Magazi zin n fĂź fĂźrr Me Mein inung ungsbil ildun dung. g. Ma Ausga sgabe be 8 / Okt Oktob ober er 20 2010 10 / CH CHF 7.80 80 Au www.die-po -poli liti tik. k.ch ch www
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Herausgeber Verein DIE POLITIK redaktionsadresse DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern, Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail binder@cvp.ch, www.die-politik.ch redaktion Marianne Binder, Jacques Neirynck, Yvette Ming, Lilly Toriola, Rudolf Hofer, Simone Hähni, Manuel Trunz gestaltungskonzept, illustrationen und layout Brenneisen Communications, Basel druck UD Print, Luzern inserate und abonnements Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail abo@die-politik.ch, Jahresabo CHF 32.–, Gönnerabo CHF 60.– näcHste ausgabe November 2010
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Die Politik 8 Oktober 2010
das titelbild
mare imbrium (regenmeer auf dem mond) 2009, Fotografie, Serie von 4 Bildern (Bild 3 von 4) Die bildende Künstlerin Verena Schmocker (1983, geboren in Bern) hat an der Hochschule der Künste Bern und der Universität Bern studiert. Ihre Arbeiten sind formalphilosophisch, geometrisch, abstrakt. Resultate sind Installationen, dreidimensionale Objekte, Zeichnungen und Fotografien. Ihre Werke wurden unter anderem in der Kunsthalle Bern ausgestellt. Das Titelbild «Mare Imbrium», eine Arbeit von 2009, zeigt eine während einem Jahr entstandene Ansammlung von Blütenstaub auf einem konkaven Gefäss. Die mondähnlichen Krater entstanden durch feinste Regentropfen. Das fotografierte Objekt wurde nicht inszeniert oder arrangiert. Verena Schmocker zu «Mare Imbrium»: «Was Asteroiden und Kometen für den Mond, sind kleine Wassertropfen für die Erde. Es dauert, bis sich Regen langsam zu einem Meer sammelt. Man wartet. Mondstaub und Niederschlag ergeben die charakteristische Struktur. Die Bilder sind die Zeugnisse eines meteorologischen Ereignisses, in Form einer Privataufnahme. Ist es bald Wirklichkeit? Wird der Mond als Feriensujet bald einmal die Speicher unserer Digitalkameras füllen, beim Touristen Weltraumflug um die Erde? 2009; 40 Jahre Jubiläum der Mondlandung! Oder gar keines? Unser politischer Spielball am Himmel verrät nichts und lächelt jede Nacht leise vor sich hin. Die Fotografien erlauben dem menschlichen Gehirn eine optische Täuschung. Eine sanfte Poesie. Demselben glühenden Kern entsprungen, kreisen wir in der Abhängigkeit einer gebundenen Rotation. Er ist unser erster Fixpunkt beim Sprung ins Universum.»
ediTOriAl – Marianne Binder, Chefredaktorin
GeGenwelten
Warum widmet ein politisches Magazin dem Thema «Kunst» eine Ausgabe? Politik ist gemeinhin die absolute Gegenwelt zum Guten, Wahren, Schönen. Oder doch nicht? Gibt es künstlerische Elemente im politischen Tagesgeschäft? Hat eine gute Politikerrede ästhetische Qualitäten? Sind Politiker Schauspieler und Kunstschaffende Seismographen für die Erschütterungen der Gesellschaft? Braucht es staatliche Kunstförderung? Was ist Kunst? Politik? «Politik ist die Kunst des Möglichen», sagt Bismarck. Seit Hirschhorn wissen wir zusätzlich, dass Kunst die Möglichkeit beinhaltet, der Politik ans Bein zu pinkeln. Mit öffentlichen Geldern. Sich darüber aufzuregen, macht Sinn. Doch soll die Politik der Kunst die Inhalte trotzdem nicht diktieren. Denn: «Die Zensur ist das lebendige Eingeständnis der Herrschenden, dass sie nur verdummte Sklaven treten, aber keine freien Völker regieren können», sagt Johann Nestroy. Ich danke der Berner Künstlerin Verena Schmocker für «Mare Imbrium», welches sie uns als Titelbild zur Verfügung gestellt hat. (In diesem Zusammenhang politisch zu bedenken wäre, dass der Ausverkauf des Mondes in vollem Gange ist. Gerade das Regenmeer – man sieht es mit blossem Auge – sei eine Lieblingsregion von Hobbykäufern und ernsthaften Investoren auf unserem Trabanten…) Weiter danke ich jenen Kunstschaffenden, welche uns für dieses Magazin keine Absage gegeben haben mit der Begründung: «Wir möchten mit Politik nichts zu tun haben.» La suisse existe. Wer schweigt, ist gut zu widerlegen. Und übrigens bei beiden, Künstlern und Politikern, ist der gute Wille keine Entschuldigung für schlechte Arbeit. Churchill. Sie halten die zehnte Ausgabe der neuen POLITIK in Händen. Gerne machen wir Sie darauf aufmerksam, dass Sie mit beiliegender Anmeldekarte ein Abonnement auch verschenken können. Sie unterstützen damit die Arbeit der Redaktion und der CVP Schweiz.
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JeanFrédéric Jauslin, Direktor des Bundesamtes für Kultur
KulturförderunG als InvestItIon In dIe zuKunft Die Meinungen über Kulturförderung sind so vielfältig, wie die Bedeutung des Begriffs Kultur an sich. Für manche soll sie sicherstellen, dass die öffentlichen Institutionen unser kulturelles Erbe pflegen und erhalten. Andere erachten sie als Investition in Krisenzeiten: Kultur soll dann die Gemeinschaft stützen. Vier gute Gründe sprechen für die Kulturförderung von heute. – Ausdruck der gesellschaftlichen Identität Einst diente die staatliche Kulturförderung zur Selbstvergewisserung und zur Pflege des kulturellen Erbes. Doch mit zunehmender Mobilität und Globalisierung dominiert in der kulturpolitischen Debatte seit den 1980er Jahren der wirtschaftliche und soziokulturelle Aspekt. Letzterer lässt sich damit begründen, dass durch die Begegnung von Menschen verschiedenen Alters, Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft das Bedürfnis nach regionaler Identität, nationalem Zusammenhalt und Völkerverständigung gewachsen ist. Identitätsbildung mittels Kultur entwickelte sich deshalb zu einer tragenden Komponente unserer Gesellschaft.
– Wirtschaftliche Bedeutung Neben der sozialen Bedeutung leistet die Kultur einen eigenständigen Beitrag zur Realökonomie. Diese Erkenntnis hat sich in den letzten Jahren durchgesetzt. Sie erzeugt einen indirekten Nutzen, indem das kulturelle Angebot als Imagefaktor positive Werte generiert. So kann ein breites kulturelles Angebot einer Stadt, Gemeinde oder Region die Lebensqualität der Bevölkerung verbessern und so die Standortwahl von Wirtschaftsunternehmen günstig beeinflussen. Auch dient Kultur als Motor für wirtschaftliche Entwicklung in den Bereichen Beschäftigung, Freizeitkonsum, Stadtentwicklung usw.
– Beitrag zur demokratischen Entwicklung Kultur ermöglicht dem Menschen sich selbst und sein Umfeld zu verstehen, sich auszudrücken und damit auseinanderzusetzen. Gerade die emotionale und intellektuelle Erkenntnis von sinnlichen Anschauungen – zum Beispiel ein Bild betrachten – ist deshalb auch gesamtgesellschaftlich bedeutsam. Im Kern trägt es dazu bei, dass sich die Menschen kulturell orientieren und so ihre bürgerlichen Rechte und Pflichten wahrnehmen können.
Der direkte Nutzen liegt im Kultursektor als Wirtschafsfeld, das sich dauerhaft als Wachstumsbranche etabliert. Als klassisches Beispiel dient das Freilichtmuseum Ballenberg und seine Partnerbetriebe: Das Gesamtunternehmen erwirtschaftet mit einem Umsatz von 15 Millionen Franken direkt eine Bruttowertschöpfung von 7,4 Millionen Franken und generiert rund 100 vollzeitäquivalente Arbeitsplätze. Weitere kulturelle Sektoren wie Musik, Buch, Film oder Design beeinflussen die Gesamtökonomie eines Landes. Nicht zu sprechen vom innovativen Charakter der Kultur- und Kreativwirtschaft, deren Einfluss auf unsere wissensbasierte Ökonomie und Gesellschaft in Zukunft zunehmen dürfte.
– Ordnungsrahmen für Kulturschaffende Staatliche Kulturpolitik ist mehr als Kulturinstitutionen, -einrichtungen und -projekte finanziell zu unterstützen. Kulturschaffende als Teil der Gesellschaft benötigen einen Ordnungsrahmen, sprich Kulturpolitik heisst auch für die Anliegen der Kulturschaffenden einzutreten. Deshalb soll sich die staatliche Kulturförderung auch in andere Bereiche wie die Steuer- und Finanzpolitik, das Urheberrecht oder Sozialversicherungsrecht einbringen, um Kulturschaffenden in ihrem Wirken beizustehen. 4
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Fazit: Wer Kultur fördert, investiert in die Gesellschaft und ihre Zukunft! ■
WAs Ist Kunst?
«Kunst ist, was der Künstler oder die Künstlerin macht. Das sagt aber noch nicht, ob die Kunst gut ist oder schlecht. Gut ist sie meist, wenn allergrösste Leidenschaft und Konsequenz dahintersteckt. Schlecht ist sie, wenn sie bloss gut ausschaut.» Heinrich Gartentor, Aktionskünstler, Schweizer Schriftsteller und erster virtueller «Kulturminister der Schweiz»
«Die Kunst fördert Sinn und unsere Sinne. Ohne Kunst sehen wir schlecht, wir hören wenig, ohne Kunst befinden wir uns weit weg von unserem eigenen Ich. Die Kunst führt uns zurück zum Wesen unseres Daseins. Kunst weckt und nährt unsere Wahrnehmung des Lebens, sie formuliert Fragen über das Menschsein, die wir uns sonst nicht stellen würden. Kunst ist zudem etwas Unvorstellbares: Eine grenzenloser Horizont, der uns aus unseren inneren und sozialen Gefängnissen rettet.» Anne Bisang, Direktorin des Theaters Comédie de Genève
«Für mich ist Kunst in erster Linie ein Werk (Malerei, Musik, Handwerk usw.), das wir als schön empfinden und wir sehen, hören, berühren oder teilen möchten. Die Kunst war zu lange für eine Elite reserviert. Dank dem Internet wurde sie in den vergangenen dreissig Jahren jedoch einem breiteren Publikum leicht zugänglich. Dies macht auch den Erfolg der Fondation Pierre Gianadda aus, die bis heute über 8 Millionen Besucher zählen durfte.» Léonard Gianadda, Präsident der Fondation Pierre Gianadda, Martigny
«Kunst ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Kunst ist eine Passion, fast schon eine Art von Lebenselixier. Für mich persönlich ist sie ein Bedürfnis Dinge zu hinterfragen, zu verändern, um- und neuzugestalten. Das Besondere an Kunst ist ihre Zwecklosigkeit. Kunst hat keine rational direkt übersetzbare Aufgabe. In ihrer Sinnlosigkeit setzt die Kunst jedoch einen notwendigen Kontrapunkt zum Leben, das sonst ständig und überall mit Sinn erfüllt sein muss.» Frank Bodin, Werber des Jahres 2009, Konzertpianist und Komponist
«Es gibt so viele Definitionen von Kultur und Kunst wie Kunstschaffende. Kunst ist eine Art sich auszudrücken. Sie ist eine Möglichkeit, die Welt, ein Land oder die Realität zu erklären. Kunst ist Nahrung für die Seele. Sie ermöglicht uns den Zugang zu transzendenten Wirklichkeiten. Kultur ist das Erbe eines Landes, sie schafft die wahre Identität eines Landes. Sie ist der Grund für Hoffnung und der Grund für dessen Existenz.» Christophe Darbellay, Parteipräsident CVP Schweiz
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Rudolf Hofer, Bümpliz
Bundestheater
Parlament als theater im Parlament: die schauspieler, die Parlamentarier darstellten, nehmen den applaus der Parlamentarier entgegen.
