Magazin der CVP Schweiz, April 2013

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curiosita dimostrazione sensazione sfumato art e I scienza corporalita connessione INNOVATION

Magazin fĂźr Meinungsbildung. Ausgabe 2 / April 2013 / CHF 7.80 www.die-politik.ch


INHALT

TITEL

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FINANZEN JUGEND KLIMA POLITIK GEISTIGES EIGENTUM MODE TECHNIK BILDER

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Innovativer Schritt der Armee

IMPRESSUM

HERAUSGEBER Verein DIE POLITIK REDAKTIONSADRESSE DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern, Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail binder@cvp.ch, www.die-politik.ch REDAKTION Marianne Binder, Jacques Neirynck, Gerhard Pfister, Lilly Toriola, Philipp Chemineau, Rudolf Hofer, Sarah McGrath-Fogal, Isabelle Montavon GESTALTUNGSKONZEPT, ILLUSTRATIONEN UND LAYOUT Brenneisen Theiss Communications, Basel DRUCK Schwabe AG, Muttenz INSERATE UND ABONNEMENTS Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail abo@die-politik.ch, Jahresabo CHF 52.–, Gönnerabo CHF 80.– NÄCHSTE AUSGABE Mai 2013

Der oberste Chef im Passgang …


EDITORIAL – Marianne Binder, Chefredaktorin

DIE SIEBEN PRINZIPIEN DES LEONARDO DA VINCI Es gibt einen Selbsterforschungstest – ich bin kürzlich darauf gestossen – welcher sich der Frage widmet, wie viel an einem innovativen Menschen in einem stecke, wie viel Leonardo da Vinci. Abgeleitet ist der umfangreiche Fragebogen nach seinen sieben Prinzipien. Curiosità, Neugierde, das Streben nach Wissen. Dimostrazione, die Bereitschaft, beispielsweise neue Erfahrungen zu machen und aus Fehlern zu lernen. Sensazione, das Schärfen aller Sinne, um den Zugang zu den Erfahrungen zu verbessern. Sfumato, Aufgeschlossenheit gegenüber Mehrdeutigem, Paradoxien und Unsicherheiten. Arte /Scienza, Gleichgewicht zwischen Logik und Phantasie, Kunst und Wissenschaft. Corporalità, Kultivierung der Körperlichkeit, Anmut, Vitalität, Ausstrahlung, Fitness. Connessione, Würdigung der inneren Verbundenheit aller Dinge und Phänomene, das systemische Denken. Meinen persönlichen Anteil am Universalgenie der Renaissance, brauche ich hier ja nicht zu veröffentlichen, doch ich vermittle auf Anfrage gerne den Test. Ansonsten freue ich mich an unserem neuen Magazin, das sich dem Thema Innovation und innovativen Ideen widmet. Unter anderem im Zusammenhang mit dem Bankenplatz Schweiz, der Stromproduktion oder der demographischen Herausforderung. Wir beschäftigen uns mit neuen Studienformen, der Alzheimerforschung oder der Nanotechnologie. Und schliesslich auch mit den Mechanismen der Innovationskraft in der Schweiz und einer Analyse darüber, wie sie uns erhalten bleibt oder was sie bremst.

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Pirmin Bischof

INNOVATION STATT RESIGNATION! Innovationsweltmeister! Mit 7786 neuen Patentanmeldungen ist die Schweiz gemäss dem «Global Innovation Index» pro Kopf der Bevölkerung auch 2012 wieder an der Spitze aller Nationen. Top-Ränge belegen insbesondere ABB, Roche und Novartis. Darauf sind wir stolz. Aber wie steht es mit der Innovationskraft der Finanzbranche?

Beschönigen wir es nicht: Schlagzeilen machte der Bankenplatz Schweiz in letzter Zeit nicht durch Innovation, sondern durch Probleme. Zum ersten gelten seit der Rettung der UBS zumindest die Grossbanken als «Systemrisiken», denen mit «Too Big To Fail»-Gesetzgebungen begegnet werden musste. Zweitens stellen Salärexzesse den Eigenhandel in Frage und gefährden das gute Verhältnis zwischen Unternehmen und Bevölkerung und damit mittelfristig das Erfolgsmodell Schweiz. Schliesslich (und damit vielleicht am folgenschwersten) haben die dauernd verschärften OECD-Normen

und der Steuerstreit mit den USA grosse Teile des Schweizer Bankkundengeheimnisses im internationalen Bezug aus den Angeln gehoben. Damit steht das Herzstück des «Swiss Banking», nämlich die Vermögensverwaltung, auf dem Prüfstand. Innovation ist im Finanzbereich nötig. Diese Bild mag angesichts des Abwehrkampfes gegen vielerlei Angriffe, aber auch der internen Zerstrittenheit verständlich sein. Gerade in einer schwierigen Zeit ist es aber entscheidend, nicht nur Angriffe abzuwehren, sondern neue Ziele zu suchen und anzusteuern. Innovation müsste nicht nur ein Erfolgsrezept für Medikamente, Maschinen und Uhren sein, sondern gerade auch für Finanzprodukte und zwar für Kunden auf der ganzen Welt. Man darf es offen sagen: Lange war dies nicht unbedingt nötig, weil sich mit der Rente auf unversteuerten Geldern auch ohne grosse innovative Leistung gut leben liess. Dies ändert sich aber gegenwärtig sehr schnell: Kunden beanspruchen die Leistungen der Schweizer Banken nur, wenn diese besser, schneller oder günstiger als bei der Konkurrenz sind.

Innovation ist nicht per se gut Innovation wird daher zum Gebot der Stunde für eine gebeutelte Branche. Innovation ist nicht auf Mikroskop und Reagenzglas beschränkt. Auch für Dienstleistungen ist sie eine Daueraufgabe. Nach den Erfahrungen der letzten Jahre muss aber eine Banalität in Erinnerung gerufen werden: Innovation ist nicht per se gut. Sie muss kundenorientiert sein. Das weiss die Industrie seit je. Einige Grossbanken forcierten dagegen «Innovationen» nicht für die Kunden, sondern geradezu gegen sie. Sie machten bestausgebildete Physiker und Mathematiker zu hochbezahlten Finanzarchitekten. Diese schufen undurchschaubare Finanzkonstrukte, die einzig der Bank und dem Berater dienten und den Kunden zwar viel kosteten, aber wenig nützten und oft sogar schadeten. Solche Innovationen sind mit einem Aufbruch zu neuen Ufern nicht gemeint! Denn bei Dienstleistungen – mehr noch als in der Industrie – ist Vertrauen die Grundlage jeden Geschäfts.

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MISSING LINK Ob grosser internationaler Konzern oder kleiner Schweizer Lohnkontoinhaber: Ich muss darauf vertrauen können, dass «meine» Bank und «meine» Versicherung auf meiner Seite steht. Dieses Vertrauen ist angekratzt und muss schnell wieder hergestellt werden.

Innovation eröffnet ungeahnte Chancen Wo ist denn «echte» Innovation möglich? Die Schweiz mit ihren stabilen politischen Verhältnissen und hoher Rechtssicherheit ist eine ideale Basis für die boomenden neuen Märkte in Asien und Lateinamerika, etwa für den Handel mit dem chinesischen Renminbi als einer neuen Weltwährung oder für die Abwicklung komplexer internationaler Finanztransaktionen auf neutralem Boden. Oder: Warum kann die bestens erschlossene Schweiz nicht globales Zentrum für Datenspeicherung und Infrastruktur der Finanzbranche werden? Oder: Der schnell wachsende Markt von gemeinnützigen Stiftungen mit karitativen, sozialen oder ökologischen Zielen ist mit etwa 70 Milliarden Franken heute schon gut verankert, hat aber Konkurrenz bekommen. Und schliesslich: Die 100 grössten Schweizer Unternehmen geben jährlich zehn Milliarden Franken für Finanzdienstleistungen aus. Davon fliesst erstaunlicherweise nur etwa ein Fünftel zu Schweizer Banken. Selbst in der Schweiz ist das Potenzial also noch enorm.

Innovation kommt nicht von selbst Innovation braucht aber den Willen dazu und den Kampfgeist dafür. Nostalgie und Hochnäsigkeit sind schlechte Ratgeber. Singapur und Luxemburg, die ich kürzlich besuchen konnte, zeigen zudem, dass ein einheitliches Vorgehen von Branche, Politik und Aufsicht unabdingbar für den Erfolg sind. Dass der Ständerat am 11. März eine CVP-Motion angenommen hat, welche die Einsetzung einer «Task Force» für einen zukunftsträchtigen Finanzplatz fordert, nährt die Hoffnung, dass die Segel jetzt gesetzt werden! ■

Pirmin Bischof ist Ständerat (SO).

U

nzählige Kommentatoren des Rücktritts von Benedikt XVI, vor allem jene, die sich sonst recht wenig mit Glaubensfragen auseinandersetzen, beschrieben die Geschehnisse so, als ob der erfolgreichste globale Konzern der Menschheitsgeschichte einen neuen CEO in einem Assessment bestimme. Man begrüsste die offenbar längst fällige «Verweltlichung» der Kirche, die Annäherung an die Praxis in der (Wirtschafts-)Welt, dass man nur eine Führungsposition einnehmen soll, so lange man physisch dazu in der Lage ist. Benedikt XVI kam zur Einsicht, dass die Aufgabe, die ihm von Gott gegeben wurde, zu schwer wurde für ihn, und dass er der Kirche besser dient, wenn er freiwillig Platz macht. Für diese Haltung gebührt ihm Respekt. Er setzt damit ein Zeichen der Bescheidenheit. Allerdings mit dem Risiko der Verweltlichung des Glaubens. Sein Vorgänger, Johannes Paul II, hatte ein anderes Selbstverständnis. Er bliebt im Amt, bis ihn Gott daraus abberief.. Er setzte ein anderes Zeichen: die Würde des Menschen ist ihm gegeben, solange er lebt, und darüber hinaus. Unabhängig davon, wie gesund oder krank der Mensch ist. Dass Leidengottgegeben und deshalb auch «sinnvoll» sein kann, ist eine Wahrheit der christlichen Religion. Für moderne Menschen völlig unzeitgemäss, und vielleicht gerade deshalb aktueller denn je. Johannes Paul II verstand sich als christlicher Provokateur im Namen des Gekreuzigten. Er konfrontierte die Öffentlichkeit damit, dass Christentum keine Wellnesstherapie für die Seele ist, die nur dann zupass kommt, wenn sie der Lebenserleichterung dient. Sondern Heraus- und Überforderung für die Menschen. Mit dem Risiko der Entweltlichung des Glaubens. Gegen Ende seines Lebens antwortete der polnische Mystiker auf die Frage, ob er zurück treten würde: «Man steigt nicht herab vom Kreuz.» Ich bin geneigt, ihm Recht zu geben. –Gerhard Pfister DIE POLITIK 2 April 2013

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Sarah McGrath-Fogal

JUGEND FORSCHT In seiner prämierten Maturarbeit hat der 20-jährige Nidwaldner Remo Diethelm ein heiss diskutiertes Thema aufgegriffen: Die Gewinnung von nachhaltigem Strom. In seinem Heimatkanton hat er untersucht, wie man sinnvoll ökologischen Strom erzeugen kann. Seine innovative Arbeit wurde von der Stiftung Schweizer Jugend forscht mit dem Prädikat hervorragend ausgezeichnet. Der Preis dafür ist die Teilnahme an der Wissenschafts-Olympiade für nachhaltige Projekte in den USA. Skandinavien hat in Sachen alternative Strombeschaffung im Vergleich zur Schweiz einen grossen technologischen Vorsprung. Dies stellte Remo Diethelm auf seiner Reise durch die nordischen Länder fest. «Punkto Windparks und Solarenergie sind sie besser aufgestellt.» Danach war dem 20-Jährigen klar, welche Fragen er in seiner Maturarbeit beantworten wollte: Wie ist die Schweiz heute energietechnisch gerüstet und wie wird die Zukunft hinsichtlich des Atomausstiegs geplant? Nach der Katastrophe in Fukushima vor zwei Jahren war das Thema seiner Arbeit plötzlich top aktuell. 6

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Atomausstieg – und dann? Remo Diethelm untersuchte die aktuelle Lage der Stromproduktion in Nidwalden. Dass der Kanton 55 Prozent seiner Energie aus Atomkraftwerken bezieht, wusste er nicht und schockierte ihn. Er fragte sich was passieren würde, wenn der Atomausstieg, vom Bundesrat für 2035 geplant, gelingt und Nidwalden auf andere Stromressourcen zurückgreifen müsste. «Tatsache ist: Die fossilen Rohstoffe werden von Jahr zu Jahr knapper und ihre Beschaffung immer aufwendiger.» Sie seien in absehbarer Zeit nicht mehr bezahlbar, der Stromver-


brauch nehme jedoch weiter zu, da er beispielsweise auch beim Verkehr eine immer grössere Bedeutung erhalte. Lösungen sieht er beispielsweise im Ausbau von Wasserkraftwerken, auch wenn das Potential dafür in der Schweiz nur noch begrenzt sei: «Aus umwelttechnischer Sicht müssen Kompromisse am richtigen Ort gemacht werden», sagt er in Anspielung darauf, dass zahlreiche Umweltschützer und Fischereiverbände dem Bau von Wasserkraftwerken skeptisch gegenüberstehen. Handlungsbedarf sieht er auch bei den Vergütungstarifen des Bundes und der Kraftwerke für die privaten Produzenten von erneuerbarer Energie. Einerseits locke der Bund mit zu hohen Einspeisetarifen (Kostendeckende Einspeisevergütung – KEV) und habe darum eine lange Warteliste, andererseits seien viele Kraftwerkbetreiber noch immer nicht an unregelmässigem Solarstrom interessiert und würden darum auch entsprechend wenig bezahlen. Da die Wasserkraft in der Schweiz bereits auf hohem Niveau genutzt und nur noch begrenzt ausgebaut werden könne, schreibt Diethelm den neuen erneuerbaren Energien wie Wind und Sonnenenergie für die Zukunft indes viel Bedeutung zu.

