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schau Geschichte
Soldatenfriedhöfe erinnern an die zahlreichen grausamen Schlachten des Ersten Weltkriegs in Ypern.
In Ypern gibt es heute – typisch flandrisch – sogar eine Schokolade, die an den „Great War“ erinnert. Auch ein eigenes
Bier erinnert an den Großen Krieg.
Ypern – die totale Zerstörung
TEXT VON HELMUT STRUTZMANN
YPERN WAR – bis zu Beginn des Ersten Weltkrieges – eine fast idyllische, mittelalterliche Stadt mit den weithin bekannten Tuchhallen, verträumten Gassen und Giebelhäusern sowie einer mächtigen Kathedrale. Ypern war im Mittelalter und in der Frührenaissance eine der reichsten Handelsstädte und stand in direkter Konkurrenz zu Gent und Brügge. Wohlhabende Tuchhändler und Handelshäuser prägten das Wirtschaftsleben, und es gab auch Reichtum, sodass man um 1200 mit der Errichtung der Tuchhallen begann. Das war schon damals ein beeindruckendes Zeichen für Macht und Weltoffenheit. Im Ersten Weltkrieg geriet Ypern jedoch mitten in das kriegerische Geschehen und wurde systematisch zerbombt, zerschossen und zerstört. Kein Stein blieb auf dem anderen: Überall standen nur noch Ruinen, die Bevölkerung war tot oder noch rechtzeitig geflüchtet. Den siegreichen Engländern und Franzosen erschien Ypern als Mahnmal, als Symbol für die sinnlose Zerstörung und den qualvollen Stellungskrieg – Mahnmal für Massenvernichtung. In Langemarck befindet sich heute ein deutscher Soldatenfriedhof: 44.000 Soldaten sollen dort begraben sein. Wohin man auch blickt, man sieht nur Gräber und dazwischen einschüchternde, grausige Relikte. 1919 wurde entschieden, Ypern als Friedensstadt wieder aufzubauen.
Im Zentrum der Vernichtung
Jedes Haus, jeder Platz, die Kathedrale sowie die Kirchen und natürlich die Tuchhallen wurden im Laufe der Jahre eins zu eins rekonstruiert. Ypern ist heute eine künstliche, mittelalterliche Stadt – ein Idyll, ein Museum. Sie lebt vom Kriegstourismus, und das schon seit Mitte der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Doch damit nicht genug, hat sich noch mehr Grauenvolles in der Nähe von Ypern abgespielt: wahrscheinlich die zahlenmäßig größte Vernichtung menschlicher Leben während des Ersten Weltkrieges. Franzosen und Engländer auf der einen Seite und Deutsche auf der anderen – jahrelang hatten sie immer wieder um wenige Quadratmeter Bodengewinn gekämpft. Ein
Schallaburg: JUBEL & ELEND
100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges widmet sich eine Ausstellung im Renaissanceschloss Schallaburg der so genannten „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. In Kooperation mit dem Heeresgeschichtlichen Museum Wien und Schloss Artstetten ist das Schloss Schallaburg Gastgeberin der umfangreichsten Ausstellung zum Ersten Weltkrieg
Ypern heute
Käthe Kollwitz Museum
Etwa eine halbe Autostunde von Ypern entfernt, in der Brauerei Koekelare, befindet sich das Museum der Künstlerin Käthe Kollwitz. Das Museum selbst handelt nicht nur von ihr und ihrer Arbeit, sondern auch von Peter – einem jungen Frontsoldaten im Ersten Weltkrieg. Käthe Kollwitz lebte von 1867 bis 1945 und war eine großartige Künstlerin mit einer pazifistischen Botschaft im Deutschland der 30er und 40er Jahre.
B-8680 Koekelare, Sint-Maartensplein 15 b, Tel. +3251/61 0494, info@koekelare.be, www.koekelare.be
mal nahmen die Deutschen einen der strategisch wichtigen Hügel ein, ein anderes Mal die Gegner. Etliche Schützengräben wurden gebaut, unterirdische Gänge als Labyrinthe gegraben, tausende Kilometer Telefonkabel verlegt und unzählige Depots und Munitionslager errichtet.