Schon an manchem Stammtisch wurde behauptet: «Was sich unter der Bundeshauskuppel abspielt, ist ein Theater.» Am 2. Mai 1991, um sechs Uhr abends wurde das wahr. Im Nationalratssaal wurde vor der Bundesversammlung «Herkules und der Stall des Augias» von Friedrich Dürrenmatt gespielt, der die antike Sage parodiert. In Eleusis türmt sich meterhoch der Mist. Das Parlament beschliesst den Helden Herkules mit der Entmistung des Vaterlandes zu beauftragen. Herkules schlägt vor, zwei Flüsse umzuleiten und den Mist wegzuspülen. Doch nun betritt das Parlament von Eleusis die Bühne. Jeder trägt Bedenken vor: Mist sei ein wichtiges Exportprodukt. Unter dem Mist könnten Kunstschätze verborgen sein, die das Wasser möglicherweise beschädigen könnte. Auf jeden Einwand antwortet das Parlament im Chor: «Beschlossen schon, wir bilden eine Kommission.» Am Schluss geht Herkules und der Mist bleibt. Doch es braucht keineswegs Schauspieler und eine improvisierte Bühne, damit Parlamentarier sich im Theater wähnen. In der Landesstreikdebatte 1918 bezeichnete Nationalrat Rikli 6
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ein Votum des Sozialdemokraten Greulich als «Kasperlitheater». In der Debatte über die Beschaffung des Kampfpanzers «Leopard» trat Barbara Gurtner (Poch) im selbstgeschneiderten Hosenanzug mit Leopardenmuster auf.
Darstellung der Politik Theater ist nicht das wirkliche Leben. Nach der Vorstellung verbeugt sich der tote Gessler quicklebendig vor dem Publikum. Theater ist Darstellung der Wirklichkeit. Wer sagt, im Parlament werde «nur Theater gespielt», geht davon aus, im Parlament müsse Politik gemacht und nicht bloss dargestellt werden. Er nimmt an, dass sich im Nationalrat 200 und im Ständerat 46 kluge Personen treffen, die vorurteilslos nach Abwägen der in der Debatte gehörten Meinungen abstimmen.
Die Parlamentarier mögen klug sein, vorurteilslos sind sie nicht. Sie haben bereits im Wahlkampf gesagt, was sie über die grossen politischen Fragen denken. Sie kennen die Vernehmlassungen ihrer Parteien und Verbände. Die Spezialisten für den jeweiligen Themenbereich haben die Geschäfte in den Kommissionen gründlich besprochen. In den Fraktionen wurden die kritischen Fragen diskutiert und eine Linie festgelegt. Da ändert die Debatte im Plenum kaum noch etwas an der Meinung.
Theater und Demokratie Warum reden die Parlamentarier trotzdem und stimmen nicht gleich ab? Die Argumente werden vor dem Volk, dem Souverän ausgebreitet. Das gilt ganz besonders dann, wenn das Volk zwingend oder – mit dem fakultativen Referendum – möglicherweise das letzte Wort hat. Der Parlamentarier redet nicht zu seinen Kollegen, er redet zum Fenster hinaus, weil hinter den Fenstern das Volk steht. Politik wird im Plenum nicht gemacht. Sie wird dort zuhanden des Volkes dargestellt. Es ist bezeichnend, dass 1891 bis 1971 nur die Protokolle von Debatten über Geschäfte gedruckt veröffentlicht wurden, bei denen eine Volksabstimmung möglich war. Der Stimmbürger war letztlich der Adressat der parlamentarischen Voten. Das Parlament diskutierte stellvertretend für das Volk, das dann abstimmte. Das Parlament lebt wie das Theater von der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Personen und Meinungen. Prallen nicht verschiedene Meinungen aufeinander, so haben wir Scheinparlamente wie den Reichstag unter Hitler oder den Obersten Sowjet. Das ist langweiliges Theater. Parlamentarismus setzt voraus, dass die Meinung des Gegenspielers zwar als falsch, ihre Darlegung aber als legitim erachtet wird. Für das Parlament gilt, was Hegel über die Tragödie sagte, dass nämlich ein Gegensatz dargestellt wird, wobei «beide Seiten des Gegensatzes für sich genommen Berechtigung haben». Hier liegt denn auch die Legitimation der strengen parlamentarischen Ordnung. Der Parlamentarier ist frei, was er sagt. Er hat gegebenenfalls die politischen Konsequenzen zu tragen. Wie und wann er es sagt, bestimmt das Reglement. Innerhalb dieser Grenzen seine Meinung so zu formulieren und vorzutragen, dass sie nicht nur im Ratssaal, sondern auch in den Medien und im Volk verstanden wird, überzeugt und haften bleibt, ist die hohe Schule parlamentarischer Schauspielkunst. ■
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ie Fresken in der Cappella degli Scrovegni in Padova gehören zu den bedeutendsten Werken europäischer Kunst. Giotto wurde von Enrico Scrovegni beauftragt, dessen Vater Reginaldo durch erfolgreiche Wuchergeschäfte ein enormes Vermögen anhäufte, aber auch eine etwas zweifelhafte Reputation genoss. Dante jedenfalls hat Reginaldo mit gutem Grund im siebten Kreis des Infernos angesiedelt, einer ungemütlichen Gegend. Es regnet dort Feuer. Der Bau der Kapelle sollte für das Heil der Familie Scrovegni Wirkung übers Irdische hinaus zeigen, indem ein Teil des dubios erworbenen Vermögens ad maiorem Dei gloriam ausgegeben wurde. Giotto platziert den edlen Spender denn auch bei der Darstellung des Jüngsten Gericht im violetten Büssergewand auf der Seite der Erlösten. Ein guter return on investment für Enrico. 700 Jahre später geniessen wir immer noch den Kunst gewordenen Ablass, finanziert von Wucherern, denen doch nicht ganz wohl war bei ihrem vielen Geld. Man könnte sich überlegen, ob das nicht auch ein Finanzierungsmodell für Spitzenkunst der Gegenwart wäre. Unternehmen oder Manager, die moralisch so versagt haben, dass nur noch der Steuerzahler helfen kann, könnte man verpflichten, als Ablass künstlerische Avantgarde zu sponsern, wenn sie schon gesündigt haben. Es bleiben dabei zwei Dinge offen: Erstens, ob heutige Manager überhaupt Angst um ihr Seelenheil haben. Das würde eine Seele voraussetzen. Zweitens, ob auch heutige so geförderte Kunst 700-jährigen Ruhm erreichen könnte. Fürs erste täte es auch Qualität mit einer etwas kürzeren Halbwertszeit. Ein Giotto lässt sich ohnehin nicht nur mit grosszügigen Sponsoren erklären. –Gerhard Pfister Die Politik 8 Oktober 2010
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Lilly toriola
BIlderflut aus nIGerIa sie sind eine wilde Mischung aus Action, thriller, Horror und Geisterfilm, schnulze und Komödie und tragen titel wie «I want your wife», «Angel of my Life» oder «Village on Fire» – Kassenschlager aus einer anderen Welt, die ein Millionenpublikum in ihren Bann ziehen. Ausserhalb der afrikanischen Diaspora aber hat kaum jemand vom Phänomen «nollywood» notiz genommen. Dabei hat die pulsierende nigeria nische Filmindustrie längst Hollywood überholt. Drogengeschäfte, Internetbetrug, höchstens vielleicht noch Öl: Das sind die Assoziationen, die Nigeria weckt. Doch das bevölkerungsreichste Land Afrikas ist auch Heimat einer der lebendigsten Filmindustrien. Die Unesco hat diese erst kürzlich zur zweitgrössten der Welt erklärt. Nach Bollywood, der indischen. Hollywood wurde längst – von der westlichen Welt praktisch unbemerkt – auf den dritten Platz verwiesen. 8
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Jeden Tag drei neue Filme «Nollywood», wie die nigerianische Filmindustrie vom amerikanischen Fernsehsender CNN benannt wurde, hat einen wöchentlichen Output von rund 20 Filmen. Das sind mehr als doppelt so viele wie in Hollywood. Es handelt sich dabei um eine Kreuzung zwischen Kino und Fernsehen. Die Low-Budget-Filme werden nicht in Kinos gezeigt, sondern zu Tausen-
schen Publikums treffen. Sie handeln von Familie, Liebe, Ehre, Reichtum, Öl, Aids, Aberglaube, Betrug, Korruption, dem Traum von einem besseren Leben. Die Devise bei der Produktion lautet: Quantität statt Qualität. «Nollywood; das sind billig und schnell produzierte Filme, die eher an Seifenopern als an Spielfilme erinnern», sagt der nigerianische Dokumentarfilmer Makin Soyinka, Sohn des ersten afrikanischen Literaturnobelpreisträgers Wole Soyinka. Nollywood wolle keine künstlerischen Ansprüche erfüllen, sondern in erster Linie unterhalten. So sind die Filme meist in weniger als sieben Tagen abgedreht; auf der Strasse, in Wohnzimmern, in Hinterhöfen. Eine kleine Amateur-Digitalkamera reicht, Regisseur und Schauspieler sind meist Laien, das Produktionsbudget beträgt oft kaum mehr als 15 000 US-Dollar. Verkauft werden die DVD’s anschliessend zu einem Stückpreis von 1 bis zwei Dollar.
Kein Land der genauen Statistiken Nollywood hat sich in den vergangenen 15 Jahren zu einer Industrie entwickelt, die rund 200 000 Menschen einen Arbeitsplatz bietet. Pro Jahr werden schätzungsweise zwischen 95 und 680 Millionen Euro umgesetzt. Wie viel es genau sind, weiss jedoch niemand. «Nigeria ist kein Land der genauen Statistiken», sagt Makin Soyinka. Sicher ist nur: Nollywood hat sich in Nigeria mittlerweile zum zweitgrössten Arbeitgeber nach der Ölindustrie entwickelt. Erfolgreiche Filmtitel verkaufen sich bis zu 200 000 Mal. Die Billigstreifen erreichen in Nigeria, das 150 Millionen Einwohner zählt, sowie der gesamten afrikanischen Diaspora ein Millionenpublikum. Sie flimmern über kenianische, ghanaische und kamerunische Fernsehsender. Längst sind die DVD‘s auch in Europa und den USA erhältlich. In Grossbritannien gibt es mittlerweile mehrere Spartensender, die rund um die Uhr Nollywood-Filme ausstrahlen.
den auf den Strassen verkauft und in den eigenen vier Wänden, mit Verwandten, Freunden, Nachbarn und Bekannten geschaut.