Strom vom Schuldach In seiner Arbeit hat der junge Forscher dann auch ein solches Beispiel für ökologische Stromproduktion aufgezeigt: Die Gewinnung von Solarstrom. Dazu wählte er 20 Schulgebäude aus und sammelte Daten für die Berechnungen der Dächer mit Hilfe von Karten, Computer und Messungen vor Ort. In einer praktischen Berechnung zeigte er auf, dass von insgesamt über 8000 Quadratmetern geeigneter, südlich ausgerichteter Dachfläche auf den 20 Gebäuden 4400 Quadratmeter Photovoltaik Panels installiert werden können. Da auf Flachdächern Panels künstlich angewinkelt werden, verkleinert sich die nutzbare Fläche aufgrund des eigenen Schattenwurfs der Pa-

nelreihen. Remo Diethelm berechnete den jährlichen Stromertrag auf 700’000 kWh und mithilfe eines Tools einer Churer Solarfirma die ungefähren Kosten der Anlagen auf 2,8 Millionen Franken. Der Ertrag deckt den Stromverbrauch von 150 Haushalten während einem Jahr. «Verbraucher sind auf keinerlei Rohstoffe oder andere Ressourcen angewiesen. Darum ist es auch nicht passend, bei Solarpanels von Wirkungsgraden zu sprechen.» Seine Arbeit zeigt auf, dass durch die Kostendeckende Einspeisevergütung (KEV), die vom Bund subventioniert wird, der jährlich gewonnene Strom des Schulhausprojekts für zirka 323’000 Franken eingespeist werden könnte.

Wirtschaftlich sinnvoll Remo Diethelm ist überzeugt, dass sich Investitionen in Photovoltaik-Kraftwerke lohnen, nicht nur aus ökologischer, sondern langfristig auch aus wirtschaftlicher Sicht: «Ökostrom muss sich auch finanziell lohnen oder zumindest kostendeckend vergütet werden, damit er sich etablieren kann.» Durch die konstante Steigerung der Effizienz und des Preisabfalls der Solaranlagen könnten diese hoffentlich schon bald ohne Subventionen kostendeckend betrieben werden. Mit Hilfe der KEV wäre sein eigenes virtuelles Projekt nämlich schon beim heutigen Stand der Technik nach elf und nicht erst nach 25 Jahren rückfinanziert. Für seine Arbeit hat Remo Diethelm von der Stiftung Schweizer Jugend forscht das Prädikat hervorragend erhalten und darf als einer von 400 Nachwuchs-Forschern (zwei davon aus der Schweiz) im April an eine Wissenschafts-Olympiade für nachhaltige Projekte in Houston, USA. ■ Sarah McGrath-Fogal, Redaktion DIE POLITIK.

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Stefan Müller-Altermatt

KLIMAWANDEL Sie war eine Idylle, die Stieregghütte oberhalb von Grindelwald. Sie war als Ausflugsziel beliebt und wurde von Alpinisten als Übernachtungsmöglichkeit genutzt. Trotz ihrer Beliebtheit wurde sie 2005 abgebrannt und war damit indirekt ein Opfer der Klimaerwärmung. Der Klimawandel scheint unaufhaltbar – gefragt sind Innovationen, auch von der Politik. Die Stieregghütte stand einst direkt an der Zunge des Unteren Grindelwaldgletschers. Dieser hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts weit von der Hütte zurückgezogen. Es fehlte deshalb der Druck des Gletschers auf die Hangmassen, auf welchen die Hütte stand. Spektakuläre Erdrutsche frassen das einstige Plateau förmlich auf. Hätte nicht eine amtliche Verfügung das vorsorgliche Abbrennen der Hütte verlangt, so wäre sie genauso spektakulär Teil einer dieser Abgänge geworden. Das Beispiel der Stieregghütte zeigt: Der Klimawandel macht sich nicht nur mit subtilen statistischen Daten zur Durchschnittstemperatur und –niederschlagsmenge bemerkbar. Er ist Realität geworden. So gesehen ist es nicht fünf vor, sondern fünf nach Zwölf. Dies macht klar: Neben den eingeleiteten und zu verstärkenden Massnahmen zur Reduktion der Treibhausgase werden wir nicht umhin kommen, uns auch gewissen Anpassungen zu unterwerfen. Die blosse Reaktion auf den Klimawandel genügt nicht mehr. Es braucht Adaption – und ganz viel Innovation. 8

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Klimaziele verfehlt Die internationale Staatengemeinschaft hat längst auf den Klimawandel reagiert – zumindest politisch. Bereits 1992 wurde die UN-Klimarahmenkonvention unterzeichnet, 1997 das bekannte Kyoto-Protokoll im Rahmen dieser Konvention. In diesem Protokoll hat sich die Staatengemeinschaft Reduktionsziele vorgenommen, die sich – im Angesicht der Tragweite der möglichen Folgen des «Global Warming» – eher bescheiden ausnehmen. Für die Schweiz wurde bis 2012 eine Reduktion von acht Prozent der Treibhausgase gegenüber 1990 festgeschrieben. In Tat und Wahrheit haben wir auch diese bescheidenen Ziele bisher verfehlt. Wir haben 2010 gut zwei Prozent mehr Treibhausgase ausgestossen als zwanzig Jahre vorher. Man kann zwar mit Emissionshandel und der Senkenleistung des Schweizer Waldes die Statistik verbessern und sich so gerade eben noch auf den Zielpfad begeben, mit Blick auf unsere eigenen Leistungen müssen wir aber sagen: Wir hätten eigentlich allen Grund, uns tüchtig zu schämen – wenn da nicht die ebenso schlechten Mitschüler in unserer Klasse sitzen würden. Ein Blick auf die Statistik zeigt: Ihr Klimasoll erreicht haben eigentlich nur jene Staaten, in denen die Industrie in der Zeit seit 1990 zusammengebrochen ist. Länder mit Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum wie die Schweiz verfehlen die Ziele.

Schauen können die Anderen … Die Gründe für das (zumindest bisherige) Versagen der globalen Klimapolitik dürften mannigfaltig sein, in ihrer Gesamtheit aber schlicht und einfach im allzu menschlichen Verhalten liegen. Wir geben ungern Lebensqualität ab – schon gar nicht, wenn andere es auch nicht tun, unser ach so kleiner Beitrag ja sowieso kaum etwas bewirkt und überhaut doch diejenigen, die da gross vom Klima reden auch schauen sollen,


dass die Sache ins Lot kommt. Oder als praktisches Beispiel: Ich warte doch nicht eine halbe Stunde auf den blöden Bus bloss für diese paar Kilometer zum Einkauf, während mein Nachbar bequem ins Auto steigt. Sowieso ist ja die Politik Schuld, dass nicht mehr Busse fahren. Punkt. Nichtsdestotrotz: Die Politik versucht, Ziele und Massnahmen zu definieren, welche die Effekte des Klimawandels bremsen. Das ist die eine Säule, wie wir mit dem Klimawandel umzugehen haben. Die andere, nunmehr auch nicht mehr zu umgehende und an Wichtigkeit gewinnende Säule, ist jene der Anpassung. Von der Erstellung von Notfallverbünden der Wasserversorgungen, über Schutzbauten gegen Hochwasser und Murgänge bis hin zur Bekämpfung invasiver Arten und der Entwicklung von Sommerangeboten als Alternative zum ausfallenden Skitourismus: Wir müssen und wir werden reagieren.

Konsequenzen für die Schweiz Die Schweiz wird aus zwei Gründen sehr viel stärker mit den Folgen des Klimawandels leben müssen als andere Länder. Erstens, weil wir als Gebirgsland mit auftauenden Permafrostböden mehr direkte Folgen haben werden. Und zweitens, weil die Wirtschaftsnation Schweiz auch mit den indirekten Folgen des Klimawandels überproportional konfrontiert wird. Die Wissenschaft ist sich über die Dimension dieses wirtschaftlichen Schadens noch uneins. Als wohl umfangreichste Darstellung dazu erschien 2006 der «Stern-Report» der britischen Regierung. Er sprach vom Verlust von mindestens fünf Prozent des globalen Bruttoinlandprodukts. Kommt hinzu, dass vier Millionen km2 Landfläche von Überflutungen bedroht sind. Das ist die Heimat eines Zwanzigstels der Erdbevölkerung. Bereits heute sind beispielsweise alleine in Bangladesch 15 Millionen Menschen wegen des Meeresspiegelanstiegs von der globalen Erwärmung betroffen. Ein gigantisches Migrationspotential. Es würde mehr als überraschen, würde die Klima bedingte Migration nicht auch das Wirtschaftswunderland Schweiz erreichen.

Gebot der Stunde Die wichtigste Kraft im Kampf gegen und irgendwie auch mit dem Klimawandel heisst einmal mehr: Innovation. Die Entwicklung energieeffizienter Geräte, klimafreundlicher Mobilität, effizienter Gebäudetechnik etc. ist nicht nur ein Gebot der Stunde, sie eröffnet unserem Land auch gigantische Märkte. Diese Entwicklung ist vor allem deshalb ein Gebot der Stunde, weil ein seriöser «Plan B» (noch) nicht vorliegt, sprich: weil wir keine Ahnung haben, wie wir eine gestörte Atmosphäre jemals wieder in den ursprünglichen Zustand bringen könnten. Zwar ist es technisch absolut möglich, CO2 abzuscheiden und in einem Tiefenlager zu lagern. Die Risiken und Nebenwirkungen allerdings sind noch unbekannt. Und wenn wir von Tiefenlagerung reden, dann können wir uns mit Blick auf die aktuelle Debatte um die radioaktiven Abfälle vorstellen, wie gering wohl die Akzeptanz bei den potentiellen Standortregionen sein wird. Politik gefordert Auch wenn der «Plan B» bisher fehlt: Weiter daran forschen sollten wir trotzdem. Ein Technologieverbot nützt bei der Bewältigung des Klimawandels – um nicht zu sagen der Klimakatastrophe – genauso wenig wie bei der Energieversorgung. Wir müssen uns aber bewusst sein, dass der «Plan B» noch in weiter Ferne liegt. Wir kommen einfach nicht umhin, erstens unsere Gewohnheiten den Tatsachen anzupassen und zweitens die Innovation bei der Emissionsvermeidung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln voran zu treiben. Die Politik ist gut beraten, die Rahmenbedingungen dafür richtig zu setzen. Es wird sich in vielerlei Hinsicht lohnen, und sei es nur deshalb, weil wir nicht noch mehr Idyllen wie die Stieregghütte verlieren wollen. ■

Stefan Müller-Altermatt ist Nationalrat (SO) und Biologe. DIE POLITIK 2 April 2013

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Thomas Gmür

Die etwas andere Farbtheorie Die Parteien anhand von Farben zu kennzeichnen, scheint ein weit verbreitetes Phänomen zu sein. Unsere deutschen Nachbarn gehen gar noch einen Schritt weiter und schaffen aus den farblichen Kombinationen neue politische Ausdrücke; so gibt es eine «Ampelkoalition» oder auch mal eine «Jamaikakoalition». In der Schweiz werden in den meisten Kantonen die Christdemokraten mit der Farbe Schwarz in Verbindung gebracht. Aber eben nur in den meisten! Aufgekommen ist die Farbe Schwarz eigentlich erst, als sich die Sozialdemokraten des Rots bedienten. Um sich klar – auch äusserlich – von der SP abzugrenzen, wählten die meisten Konservativen als Erkennungsmerkmal schwarz. In Deutschland sind die Schwarzen seit je die Christdemokraten. Deutungen, die eine farbliche Anbindung an die schwarzen Klerikerröcke herstellen möchten, sind verfehlt. Als nämlich diese Farbgebung, zunächst im Ausland, aufkam, hat sich bereits eine losere Bindung der Christdemokraten zur Kirche manifestiert. Dieser Prozess ist in Deutschland vor allem nach dem 2. Weltkrieg eklatant geworden. Die Farbe Schwarz hat also für die Christdemokraten erst im Nachhinein ihre Deutung, wenn auch fälschlicherweise mit der katholischen Kirche verknüpft, erhalten.

