einer bestimmten Punktzahl bekommen sie eine Belohnung, beispielsweise in Form von einer halben Stunde Spielzeit an der Konsole.
SP: Ansonsten sollte man Kindern einfach viele verschiedene Bewegungsangebote machen. Ihnen ganz unterschiedliche Motive und Sinnrichtungen vom Sich-Bewegen vermitteln. Nicht nur Leistung und Gesundheit, sondern zum Beispiel auch Gemeinschaft, Entspannung, Ausdruck oder Wagnis.
Und wenn mein Kind trotzdem lieber Fernsehen schaut, und an der Konsole spielt?
P: Auch das kann in Bewegung umgewandelt werden. Die Piratengeschichte aus dem Fernsehen wird dann nachgebaut, das Hörbuch selbst nachgespielt.
Gibt es aus Ihrer Erfahrung Aktivitäten, die Kinder besonders gerne machen?
SP: Spiel- und Wettkampfsituationen finden die meisten Kinder toll. Verstecken, Fangen und Kämpfen geht auch immer. Ansonsten Hüpfen, Abwerfen von Gegenständen, Tanzen, Rennen, Turnen – am besten natürlich in einer Gruppe.
P: unternehmungen mit Kindern sollte man generell immer aktiv und kreativ gestalten. Das lieben Kinder. Aus dem schnöden Spaziergang wird so ein aktives EntdeckerSpiel und der umgekippte Baumstamm zum Hindernis oder zur Schwebebank. Eltern von Einzelkindern sind dabei mehr gefragt, denn Kinder untereinander bewegen sich von sich aus meistens schon sehr viel.