Unterhaltung für die Massen Seit Mitte der 90er Jahre überschwemmt Nollywood den schwarzen Kontinent mit Filmen, die den Nerv des afrikani-
Wilder Genre-Mix Dass die Filme ausserhalb der afrikanischen Diaspora bisher kaum auf Interesse gestossen sind, liegt einerseits an der technischen Qualität, andererseits an der Erzählweise. Nollywood hat eine eigene Art der Narration entwickelt, die für westliche Betrachter nicht einfach zu erschliessen ist. Charakteristisch sind laut Makin Soyinka das Tempo, die ausführlichen Dialoge, die vielen Nebenhandlungen und der wilde Genre-Mix: «Die meisten Filme sind nach demselben Muster gestrickt: ein bisschen Action, ein paar Elemente Horror- und Geisterfilm, etwas Drama und Schnulze, ein bisschen Zauberei und ein paar Komödieneinlagen.» Ein Film dauert durchschnittlich drei bis vier Stunden. Meist werden sie in einem Aufwisch gleich als Zwei- bis Dreiteiler produziert. Auch das ist typisch für Nollywood, sagt Soyinka: «Das spart Kosten.» ■ Die Politik 8 Oktober 2010
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Musik Musi k ma mach chtt mi mich ch au ausg sgeg egli lich chen en un und d glü glückl cklic ich. h. Di Die e Sin Sinfo foni nie e Nr Nr.. 9 «A «Aus us de derr Ne Neue uen n Welt» Welt » von Dv Dvor orak ak beg begle leit itet et mi mich ch se seit it Ja Jahr hren en.. Al Alss ic ich h zw zwöl ölff Ja Jahr hre e al altt wa war, r, ha habe be ic ich h Stück zum er das Stüc k zum erste sten n Ma Mall li live ve hör hören en dü dürf rfen en,, ge gesp spie ielt lt von ei eine nem m gr gros osse sen n or orch ches este ter. r. Die ko Die kont ntras raste te,, de derr sa sanft nfte e Üb Über erga gang ng vo von n tr trad adit itio ion n zu Mo Mode dern rne, e, be berü rühr hren en mei mein n He Herz rz und ge und gebe ben n mi mirr kr kraf aftt fü fürr mei meine ne Ar Arbe beit it.. Thérèse Meyer-Kaelin, Nationalrätin
Von der Konzeptlosigkeit zur Vorwärtsstrategie Das Klagen um fehlende Armeefinanzen hat Grenzen. Es ist zwar legitim, auf Mängel hinzuweisen, aber von der Departements führung des VBs und der Armeeführung erwarte ich mehr: Die Armee benötigt ein Entwicklungsziel, welches dem lähmenden Lavieren zwischen Vergangenem und Künftigem ein Ende setzt und einen klaren Kurs nach vorne vorgibt.
Die Armee befindet sich seit Längerem in der Übergangsphase von einem Instrument der Territorialverteidigung zu einem Instrument gegen vielfältige neue Gefahren. Im Vordergrund steht dabei der Schutz der Bevölkerung und der kritischen Infrastruktur. Dafür sind zahlenmässig umfangreiche Sicherheitskräfte für Überwachungs-, Bewachungsund Sicherungsaufgaben nötig. Die Armee operiert dabei im Verbund mit zivilen Partnern und unterstützt die zivilen Behörden (beispielsweise am WEF und der Euro 08). Weil eine terroristische Bedrohung viel wahrscheinlicher ist als ein herkömmlicher Krieg, sollte die Bereitschaft der Armee für solche Situationen erhöht werden. Dazu braucht es eine klare Definition, welche Leistungen die Armee im heutigen und im zukünftigen Sicherheitssystem zu erbringen hat. Nur so kann die notwendige finanzielle Alimentierung der Armee begründet werden. 10
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Integration im Sicherheitsverbund Parallel dazu bedarf es Klarheit darüber, welche Rolle die Armee im Sicherheitssystem der Schweiz einnehmen soll. Die Einsätze der Armee für den Schutz von Grossanlässen, ihre Bereitschaft bei Katastrophen und Bedrohungen der inneren Sicherheit sowie ihre Beiträge an die Friedensförderung sind keine sicherheitspolitischen Sündenfälle, sondern Ausdruck eines zeitgemässen Leistungsspektrums. Im Dialog zwischen Bund und Kantonen, und vor dem Hintergrund aktueller Gefahrenszenarien, ist nun ein Leistungsprofil festzulegen, das den tatsächlichen Bedürfnissen entspricht. Daraus folgen die Eckwerte für die Weiterentwicklung der Armee in Bezug auf Grösse und materielle Ausstattung. Wehrpflicht und Milizprinzip Die Wehrpflicht garantiert die Verankerung der Armee in der Bevölkerung. Allerdings bedarf es einer zeitgemässen Ausgestaltung derer. So ist ein massvolles Anheben des Durchdieneranteils keine Schwächung des Milizprinzips, sondern notwendig, um die Bereitschaft für überraschend eintretende Gefahren zu erhöhen. Gleiches gilt für eine zusätzliche Professionalisierung. Wir brauchen eine Armee, die schnell reagieren kann und die Durchhaltefähigkeit gewährleistet. Eine solche Armee erhält dann auch die Unterstützung der Politik, der Wirtschaft – und nicht zuletzt auch des einzelnen Wehrpflichtigen. ■ –Urs Schwaller, Präsident der Bundeshausfraktion CVP-EVP-glp
der Tipp
eIn leBen für mehr sozIale GerechtIGKeIt Elisabeth Blunschy-Steiner wurde 1971 in den Nationalrat gewählt. Sie war eine der «Frauen der ersten Stunde». Ich hatte das Glück, 1983 den Sitz neben ihr zu erhalten. In ihrem Engagement und im furchtlosen Vertreten der eigenen Meinung, fühlte ich mich ihr verwandt. Das Buch «Ein Leben für mehr soziale Gerechtigkeit» von Elisabeth BlunschySteiner und Heidi Gasser beschreibt in packender Weise ihr Schicksal. Sie wuchs als jüngste von vier Töchtern zuerst in Schwyz und dann in Lausanne auf. Der Vater war Bundesrichter. Ihre Jugend schildert sie als ausserordentlich behütet. Dass alle vier Töchter ein Studium ergreifen konnten, war unbestritten. Eine menschlich und beruflich erfüllende Ehe verband sie mit dem Schwyzer Rechtsanwalt und Politiker Alfred Blunschy. Drei Kinder erfüllten das Haus mit Leben. Dieser so begünstigt erscheinende Lebensweg erhielt später jedoch eine tragische Note. Elisabeth Blunschy erfuhr im Dezember 1972 in Bern, bei der Rückkehr von einer Kommissionssitzung, dass ihr Mann an einem Herzinfarkt gestorben sei. Ein Staatswagen mit Chauffeur brachte sie nach Hause. Sie schreibt: «Ich sass hinten und
wusste, dass ich noch zwei Stunden hatte, bis ich mich allen Problemen stellen musste… Trotz aller Trauer musste ich stark und gefasst sein und mein zukünftiges Leben neu organisieren.» Und es gelang ihr beides: der Familie vorzustehen und eine eindrückliche politische Karriere zu durchlaufen. Das Präsidium des schweizerischen katholischen Frauenbundes und später der Caritas Schweiz verschafften ihr wertvolle Erfahrungen, die in ihre Politik einflossen. Elisabeth Blunschy wurde im Mai 1977 die erste Nationalratspräsidentin, ohne Vorbereitungszeit. Ihr Vorgänger musste als neugewählter Staatsrat des Kantons Wallis sein Mandat und damit auch das Präsidium des Rates abgeben. Im Nationalrat engagierte sie sich unter anderem entscheidend bei der Revision der verschiedenen Teile des Familienrechts. 1985 setzte sie sich im Abstimmungskampf mit Herzblut für das revidierte Eherecht ein. Unvergessen ist für mich ihr Fernsehduell mit dem damaligen Nationalrat Christoph Blocher. Ihr Gegenspieler, selber auch Jurist, musste sich von der Kollegin immer wieder
korrigieren lassen. Die Abstimmung wurde gewonnen. Das Buch gibt in anschaulicher Weise Einblick in die vielen politischen Geschäfte, mit denen Elisabeth Blunschy während ihrer Jahre in Bern konfrontiert war. Es beschreibt aber auch auf bewegende Art, was sie erlebte, dachte, fühlte, worüber sie sich freute und was ihren Ärger hervorrief. Ist sie heute abgeklärt, weise? Ja, auch. Aber vor allem ist diese mutige starke Frau der Gegenwart zugewandt und beschenkte die Gäste an der Buchvernissage mit einem temperamentvollen Dankund Schlusswort! –Judith Stamm, alt Nationalrätin
Elisabeth Blunschy-Steiner/ Heidy Gasser ein leben für mehr soziale gerechtigkeit ISBN 978-3-905446-09-8 Albert Koechlin Stiftung AKS Luzern
ErnST IST DAS LEBEn… … heiter die Kunst. Den letzten Satz aus dem Prolog zu «Wallenstein» schrieb jemand, dem das Leben wirk lich nicht so glücklich, eben «ernst» mitspielte. Dies im Gegensatz zu seinem olympischen Seelenbruder. Die These wird heute aber von manchen Künstlern nicht geteilt: Kunst habe vielmehr «wahr» zu sein, «Missstän de» aufzudecken, «gesellschaftskritisch» zu sein. Heiterkeit, gar Schönheit, stehen bei modernen Künst lern eher unter Kitschverdacht. Kunst als Kompensation des tristen Lebens ist für sie nicht richtige Kunst, getreu
ihrem Motto: je hässlicher und schockierender, umso «wahrer». Schiller verstand dies anders. Kunst nicht als Flucht vor der Realität, sondern als Gegenwelt, als eigene freie Welt, die – in ihrer besten gelungenen Qualität – die Menschen zur Humanität bilden soll. Schönheit ist nicht Kitsch, sondern wahr, künstlerisch wahr. Schiller mutete der Kunst nicht weniger, sondern im Gegenteil viel mehr zu, als es die Moderne je wagen würde. Gerhard Pfister Die Politik 8 Oktober 2010
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Louis Bosshart
dIe Kunst der PolItIschen KommunIKatIon Bereits auf dem titel zu diesem Beitrag lastet schwer das Gewicht von drei für eine zeitgenössische Gesellschaft bedeutsamen Begriffen: Kunst, Politik, Kommunikation. sie sollen zuerst je einzeln vorgestellt werden, danach in ihrem komplexen Zusam menwirken. Kommunikation Kommunikation ist für Individuen, für soziale Gruppierungen, für ganze Gesellschaften Voraussetzung. Gesellschaft ist nur durch Kommunikation möglich, und deren Beschaffenheit bestimmt die Qualität von Gesellschaften. Dank der Medien hat sich der Beobachtungshorizont der Menschen erweitert. Die Kommunikation hat sich beschleunigt. Sämtliches Wissen steht in demokratischen Gesellschaften sozusagen allen Mitgliedern zur Verfügung. Die Kapazitäten der Datenspeicherung sind fast grenzenlos geworden. Wir leben in einer global vernetzten Welt. Wir haben den Übergang von der Industrie- zur Informations- und Kommunikationsgesellschaft vollzogen.