Rote und schwarze Wirtshäuser Bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Konservativen stets als Rote bezeichnet. Der Begriff «schwarz» für die Liberalen war dagegen weniger verbreitet. Im Gegensatz zu St. Gallen ist die Unterscheidung zwischen rot und schwarz in Luzern noch in manchen Köpfen verankert. In seinem Werk «Luzern heute» schreibt Paul Rosenkranz, die Bezeichnung gehe auf die Verfassungsabstimmung von 1841 zurück, wo jene, die zustimmten, den Zettel in die rote, Verwerfende den Zettel in die schwarze Schachtel zu legen hätten. Korrekter wäre, die Zettel für Zustimmung enthielten den roten Aufdruck «Revision», jene für Ablehnung die schwarze Zeile «Nichtrevision», was der liberalen Parole entsprach. Die Farbbezeichnung war somit in Luzern für die nächsten Jahrzehnte gegeben. Sie ging derart ins Alltägliche hinein, 10

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dass zwischen roten und schwarzen Wirtshäusern, rotem und schwarzem Musikgesellschaften und auch roten und schwarzen Turnvereinen unterschieden wurde. Noch heute kennt fast jedes Dorf im Luzernischen zwei verschiedene Musikvereine, die aber die Mitglieder nicht mehr aufgrund ihrer politischen Provenienz rekrutieren.

St. Gallische Rotstrümpfe «Während andernorts die Schwarzen die Ultramontanen sind, waren sie in Luzern und St. Gallen die Liberalen. Die Roten hiessen dort auch Rotstrümpfe, was von den roten Strümpfen des Nuntius kam, wie ich von meinem Vater hörte, der jene Tage miterlebt hat. Dadurch erklärt sich die auffällige BeGerhard Pfister Nationalrat aus Katholiken dem Kanton Zug. zeichnung deristkonservativen als Rote». Dies notierte Theodor Curti, radikaler St. Gallischer Regierungsrat von 1892 bis 1903. Die Verbindung der Rotstrümpfe mit dem Klerus ist zwar auch im Schweizerischen Idiotikon so festgehalten, entspricht aber nicht ganz der Tatsache. In den 1840erJahren waren die Auseinandersetzungen zwischen Konservativen und Liberalen in St. Gallen derart gross, dass die Liberalen die unbequeme neue Partei diskreditieren wollte. Zur alten Bauerntracht gehörten damals wollene, oft rote Strümpfe; die Konservativen sollten damit als bäuerisch und geistig inferior abgestempelt werden. In Anspielung auf die Verfassungsdiskussionen in St. Gallen und der damit einhergehenden konfessionellen Streitigkeiten ist im «Verlag des Rothstrumpfes» das «Lied von dem Pfaffthum» erschienen: «Viehdumm, hart wie Stein, muss der Bauer sein, dass von den Rothstrümpfen allen, rein und voll die Vetos schallen». ■

Thomas Gmür ist Historiker, Fraktionschef der CVP im Luzerner Stadtparlament und Chefredaktor «Civitas».


Rudolf Hofer

POLITISCHE SCHLÜSSEL-INNOVATIONEN Im 19. und 20. Jahrhundert hat die Schweiz einen intensiven Modernisierungsprozess durchgemacht. Innovationen in Lebensbereichen wie Wirtschaft, Bildung und Recht krempelten die Gesellschaft um. Mit diesen Umwälzungen ging eine Ausdehnung der Tätigkeit und der Effizienz des Staates einher. Die Ausdehnung der Staatstätigkeit schuf Konflikte und neue Gruppen mussten in das politische System integriert werden. Diese Modernisierung riss bestehende soziale Schichten wie die Bauern in die Politik und neue Schichten wie die Industriearbeiterschaft verlangten Mitsprache. Diese neuen Gruppen mussten in das politische System integriert werden, wenn politische Stabilität erreicht werden sollte. Im Gegensatz zu ihren vier Nachbarstaaten hat die Schweiz diese Stabilität nach 1848 gewährleisten können. Dafür waren fünf politische Innovation der CVP, beziehungsweise ihrer Vorgängerparteien wesentlich.

Ebene auch die Stimmen von Minderheiten, die bisher wegen des Majorzwahlrechts nicht zur Geltung kamen.

Bundesrat einer Minderheitspartei Bis 1891 bestand der Bundesrat nur aus Vertretern der freisinnigen Mehrheit. Wie sollte sich ein Vertreter einer Minderheit verhalten? Josef Zemp definierte seine Rolle als aktives Mitglied eines Regierungsteams und zeigte damit, wie ein Mehrparteienbundesrat funktionieren kann. Damit wurde auch der Weg für den Einbezug weiterer Parteien in den Bundesrat geöffnet. Nationalratsproporz Die KVP – die spätere CVP – verhalf dem heute gültigen Nationalratsproporz zum Durchbruch. Der Proporz ermöglichte auch Minderheiten die Mitsprache auf parlamentarischer Ebene und machte die demokratische Partizipation zu einer attraktiven Alternative zum gewaltsamen Umsturz. Zauberformel CVP-Generalsekretär Martin Rosenberg gilt als Vater der Zauberformel, das heisst der Vertretung aller massgeblichen Parteien im Bundesrat. Damit erfolgte die Integration auch auf Exekutivebene. ■

Aufruhr auf dem Land Volksvereine wie der Oberegger oder Ruswiler Verein organisierten die ländliche Bevölkerung als selbständige Kraft. Die Landbevölkerung war nicht mehr eine kontrollierte Masse, die von städtischen Gruppen mit einigen Schlagworten mobilisiert werden konnte und dann meist das politische System destabilisierte, wie das zum Beispiel beim Züriputsch der Fall war. Neue politische Instrumente Mit der Bundesverfassung wurde das fakultative Gesetzesreferendum zur juristischen Möglichkeit. Von 1875 bis 1891 entwickeln die Konservativen daraus ein politisches Instrument. Erst die entsprechende Organisation der Unterschriftensam-mlung und des Abstimmungskampfes erlaubte es, das Referendum politisch sinnvoll einzusetzen. Dadurch zählten nun auf eidgenössischer

Rudolf Hofer ist Mitarbeiter der Redaktion DIE POLITIK, Bümpliz. DIE POLITIK 2 April 2013

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Jérôme Cosandey

LÄNGER LEBEN, LÄNGER ARBEITEN Die Lebenserwartung im Alter 65 ist seit Einführung der AHV 1948 um 50 Prozent (sieben Jahre) gestiegen. Zudem geniessen Rentner zwei Jahre mehr bei guter Gesundheit als vor zwanzig Jahren. Dennoch wurde das Rentenalter nie angehoben. Die Finanzierung unserer Vorsorge ist dadurch gefährdet. Beispiele aus dem Ausland zeigen auf, wie die Schweiz das Rentenalter erhöhen oder sogar aufheben kann. Wir leben länger, das ist wohl eine gute Nachricht. Dennoch führen die Steigerung der Lebenserwartung, zusammen mit einer Reduktion der Geburtenrate zur Alterung der Gesellschaft. Standen 1948 noch sechs Personen in erwerbsfähigem

Alter einem Rentner gegenüber, so sind es heute 3,4. Ohne Gegenmassnahmen wird dieser Altersquotient bis 2040 auf ungefähr zwei fallen. Die Finanzierung im Umlageverfahren der AHV steht deshalb vor massiven Herausforderungen. Auch sind Renten aus der beruflichen Vorsorge tangiert, sollte der Umwandlungssatz unverändert bleiben.

Renten kürzen? Drei Möglichkeiten können eine nachhaltige Finanzierung der Altersvorsorge sichern: Renten kürzen, mehr sparen oder länger sparen. Rentenkürzungen haben politisch kaum Chancen, dies hat die Umwandlungssatz-Abstimmung im März 2010 gezeigt. Mehr sparen führt zu kleineren verfügbaren Einkommen der erwerbsfähigen Bevölkerung. Höhere Lohnbeiträge erhöhen die Lohnnebenkosten und bewirken eine Verschlechterung der Standortattraktivität der Schweiz. Folglich müssen wir länger sparen, was einer Erhöhung des Rentenalters gleichkommt.

12 OECD-Länder haben Rentenalter 67/68 beschlossen Rentenalter 67/68 65 62

Lebenserwartung bei Geburt

84 82 80 78 76 74

Türkei

Ungarn

Estland

Slovakei

Mexiko

Polen

Tschechien

USA

Chile

Slowenien

Portugal

Dänemark

Irland

Belgien

Finnland

Korea

Deutschland

Griechenland

Österreich

Grossbritannien

Holland

Kanada

Luxembourg

Frankreich

Neuseeland

Norwegen

Island

Schweden

Israel

Spanien

Australien

Italien

Schweiz

70

Japan

72

Quelle: OECD 2012, eigene Recherche

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Rentenalter im Vergleich Die Schweiz steht mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 82,3 Jahren sehr gut da. Sie wird innerhalb der OECD nur von Japan (83 Jahre) übertroffen. Dennoch stossen hierzulande politische Vorstösse zur Erhöhung des Rentenalters auf heftigen Widerstand. Ein anderer Trend lässt sich in zwölf OECD-Ländern beobachten (siehe Abbildung), die eine Erhöhung des Pensionsalters auf 67 bzw. 68 Jahre entweder beschlossen oder sogar bereits umgesetzt haben. In allen zwölf Ländern liegt die Lebenserwartung mindestens fünf Monate tiefer als in der Schweiz und der Anteil der Bevölkerung im Landwirtschafts-, Bau- und Industriesektor, der eine stärkere körperliche Abnützung mit sich bringt, ist meistens höher. Eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit in der Schweiz – gleich lang für Männer wie für Frauen – drängt sich deshalb auf. Wie kann dieses politisch heikle Vorhaben realisiert werden? Ein Blick ins Ausland lässt drei Optionen erkennen. Schrittweise erhöhen Jede grosse Reise beginnt mit einem ersten Schritt. Nach diesem Motto wird in Deutschland das Rentenalter in Monatsschritten auf 67 Jahre erhöht. Dadurch müssen Arbeitnehmer, die kurz vor der Pensionierung stehen, ihre Arbeitszeit nur um wenige Monate verlängern. Jüngere Arbeitnehmer haben mehr Zeit, um sich auf die neuen Verhältnisse einzustellen. Dieses Vorgehen ist nicht nur fair, sondern berücksichtigt die Tatsache, dass ältere, von Reformen unmittelbar betroffene Bürger überproportional an Abstimmungen teilnehmen. An Lebenserwartung koppeln Automatismen in Gesetzen können helfen, Blockaden bei schwierigen Entscheiden vorwegzunehmen. Die Politik kann bereits heute festlegen, wie das Rentenalter bei demographischen Veränderungen anzupassen ist. So wird Dänemark das Rentenalter ab 2027 automatisch an die Lebenserwartung koppeln. Die Politik bleibt dabei Kontrollinstanz. Sie bestimmt, wann und wie auf Veränderungen zu reagieren ist. Sie

schützt sich jedoch vor den Stimmen der Sirenen, die bei Veränderungen nach dem Status quo rufen.