Die Hill-60-Katastrophe
„Hill 60“ wurde der Hügel benannt, um den sich eine der größten Tragödien des Ersten Weltkriegs ereignete – die Schlacht von Messines. An jenem Hügel kam der deutsche Vorstoß erstmals zum Stocken. Mehrmals wechselten die Besatzer. Die Streitmächte versuchten mit allen Mitteln, die Stellungen der jeweils anderen zu unterminieren und die Schützengräben der Gegner zum Einsturz zu bringen. Die Engländer waren es, die schließlich begannen, tief unter der Erde Tunnel zu graben, Sprengstoff zu deponieren – in unvorstellbar großen Mengen –, und Zündkabel zu verlegen. Jeden Augenblick konnten die Tunnel einstürzen. Am 7. Juni 1917 war es dann so weit – der Sprengstoff wurde gezündet. Ein riesiges Feuermeer breitete sich blitzschnell aus, die Detonation war dutzende Kilometer weit zu hören, angeblich bis London und Paris. 10.000 Soldaten wurden mit einem Schlag getötet und unter den gewaltigen Erdmassen verschüttet. Heute noch kann man den Hügel besichtigen: Im Rahmen der „Battlefield Tours“ werden alle Gedenkstätten systematisch angefahren, sodass man den Krieg „nachvollziehen“ kann. Das bedeutet, in Schützengräben hineinsteigen, Kanonen besichtigen, in Baracken gehen und sich dort das Mittagessen – die Kriegssuppe – servieren lassen … und natürlich eine Camouflage-Uniform anziehen. Die Kathedrale steht auch wieder da, mächtig mit ihren Strebepfeilern und dem Turm. Die Tuchhallen sind mittlerweile zu einem hoch frequentierten Museum geworden. Überall in der Stadt befinden sich Gedenkstätten, die an den „Great War“ erinnern. Die Devotionalienläden, die Gastronomie und der Kriegs-Sightseeing-Tourismus pulsieren in der Stadt. An der Peripherie hat man – ebenfalls gewissermaßen artifiziell – wieder Dörfer und Landwirtschaften etabliert, man sieht Kühe und kleine Bauernhöfe, die frische Ware anbieten. Die Dörfer rund um Ypern sind „museale“ Touristenattraktionen und Profiteure. Jedes Jahr am 22. April, dem Tag, als das erste Mal ein Gasangriff erfolgte, gibt es in Ypern ein großes Gedenkfest mit Musik und dem „Last Post“, dem „letzten Gruß“, mit einem riesigen Basar. Und hunderttausenden Besuchern. Sie kommen aus aller Welt – um Krieg zu sehen. Ypern ist wieder fast so reich wie in seinen besten Zeiten. Doch nicht mehr durch Tuchhandel oder Gewürzverkauf, sondern über Massentourismus, Souvenirverkauf und große Gedenkfeste. Gleichzeitig ist es aber ein Mahnmal geblieben. Die Dauerausstellung in den wieder errichteten Tuchhallen spricht deutlich dafür. In Ypern gibt es heute sogar eine Schokolade, die an den „Great War“ erinnert: Auf den Schleifen sind patrouillierende Soldaten in Schützengräben abgebildet, man sieht Feldhaubitzen und allerlei Kriegsgerät. Auch ein eigenes Bier – ebenfalls eine flandrische Spezialität – gibt es in Gedenken an den Ersten Weltkrieg, mit dem Hinweis, man solle eine Gedenkminute einlegen, bevor man den ersten Schluck nimmt. Sein Name, „Passchendaele“, erinnert an die verlustreiche Eroberung des gleichnamigen Dorfes. ///
mit dem Titel „JUBEL & ELEND. Leben mit dem Großen Krieg 1914–1918“. Von 29. März bis 9. November werden einschneidende historische Fakten, politische Strömungen und Stimmungen in der Bevölkerung anhand einzelner Schicksale beleuchtet. So sollen neue Wege in Richtung Aufarbeitung des „Großen Kriegs“ beschritten werden. 1.000 Objekte von 140 nationalen und internationalen Leihgebern schildern die vielfach berührenden Geschichten über individuelle Schicksale des Großen Krieges. Gleichzeitig feiert das Renaissanceschloss Schallaburg sein 40-jähriges Bestehen als internationales Ausstellungszentrum. Auf 1.300 Quadratmetern werden die globalen Perspektiven der Urkatastrophe beleuchtet.
Renaissanceschloss Schallaburg 3382 Schallaburg 1, Tel. 02754/6317-0 www.schallaburg.at