Kunst Der Begriff «Kunst» steht von der Bedeutung her in nächster Nähe zu Können, beziehungsweise zu Handwerk. Dieses Können ist in der Lage, ein Produkt zu schaffen, das seinerseits in der Lage ist, die Aufmerksamkeit eines Rezipienten mittels eines ansprechenden Ausdruckes (Gehalt und Gestalt) zu fesseln. Das Kunstwerk wird zum Vermittler von Symbolen, von Bedeutungsträgern, die entschlüsselt werden müssen. Wie kunstfertig auch eine Mitteilung ist, über die Entschlüsselung entscheidet der Empfänger. Die ankommende Nachricht ist stets ein «Machwerk» des Empfängers (F. Schulz von Thun). Das stellt letztlich hohe Anforderungen an die Kunst der politischen Kommunikation. Politik Politik meint die Kunst der Staatsverwaltung. Dabei geht es um die Gestaltung des Gemeinwesens, um das Handeln jener, die auf die Entwicklung des Gemeinwesens, auf seine Organisation hinwirken. Politische Kommunikation umfasst jenen Bereich der gesellschaftlichen Kommunikation, der für die Allgemeinheit verbindliche Entscheidungen zum Inhalt hat. 12
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Kunst, Politik, Kommunikation Politische Kommunikation findet primär in der Öffentlichkeit statt. Sie ist aber bis ins Mark mit Problemen behaftet. Bei der politischen Kommunikation geht es um den Austausch von Informationen und Meinungen zwischen Unbekannten. Das Publikum ist hochgradig heterogen. Es hat unterschiedliche Erwartungen, ist sehr selektiv in der Wahrnehmung und ist stark fragmentiert. Es befindet sich in verschiedenen Lagern, die Verteilung von Wissen ist sehr unterschiedlich. Die Vermittlungsinstanzen in der politischen Kommunikation, die Massenmedien, nehmen sich Reduktion von Komplexität zum Ziel. Die zunehmende Ökonomisierung der Medien führt zu einer fortschreitenden Konformität der Inhalte. Private und öffentliche Sphären fliessen nahtlos ineinander über. Angesichts der sehr wichtigen Rolle, die Massenmedien in hochentwickelten Gesellschaften spielen, ist es erstaunlich zu sehen, dass Massenmedien selber etwa so viele Probleme schaffen wie sie lösen. In Prozessen der Massenkommunikation ist die Aufmerksamkeit des Publikums ein sehr rares Gut. Es wird um sie gekämpft. Um die eigene Position im Wettbewerb zu verbessern, haben Anbieter Strategien entwickelt, die das Publikum anlocken und fesseln sollen. Es ist zwar eine wichtige Aufgabe der Medien, Realität abzubilden. Sie tun dies aber nicht im Massstab eins zu eins, sondern aus Raum- und Zeitmangel sehr selektiv. Die grössten Chancen, durch die Auswahlschleusen der Redaktionen zu kommen, haben Themen, die von kurzer Dauer, einfach und überraschend sind und ein grosses Potenzial in Richtung Personalisierung, Emotionalisierung und Betroffenheit haben. Bei derartigen Auswahlkriterien kommt es immer wieder zu Grenzüberschreitungen: Wichtiges muss Interessantem weichen, Alltägliches wird von Nichtalltäglichem überdeckt. Wie lässt sich in einem derartigen Wirrwarr ein Thema setzen, Aufmerksamkeit erregen und Zustimmung gewinnen, in
einem Umfeld das unter anderem von Schlagwörtern dominiert wird? Ein erster Schritt dürfte die Zielgruppenorientierung sein. Es wäre auf jeden Fall einen Versuch wert, in der Öffentlichkeitsarbeit klare Segmente zu definieren, die von für diese Segmente glaubwürdigen Kommunikatoren bedient werden. Diese Kommunikatoren sind in der Lage, die Sprache der Zielgruppe zu sprechen. Sie kennen deren Vokabular, Vorwissen und Motivation. Das bedeutet letztlich eine Anpassung, die eine möglichst verlustfreie Kommunikation erlaubt. Das bedeutet aber auch, dass Rezeptionsanreize geschaffen werden mit verständlichen und interessanten Aussagen. Eine Segmentierung der politischen Öffentlichkeitsarbeit verlangt die Ausbildung und den Einsatz von segmentaffinen Kommunikatoren. Ein erster Schritt in diese Richtung ist mit den Jung-Sektionen von Parteien bereits gemacht. Die Gesamtbevölkerung könnte aber noch nach weiteren Variablen segmentiert und bearbeitet werden. Die wohl beste Bestimmung von relevanten Zielgruppen dürfte das Internet bieten. Es kann sich an Wahlberechtigte wenden, an Sympathisanten, an Junge, an Nichtwähler oder an Medienschaffende. Auch inhaltlich lassen sich Schwergewichte nach Massgabe der Zielgruppen setzen. Obwohl bei der Internetkommunikation ein technischer Verbreitungskanal zwischen Kommunikator und Rezipienten geschaltet ist, kann via Internet eine persönliche Nähe zwischen den beiden suggeriert werden. Es lassen sich Onlinegemeinschaften bilden. Vor allem «social media» bieten die Möglichkeit, virtuelle Gemeinschaften zu schaffen, die Zugehörigkeitsgefühle und Motivation erhöhen können. Dialoge vermitteln den Eindruck der direkten Verbundenheit. In Webchats verläuft Kommunikation sozusagen zeitverzugslos. Online-Sprechstunden sind zwar sehr aufwendig, aber sie sind auch Möglichkeiten des direkten Kontakts mit WählerInnen. Chatten als eine Art Privatgespräch vermittelt «Kundennähe». Online-Medien können die Beziehungsebene zwischen Sendern und Empfängern im Vergleich zu den traditionellen Massenmedien deutlich stärken. Sie können in der politischen Kommunikation als direkter Draht zur Wählerschaft dienen. Die Kunst ihrer Beherrschung gehört also zu den Kompetenzen für Akteure in der politischen Kommunikation. Der Kunst der politischen Kommunikation ist mit dem Internet eine Spielwiese voller Innovation und Kreativität geschenkt worden. ■
louis Bosshart ist Professor für Kommunikationswissenschaft und Jour nalistik an der Universität Fribourg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Medien und Unterhaltung, Populärkultur, journalistische Berufsfeldfor schung, Medien und Politik sowie Individualkommunikation.
V E r B I n D L I c h
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icht, dass ich etwas dagegen haben kann, wenn ich «Sehr geehrte Damen und Herren» lese oder «Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter», aber da ich eine Frau bin, erlaube ich mir auszusprechen, was viele von uns denken: beschränken wir die kumulative Erwähnung der weiblichen Form doch hauptsächlich auf die Anreden. Sonst gefährden wir unsere Sprache.
Ausserdem hat Emanzipation nichts mit einem «Passagierinschiff» zu tun. Ich fahre seit jeher ohne «Führerinausweis», und das grosse «I» bei LehrerInnen empfinde ich nach wie vor als schreckliches Konstrukt. Um unser Potential angemessen zu würdigen, haben sich anlässlich einer Pressekonferenz zur Regierungsreform in Bern drei Herren die Mühe gegeben, jedes Mal von «Die Bundesrätin oder der Bundesrat» oder, «Die Bundespräsidentin oder der Bundespräsident» zu sprechen. Das ist wohlerzogen, aber kaum zum Zuhören. Eine Form reicht, es darf auch die männliche sein. Angesichts der Tatsache, dass wir in diesem Jahr eine Bundespräsidentin haben, im nächsten auch, und die Frauen in der Landesregierung die Mehrheit stellen, befürchten wir keine Wiedereinführung des Patriarchats. Ich zitiere aus der neuen Zivilprozessordung, Art. 47: Eine Gerichtsperson tritt in den Ausstand, wenn sie (…) b. in einer anderen Stellung, insbesondere als Mitglied einer Behörde, als Rechtsbeiständin oder als Rechtsbeistand, als Sachverständige oder als Sachverständiger, als Zeugin oder als Zeuge, als Mediatorin oder als Mediator in der gleichen Sache tätig war; c. mit einer Partei, ihrer Vertreterin oder ihrem Vertreter verheiratet ist oder war – und so weiter… Wir schauen zu bei einem Prozess, bei dem es nicht mehr um Emanzipation geht, sondern um schreibtechnische Verrenkungen. Ihn wieder zu stoppen, liegt an uns. Die Männer getrauen sich nicht. Verwenden wir unsere Energien in Sachen Gleichberechtigung sinnvoll und nicht dort, wo sie paranoide Züge annimmt. –Marianne Binder Die Politik 8 Oktober 2010
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Lucrezia Meierschatz, nationalrätin
MArK rOThKO «I was always looking for something more»
Römischkatholische, jüdische, buddhis tische, muslimische, protestantische und griechischorthodoxe Religionsführer trafen sich am 26. Februar 1971 in Hous ton, um an der Einweihung einer beson deren Kapelle, der Mark Rothko Kapelle teilzunehmen.
die rothko Kapelle in houston, im vordergrund die skulptur «Broken obelisk» von Barett newman.
Kunsthistoriker ziehen Parallelen mit Michelangelos Sixtinischer Kapelle in Rom oder mit der Matisse Chapelle du Rosaire in Vence, Südfrankreich, und doch liegt die Einzigartigkeit der Rothko Kapelle in ihrer wegweisenden Vorbildfunktion der interreligiösen Begegnung. Als Gründer des abstrakten Expressionismus, der sich auch von Michelangelos Werk inspirieren liess, schaffte der lettischamerikanischer Künstler Mark Rothko (1903–1970) eine okto14
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gonale Kapelle im Dienste aller Religionen. Sie vermittelt eine aussergewöhnliche Transzendenz. Vor allem aber verbinden und inspirieren die dunklen Wandbilder Menschen aus aller Welt. Obschon ausgehend von der Passion Christi schenken drei Triptychen und fünf weitere Wandbilder Raum, inneren Raum, der Menschen aller Religionen vertraut ist.
raum für inneren Dialog Vielleicht liegt in der starken Reduktion Rothkos Malerei, in der Abkehr vom starken und früher dominierenden Rot und Gelb, die Essenz der Verbindung der Religionen. Denn im dominierenden schwarz und kastanienbraun dieser Gemälde sowie in der räumlichen Tiefe der Architektur liegt das Verbindende. In dieser Kapelle ist die meditative Kraft, die von Menschen aller Religionen beschrieben wird, spürbar. Sie berührt und schafft Raum für den Dialog, auch für den inneren Dialog. Die Farbe schwarz darf nicht nur als Symbol des bevorstehenden Tod des Malers zu sehen sein, vielmehr wurde sie zu einer der reichsten Farben in seinem künstlerischen Schaffen. Seit Jahren suchte Rothko die Reduktion aufs Wesentliche. Die Verdichtung, das Spiel mit der Variation des Auftrages der ein und selben Farbe. Gerade dieses Spiel vermittelt in dieser Kapelle Ruhe, Tragik, Lichtquellen und Emotionen. Die Wandbilder haben eine meditative Aura, erscheinen zeitlos und intim. Sie verleihen diesem Raum der Religionen Harmonie, eine Ganzheit im Jungianischen Sinn und somit eine Fusion des Endlichen und Unendlichen. Sofern wir bereit sind uns einzulassen, ruft uns diese Kapelle an, sie fordert heraus, sie lädt ein, sich ins Bild hinein zu begeben, sie vermittelt Tiefe und erinnert uns daran, dass auch wir im steten Dialog und auf der Suche sein müssen – im Hier und Jetzt. Auch wir sind im politischen Alltag gefordert stets das Verbindende, das Kreative im Dienste aller zu suchen! ■
www.rothkochapel.org
OrTsTermine norbert Hochreutener, nationalrat
unTer dem HOcHsiTz in meinem garten. Der Bieler Künstler Gianni Vasari ist einer meiner Lieblingskünstler. Mir gefallen nicht nur seine knallig farbigen, abstrakten Bilder, sondern vor allem seine Holzskulpturen. Sie haben einfache Formen, bestechen aber durch starke und grelle Farben. Gianni Vasari stellt vor allem im Raum Biel und Bielersee aus, wo ich die Skulpturen im wunderschönen Garten eines Weinproduzenten in Ligerz entdeckt habe. Besonders ansprechend finde ich den Hochsitz. Er ist ein Zeichen dafür, dass man sich bei allem, was man tut und besonders bei der Politik, gelegentlich an einen erhöhten Standort begeben sollte, um den Überblick zu gewinnen. Sonst läuft man Gefahr, dass man stur ein Einzelziel verfolgt, ohne den Zu-
sammenhang zu sehen. Vom Hochsitz aus sieht man neue Entwicklungen, Risiken und Chancen, welche dieses Einzelziel als zu kostspielig, nicht mehr wichtig oder gar sinnlos erscheinen lassen. Wer sich in der Politik umgekehrt damit begnügt, alles von hoher Warte aus zu betrachten, wird an den Details scheitern. Man muss hinuntersteigen, um die Dinge genau zu sehen. Visionen sind nett und präsentieren sich schön. Was aber nicht konkret funktioniert, ist politisch wirkungslos. Der Jäger, der auf den Hochsitz hinauf und dann wieder auf den Boden hinuntersteigt, bleibt körperlich fit. Der Politiker der sich einerseits um den Überblick bemüht und sich andererseits um die konkreten Einzelheiten kümmert, bleibt geistig fit. ■
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AbsTimmungen
Föderalismus auf dem Prüfstand Die sogenannte steuergerechtigkeitsInitiative der sP verlangt eine massive Ein schränkung der Kantone bei der Festlegung ihrer steuertarife, indem sie eine Min destbesteuerung festlegt. Dies bedeutet, dass Kantone mit attraktivem steuerklima gezwungen sind, steuern zu erheben, die aufgrund des bestehenden Leistungs angebots sowie der jeweiligen steuerkraft des Kantons nicht erforderlich wären. Aus christlich-demokratischer Sicht ist es grundsätzlich unsinnig, Steuern zu erheben, für welche kein Bedarf ausgewiesen ist. Diese Forderung wird unweigerlich zu einer Erhöhung der Staatsquote führen, denn die betroffenen Kantone werden die zusätzlichen Gelder für ihre eigenen Zwecke bzw. die Verbesserung des Leistungsangebots einsetzen. Sie werden nach Möglichkeiten Ausschau halten, diese Gelder nicht in den eidgenössischen Finanzausgleich abzuführen. Die Initiative der SP ist darum eine Augenwischerei. Sie führt zu einer Erhöhung der Staatsquote, zu mehr Zentralismus sowie zu einem Wettbewerb, der über das Leistungsangebot und nicht über die Steuern geführt wird. Diese Entwicklung gilt es mit einem klarem Nein zu unterbinden. Sie widerspricht den christlich-demokratischen Prinzipien von Föderalismus und Subsidiarität.