Altersguillotine abschaffen Veränderte Erwerbsbiografien, die höhere Lebenserwartung bei guter Gesundheit und die absehbaren Engpässe auf dem Arbeitsmarkt machen das Konzept eines gesetzlich fixierten Rentenalters obsolet. Es schränkt die Optionen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber ein. Schweden hat daraus die Konsequenzen gezogen und das starre ordentliche Rentenalter abgeschafft. Dabei wurde gesetzlich nur eine Untergrenze für die Frühpensionierung vorgegeben. Je später die Pensionierung erfolgt, desto höher fällt die Rente aus. Das System sieht auch Teilrenten vor, um eine graduelle Reduktion des Arbeitspensums zu ermöglichen. Ein solches Modell ermöglicht jedem Mitarbeiter, sein Rentenalter nach seinen eigenen Präferenzen und persönlicher Finanzsituation zu bestimmen. Für manche ist der frühzeitige Übertritt in den Ruhestand wichtig. Andere legen Wert auf eine höhere Rente. Für sie sollte die Möglichkeit bestehen, über das heutige ordentliche Rentenalter hinaus zu arbeiten. Die Aufhebung einer willkürlichen gesetzlichen Altersguillotine schüfe die notwendige Flexibilität. Das Rentenalter wäre dem Einzelnen frei überlassen und nicht mehr vom Staat vorgeschrieben. Mitarbeiter und Arbeitgeber würden auf gleicher Augenhöhe den Zeitpunkt und die Modalitäten des Übergangs in den Ruhestand vereinbaren. ■ Jérôme Cosandey, Avenir Suisse. DIE POLITIK 2 April 2013

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ZEITMASCHINEN, ATOMWAFFEN UND WINDELN Welche Innovationen haben die Welt revolutioniert? Was für Wünsche ans Universum haben wir und auf welche Erfindungen könnten wir getrost verzichten? Eine nicht repräsentative Umfrage dazu auf der Strasse …

Die besten Erfindungen, welche die Welt hervorgebracht hat

Das Feuer! Ohne Feuer könnte der Mensch nicht überleben (Sicherheit, Essen, Wärme, Licht, …).

Die Elektrizität!

Sie hat sehr viel Sicherheit in die Haushalte gebracht (anstatt Feuer oder Gas). Seit ihrer Erfindung hat sich die Welt komplett revolutioniert.

DAS RAD,

weil es die Welt grundlegend geändert hat, sowohl im Verkehrs- wie auch im Energiebereich.

BABY-WINDELN! Erspart viel Arbeit. Die besten Erfindungen, welche die Welt hervorgebracht hat

zahlreiche Männer zugeben, eine Faszination für dieses Objekt entwickelt zu haben.

Zeitung, Kaffeemaschine und Buch. Es sind unerlässliche Begleiter durch den Tag.

Das Radio. Es ist informativ, instruktiv und unterhaltsam. Es kann sogar auf die Stimmung wirken und damit Energie spenden.

Flexible Arbeitszeiten. Nicht nur, weil sie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern, sondern das Leben allgemein. Das Velo. Schnell, umweltfreundlich, hält fit, braucht nicht viel Platz und kann für fast alle Güterumschläge benutzt werden. Mit etwas Geschick kann man es auch selber reparieren und für Behinderte ein drittes Rad anschrauben. Der Ausstattung sind keine Grenzen gesetzt, ausser man begegnet einem strengen Polizist. Der Schuh, der kleinen und grossen Füssen beim Gehen hilft, diese schützt und verschönert und oft Frauen begeistert, obwohl auch

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Die schlechtesten Erfindungen: Worauf die Welt verzichten kann. Waffen – vor allem solche, welche die Zivilbevölkerung treffen können. Antipersonenminen. Diese Waffen sind meist nicht auf das Töten, sondern auf Verletzen und Verstümmeln ausgerichtet. Die Gentechnologie. Sie bringt zwar viel im Kampf gegen Krankheiten, birgt aber auch grosse Gefahren für die «normale» Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.


Das Handy, weil wir so immer und überall erreichbar sind, auch wenn es in vielen Situationen praktisch ist.

Die Diktatur. Menschen müssen frei sein, um sich entwickeln zu können. Dazu gehört Mitbestimmungsrecht. DAS BÜGELEISEN: BÜGELN IST DOCH SO LANGWEILIG!

Sie sind in den Städten eine Plage. Splitter- und Streubomben, weil sie nur Leid verursachen. Die Atombombe. Als Massenvernichtungswaffe hat sie eigentlich keinen militärischen Wert, sondern dient nur als Drohung, millionenfach die Zivilbevölkerung zu töten. Wird diese Technologie tatsächlich nochmals eingesetzt, wird der folgende Atomkrieg die Existenz der Menschheit und unseres Planeten bedrohen. Wünsche ans Universum: Was man noch erfinden sollte! Computer, welche die technischen Probleme, die sie generieren, selber beheben! Damit würde man viel Zeit, Nerven und Geld sparen und kreativen Beschäftigungen nachgehen können.

Preiswerte Energiegewinnung und -speicherung ohne jegliche negativen Auswirkungen auf Mensch und Natur.

Computer mit Pedalantrieb. Sport machen und zugleich arbeiten können, das wäre es …

DAS BEAMEN.

Ohne Zeitverlust reisen, das würde auch weniger m mo Infrastruktur uu benötigen.

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Off-Roader.

MÄNNER, DIE STILLEN KÖNNEN. DANN KÖNNTE MAN SICH DAS AUFSTEHEN IN DER NACHT TEILEN.

erpet P s

WAFFEN. Der Mensch ist eines der einzigen Lebewesen, das so blöd ist, sich Werkzeuge zu bauen, um die eigene Rasse zu töten.

Ein ökologisches Amphibienfahrzeug, das zusätzlich auch noch fliegen und einem das Lieblingsessen zubereiten kann. Internet hätte es auch. Es dürfte nicht zu teuer sein, denn jeder Mensch hätte so eines. Man wäre sehr unabhängig.

Da

Die schlechtesten Erfindungen: Worauf die Welt verzichten kann

Wünsche ans Universum: Was man noch erfinden sollte

Eine selbstreinigende Wohnung. Es gibt so viele Dinge, die schöner und wichtiger sind als die Wohnung zu putzen! Ein Fitness-Abteil im Zug: Anstatt langweilig rumsitzen, während der Zugfahrt etwas für die Fitness tun. Mehr Zeit. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf hängt wesentlich von der verfügbaren Zeit ab. Das ist bis zu einem gewissen Punkt eine Frage der Organisation und Effizienz, aber schliesslich hat man immer für das eine oder das andere zu wenig Zeit … Medikamente gegen AIDS, Krebs, … oder eine Duplizier Maschine, um zum Beispiel Essen zu vervielfachen.

Eine Welt ohne Wecker! Ganz natürlich aufzuwachen ohne den Wecker, der einem brutal aus den schönsten Träumen reisst, das wäre genial … DIE POLITIK 2 April 2013

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Ida Glanzmann-Hunkeler

Fünf Gründe wieso es die Asylgesetz-Revision braucht

Das Asylwesen in der Schweiz funktioniert nicht Der Handlungsbedarf im Schweizer Asylwesen ist offensichtlich. Die durchschnittliche Dauer eines Asylverfahrens beträgt noch immer mehrere Jahre, die Anerkennungsquote bewegte sich in den letzten Jahren zwischen 11 und 23 Prozent und die Zahl der Gesuche hat letztes Jahr mit 28’631 (+27 %) ein Rekordhoch seit dem Kosovo-Krieg 1999 erreicht: Ein Asylwesen das funktioniert, sieht anders aus. Deshalb braucht es zielgerichtete Massnahmen, die das Asylwesen der Schweiz in Ordnung bringen.

Die Suche nach Asylunterkünften wird vereinfacht Bauten des Bundes können neu bewilligungsfrei für höchstens drei Jahre genutzt werden. Dies verhindert langwierige Bewilligungsverfahren für die Umnutzung von Gebäuden und vereinfacht damit die Suche nach dringend benötigten Asylunterkünften. Im Gegenzug erhalten Standortkantone künftig einen Betrag von 110’000 Franken pro 100 Bewohnern. Damit wird es für Kantone attraktiver, ihren Grund und Boden für Asylunterkünfte zur Verfügung zu stellen.

Die Asylverfahren werden beschleunigt Der Bundesrat erhält das Recht, neue Verfahren für die Prüfung der Asylgesuche zu testen. Ziel ist es, Asylgesuche, die keine weiteren Abklärungen benötigen, im Schnellverfahren zu erledigen, so dass die Asylsuchenden nicht erst den Kantonen zugeteilt werden müssen. Im Mittelpunkt steht dabei die Zentralisierung der Abklärungen. In Bundeszentren (mit dem Pilotprojekt Zürich) versammeln sich sämtliche Spezialisten für die Asylabklärungen und ermöglichen so zügige Entscheide. Die Beschwerdefristen werden zudem verkürzt – im Gegenzug erhalten die Asylsuchenden einen unentgeltlichen Rechtsschutz. 16

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Die Sicherheit wird erhöht Die Vorlage enthält drei Elemente, welche die Sicherheit rund um die Asylzentren erhöhen. Erstens erhalten die Kantone vom Bund eine Sicherheitspauschale, womit sie sie die Polizeipräsenz erhöhen können, um der lokalen Bevölkerung besseren Schutz zu gewähren. Zweitens sorgen Beschäftigungsprogramme dafür, dass sich die Asylsuchenden sinnvoll betätigen können, was das Klima in den Unterkünften verbessert und die Kriminalität senkt. Drittens werden für renitente Asylsuchende spezielle Zentren geschaffen. Dort wird ihr Bewegungsspielraum ausserhalb der Zentren eingeschränkt, um die Sicherheit der Nachbarschaft nicht zu gefährden. Die getrennte Unterbringung dient vor allem auch jenen Asylsuchenden, die sich anständig benehmen. Sie werden nicht mehr Opfer von Pöbeleien, Drohungen, sexuellen Belästigungen oder Lärm.

Die Attraktivität der Asyldestination Schweiz wird gesenkt Die Asylgesuche in der Schweiz haben letztes Jahr den höchsten Stand seit dreizehn Jahren erreicht. Massgeblich getrieben wurde diese Zunahme durch Botschaftsgesuche sowie von Eritreern, die ihren Wehrdienst verweigern. Nachdem alle Staaten in Europa Botschaftsgesuche aufgegeben haben, will dies die Schweiz mit der aktuellen Asylgesetzrevision auch tun. Ebenso soll präzisiert werden, dass Wehrdienstverweigerung allein nicht mehr als Asylgrund anerkannt wird. Menschen die an Leib und Leben gefährdet sind, können weiterhin auf den Schutz der Schweiz zählen. ■

Ida Glanzmann-Hunkeler ist Nationalrätin (LU).


DAS ZITAT

V E R B I N D L I C H

«Être fidèle à la tradition, c’est être fidèle à la flamme et non à la cendre.» (Jean Jaurès, 1859 – 1914)

Am Donnerstag, 7. März 2013 hat der Ständerat in der Mehrheit beschlossen, ein elektronisches Abstimmungssystem einzuführen. Mit diesem Entscheid, der das Ende des Abstimmens durch Handaufhalten bedeutet, endet im Stöckli eine über 160 Jahre alte Tradition. Wenn ich aus tiefer Überzeugung bis zuletzt für das Ausmehren per Hand votierte, so darum, weil ich als Appenzell-Innerrhoder von dieser praktizierten und bewährten Form der direkten Demokratie – sei es bei der Landgemeinde, bei Bezirks-, Schul- und Kirchgemeinden, bis hin zu Verbands- und Vereinsversammlungen – geprägt bin. Überall wird das offene Handmehr praktiziert … und es funktioniert! Es funktioniert einzig und allein deshalb, weil sich alle Beteiligten ihrer Mit-Verantwortung zum erfolgreichen Gelingen bewusst sind. Die politisch erfolgreiche Arbeit bedingt ein bewusstes Zusammenspiel, das auf gegenseitigen Wohlwollen und Vertrauen, aber auch auf diszipliniertem Abstimmungsverhalten basiert. Werte, die mitunter wohl herausfordern und gerade deswegen nicht bequemlichkeitshalber und ohne Not preisgegeben werden sollten. Nun, da dies jetzt aber nach dem Willen der Mehrheit in Zukunft anders sein soll, gilt es, sich stets neu zu bemühen und damit den benannten tradierten Werten – quasi im metaphorischen Sinne von Jean Jaurès Zitat – als «der Flamme treu zu sein und nicht der Asche».

