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Unzeitgemäße Zwischenrufe im Advent von Dr. Johannes Riedl
Unzeitgemäße Zwischenrufe im Advent
Vom Staunen zur „Mystik der offenen Augen“
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Vor lauter Lauschen und Staunen sei still, du mein tieftiefes Leben; daß du weißt, was der Wind dir will, eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach, laß deine Sinne besiegen. Jedem Hauche gib dich, gib nach, er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit, daß dir das Leben gelinge, breite dich wie ein Feierkleid über die sinnenden Dinge.
Rainer Maria Rilke
Staunen öffnet die Augen, macht den Horizont weit. Staunen hält in verweilender Hingabe die Zeit an. Es hat den Nutzen in sich selbst. Es führt hin zu Wundern unserer einmaligen Welt, zur Einzigartigkeit des Menschen und zu seinen Werken. Staunen
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erschließt verschlüsselte Geheimnisse und blickt hinter die verschleierte Wirklichkeit. Staunen lässt das große Ganze ahnen und die „Sehnsucht nach dem ganz Anderen aufkommen“. (Max Horkheimer).
Der kürzeste Weg von Person zu Person ist der Blick. Lebendig erzeuge ich im „anblickenden Blick“ mein Gegenüber, erschaffe ich den anderen zum Mitlebenden. Ein abwendender Blick trennt und löscht. Das wäre ein „anblickender Blick, der den „angeblickten Blick“ zum kalten Objekt machte. (J.P. Sartre, Das Sein und das Nichts, dt.1993) J.B. Metz öffnet einen Weg aus dem kalt distanzierten zum offenen wärmenden Blick. Es ist die Einstellung der Compassio, des Eingedenkseins fremden Leides. Sie stiftet eine „Kultur der Empfindsamkeit“, die im Antlitz des anderen seine Befindlichkeit gespiegelt sieht.
Dr. Johannes Riedl, Präsident des oö. Landesschulrates a. D.
Die gottbezogene Mystik altruistischen Handelns ist Zumutung genug für Gläubige. Erst recht für Andersdenkende. Toleranz gebietet Unaufdringlichkeit, bestenfalls Einladung zu diesem Gedankengang. Die christliche Begründung für eine „politische Mystik der Compassion“, d.h. zu tätigem Mitleben, ist rational nicht zwingend. Mit dem französischen Philosophen Comte-Sponville („Woran glaubt ein Atheist?“) könnte ein gemeinsamer rationaler Nenner für das gerechte Miteinander „eingedenk fremden Leids“ gefunden werden. Er nennt ihn „Kommunion“, gemeinsame Stärkung durch das Teilen (mit-teilen, teil-haben, Anteil nehmen) im Sinne, anderer eingedenk zu sein. „Ohne Kommunion gibt es keine Bindungen, keine Gemeinschaft, keine Gesellschaft.“ (S. 30) Narzisstischer Egoismus steht dagegen. Comte-Sponville hält es mit Kant, der den Egoismus für den Urquell des Schlechten hält. Dem Egoismus lägen sämtliche Unhöflichkeiten und eigentlich auch alle Untugenden zugrunde. Zu ihm passte auch die verbreitete selbstbezogene spirituelle Nabelschau. » Staunen öffnet die Augen, macht den Horizont weit.«