Wirksames Instrument besteht Die SP-Initiative ist aber auch darum unnötig, weil in der Finanzpolitik die nötigen Massnahmen in den letzten 20 Jahren sachgerecht getroffen worden sind. Zum einen hat der Bund das Bundesgesetz über die Harmonisierung der direkten Steuern von Kantonen und Gemeinden erlassen und damit die Grundlage einer formellen Harmonisierung des Steuersys-
tems in der Schweiz gelegt. Auch wenn verschiedene Lücken in der Durchsetzung der formellen Steuerharmonisierung bestehen, hat sich dieser Erlass in den letzten 20 Jahren bewährt. Es besteht kein Anlass, neben einer formellen auch eine materielle Steuerharmonisierung einzuleiten. Mit der vom Volk mit grosser Mehrheit angenommenen Neugestaltung des Finanzausgleichs hat der Bund ein wirksames Instrument für einen fairen Ausgleich in unserem Land geschaffen. Die verschiedenen Instrumente verfehlen ihre Wirksamkeit nicht. Die Anreize für Geber- und Nehmer-Kantone sind richtig gelegt.
Keine Gleichmacherei Unser Land ist geprägt von verschiedenen Kulturen und Strukturen. Es besteht bis heute kein Anlass, diese Vielgestaltigkeit gegen die Gleichmacherei der SP einzutauschen. Die SP-Initiative verdient daher eine deutliche Ablehnung, denn sie führt zu einem markanten Abbau unseres föderalistischen Staatssystems, zu mehr Zentralismus und zu höherer Staatsquote und Steuerbelastung. ■ –Benedikt Würth, Stadtpräsident Rapperswil-Jona, Präsident CVP-Fraktion, Kantonsrat St. Gallen
höhere steuern für alle,
GESchWächTE
KAnTOnE nEIn zur sP-steuerInItIatIve am 28. novemBer 16
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glOssAr im zusAmmenHAng miT der sp-sTeueriniTiATive «Steuergerechtigkeitsinitiative»
Steuerharmonisierung/Steuerautonomie
Die sogenannte «Steuergerechtigkeitsinitiative» der SP will einen Systemwechsel in der Besteuerung natürlicher Personen in der Schweiz herbeiführen. Die Steuerhoheit der Kantone, und somit der Steuerwettbewerb unter den Kantonen und Gemeinden, sollen stark eingeschränkt werden. Zu diesem Zweck soll für Alleinstehende ab einem steuerbaren Einkommen von 250 000 Franken der Grenzsteuersatz der kantonalen und kommunalen Steuern zusammen auf mindestens 22 Prozent festgelegt werden. Ebenso soll für steuerbare Vermögen ab zwei Millionen Franken für Alleinstehende gelten, dass der Grenzsteuersatz der kantonalen und kommunalen Steuern zusammen in allen Kantonen mindestens 5 Promille beträgt. Für gemeinsam veranlagte Paare und Personen mit Kindern sollen die vorgeschlagenen Einkommens- bzw. Vermögensgrenzen erhöht werden können.
Die schweizerische Bundesverfassung sieht vor, dass der Bund Grundsätze über die Harmonisierung der direkten Steuern von Bund, Kantonen und Gemeinden festlegt. Von der Harmonisierung ausgeschlossen sind aber explizit die Steuertarife und die Steuersätze. Mit der Festlegung von national einheitlichen Mindestgrenzsteuersätzen missachtet die SP-Steuerinitiative die verfassungsrechtlichen Prinzipien der Steuerharmonisierung. Sie greift stark in die geltende Steuerautonomie der Kantone und Gemeinden ein. Würde die Initiative angenommen, könnten die Bürgerinnen und Bürger der Kantone und Gemeinden nicht mehr selber über die Höhe ihrer Steuern bestimmen. Womöglich würden dadurch Steuern eingezogen, welche für das angestrebte Angebot an öffentlichen Leistungen gar nicht benötigt werden. Die Initiative missachtet den bewährten föderalen, direktdemokratischen Aufbau der Schweiz.
Grenzsteuersatz
Steuerwettbewerb
Der Grenzsteuersatz gibt an, wie stark sich die Steuerbelastung verändert, wenn sich das steuerbare Einkommen bzw. Vermögen um einen bestimmten Betrag erhöht oder reduziert. Beispiel: Ein unverheirateter Arbeitnehmer verdient 70 000 Franken pro Jahr und bezahlt hierfür 6000 Franken Einkommenssteuer. Erhöht sich sein Einkommen um 5000 Franken auf insgesamt 75 000 Franken, so sind gesamthaft 6500 Franken Steuern zu bezahlen. Auf den Einkommenszuwachs von 5000 Franken entfällt somit eine zusätzliche Steuer von 500 Franken. Der Grenzsteuersatz beträgt folglich 10%.
Die Steuerautonomie der Kantone und Gemeinden führt in der Schweiz zum bestehenden Steuerwettbewerb. Diesen will die SP mit ihrer Steuerinitiative einschränken. Dank dem Steuerwettbewerb pflegen Behörden jedoch einen haushälterischen und verantwortungsvollen Umgang mit den Steuereinnahmen. Der Steuerwettbewerb ist generell für das tiefe Steuerniveau in der Schweiz verantwortlich. Er stärkt somit die Position der Schweiz im internationalen Standortwettbewerb.
Steuergerechtigkeit
Der Begriff der Steuergerechtigkeit ist politisch aufgeladen. Mit ihrer Steuerinitiative bezweckt die SP den bestehenden Steuerwettbewerb unter den Kantonen und Gemeinden einzuschränken. Für die Initianten ist Wettbewerb schädlich. Sie verkennen allerdings, dass gewisse Auswirkungen der Initiative mit der Forderung nach mehr Steuergerechtigkeit kaum vereinbar sind. 16 Kantone müssten bei Annahme der Initiative massive Steuererhöhungen vornehmen – auch bei den tiefen und mittleren Einkommen. Dies, weil davon auszugehen ist, dass gewisse Unternehmen und gut Verdienende die Schweiz verlassen würden. Den Randregionen, den kleinen und ländlichen Kantonen wird überdies die Möglichkeit entzogen, mit einer attraktiven Steuerpolitik Standortnachteile wettzumachen.
Finanzausgleich
Ein schrankenloser, ruinöser Steuerwettbewerb ist zu verhindern, darin sind sich alle einig. Hierfür existiert in der Schweiz allerdings bereits ein wirksames und ausreichendes Instrument, nämlich der Finanzausgleich. Dieser sorgt für eine gerechte Verteilung der Einnahmen und Ausgaben zwischen den Kantonen. Die Kernelemente des Finanzausgleichs bilden der Ressourcenund der Lastenausgleich. Mit dem Ressourcenausgleich soll sichergestellt werden, dass auch die ressourcenschwachen Kantone über genügend finanzielle Mittel verfügen. Diese erhalten sie von den ressourcenstarken Kantonen und vom Bund. Der Lastenausgleich auf der anderen Seite entschädigt die Kantone für unverschuldete und unbeeinflussbare Strukturlasten, insbesondere geografisch-topografischer oder soziodemografischer Art. Der Lastenausgleich wird ausschliesslich durch den Bund finanziert. Die SP-Steuerinitiative verlangt, dass diejenigen Kantone, welche ihre Steuern aufgrund der Initiative erhöhen müssen, einen Teil der entsprechenden Mehreinnahmen zusätzlich in den Finanzausgleich einzahlen. –Manuel Trunz Die Politik 8 Oktober 2010
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Schweizer Abstimmungspl
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lakate der letzten 100 Jahre
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Ivo Bischofberger, ständerat
aKtueller denn je Als der staatsschreiber, Dichter und staatskritiker Gottfried Keller am 18. Juli 1890 bestattet wurde, sah Zürich einen Leichenzug wie kaum je zuvor: Prächtige Kränze bedeckten den sarg, dahinter schritten ein Vertreter des Bun desrates, die gesamte Zürcher Regierung, die Abgeordneten von Kantons und stadtrat, die Professoren beider Hoch schulen, studenten und Vereinsvertreter sowie eine unüberschaubare Menge von trauernden. Wer Gottfried Keller – nicht zuletzt als politischen Akteur – kennenlernen will, muss seine Werke lesen, so zum Beispiel den autobiographisch geprägten Jugendroman ‹Der Grüne Heinrich› oder den Zeitroman ‹Martin Salander›.
Klarblick für das Land Mit dem ‹Grünen Heinrich› plante der Autor ursprünglich «einen traurigen kleinen Roman über den tragischen Abbruch einer jungen Künstlerlaufbahn samt einem zypressendunklen Schluss». Doch das daraus in zwei Fassungen entstandene autobiographische Epochenbild entpuppte sich zu einem Kultbuch einer bis ins kleinste Detail beobachteten Schweiz des 19. Jahrhunderts. Gottfried Keller beweist im Werk einen den Leser immer wieder verblüffenden, unsentimentalen Klarblick für sein Land. Obwohl das Buch gegen hundertfünfzig Jahre alt ist, spricht der Bildungs- und Entwicklungsroman Themen an, welche von verblüffender Aktualität sind und «aus dem Herzen der Gegenwart sprechen». Denn wenn wir den wegen seiner ärmlichen Kleidung (grüner Wams) als ‹Grüner Heinrich› benamsten Helden begleiten, sehen wir uns nolens volens stets mit aktuellen Fragen um Bildung, Erziehung, Chancengleichheit, Toleranz in Religionsfragen, sozialen und politischen Themen 20
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wie auch mit dem Innenleben von Wirtschaftslokalitäten – «lottrigen Werkstätten und kolossalen Prachtsgebäuden» – konfrontiert. All diese Erlebnisse lassen den Autor in einem Schreiben an seinen Verleger zum Schluss kommen: «[…] Die Lösung aller Wirren läge im Sprichwort: Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott! Gesunder ist es in unserer Zeit aber wohl: Nichts zu hoffen und das Mögliche selber zu schaffen, als zu schwärmen und nichts zu tun […].»