K

ürzlich hat mein Mann in Italien ein Hemd gekauft. Auf der Innenseite des Kragens war aufgenäht: God save the stylist. Doch Gott täte wohl besser daran, Italien zu retten. Denn ohne Italien keine italienischen Modeschöpfer, keine italienischen Schuhe, Kleider, Handtaschen, und ohne Italien kein Land, das wie kein anderes auf die schönen Dinge setzt. Neben dem Modeschöpfer wird denn der Katalog der Fürbitten im Hemdkragen meines Mannes auch ergänzt mit: e tutte le belle cose made in Italy. Die da auszugsweise wären: das Essen, der Stellenwert der Kultur, Venedig, Orvieto, Matera, die Moleskine-Notizbücher, die vatikanische Pietà, die Temperatur. Doch wenn Gott sich schon des Designs und aller schönen italienischen Dinge erbarmen soll, seien ihm auch die Sorgen ans Herz gelegt mit der Kehrseite der bella figura, dem Populismus. Den orte ich vor allem in der Fernsehdominanz und der Marginalisierung der Printmedien. Das macht Italien beispielhaft vor. Deshalb sei bei den Fürbitten ergänzt: Gott rette die Printmedien und behüte uns vor der Fernsehunterhaltungsdiktatur. Er bewahre vor Leuten, die keine Ahnung haben, weshalb man sie gewählt hat. Er erinnere sie an Leonardo da Vinci, für den die Suche nach der Schönheit auch gleichsam die Suche nach der Wahrheit ist. Eine Absage an den Populismus. Ein Appell an die Verantwortung der politischen Mandatsträger. In Italien und auch bei uns. –Marianne Binder

Ivo Bischofberger ist Ständerat (AI).

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Ursula Renold

Das neue Klassenzimmer Die prekäre US-Finanzsituation, die deprimierenden Aussichten für College-Absolvierende auf dem Arbeitsmarkt ebenso wie die Kluft zwischen Arm und Reich rufen nach Innovationen. Barack Obama’s Rede zur Lage der Nation hat dies eindrücklich gezeigt. Nun laufen viele Initiativen, um das amerikanische Bildungssystem zu verbessern.

Die aus meiner Sicht bahnbrechendste Innovation heisst MOOCs und wird uns alle früher oder später beschäftigen. Die Abkürzung steht für «Massive Online Open Courses». Man spricht vom Jahr der «Mega-Class», einer Klasse mit heute über vier Millionen Studierenden weltweit. Mittlerweile sind sehr viele US-Hochschulen in der einen oder anderen Form bei Anbietern wie Udacity, Coursera, edX, Khan Academy oder Udemy beteiligt und bieten solche Kurse an. Auch ausländische Hochschulen steigen ein. Die EPFL und die Universität Genf haben sich Coursera angeschlossen. Inhalte, Hochschulpartner, Sprachen und weitere Dienstleistungen erweitern das Angebot.

bringt es auf den Punkt: «For behind the scenes (…), the internet is placing universities on the brink of dramatic disruption – and this change could rival, or even eclipse, the type of shocks that technology has produced in the worlds of finance, retail and media in recent years.» Und Thomas Friedman schreibt in der New York Times: «Nothing has more potential to lift more people out of poverty — by providing them an affordable education to get a job or improve in the job they have. Nothing has more potential to unlock a billion more brains to solve the world’s biggest problems. And nothing has more potential to enable us to reimagine higher education than the massive open online course, or MOOC.»

Gratiskurs übers Web Worum geht es konkret? Alle Interessierten können von jedem Computer mit Internetverbindung gratis Zugriff auf alle Kurse haben. Ich habe mich für den Kurs «Women and the Civil Rights Movement» an der University of Maryland eingeschrieben, an dem 13’000 Studierende aus der ganzen Welt teilnehmen. Neben dem, dass ich erfahren will, wie sich mein Lernen, die Interaktion und Diskussion mit Studierenden aus allen Ländern und Altersklassen verändert, interessiert mich auch die Wirkung auf der Bildungssystem-Ebene. Das weltweite Klassenzimmer hat das Potential, die Funktionsweise von Hochschulen massiv zu verändern. Die Financial Times

Viele Lernoptionen Eine Analyse von Fachzeitschriften zeigt wie kontrovers MOOCs diskutiert wird. Beispiele solcher Themen sind: Werden die in MOOCs erworbenen Kompetenzen an einen formalen Studiengang in einer Hochschule angerechnet? Was ist ein traditioneller Abschluss künftig noch Wert? Wie verändert sich die Arbeitsweise des Hochschulpersonals und was bedeutet es für die Infrastruktur?

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Nehmen wir als Beispiel meine 13’000-köpfige Klasse. Dass die Leistungen der Studierenden nicht mehr mit den herkömmlichen Methoden bewertet werden können, wird am Betreu-


ungsverhältnis offensichtlich. Unsere Seminarleitung besteht gerade mal aus der Professorin und drei Doktoranden. Deshalb wird der Peer-Evaluationsansatz für unsere Leistungsbewertung eingesetzt. Er ermöglicht viel Interaktion mit den Studierenden in der weltweiten Grossklasse, birgt aber auch die Gefahr der unterschiedlichen Leistungsmassstäbe in sich. Spannend ist zu beobachten, wie sich die Grossklasse in den Diskussionsforen und Untergruppen (Alters-, Sprach-, Nationalitäten-, Berufs- Themengruppen etc.) in kurzer Zeit selbst organisiert und was dies jedem einzelnen an Möglichkeiten bietet, in einer globalen Welt zu lernen. Auch die Selbstkompetenz wird gefordert, denn täglich muss aus den vielen Optionen das gewählt werden, was einem für den eigenen Lernfortschritt in der zur Verfügung stehenden Zeit als zweckmässig erscheint.

Weltweiter Talentpool Zwei Aspekte von MOOCs sind sowohl für die Innovationsleistung von Firmen als auch für die globale Wettbewerbsfähigkeit von Hochschulen relevant. Wer als Unternehmer bahnbrechende Innovationen schaffen will, ist auf die besten Köpfe angewiesen. MOOCs kann sich zu einem gigantischen weltweiten Talentpool entwickeln, der es Anbietern erlaubt, zur Personalvermittlungsstelle zu werden. Einzelne dieser Startups wie beispielsweise der «Coursera Career Service» vermitteln bereits heute unter bestimmten Bedingungen Studierende an Unternehmer gegen Entgelt. Aber auch Hochschulen kann dieser Pool den Zugang zu den weltbesten Studierenden ermöglichen, denn der Anbieter der Kurse hat Einblick in die Leistungen und das Sozialverhalten der Studierenden. Es ist denn auch nicht verwunderlich, dass immer mehr Hochschulen mitmachen. Werben mit Persönlichkeiten Meine Interviewpartner bestätigen, dass die Beteiligung an MOOCs unter anderem mit Marketing und Studierendenakquisition zu tun hat und da wirbt man auch mit seinen bekanntesten Persönlichkeiten. Das «Berklee College of Music» offeriert beispielsweise via die Plattform Coursera ein Modul in Improvisation, geleitet vom weltbekannten Vibraphonisten Gary Burton. Seit das weltweite Klassenzimmer das öffentliche Bewusstsein laufend mit Neuigkeiten und Problemen stimuliert, sind Universitätsleitungen gefordert, sich zu positionieren: Soll man das Risiko eingehen und trotz vieler ungelöster Fragen und

unabsehbaren Veränderungen in MOOCs investieren? Oder anders gefragt: wie lange kann man sich ein Abseitsstehen erlauben? Wir stehen am Anfang einer globalen Innovation, deren Breitenwirkung wir heute noch kaum erahnen können. Wer teilnimmt, gewinnt Einblick und kann die Zukunft mitgestalten. ■ Ursula Renold ist Leiterin Forschungsbereich vergleichende Bildungssysteme, KOF/ETHZ.

Anti-Grincheux « Qui vit content de rien possède toute chose. » disait déjà Boileau. Il faut croire que la « grinche-attitude » existe depuis longtemps. Cette citation pousse à la réflexion, l’être humain râle-t-il vraiment 15 à 30 fois par jour ? Oui, sans aucun doute ! Faisons honnêtement ce simple exercice de s’observer pendant une journée, et estimons le pourcentage de phrases entrant dans la catégorie « jérémiades » (environ 40 % pour l’auteur de ce texte). Probablement que certaines d’entre elles ne répondent pas à un besoin vital ! Les addicts de la grinche que nous sommes devraient se soumettre à des cures de désintoxications : essayons la pensée positive ! Ne faut-il pas commencer par faire l’effort d’être heureux pour vivre heureux dans ce monde imparfait ? Arrêter d’être grincheux, d’après le Dr David Servan-Schreiber, c’est aussi améliorer son confort émotionnel et par là même sa santé. J’ajouterais qu’ainsi nous arrêterions aussi de polluer l’environnement émotionnel des autres ! DIE POLITIK 1 April 2013

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Elisabeth Schneider-Schneiter

DAS GEISTIGE EIGENTUM ALS ERFINDUNGSMOTOR Der Erfolg der Schweizer Exportindustrie basiert auf Innovation. Innovation, die Resultat eines jahrelangen und kostenintensiven Forschungsund Entwicklungsprozesses ist. Deshalb liegt es auf der Hand, dass die Schweizer Unternehmen auf ein gut ausgebautes System zum Schutz dieses Resultats – des Geistigen Eigentums – angewiesen sind. Dieser Schutz wird nun in jüngster Zeit im Zusammenhang mit den Verhandlungen über neue Freihandelsabkommen in Frage gestellt. Ein gefährliches Unterfangen. Es ist erklärtes Ziel der Schweizer Aussenpolitik, dass der exportabhängigen Schweizer Wirtschaft einen stabilen, hindernis- und diskriminierungsfreien Zugang zu den relevanten ausländischen Märkten ausserhalb der EU verschafft werden muss. Mit Freihandelsabkommen kann dieses Netz gezielt ausgeweitet werden und der Schweizer Wirtschaft in allen relevanten Bereichen einen diskriminierungsfreien Marktzugang gesichert werden. Aktuell wird über verschiedene Freihandelsabkommen verhandelt, so auch mit Indien. Das Land ist sich seiner Bedeutung für die globale Wirtschaft und seiner stetig wachsenden Volkswirtschaft bewusst und versucht seine Position auch im Bereich des Geistigen Eigentums so zu stärken, dass der Patentschutz auf Produkte unserer pharmazeutischen Industrie derart aufgeweicht wird, dass er praktisch wirkungslos ist.

Branche schützen Indien rechtfertigt die ablehnende Haltung vordergründig damit, dass der mittellosen indischen Bevölkerung der Zugang zu Medikamenten verwehrt sei, weil deren Kosten durch den Patentschutz in die Höhe getrieben werden. Doch in Wirklichkeit geht es dem aufstrebenden asiatischen Land um den Schutz der Branche im eigenen Land. Die Versorgung mit Medikamenten ist nämlich auch heute einem grossen Teil der Be20

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völkerung vorenthalten, obwohl Indien über eine ausgeprägte Generikaindustrie verfügt.

Das Recht auf das Patentrecht Es ist zu wünschen, dass die Schweiz gegenüber ihren Verhandlungspartnern auf dem Schutz des geistigen Eigentums beharrt. Dazu gehört namentlich die international geltende Bestimmung, dass für ein Produkt, unabhängig davon, ob es importiert oder lokal produziert wurde, Patentrechte ausgeübt werden können. Dazu gehört auch der Schutz klinischer Daten. Das Fehlen jeglicher Form des Schutzes klinischer Daten ist in vielen Ländern eine eklatante Lücke im Regelwerk zum Schutz des geistigen Eigentums. Es sind hier durchaus positive Trends zu beobachten. So haben China und Russland entsprechenden Bestimmungen zugestimmt. Von China weiss man ausserdem, dass das Land spätestens in 20 Jahren von den Früchten der eigenen Forschung und Entwicklung wird profitieren können. Es ist davon auszugehen, dass China künftig Respekt vor seinem geistigen Eigentum einfordern wird. Je mehr auch Indien in Forschung und Entwicklung investieren wird, desto mehr wird auch dieses Land realisieren, dass der Innovationsmotor nicht zum Nulltarif zu haben ist. ■

idee

Elisabeth Schneider-Schneiter ist Nationalrätin (BL).


Sarah McGrath-Fogal

NACHHALTIGE MODE Bei H&M kauft sie so gut wie nie ein und wenn, dann nur mit schlechtem Gewissen: Die Zürcher Designerin Angela Specogna setzt in der Mode auf Nachhaltigkeit, fordert von der Politik mehr Engagement und in der Schule eine bessere Aufklärung.

Angela Specogna trägt fast immer einen farbigen Schal und mag es, wenn sich verschiedene Kleiderteile zu einem Mustermix zusammenfügen: «Wir Schweizer sind in Bezug auf Mode viel konservativer als die südlichen Länder. Ich mag einfach keine graue Kleidung.» Nebst guter Qualität, Farben, Stoffen und Mustern sind der Zürcherin aber die Herkunft und Herstellung von Mode wichtig. «Woher ihre Kleidung kommt, ist vielen Menschen egal», sagt sie und appelliert an die Politik, sich stärker für Massnahmen für nachhaltige Mode einzusetzen. Das Bewusstsein dafür fehle vielen, vor allem auch jenen Jugendlichen, die sich regelmässig bei H&M und Zara, aber auch bei Marken wie Nike & Co. einkleiden würden. «Der grösste Teil der Sachen, die wir tragen stammen aus Billiglohnländern. Die Arbeitsbedingungen dort sind oft unerträglich», kritisiert Specogna und fordert, dass die problematische Herstellung und Produktion von Mode schon in der Schule ein Thema sein solle. Nachdenklich gestimmt hat sie der Brand in einer Kleiderfabrik in Bangladesch Ende letzten Jahres, in der Kleider der Modekette C&A hergestellt werden. 120 Arbeiterinnen und Arbeiter kamen dabei ums Leben. Als Brandursache steht mangelnder Brandschutz im Vordergrund. «Als Konsument muss man in solchen Fällen ein Zeichen setzen und Mode entsprechender Labels nicht mehr kaufen.»

Nachhaltige Mode, ein Luxus? Angela Specogna, 49-jährige Mutter zweier Kinder hat Textildesign studiert, sich auf dem zweiten Bildungsweg zur klassischen Sängerin ausbilden lassen und trat unter anderem mit dem Chor des Opernhaus Zürich auf, bevor sie Mutter wurde

und dann wegen den unregelmässigen Arbeitszeiten das Leben auf der Bühne einschränken musste. Heute unterrichtet sie Gesang an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Mode spielte stets eine wichtige Rolle in ihrem Leben, über die politische Komponente davon hat sie sich viele Gedanken gemacht. Unumwunden gibt sie zu, dass ihr beim Kauf von guter Qualität der Kaufpreis nicht so wichtig sei. «Nachhaltige Mode und damit oft teure Mode, am liebsten aus der Schweiz, ist für viele Menschen Luxus. Schals beispielsweise, die zu 100 Prozent in der Schweiz hergestellt werden, kosten zum Teil bis zu 500 Franken. Das ist schon sehr viel Geld. Jene, die sich Schweizer Mode – oder auch Schweizer Produkte im Allgemeinen – leisten können, sollen dies aber tun, fordert Specogna. «Ich habe überhaupt kein Verständnis für Reiche, die günstige Güter, zum Beispiel auch Möbel, im Ausland kaufen oder importieren lassen.» Das Bewusstsein für nachhaltige Mode versucht Angela Specogna auch ihren Kindern, zehn und 13 Jahre alt, beizubringen. «Wir reden darüber, warum wir bei H&M aus ethischen Gründen höchstens mal ein Paar Jeans einkaufen.»

Kleine Labels gegen Grosskonzerne Natürlich habe sie Verständnis dafür, dass sich nur wenige teure Schweizer Mode leisten könnten, weist aber darauf hin, dass auch günstigere Labels wie zum Beispiel einige bei Coop oder die Marke Switcher auf nachhaltige Mode setzen. Ausserdem steht bei Angela Specogna Qualität vor Quantität: Viele Menschen würden sich Unmengen an Kleidern kaufen, anstatt auf qualitativ hochstehende und nachhaltig produzierte Einzelstücke zu setzen. «So lässt sich viel Geld sparen.» Massnahmen zur Aufklärung sieht sie beispielsweise in der Herstellung einer Broschüre für nachhaltigen Einkaufstourismus. Auch gefällt ihr, dass immer mehr kleinere modische Labels ihre Kräfte bündeln und zusammenarbeiten würden, um gegen die grossen Modekonzerne anzukämpfen. «Auch das ist ein gutes Zeichen in Sachen Mode und Aufklärungsarbeit!» ■

Sarah McGrath-Fogal, Redaktion DIE POLITIK. DIE POLITIK 2 April 2013

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Christoph Meili

DIE NANOTECHNOLOGIE – EIN MOTOR FÜR DIE ZUKUNFT Nanotechnologie ist eine Schlüsseltechnologie mit grossem Potenzial. Um dieses in der Schweiz zu nutzen, braucht es Akzeptanz, Rechtssicherheit und vor allem Wissen. Trotz guten Ansätzen gibt es vor allem beim Wissen und der Bildung noch viel zu tun. Hier sind Politik und Unternehmen in gleichem Mass gefordert. Selbstreinigende Fensterscheiben, transparente Sonnencrèmes, schmutzabweisende Textilien, kratzfeste Lacke oder neuartige Medikamente für die Krebsbekämpfung: Dies sind nur einige Beispiele aus dem Produktarsenal der Nanotechnologie. Es gibt unterdessen mehrere tausend Konsum- und Industrieprodukte, die Nanomaterialien enthalten. Nanomaterialien haben aufgrund ihrer Kleinheit besondere chemische und physikalische Eigenschaften. Dies ist der Grund, warum man in vielen Bereichen solche Materialien einsetzt. Generell gilt die Nanotechnologie als «Querschnittstechnologie», die viele Materialien oder Prozesse verbessern kann.

Wissenschaft des Winzigen Nanotechnologie beschäftigt sich mit der gezielten Herstellung oder Manipulation von Strukturen und Materialien zwischen 1 und 100 Nanometern (1nm = 10–9m). Ein Nanometer liegt im Grössenbereich von Atomen. Wenn man beispielsweise drei Goldatome nebeneinander legen würde, entspräche dies etwa der Länge eines Nanometers. 1986 wurde mit der Erfindung des Rastertunnelmikroskops am IBM Forschungszentrum in Rüschlikon ein Meilenstein für die Erforschung der Nanowelt gelegt. Dafür erhielten Heinrich Rohrer und Gerd Binnig 22

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den Nobelpreis für Physik. Die Schweiz wurde zur «Wiege» der Nanotechnolo-gie, weil man mit diesem Instrument die Nanowelt der Atome sichtbar machen kann.

Nanotechnologie und Umsatz Nanomaterialien spielen in vielen Wissenschaften (z.B. Medizin, Materialwissenschaften, etc.) eine zentrale Rolle. Die Nanoforschung an Schweizer Universitäten und Hochschulen gehört in vielen Bereichen zur Weltspitze. Allerdings haben Nanomaterialien die Labors der Forscher längst verlassen und sind in der Berufs- und Alltagswelt angekommen. Das wirtschaftliche Potenzial ist enorm. Je nach Schätzung wird bis ins Jahr 2015 ein globales Marktvolumen von 2.6 Billiarden US$ erwartet. Damit wären in 15 Prozent aller Produkte Nanokomponenten enthalten. In einzelnen Branchen geht ein wachsender Teil des Umsatzes auf Nano-Produkte zurück. So erwartet der deutsche Verband für Lacke und Farben im Jahr 2020, dass 20 Prozent des Branchenumsatzes mit Nano-Produkten erzielt werden. Akzeptanz, Rechtssicherheit und Wissen Um neue Technologien erfolgreich für Innovationen zu nutzen, braucht es neben Geld drei wesentliche Elemente: 1. Gesellschaftliche Akzeptanz, 2. Rechtssicherheit für Unternehmer und Investoren und 3. Wissen. In der Schweiz hat der Bundesrat 2008 einen Aktionsplan «Synthetische Nanomaterialien» verabschiedet. Darin skizziert er Massnahmen für eine sichere und nachhaltige Nutzung der Nanotechnologie. Zentral sind die Kommunikation und der öffentliche Dialog mit der Bevölkerung über die Chancen und Risiken der Nanotechnologie. Damit sollen die Bedenken ernstgenommen und eine nachhaltige und sichere Entwicklung und Nutzung der Technologie sichergestellt werden. Eine aktuelle Studie des BAG zeigt, dass Nanotechnologie in der


VOR 50 JAHREN …

Schweiz grundsätzlich positiv wahrgenommen wird. Allerdings hat in den letzten Jahren das Wissen der Bürger eher abgenommen. Dies ist bedenklich.

Ausbildung als Achillesferse In seiner Interpellation: «Förderung der Nanotechnologie-Ausbildung in der Berufsbildung und in Mittelschulen» hat Ständerat Ivo Bischofberger (CVP/AI) auf die wachsende Bedeutung der Nanotechnologie-Ausbildung an Schulen hingewiesen. Berufsleute würden täglich mit Nanotechnologien konfrontiert. Deshalb müssten Nanotechnologien während der Ausbildung von Berufsfachlernenden sowie Mittelschülerinnen und Mittelschülern thematisiert werden. Dies geschehe heute kaum. Eine zentrale Rolle müssten Nanotechnologie-Inhalte im Unterricht auch im Hinblick auf den Dialog mit der Öffentlichkeit und die objektive und ideologiefreie Meinungsbildung von jungen Stimmbürgern spielen. Es solle verhindert werden, dass die Nanotechnologien ähnlich stigmatisiert würden wie die Gentechnik in den Neunzigerjahren. Hier stellte Bischofberger Handlungsbedarf fest. Fazit Im Bereich der Nanotechnologie-Ausbildung gibt es in der Schweiz zwar bereits einige Projekte wie die Informationsund Bildungsplattform «Swiss Nano-Cube» (www.swissnanocube.ch) oder den Experimentierkoffer «SimplyNano 1» für Sekundarschulen. Allerdings braucht es noch ein viel stärkeres und vor allem längerfristiges Engagement von Bund, Kantonen und Wirtschaft in die Ausbildung. Nur dann kann das Potential der Nanotechnologie auch tatsächlich in Innovationen umgemünzt und langfristig für Unternehmen nutzbar gemacht werden. ■

15. Januar: Letzte komplette Seegfrörni des Bodensees. Im selben Jahr wird der Begriff «Seegfrörni» in den Duden aufgenommen. 22. Januar: Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Staatspräsident Charles de Gaulle unterzeichnen das deutsch-französische Freundschaftsabkommen, den sogenannten Elysee-Vertrag. 11. April: Die Enzyklika Pacem in terris ist die erste, in der sich der Heilige Vater nicht nur an die Gesamtheit der Katholiken und Gläubigen, sondern auch «an alle Menschen guten Willens» wendet. 16. Juni: Walentina Wladimirowna Tereschkowa fliegt als erste Frau in den Weltraum. 26. Juni: John Fitzgerald Kennedy hält vor dem Rathaus Schöneberg in Berlin seine berühmte Rede «Ich bin ein Berliner». 11. Juli: Nelson Mandela wird festgenommen. Es stehen ihm 27 Jahre Haft und der Friedensnobelpreis bevor. 28. August: Martin Luther King jr. hält anlässlich des Marsches auf Washington für Arbeit und Freiheit eine weltbekannt gewordene Rede: «I have a dream». 22. November: Der Mord an JFK wird als erste transpazifische Fernsehnachricht per Satellit nach Japan übertragen. (pc)

Christoph Meili ist CEO der Innovationsgesellschaft und Dozent für Betriebswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen. www.innovationsgesellschaft.ch DIE POLITIK 2 April 2013

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Theres Lüthi

FORSCHEN GEGEN DAS VERGESSEN Die Alzheimer’sche Krankheit ist die häufigste Form der Demenz weltweit. Laut Alzheimer’s Disease International, der Internationalen Föderation der Alzheimer Vereinigungen, leiden weltweit rund 36 Millionen Menschen an der Alzheimer-Demenz, Tendenz stark steigend (siehe Kasten). Demenzerkrankungen verursachen bereits heute Kosten von zirka einem Prozent des globalen BIP. Sie sind somit eine der grössten sozialen, gesundheitlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Bis heute gibt es kein einziges Medikament, das die Krankheit verlangsamen, geschweige denn heilen könnte. Bisher konzentrierte sich die Forschung auf ein Gebilde namens Beta-Amyloid, das als Hauptverdächtiger bei der Entstehung der Alzheimerkrankheit gilt. Das Beta-Amyloid geht aus einem natürlich vorkommenden Eiweiss hervor. Aus noch unverstandenen Gründen wird bei Alzheimerkranken das Fragment vermehrt produziert und verklumpt ausserhalb der Nervenzellen zu sogenannten Amyloid-Plaques. Laut der gängigen Amyloid-Hypothese ist es das Beta-Amyloid, welches das Gehirn schrumpfen lässt und für die kognitiven Ausfälle verantwortlich ist. Zahlreiche Indizien sprechen für die Amyloid-Hypothese. So werden etwa fünf Prozent der Alzheimerfälle vererbt. Die Betroffenen dieser familiären Alzheimer-Demenz haben Veränderungen im Gen für das Amyloid-Protein und produzieren deshalb deutlich mehr Beta-Amyloid. Dies wiederum hat zur Folge, dass sie bereits in jungen Jahren, oft schon mit 45 Jahren, an Alzheimer erkranken. Auch Personen mit Down-Syn24

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drom weisen ein erhöhtes Risiko für Alzheimer auf und erkranken deutlich früher als die Durchschnittsbevölkerung. Der Grund: Sie tragen in ihren Zellen drei statt der üblichen zwei Exemplare des Chromosoms 21, auf dem das AmyloidGen liegt, und stellen damit ebenfalls mehr Beta-Amyloid her.