Aussen-Sicht auf die Schweiz Die Geschichte eines angeblichen Zeitgenossen Martin Salander, der zweimal aus dem Ausland wieder heimkehrt und in der Beurteilung der Schweiz quasi nun eine Aussen-Sicht mitbringt, findet ihren gedanklichen Ursprung in folgendem Erlebnis des Autors: An einer Rede zur Neutralität erklärte Kellers verehrter Gönner Alfred Escher, dass «der einzelne und auch jeder Staat nur dann selbständig, unabhängig, geehrt und geachtet werden könne, wenn sie sich eines wohlgeordneten Finanzstandes erfreuen können». Umgehend veröffentlichte Gottfried Keller eine Replik: «Es gibt in der Schweiz arme Kantone, die dennoch sehr ehrwürdig sind, und es gab zum Beispiel auch ein einzelnes Individuum namens Pestalozzi, welches sein Leben lang in Geldnöten war, sich auf den Erwerb gar nicht verstand, und dennoch viel wirkte in der Welt, und bei dem der Ausdruck, er verdiene keine Achtung, nicht ganz richtig gewählt gewesen wäre…» Es ist bei uns wie überall Kellers letzter Roman ‹Martin Salander› zeigt keinen weltfrohen Lebensglauben verschiedener früherer Bücher mehr, sondern am Schicksal des vertrauensvollen Protagonisten, der immer wieder betrogen wird, die Sorge um die Gefährdung der bürgerlichen Sittlichkeit, des individuellen Charakters und die politische Entwicklung im Umfeld des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses in der Schweiz. Dabei wird das Problem der Globa-
LESERBRIEFE
lisierungstendenz zum eigentlichen Leitthema. Welche Sorgen diese Entwicklung Gottfried Keller bereiteten, lässt sich wohl am besten mit der Szene gegen Ende des Romans verdeutlichen, wo Salanders Sohn Arnold quasi eine Schlussbilanz über die moderne Weltwirtschaftsordnung zieht und sie der Staatsordnung der Schweiz gegenüber stellt: «Ich habe, obgleich noch jung, ein ziemliches Stück von der Welt gesehen und das Sprichwort ‹C’est partout comme chez nous› würdigen gelernt. Wenn wir nun etwa in ein schlechtes Fahrwasser geraten, so müssen wir eben hinauszukommen suchen und uns inzwischen mit der Umkehrung jenes Wortes trösten: Es ist bei uns wie überall!» Oder wie sagt Martin Salander im Eingangskapitel doch: «Dies, was ich sehe, ist die Wahrheit, und nicht das was ich scheinbar weiss.» ■
Zwangspensioniert? Seit dem 1. Januar 2010 bin ich im Pensionsalter – was für ein Wort! Da ich mich nach wie vor fit fühle, gerne unter Menschen bin und auch die Herausforderung liebe, habe ich das Glück, bei meiner alten Firma einen freien Mitarbeitervertrag zu haben. So bin ich noch zu 40 bis 50 Prozent beschäftigt, kann mir die Stunden flexibel einteilen und stehe auch bei «Notfällen» zur Verfügung. Sicher geht es vielen ähnlich. Sie möchten ihr Pensionsalter selber bestimmen und so beispielsweise Jüngere in der Berufspraxis unterstützen, im sozialen Umfeld tätig oder weiterhin in den Arbeitsprozess eingebunden sein. Wenn ich die Argumente derjenigen analysiere, die gegen jede Erhöhung des Rentenalters sind, habe ich den Eindruck, Arbeit wäre generell etwas, das es zu bekämpfen gibt. Das gilt nicht für mich. Für mich ist Arbeiten etwas Schönes. Hinzu kommt, dass ich weiterhin einen gewissen Beitrag an die AHV leiste, was ich gerne tue. «Die Alten werden immer älter» steht in den Zeitungen, und eines Tages werden die Renten nicht mehr zu finanzieren sein. Es wäre daher wünschenswert, wenn man im Rentenalter, wenn jeder Arbeitnehmer selber mitbestimmen könnte, wann man aus dem Berufsalltag aussteigen möchte. Vielleicht habe ich einen Anstoss gegeben, dieses Thema zu überdenken. Für mich ist die momentane Situation jedenfalls perfekt und ich hoffe, dass sie es noch einige Zeit bleiben wird. Christiane Prokesch (Jahrgang 1945), Baden Ihre Meinung interessiert uns. Schicken Sie uns Ihre Leserbriefe an DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern oder redaktion@die-politik.ch oder diskutieren Sie auf der Website www.die-politik.ch über aktuelle Artikel.
Grincheux
Il ressort d’un sondage effectué récemment que 72 pour cent des suisses ignorent à quelle saison poussent les tomates et plus de la moitié d’entre nous ne sait pas quand a lieu la cueillette des cerises ou du raisin. Même si le fait de trouver toutes sortes de fruits et de légumes toute l’année sur les étals des magasins peut entretenir la confusion, nous avons une très grande marge de progression. Afin d’éviter que les suisses passent pour des idiots si un institut de sondage devait avoir l’idée de mener une enquête internationale et de faire des comparaisons – une sorte de BIOPIsA – voici une liste non exhaustive des fruits et légumes qui poussent en octobre: la pomme, la poire, le coing, le raisin, la châtaigne, le brocolis, le poireau, la carotte, la bette, le haricot, le chou, le navet, la laitue, la citrouille, le topinambour. Die Politik 8 Oktober 2010
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kinder und ihre kunst ernst zu nehmen, verlangt von uns die Bereitschaft, ihr Denken und Fühlen, ihre Ausdrucksformen mit einzubeziehen in die entscheidungen und lebensweisen im Alltag. Veronica Blöchlinger
KInder, Kunst+ co. Eigenes Wissen und Können weiterzugeben hat die Berner Künstlerin Veronica Blöchlinger dazu bewogen ein Künstleratelier für Kinder zu gründen. sie führt diese in das reichhaltige Experimentierfeld der Druckgrafik ein und ermuntert sie, ihren erfinderischen Geist auf spielerische Weise zu verwirklichen. Mit geeigneten Materialien wird ein Druckstock hergestellt, die Erfahrungen an der grossen Handpresse werden danach zu einem spannenden Erlebnis. Es entstehen Radierungen, Kaltnadelarbeiten, Linol- oder Holzschnitte und Lithografien. Das Drucken mit seiner technischen Vielfältigkeit eignet sich als elementares Mittel, Sinn für Formen, Materialien, Strukturen und Flächen zu entwickeln sowie Auge und Hand für die Gestaltung zu entdecken, auszubilden und die Wahrnehmung zu schärfen. Die anspruchsvollen drucktechnischen
Verbindungen fördern vernetztes Denken und wecken Neugierde. Die Anerkennung der Kunst von Kindern als ausserordentliche Künstlergruppe ist Veronica Blöchlinger ein grosses Anliegen. Immer wieder haben sich prägende Künstler des vergangenen und neuen Jahrhunderts mit der Kreativität von Kindern auseinandergesetzt, diese bewundert und sie als wichtige Inspirationsquelle für sich selbst zugelassen. ■ –Redaktion DIE POLITIK
In diesem Jahr feiert KInDER, Kunst+CO. sein 25jähriges Bestehen. 22
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ich lasse mich von der Frische und Unbekümmertheit von kindern bewegen und verzaubern. Veronica Blöchlinger
in meiner nun schon vieljährigen Fürsprache für die kraft und Schönheit von kinderkunst fühle ich mich nicht alleine. Sie ist ein verbrieftes Grundrecht der kinderkonvention. kinder haben Recht auf eine eigene kultur. Veronica Blöchlinger
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Kathy Riklin, nationalrätin, ehemalige Präsidentin der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur
KulturPolItIK Ist mehr als KulturverwaltunG Kulturpolitik darf nicht zur Verwaltungsmecha nik verkommen. Es braucht dazu mehr Visionen. Ich wünsche mir mehr Kultur! Kreative, lebendige, aktive, auch freche und schräge Kultur der Marke Schweiz, Suisse, Svizzera, Svizra! Dazu soll und muss ein demokratisches Land wie die Schweiz die Rahmenbedingungen schaffen und die Freiräume bereitstellen. Dies fordert auch die CVP in ihrem Kulturpapier. Der Staat darf sich nicht aus der Verantwortung für Kultur, für unsere Kultur stehlen. Er muss seinen Beitrag zur Kulturförderung und -vermittlung leisten. Dies gehört zu seinen Grundaufgaben: Staatliche Kulturförderung ist ein Beitrag zum freiheitlichen demokratischen Diskurs. Die Kulturpolitik des Bundes atmet den Geist des Kulturverwalters. Keine Visionen, keine Leuchttürme! Exzellenz ist für den Bundesrat anscheinend – auch in der Kultur – nicht das Ziel. Widersprüche sind umso evidenter. Der Architekt lebt lieber in einem Altbau, der staatliche Kunstförderer erlebt bei «zeitgenössischer Kunst den Aha-Effekt, der genau fünf Sekunden anhält» provozierte Pius Knüsel, der Direktor von pro Helvetia. Was läuft schief? Wo bleiben heute Schriftsteller wie Frisch und Dürrenmatt, Filmer wie Murer und Goretta? Es ist offensichtlich: Kunstförderung kann nicht wie die Subventionierung der Landwirtschaft funktionieren.
Füllhorn Kulturförderung? Und doch sind die Kulturschaffenden enorm empfindlich, wenn man es wagt, das Modell Pro Helvetia zu hinterfragen. Der Hirschhorn-Schock wirkt immer noch nach. Die vereinigte Kulturszene hatte sich im Dezember 2004 aufgebäumt und mit Hunderten von Schreiben protestiert, als der Ständerat das Pro Helvetia-Budget um 1 Million Franken kürzte, weil die Pseudopinkelei im Centre Culturel Suisse (CCS) in Paris zeitlich genau auf die BudgetDebatte im Ständerat fiel. Es entbrannte eine Diskussion darüber, wie frei Kunst sein darf, welche der Staat unterstützt und damit auch um die Freiheit von Pro Helvetia. Aus diesem Anlass der Politik Kulturfeindlichkeit zuzuschreiben ist ungerecht und billig. Nüchtern betrachtet ging es damals mehr um eine verpasste Chance, über die verschiedenen Rollen zu diskutieren und daraus auch Lehren für die Zukunft zu ziehen. Man hat dies aus meiner Sicht verpasst. Die Künstlerinnen und Künstler meldeten sich beim medial inszenierten Skandal omnipräsent zu Wort. Seither ist es wieder still geworden. Ich wünschte mir den Dialog der Kunstschaffenden mit den Politikerinnen und Politkern, offen, kritisch, kreativ. Künstlerinnen und Künstler, welche Stellung beziehen zu gesellschaftlichen Fragen und den Diskurs suchen! Denn die Freiheit der Kunst ist in einem eigenen Artikel der Bundesverfassung explizit festgehalten (Artikel 21). Sie wird von niemandem bestritten. ■
Die Hohe Schule mit den lektionen auf der erde und den lektionen über der erde, wie sie an der Spanischen Hofreitschule in Wien oder vom Cadre Noir in Saumur im Sinne der klassischen Reitkunst gepflegt wird, ist für mich Ausdruck einer gelebten kunstform im Zusammenspiel zwischen Mensch und Pferd, in welcher in vollendeter Art und Weise sowohl leichtigkeit und losgelassenheit wie auch Harmonie, Schönheit, kraft und Anmut untrennbar miteinander verbunden sind. Th Ma isse St ände Theo eo Mais sen, n, Stän dera ratt
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Brigitte HäberliKoller, Vizepräsidentin der Bundeshausfraktion CVP/EVP/glp, Mitglied des initiativkomitees «jugend+musik»
Geben wir der Musik den Stellenwert, den sie verdient!