Studien scheiterten Fast alle Wirkstoffe, die sich derzeit in einem fortgeschrittenen Stadium der Entwicklung befinden, richten sich gegen dieses Proteinfragment. Sie zielen darauf ab, die Produktion von Beta-Amyloid zu drosseln oder die Plaques im Gehirn zu beseitigen. Doch bisher scheiterte eine klinische Studie nach der anderen. Zahlreiche Versuche, bei denen Alzheimerpatienten mit einem Wirkstoff gegen die Amyloid-Plaques behandelt worden waren, mussten gestoppt werden. Die Substanzen vermochten zwar Amyloid-Plaques aus dem Gehirn der Kranken zu entfernen, die hirnbiochemischen Veränderungen konnten sie jedoch nicht aufhalten. Im Vergleich zu jenen Alz-


heimerkranken, die nur ein Scheinmedikament erhielten, schnitten sie bei den Denkleistungen nicht besser ab. Auch im selbständigen Verrichten der täglichen Arbeiten liessen sich keinerlei Vorteile ausmachen.

Früher eingreifen? Es gibt zwei Möglichkeiten, diese negativen Ergebnisse zu deuten. Einige Experten vermuten, dass man in einem viel

Alzheimer-Epidemie Die Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur führen dazu, dass die Zahl der demenzkranken Menschen in Zukunft stark wachsen wird. Das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, steigt mit dem Alter an. Über 95 Prozent der Patienten sind bei Beginn der Erkrankung über 65 Jahre alt. Von den 70- bis 74-Jährigen sind etwa 3 Prozent betroffen, von den 80- bis 84-Jährigen etwa 12 Prozent und von den 90- bis 94-Jährigen über 25 Prozent. Szenario: doppelt so viele in 20 Jahren Weltweit leiden rund 36 Millionen Menschen an der Alzheimer-Demenz, fast die Hälfte davon lebt heute in den reichen Ländern, 39 Prozent in Ländern mit mittleren Einkommen und nur 14 Prozent in armen Ländern. Infolge der wirtschaftlichen Entwicklung und der damit einhergehenden Alterung der Gesellschaften wird sich die Zahl der Alzheimerkranken voraussichtlich etwa alle 20 Jahre verdoppeln:

früheren Krankheitsstadium eingreifen müsste. Denn inzwischen steht fest, dass die Amyloid-Plaques nicht von heute auf morgen erscheinen. Vielmehr handelt es sich um einen schleichenden Prozess. Bis zu 25 Jahre vor Auftreten erster Symptome, so nimmt man heute an, beginnen sich die Klumpen im Gehirn zu bilden. Beim Ausbruch der Krankheit ist der Zerstörungsmechanismus bereits voll in Gang, und Gehirnmasse ist unwiderruflich verloren. Will man die schädigende Wir-

2030 dürften es 66 Millionen sein, 2050 sollen es dann bereits 115 Millionen sein. Laut Schätzungen der Schweizerischen Alzheimervereinigung leben in der Schweiz etwa 110’000 Menschen mit Demenz. Bis zum Jahr 2030 werden es voraussichtlich 200’000 sein.

Betreuung und Forschung In der Schweiz sind auf nationaler Ebene zwei Organisationen im Bereich Alzheimer aktiv: Die Schweizerische Alzheimervereinigung engagiert sich für die Verbesserung der Lebenssituation aller Betroffenen und unterstützt Menschen mit Demenz und die sie betreuenden Angehörigen mit zahlreichen Dienstleistungen. Die Stiftung Synapsis – Alzheimer Forschung Schweiz AFS setzt sich zum Ziel, die Grundlagenforschung und die klinische Forschung auf dem Gebiet von Alzheimer und anderen neurodegenerativen Erkrankungen zu unterstützen.

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kung der Amyloid-Plaques verhindern, müsste man früh einschreiten. Genau das soll jetzt in klinischen Studien getestet werden. Dies ist jedoch kein einfaches Unterfangen, denn es ist heute nicht möglich, Personen in einem Frühstadium zweifelsfrei zu identifizieren. Mit absoluter Sicherheit lässt sich Alzheimer erst nach dem Tod feststellen. Denkbar ist aber auch, dass die populäre Amyloid-Hypothese falsch ist. Möglich ist, dass die Anhäufungen der Amyloid-Plaques nicht die Ursache, sondern vielmehr eine Nebenerscheinung der Alzheimer Krankheit ist. Gegen einen ursächlichen Zusammenhang zwischen den AmyloidPlaques und der Alzheimerkrankheit spricht zum Beispiel, dass es Alzheimerfälle gibt, bei denen in der post mortem Untersuchung keine Plaques festgestellt wurden. Auch die Tatsache, dass einige Wirkstoffe Plaques zwar aus dem Gehirn entfernen können, die Krankheit dennoch unverändert fortschreitet, spricht gegen die Amyloid-Hypothese. Manche Experten kritisieren denn auch, dass man sich viel zu früh auf eine einzige Hypothese beschränkt habe, was viele talentierte Köpfe daran gehindert habe, andere Ursachen in Betracht zu ziehen.

Alzheimer und Diabetes Inzwischen sind sich die meisten Experten darin einig, dass andere Forschungsansätze in Betracht gezogen werden müssen. Vorläufige Hinweise deuten zum Beispiel darauf hin, dass altersbedingte Veränderungen an den Hirngefässen sowie 26

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entzündliche Reaktionen im Gehirn eine Rolle bei der Entstehung der Alzheimer Krankheit spielen könnten. Auch über einen möglichen Zusammenhang zwischen Alzheimer und Diabetes wird nachgedacht. Denn Studien zeigen, dass Menschen mit Diabetes ein doppelt so hohes Risiko haben, an Alzheimer zu erkranken. Aber auch den Veränderungen an den Synapsen, den Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, soll mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Um all diesen Fährten nachzugehen, muss die biomedizinische Forschung – auch in der Schweiz – stark gefördert werden. Nur so wird es möglich sein, Alzheimer und andere neurodegenerative Krankheiten besser zu verstehen, sie früher zu diagnostizieren und hoffentlich behandeln oder gar heilen zu können. Die Stiftung Synapsis – Alzheimer Forschung Schweiz AFS – unterstützt die Grundlagenforschung und die klinische Forschung auf dem Gebiet der Alzheimer Krankheit und anderer neurodegenerativer Erkrankungen in der Schweiz, indem sie junge talentierte Forscherinnen und Forscher an Schweizer Universitäten und anderen Forschungsinstitutionen fördert. ■

Theres Lüthi, Wissenschaftsjournalistin «NZZ am Sonntag». Die Stiftung Synapsis ist eine Stiftung zur Unterstützung der Erforschung der Alzheimer’schen Krankheit und anderer neurodegenerativer Krankheiten.


Franz A. Saladin

FORSCHER DER ZUKUNFT GESUCHT Die Schweiz verdankt ihren Wohlstand zu einem erheblichen Teil ihrer hohen Innovationskraft. Innovation entsteht immer in Köpfen, weshalb Bildung die Triebfeder der Innovationen ist. Unter diesem Aspekt stimmt der in der Schweiz herrschende Fachkräftemangel in naturwissenschaftlichen und technischen Berufen nachdenklich. Die Nachfrage nach MINT-Fachleuten (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) hat sich seit 1950 wegen eines tiefgreifenden Strukturwandels der Schweizer Volkswirtschaft hin zu einer technologieorientierten Wissensgesellschaft vervielfacht. Mit dieser Entwicklung vermochte die Ausbildung auf Hochschul- und Berufsbildungsebene jedoch leider nicht Schritt zu halten.

Entscheid oft gegen Technik Studienanfänger in der Schweiz haben die Tendenz, «weichere» Wissenschaften zu wählen. Auch in der Berufsbildung neigen die Lernenden dazu, sich für Berufe zu entscheiden, die nicht den Bereichen Naturwissenschaften und Technik zuzuordnen sind. Nur ein gutes Drittel der Abschlüsse in der beruflichen Grundbildung entfallen auf den MINT-Bereich und der Anteil an Frauen in naturwissenschaftlichen und technischen Lehrberufen beträgt lediglich zehn Prozent. Es fällt deshalb zunehmend schwerer, für die anspruchsvollen MINT-Berufe genügend schulisch leistungsfähige Lehrstellenbewerberinnen und -bewerber zu finden. Kurzum leidet die duale Berufsbildung genauso wie der MINT-Hochschulbereich darunter, dass in der Schweiz zu wenige Jugendliche ihre berufliche Zukunft auf die Fachbereiche Naturwissenschaften und Technik ausrichten. Dringend gesucht: Nachwuchs Der Forschungsstandort und Werkplatz Schweiz ist dringend auf genügend Nachwuchs angewiesen, um erfolgreich zu bleiben. Naturwissenschaften und Technik müssen deshalb für talentierte Schulabgängerinnen und Schulabgänger wieder attraktiver werden, wofür Kampagnen der Industrie wie auch

Massnahmen der Bildungspolitik sorgen können. Die Handelskammer beider Basel griff das Thema auf und lancierte mit der Erlebnisschau «tunBasel» an der Muba 2010 eine Initiative zur Nachwuchsförderung in Naturwissenschaften und Technik. Namhafte Förderinitiativen aus der ganzen Schweiz zeigten interaktive Projekte, die Schüler erleben liessen, wie spannend naturwissenschaftliches und technisches Lernen und Arbeiten sind. Rund 150 Schulklassen besuchten die rund 25 Experimentierstände.

Naturwissenschaft fördern Fördermassnahmen dieser Art müssen schon auf früher Primarstufe ansetzen, denn die massgebliche Lebensphase für einen Berufswahl-Entscheid liegt in der Zeit bis zum 15. Altersjahr. Weil das Pilotprojekt und die zweite Auflage der «tunBasel» an der Muba 2012 auf eine überaus positive Resonanz stiess, plant die Handelskammer beider Basel, auch an der Muba 2014 wiederum eine «tunBasel» durchzuführen. ■ Weitere Informationen unter → www.tunbasel.ch

Dr. Franz A. Saladin ist Direktor Handelskammer beider Basel. DIE POLITIK 2 April 2013

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Markus Ritter

«GENTECHFREI» Erst kürzlich verlängerte das Schweizer Parlament im Rahmen der Debatte zur Agrarpolitik 2014–17 das Gentechmoratorium um weitere vier Jahre. Die Forderung kam von der Landwirtschaft und lautete: Solange gentechnisch veränderte Pflanzen den Landwirtinnen und Landwirten keinen Nutzen bringen, sondern hauptsächlich Risiken und Kosten, und solange sie die Konsumenten sie nicht essen wollen, soll der Anbau in der Schweiz verboten bleiben. Fast zwei Drittel der Parlamentarierinnen und Parlamentarier unterstützten dies. Keine drei Monate nach diesem Parlamentsentscheid schickt der Bundesrat die Koexistenz-Vorlage in die Vernehmlassung. Nach 2017 sollen gentechnisch veränderte und gentechfreie Kulturen in der Schweiz nebeneinander existieren können. Dazu braucht es eine Rechtsgrundlage, welche die gentechfreie Landwirtschaft schützt und Haftungsfragen regelt. Die Vorlage hat noch einen weiteren Anspruch: Sie will den Landwirtinnen und Landwirten die Möglichkeit geben, gentechfreie Gebiete zu schaffen, um von den Vorteilen des Verzichts auf Gentechnologie profitieren zu können. Das neue Instrument – so heisst es in den Vernehmlassungsunterlagen – sei «eine Chance für die Vermarktung regionaler Produkte».

Chance nur für Einige? Obschon die Gentechfreiheit also als offensichtliche Chance anerkannt wird, sollen ab 2018 nur noch einzelne Regionen davon profitieren können. Laut Vorschlag des Bundesrats muss nämlich jeder Kanton gebietsweise gentechnischveränderte Sorten (GVO)-Anbau zulassen. Damit wäre die Schweizer Landwirtschaft gezwungen, in Zukunft auf das 28

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Qualitätsargument «gentechfrei» zu verzichten, währenddessen Landwirte in einzelnen Regionen sich damit explizit profilieren könnten. Diese Strategie ist nicht nachvollziehbar: Unsere Konkurrenten sind nicht in der Nachbarsgemeinde, sondern im Ausland zu Hause. Im harten Kampf mit immer offeneren Grenzen muss die Schweizer Landwirtschaft jeden Trumpf spielen, auch den der gentechfreien Produktion. Das Vorgehen widerspricht auch diametral der erst im letzten Sommer von allen Partnern unterzeichneten Qualitätsstrategie für die Schweizer Landwirtschaft.

Produktion nicht unnötig verteuern Nicht zu vergessen in der ganzen Diskussion ist der Kostenfaktor. Die Koexistenz verursacht hohe Kosten, denn die Produktion muss vom Feld bis in den Teller getrennt bleiben. Warum wollen wir diese auf uns nehmen, solange keine gentechnisch veränderte Pflanze einen echten Nutzen oder zumindest ökonomisch einen Vorteil bringt? Erst wenn eine gentechnisch veränderte Pflanze für Produzenten, Konsumenten und die Umwelt einen Nutzen bringt, soll sie zugelassen werden. Diese Forderung der Landwirtschaft hatte das Parlament ebenfalls mit der Verlängerung des Moratoriums gesetzlich verankert. Konsequenterweise müsste das Kriterium des nachhaltigen Nutzens ins Zulassungsverfahren integriert werden. Es braucht für die Koexistenz klare Regeln, die keine Rechtsunsicherheiten offen lassen, welche die gentechfreie Produktion schützen und gleichzeitig die Produktion mit GVO ermöglichen. Das alles gilt aber erst dann, wenn eine gentechnisch veränderte Sorte mit einem nachhaltigen Nutzen auf dem Markt ist und die Konsumenten diese akzeptieren. Bis dahin soll die gesamte Schweizer Landwirtschaft von der Vermarktungschance einer «gentechfreien Region» profitieren! ■ Markus Ritter ist Nationalrat (SG) und Präsident Schweizerischer Bauernverband.


Fred Mayer

Bilder aus der Schaltzentrale der Macht Während drei Jahren hat der 80-jährige Luzerner Fotograf Fred Mayer im Bundeshaus Menschen fotografiert, Empfänge festgehalten und Räume abgelichtet, die nicht für alle zugänglich sind. Das Resultat ist ein 240-seitiger Bildband, der im Herbst erscheint.

Fred Mayer hat auf der ganzen Welt fotografiert, seine Bilder wurden in Publikationen wie dem Stern, dem Geo, der Neuen Zürcher Zeitung und der Schweizer Illustrierten publiziert. Ausserdem war er für viele Agenturen unterwegs, auch für Magnum, die als eine der besten der Welt gilt. 30 Bildbände hat er herausgegeben, viele davon mit seiner Frau Ilse, die ebenfalls Fotografin ist. Im Herbst wird Mayer’s Bildband «Willkommen im Bundeshaus» veröffentlicht, sein wohl «letztes grosses Werk», wie er in der Galerie des Alpes erzählt. Trotz all seiner Reisen sei er immer wieder gerne zurück nach Bern gekommen. Politik habe ihn immer wenig interessiert, wohl auch «weil es uns gut geht». Der Bildband ist dann auch nicht politisch. «Er ist da, um auf unsere Schweiz stolz zu sein, denn das bin ich.» Gezeigt wird das neu renovierte Bundeshaus in all seinen Facetten und soll aufzeigen, wie sich Volksvertreter und 35’000 Bundesangestellte einsetzen, «damit wir einen Lebensstil führen dürfen, um den uns die Welt beneidet», sagt der Fotograf.

Während drei Jahren fotografiert Es sei ein Zeitdokument, das über die Zeitspanne von drei Jahren entstanden sei und auch Orte wie das Bundesratszimmer zeige, die für die Öffentlichkeit nicht zugänglich seien. Politik zu fotografieren sei ein dynamischer Prozess, es herrsche ein ständiges Kommen und Gehen. Die Administration jedoch bleibe und so hat Fred Mayer nicht nur bekannte Persönlich-

keiten fotografiert, sondern auch das Leben der Bundeshausangestellten festgehalten.

Schweizer Buchdruck Der Luzerner Fotograf kritisiert, dass zu viele Schweizer Bücher im Ausland gedruckt werden: «Von den 27 Büchern, die das Bundesamt für Kultur als schönste Schweizer Bücher 2011 auszeichnete, wurden gerade vier in der Schweiz gedruckt.» Die Schirmherrschaft vom Schweizerischen Verband für visuelle Kommunikation Viscom habe es ihm und dem Aura Verlag ermöglicht, den Bildband in der Schweiz zu drucken. Interessierte können noch bis zum 16. Mai 2013 zum Vorzugspreis von 76 Franken (das Porto von 12 Franken inbegriffen) profitieren. Danach wird das Buch 100 Franken kosten. ■

Sarah McGrath-Fogal, Redaktion DIE POLITIK.

Fred Mayer Willkommen im Bundeshaus 240 Seiten Leinenband (ca. 24 × 34 cm) in Fadenheftung, Schutzumschlag, ca. 200 vierfarbige Fotografien. Spezialpreis bis am 16. Mai 2013: 76 Franken. Vorbestellungen via www.wemakeit.ch oder info@aura.ch

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Mike Bacher

PHILIPP ANTON VON SEGESSER UND DIE GRUNDLAGEN DER CVP Mit dem Ausbruch der französischen Revolution 1789 und der anschliessenden turbulenten Zeit der Gegenrevolutionen kamen nicht nur Staaten, sondern ganze politische und wissenschaftliche Weltbilder ins Wanken. Besonders stark betraf dies die Rechts- und Staatswissenschaft, die mitten hinein in den Strudel zwischen Revolution und Restauration gerissen wurde, und auf der ein Grossteil der anschliessenden Grabenkämpfe ausgetragen wurde. Daraus entstanden schliesslich auch die Wurzeln und Grundlagen der heutigen Christdemokratie. Als Beginn dieser neuen Epoche der Rechtswissenschaft gilt dabei der berühmte «Kodifikationsstreit» von 1814/15. Anstoss dazu gab der Heidelberger Professor Anton Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), der eine einheitliche Kodifikation, also ein einheitliches Gesetzeswerk für ganz Deutschland erstrebte. Ganz im Banne des naturrechtlichen Denkens des 18. Jahrhunderts, das die Vernunft als obersten Massstab des Rechts erhob, wäre eine solche Kodifikation eine Neu-Schöpfung eines Gesetzgebers gewesen. Sie wäre den Postulaten der Liberalen nach zentralistischer Staatsführung, Gleichheit und Abschaffung der bisherigen Rechtsvorstellung entgegen gekommen. Gegen eine solche Vorstellung wandte sich aber der bis anhin nur wenig bekannte Friedrich Carl von Savigny (1779–1861). Allerdings kritisierte er diese Konzeption nicht nur, sondern entwarf ein Gegenmodell und erschuf gleichsam die gesamte deutsche Rechtswissenschaft neu – die historische Rechtsschule. Diese vertrat die Auffassung, dass das Recht nicht einfach durch einen Gesetzgeber quasi «erfunden» werden könne, sondern historisch mit einem Volk entsteht, wächst und sich aus diesem herausdifferenziert. Dadurch könne es auch kein rein abstraktes Naturrecht geben, welches für alle 30

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Völker und Zeiten dasselbe sei, sondern das Recht ist eng mit dem Volk verwurzelt, das dieses formt. Zentraler Gedanke dabei ist der «Volksgeist»: Die gemeinsamen Überzeugungen, (Rechts-)Anschauungen und Werte eines Volkes, die hinter dem Gesetz stehen.

Unbestrittener Anführer der Konservativen Es braucht nicht speziell erwähnt zu werden, dass Savignys historische Rechtsschule den politischen Konservativen besonders entgegenkam. Besonders ersichtlich ist dies beim bedeutendsten Schüler Savignys in der Schweiz, dem jungen Luzerner Philipp Anton von Segesser (1817–1888), der sich ganz der historischen Rechtsschule verschrieben hatte. Ihre Vorstellungen prägten sein politisches Denken. So stellte er später fest: «Gerade weil ich der historischen Rechtsschule angehöre, die jeden späteren Rechtszustand aus dem früheren hervorgehen lässt und ihrer Natur nach konservativ, weder stabil noch revolutionär ist, musste ich Demokrat sein». Segesser, der dem Nationalrat von 1848 an bis zu seinem Tode angehörte, wurde bald der unbestrittene Anführer der Konservativen in der Bundesversammlung. Durch seine Bildung und seinen klaren – auf der historischen Rechtsschule fussenden – Anschauungen war er in Lage, sich auf die Grundlagen und Prinzipien der eidgenössischen Staatsentwicklung zu besinnen und im Gewirr der Tagespolitik die leitenden Grundsätze zu sehen. Damit war es ihm möglich, die Entwicklungen der letzten Jahrhunderte nicht bloss historisch zu deuten, sondern in bewährter Weise in die Zukunft zu führen. Neben diesem konservativen (das heisst bewahrenden) Charakter kam das zentrale Element des Föderalismus, das im Sinne eines «Checks and Balances» innerhalb der Eidgenossenschaft für einen Interessenausgleich sorgte und namentlich den Schutz der Minderheiten garantierte und diese vor einer «totalitären Diktatur» bewahrte.

«Recht wurzelt in der Religion» Als drittes Element trat für ihn schliesslich die Erkenntnis hinzu, wonach «alles Recht mit seinem letzten, ethischen

Grunde in der Religion [wurzelt]». Damit ist nicht etwa gemeint, dass Religion und Recht eine Einheit bilden sollen. Vielmehr vertrat er die Auffassung, dass zur Verhinderung der Auswüchse einer reinen (Mehrheits-)Diktatur neben dem formalen Aspekt des Föderalismus auch ein inhaltlicher Aspekt notwendig ist. Für Segesser lassen sich aus der Geschichte und der Religion Grundrechte ableiten, an die sich auch der Staat halten muss. Sie stehen über dem rein menschlichen Recht und sorgen für ein ausgewogenes Staatswesen.

Seine Prinzipien als Fundament der christdemokratischen Bewegung Auf solch gefestigten Grundlagen konnte Segesser im 19. Jahrhundert die Partei neu aufbauen und zum bedeutendsten Staatsmann der Eidgenossenschaft seiner Zeit avancieren. Durch seine politischen Schüler fanden seine Prinzipien weiterhin Geltung und wurden schliesslich bei der Parteigründung 1912 zu Grundlagen der neuen Partei erhoben. Mit der Umbenennung in Christlichdemokratische Volkspartei 1970 wurde sein drittes Prinzip in besonderer Weise betont. Die drei Segesser’schen Prinzipien zusammen bilden das Fundament und Rückgrat der christdemokratischen Bewegung in der Schweiz. Die Gemeinsamkeiten der CVP und der CDU Ein besonderes Schicksal verbindet die CVP dabei mit der CDU/CSU, deren geistiger Hintergrund ebenfalls der historischen Rechtsschule entstammt. War es doch gerade Savignys Sohn, Karl Friedrich von Savigny (1814–1875), der 1870 die Deutsche Zentrumspartei – den direkten Vorläufer der CDU – mitbegründet hat. Als enger Freund Segessers blieben sie sich ein Leben lang verbunden, und ihre Prinzipien überdauerten bis heute die Jahrhunderte und Zeitströmungen, um als Grundlage derjenigen Parteien zu dienen, denen sie einst – direkt oder indirekt – das Leben schenkten. ■

Mike Bacher ist Präsident der CVP Engelberg. DIE POLITIK 2 April 2013

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Magazin fĂźr Meinungsbildung. Ausgabe 9 / November/Dezember 2010 / CHF 7.80 www.die-politik.ch

Input. www.die-politik.ch

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