Musik fördert die soziale Kom petenz und die Intelligenz junger Menschen. noch hat sie in der schweizerischen Bildungsland schaft allerdings nicht die ihr angemessenen Bedeutung. Das will die Volksinitiative «jugend+ musik», die in der vergangenen session behandelt wurde, ändern. Die eidgenössische Volksinitiative «jugend+musik» wurde am 18. Dezember 2008 mit 153 626 gültigen Unterschriften eingereicht. Sie will den Stellenwert der Musik in der Bildungslandschaft verbessern und fordert dazu: – dass Kinder und Jugendliche im obligatorischen Schulunterricht einen Musikunterricht erhalten, welcher der Qualität des Unterrichts in andern Fächern entspricht. – dass Kinder und Jugendliche Unterstützung erfahren, wenn sie sich an Musikschulen ausbilden lassen. – dass Kinder und Jugendliche mit besonderen musikalischen Begabungen gefördert werden.
sungsartikel für die Musik erhält der Bund die Kompetenz, die musikalische Bildung zu fördern. Damit geben wir der Musik den Stellenwert, den sie verdient. Da die Initiative nur die Festlegung von Grundsätzen vorsieht, bleibt die Bildungshoheit der Kantone unangefochten. Die konkrete Ausgestaltung wird durch den Lehrplan 21 vorgegeben. Musikalische Tätigkeiten sind einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen zuträglich. Gemeinsames Musizieren fördert die soziale Entwicklung und Integration der Kinder und Jugendlichen sowie die Entfaltung der Persönlichkeit. Musikunterricht unterstützt und beinhaltet Schlüsselqualifikationen der Volksschule. ■
Der Nationalrat sprach sich in der letzten Session mit 126 zu 57 Stimmen klar für das Volksbegehren aus und will die Initiative dem Volk ohne Gegenentwurf vorlegen.
Einen eigenen Verfassungsartikel für die Musik Mit dem Verfassungsartikel erhält die Musik einen eigenen Artikel in der Bundesverfassung – bei Sport und Film übrigens längst durchgesetzt. Die Sportförderung ist mit dem Verfassungsartikel «Jugend und Sport» beispielsweise bereits seit 40 Jahren in der Bundesverfassung verankert. Mit einem Verfas-
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Wolfram Obert
PreIs der wahrheIt Während einer Bundespressekonferenz zur Zeit der rotgrünen Regierung Gerhard schröders befragte ein Journalist in Berlin in einer aktuellen Fragestunde den Regie rungssprecher Béla Anda nach den schlussfolgerungen, die Bundeskanzler Gerhard schröder aus den sich abzeichnenden Haushaltslücken ziehen würde. Er erhielt folgende Antwort: «Der Bundeskanzler zieht die Konsequenz daraus, dass er dem Verfahren, so wie es in der Regel und auch hierbei geordnet abläuft, entsprechend seiner Aufgabe mit grosser sorgfalt, aber auch in Zuständigkeit des betreffenden Ressorts belassend, dass er diese Aufgabe weiterhin so wahrnimmt, das heisst, dass der Finanzminister entsprechend die Arbeiten so tut, die dann im Kabinett besprochen werden müssen und besprochen werden sollen.» (Nachrichtenagentur AP, Mai 2004)
Was wollte die Regierung ihren Wählerinnen und Wählern damit sagen und was durfte ein mündiger Wahlbürger darunter verstehen, fragt sich der politisch interessierte Betrachter. Rhetorik (Redekunst) ist die Lehre von der guten und wirkungsvollen Rede. Wichtigstes Kriterium der Lehre der Rhetorik ist es, ein bestimmtes Publikum gezielt durch einen (psychologisch) gesteuerten, sachlich einwandfreien und sprachlich beeindruckenden Vortrag zu überzeugen. Um das jeweilige Redeziel zu erreichen, sollen daher alle persönlichen und technischen Wirkfaktoren eingesetzt werden.
Feed-back Menschliche Kommunikation spielt sich in der Regel so ab, dass der Geber einer Nachricht sein Anliegen in erkennbare und nachvollziehbare Zeichen verschlüsselt. Der Nachrichtenempfänger kann normalerweise dieses Kommunikationsgebilde leicht entschlüsseln, wenn gesendete und empfangene Nachricht übereinstimmen. Idealerweise meldet der Nachrichtenempfänger die empfangene Nachricht zurück und gibt preis, wie er die Nachricht entschlüsselt hat. Dieses Vorgehen nennt man dann «feed-back». Wählerinnen und Wähler haben in der Regel erst über demokratische Wahlen die Möglichkeit, ihren Politikern zurückzumelden, wie sie die Botschaften einer Regierungsmannschaft in der vergangenen Legislaturperiode verstanden und verarbeitet haben. Und das geht mitunter für eine amtierende Regierung nicht immer gut aus, wenn breite Wählerkreise ihre Stimmen neu umschichten und politischen Akteuren anderer 26
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Parteien einen neuen Auftrag für eine andere Politik als bisher kommunizieren.
Angela Merkel und ihre kommunikative redlichkeit Politiker wissen in der Regel sehr genau um die Bedeutung einer politischen rhetorischen Kommunikation mit dem Inhalt der Klarheit, der Konkretheit und dem Auftrag der Unmissverständlichkeit politischer Botschaften auf der sachlichen Ebene für die Konsumenten derartiger Kommunikation. Allerdings lehrt die Erfahrung jeden politischen Akteur, wie teuer ihn ein solch redliches rhetorisch-kommunikatives Verhalten zu stehen kommen könnte. Wer wie Angela Merkel drei Wochen vor den Bundestagswahlen 2005 sich der Konkretheit der Botschaften gegenüber dem Wahlvolk in hehrer Absicht verpflichtet fühlt und die Menschen nicht im Unklaren darüber lassen will, was in der möglichen kommenden Regierungszeit geschieht, läuft grosse Gefahr, erhebliche Stimmenverluste hinnehmen zu müssen. Nicht nur ihre Ankündigung der Anhebung der Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozentpunkte, sondern auch weitere konkrete Hinweise darauf, welche Einschnitte in das soziale Netz und damit in das Portemonnaie jeder Wählerin und jedes Wählers bevorstünden, haben ihr und den Christdemokraten seiner
Zeit Woche für Woche vor der Wahl nachweisbar wertvolle Prozentpunkte für ein unabhängigeres Regieren gekostet. Die Wahrheit und die Konkretheit haben in der Politik offensichtlich ihren Wert, aber auch ihren festen Preis. So lautet nun die berechtigte Frage, ob politische rhetorische Kommunikation mitunter anderen Regularien unterworfen ist als diejenigen, die wir in der Kommunikationslehre und in modernen Kommunikationsmodellen kennen und als erkenntnissicher bemühen.
«Kannitverstan» Die Antwort ist ein klares «Nein», sie kommt aber für die gestellte Frage in zwei ausgeprägten Folgeerscheinungen daher: der Politik- und/oder Politikerverdrossenheit und den politischen Parallelgesellschaften von gewählten Mandatsträgern. Das kommunikative Sachziel politisch-rhetorischer Kommunikation sollte die Klarheit und Anschaulichkeit politischer Willenserklärungen sein. Unscharfe oder gar nebulöse Absichtserklärungen im politischen Raum bewirken, dass der Nachrichtenempfänger die politische Absicht nicht mehr zu entschlüsseln weiss. Häuft sich dieser Informations-gap zwischen Politikern und Bürgern, taucht alsbald der Begriff der Politik- oder gar der personalen Politikerverdrossenheit auf. Auf der Sachebene des rhetorisch-kommunikativen Meinungsaustauschs herrscht dann das grosse «Kannitverstan».
Parallelgesellschaften Mit einer weiteren beachtlichen Fehl- und Folgewirkung: Beim Thema Integration von Ausländern, besonders muslimischer Herkunft, tun sich Politiker in vielen europäischen Ländern schwer. Der Fall Thilo Sarrazin, SPD Mitglied und früheres Mitglied des Vorstandes der Deutschen Bundesbank, offenbarte in der heftigen Diskussion um seine Buchthesen über die Integration diese Tatsache. Unübersehbar wurde, wie weit die Meinungen der politischen Klasse und der Bevölkerung zu dieser Frage auseinander gehen. Auch in den heftigen Auseinandersetzungen zwischen Politik und Bevölkerung zum Hauptbahnhofprojekt Stuttgart 21 zeigen sich schwere Dissonanzen zu Einschätzungsprärogativen von Politikern gegenüber ihren Bürgern, unbenommen der Rechtmässigkeit rechtsstaatlicher und demokratischer Entscheidungsabläufe. Man kommt nicht umhin, den Gedanken der Parallelgesell-
schaften von Deutschen und Muslimen in Deutschland auf das Verhältnis von Bürgen und Politikern in Deutschland und anderswo zu extrapolieren.
Taktiken und Strategien in redeschlachten Wir stellten eingangs die Frage nach der Kunst der guten Rede und der Politik zu diesem Thema. Wir können die dargestellten Folgewirkungen im Missverhältnis der Kommunikation zwischen Politik und Bürgern noch um eine taktische Kommunikationsstrategie erweitern: Nicolas Sarkosy hat im finalen Rededuell um die Präsidentschaft der französischen Republik gezeigt, dass es ihm nicht um Klarheit und Anschaulichkeit von politischen Aussagen für seine Wählerinnen und Wähler in Frankreich ging. Dieses Ansinnen war nur schmückendes Beiwerk. Im Rededuell mit Ségolène Royal hatte er strategisch rhetorisch anderes verfolgt: Mit defensivem Auftreten und taktischem Abwarten auf einen entscheidenden emotionalen Fehler der Kontrahentin in dieser Debatte zu gewinnen, derart, dass die Franzosen offensichtlich nicht mehr über Inhalt und Themen und eine klare politische Aussage abstimmten, sondern darüber, wer in der Redeschlacht überhaupt der «Bessere» geblieben ist. Sarkosy hatte taktiert und blieb Sieger.
Fazit Es fragt sich also, hat die wahrhaftige rhetorische Kunst der Kommunikation hier tatsächlich obsiegt? Blieb hier vielleicht nicht doch ein Stück der Klarheit, Konkretheit und Unmissverständlichkeit von Sachaussagen zu Gunsten der Strategie auf der Strecke? Politische Kommunikation und Rhetorik sollten für Mandatsträger stets einen Auftrag haben: Stehe fest zu Deinen Aussagen, vertrete sie mit Würde und Glaubhaftigkeit, vermeide Unschärfen und zu grosse zeitliche Längen in der Kommunikation mit den Bürgern. Oder um es mit Martin Luther zu sagen: «Tritt fest auf, mach’s Maul auf, hör` bald auf.» ■
lic. iur. wolfram obert ist Rhetoriktrainer, Dozent für Kommunika tionsstrategien an der Universität Fribourg und war während vieler Jahre für die KonradAdenauerStiftung in Bonn und Dortmund tätig. Die Politik 8 Oktober 2010
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Barbara Zürcher, Direktorin HAUs FÜR KUnsT URi
maGIe der Kunst Was ist Kunst? Als Kuratorin in einem Haus für zeitgenössische Kunst wird man immer wieder mit dieser Frage konfrontiert. Wer sie beantwortet, setzt sich in die Nesseln! Wer sie stellt, muss damit rechnen, für naiv gehalten und brüsk abgewiesen zu werden. Warum aber verstört diese Frage? Was macht sie offenbar schwieriger oder unangenehmer als mutmasslich ganz ähnliche Fragen? – Was ist Gerechtigkeit? Was ist Liebe? Was ist Freiheit? – Auch hier fällt eine Definition schwer, dennoch hält man es für reizvoll, ja für eine nette intellektuelle Herausforderung, sich dem Definitionsspiel zumindest zu stellen. «Prinzessin ohne Reich» nennt Wolfgang Ullrich die Kunst und beschreibt mit dieser Metapher, wie schwierig zu definieren ist, was noch Kunst ist und was gerade nicht mehr. Seine historische Analyse des Begriffs Kunst zeigt, dass unsere Mühe bei der Beantwortung der Frage aus der Begeisterung für die Kunst selbst erwächst. Es ist gewissermassen eine ihrer Eigenschaften, uns sprachlos zu machen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts sah man die Kunstgeschichte weniger als eine «Geschichte des Könnens» denn als «Geschichte des Wollens». So befreite man die Kunst von der Er-
wartung, ähnlich der Technik oder Wissenschaft eine Fortschrittsgeschichte bieten zu müssen, was auch erst erlaubte, beispielsweise Skulpturen afrikanischer Stämme mit demselben Ernst zu betrachten wie ein barockes Deckengemälde. «Am Anfang war die Kunst: Da Menschen nie ohne sie gelebt haben, wissen sie nicht, was es bedeuten würde, auf die Kunst zu verzichten», schreibt Jean-Christophe Ammann. Die Neugier ist das alles Entscheidende. Wer nicht neugierig ist, den bestraft das Leben. Wer heute die Künste unter dem Gesichtspunkt betrachtet «Es gefällt mir/es gefällt mir nicht», den bestraft nicht weniger das Leben. Denn die Künste transportieren Inhalte, die anders nicht zu transportieren sind. Wir brauchen die Kunst, sie verschafft uns Einsichten in uns selbst und weist den Weg in übergreifende Zusammenhänge. Die Kunst schürt unsere Emotionen und Leidenschaften, sie konfrontiert uns mit der Schöpfung, mit unserer eigenen Fantasie, mit den Organen unserer eigenen Imagination, sie mobilisiert jene Kräfte in uns, die ein Verständnis von Welt schaffen. Der Angstschweiss, den diese Frage immer wieder auslöst, dient dabei als einer der stärksten Belege für die Magie der Kunst. ■
das haus für Kunst uri mit der ausseninstallationen von anastasia Katsidis (ausstellung «Im schatten der Pyramiden», herbst 2009). 28
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der Tipp
honecKers handschlaG – BezIehunGen der schweIzer lInKen zur ddr Der aus dem Kanton st. Gallen stammende Historiker Erwin Bischof beschreibt in seinem neuen Buch «Honeckers Handschlag» die sympa thien von schweizer Intellektuellen und linken Politikern zur totalitären DDR. Bischof untersucht die Beziehungen der Schweiz zur DDR auf staatlicher und privater Ebene. So kommt unter anderem der Besuch von SP-Präsident Helmut Hubacher und Peter Vollmer im Jahre 1982 bei Erich Honecker zur Sprache. Die Medien kritisierten damals diese Visite als «Wallfahrt nach Ost-Berlin» und bezeichneten sie als unpassende Anbiederung an ein totalitäres Regime. Dies umso mehr, als die ostdeutschen Kommunisten den Besuch propagandistisch gross herausstrichen.
nützliche Idioten Neben den Politikern aus SP und PdA (Kommunisten) unterhielten aber auch zahlreiche Intellektuelle gute Kontakte zur Diktatur hinter Stacheldraht und Mauer mit ihren Foltergefängnissen, dem Stasiterror und den toten Flüchtlingen an der Grenze. Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Karl Barth, Adolf Muschg und Kurt Marti, um nur einige zu nennen, besuchten den Staat und schrieben freundliche Berichte und Bücher darüber. Nicht umsonst spricht man deshalb vom «Verrat der Intellektuellen» während des Kalten Krieges. Um «vorhandene Vorurteile abzubauen», gründete die
Journalistin Klara Obermüller sogar die Gesellschaft Schweiz-DDR und führte zahlreiche Veranstaltungen in Schweizer Städten zugunsten der DDR und ihren Despoten durch. Diese Protagonisten betätigten sich somit nach dem bekannten Wort von Lenin als «nützliche Idioten» für einen Unrechtsstaat.
Bedrohung der Schweiz Gemäss Bischof bedeutete der sich humanistisch gebärdende Kommunismus für die Schweiz «eine reale fundamentale Bedrohung für die Unabhängigkeit und Demokratie» unseres Landes. Spionage und Unterwanderung der Universitäten durch marxistische Lehrer, das militaristische System des Warschauer Paktes und die Überfälle auf Ost-Berlin, Budapest und Prag waren für die Schweizer Bevölkerung deutliche Warnsignale zur Wachsamkeit. So blieb die PdA hier immer eine kleine Splitterpartei, zum Glück. Erinnern statt Vergessen Während die Bundesrepublik zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer
und der Wiedervereinigung die Schatten der Vergangenheit langsam aufarbeitet, ist dies in der Schweiz noch nicht der Fall. Die grosse Mehrheit hiesiger Historiker steht normalerweise den Linken nicht auf die Füsse. Zudem hat es die SP geschafft, dass bei ihren Exponenten die kritische Berichterstattung über ihre Fehlleistungen ausbleibt. Bischof widersetzt sich diesem Mainstream. Abwarten, wie hartnäckig er in den Medien totgeschwiegen wird. Aber man kann ja auch Bücher lesen, die in den Medien nicht empfohlen werden… Selber lesen ist immer eine gute Strategie. ■ (gp)
Erwin Bischof Honeckers Handschlag, beziehungen schweiz–ddr 1960–1990 Verlag interforum Bern, 2010 www.interforum-events.ch
8. Mai 2001. Das war der tag an dem ich als kantonsratspräsident in meiner Gemeinde Schänis empfangen wurde. Unsere Musikgesellschaft spielte zum ersten Mal den köbi Büchler-Marsch, den mein inzwischen leider verstorbene kollege, Guido tremp komponierte. Das Musikstück erinnert mich an diesen tag, an den empfang und an meine damaligen Gefühle. Köbi Bü Büch chler ler,, Na Nati tion onal alra ratt
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Barbara schmidFederer, nationalrätin
Bundesräte oder ParteIsoldaten? Im Jahre 1891 wurde zum ersten Mal ein nicht RadikalLiberaler in die Landes regierung gewählt. Der katholischkon servative Entlebucher nationalrat Josef Zemp gehörte einer Partei an, die fun damental gegen das Projekt der Eisen bahnverstaatlichung kämpfte. Just dieser Zemp erhielt als Bundesrat das Post und Eisenbahndepartement zugeordnet. Die Eisenbahnverstaatlichung wurde zu seinem Kerndossier. Die Radikal-Liberalen nahmen an, der ehemalige Oppositionelle werde sich damit genauso «die Finger verbrennen», wie sein Vorgänger Emil Welti. Doch eingebunden in die Regierung betrachtete sich der Pragmatiker Zemp nicht einfach als Vertreter der Konservativen, sondern als Landesmagistrat. Seine Loyalität zur Regierungsarbeit ging so weit, dass er bewusst nicht an den Fraktionssitzungen seiner Partei teilnahm. Unbeirrt führte er das Projekt der Bundesbahn im Sinne der Regierung weiter, entgegen der Opposition der eigenen Partei und entgegen dem anfänglichen Willen der Bevölkerung. Auf der Höhe seines Ruhms konnte Zemp, mit hoher Zustimmung von Volk und der eigenen Partei, das Projekt zu Ende bringen. Die Schweizerische Bundesbahn war geboren.
Aushängeschild der Partei Von den aktuellen Bundesrätinnen und Bundesräten zu erwarten, sie würden nach ihrer Wahl in die Regierung vollkommen auf Distanz zur eigenen Partei gehen, scheint vermessen. Bundesräte heute gelten als Aushängeschild einer Partei per se. Was aus parteipolitischer Sichtweise Sinn macht, darf staatspolitisch betrachtet jedoch hinterfragt werden. Verschiedene Bundesrätinnen und Bundesräte leisten sich heute medial wirksame Stellungnahmen, meistens nach Parteidoktrin und in Opposition zu ihren Kolleginnen und Kollegen. Die Netzwerkverschiebung weg vom Bundesrat, hin zur eigenen Partei, schadet am Ende allen. Die Regierung selber begibt 30
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Wörterbuch der Volksvertreter Bundesratskandidatin/Bundesratskandidat. der/die. Persönlichkeiten, welche ein Amt in der Regierung anstreben. Werden in mehrere Kategorien eingeteilt. 1. Favoriten. Prädestinierte. Erfüllen die Kriterien für das Amt in Bezug auf Kompetenz, Erfahrung, Geschlecht, Sprachregion. Wohlgefälligkeit. Politische Ausrichtung. 2. Repetenten. Diejenigen, welche bei jeder Vakanz auf dem Teppich stehen. 3. Selbstnominierte. Beleben damit ihren persönlichen Wahlkampf. 4. Retter der Nation. Sie wollen eigentlich nicht, empfinden sich jedoch als Opfer ihrer eigenen Unentbehrlichkeit, was zur Folge hat, dass sie bereit sind, sich für das Vaterland zu opfern, wenn es denn ruft. Meist ruft es nicht. 5. NichtKandidaten. Erklären ihren Verzicht, obwohl sie niemand gefragt hat. 6. Diejenigen Parlamentsmitglieder, zu welchen man sagt: «Du wärest ein super Bundesrat». Dazu gehören alle. 7. Diejenigen Parlamentsmitglieder, welche das selbst auch glauben. 8. Diejenigen Parlamentsmitglieder, welche das selbst nicht glauben. Nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Dazu gehört niemand.
sich in Abhängigkeit gegenüber dem Parlament. Das Parlament wiederum, das Aufsichtsorgan des Bundesrates, ist derart eng mit der Regierung vernetzt, dass eine objektive Kontrolle gar nicht mehr möglich ist.
Medienshow beenden Wollte man diesen Trend stoppen, gäbe es mehrere Möglichkeiten. Eine davon wäre, dass der Bundesrat in corpore die Medienshow stoppt. Eine weitere, dass eine gewählte Bundesrätin oder ein gewählter Bundesrat aus der Partei austritt. Diese Idee ist kaum mehrheitsfähig, aber sie würde dem Staat das zurückgeben, was ein Zemp noch gelebt hat. Eine unbeirrbare, selbstständige und vor allem strategisch unabhängige Regierung. ■
Zur Ästhetik eines Werbespots von der Bahnhofstrasse Die UBS sucht derzeit mit einer Werbekampagne etwas, was sich nicht kaufen lässt: Vertrauen. Zielgruppen, vermutlich: KMUs, Gewerbler, Privatkunden mit so unbedeutenden Vermögen, dass ihretwegen der arttypisch sich verhaltende Bahnhofstreet-Banker nicht einmal den Kaviarlöffel aus der Hand legt. Aber jetzt! Wir sehen Bilder von Stars: Ursula Andress, Claude Nobs, Denise Biellmann, Zoé Jenny, Le Corbusier, Russi, usw. Wir lesen die Botschaft: «wir werden nicht ruhen, bis Sie es sind.» Aha. Wir wären schon mit weniger zufrieden, zum Star reichts den meisten normal Arbeitenden eh nicht mehr, weil sie länger arbeiten müssen als sie leben dürfen. Es würde genügen, wenn die Zürcher Chefs ihren Filialleitern in der Provinz erlauben würden, Unternehmen zu stützen, Arbeitsplätze zu erhalten, statt ihnen die Kreditlimiten zusammen zu streichen. Ganz so, wie es regionale oder kantonale Banken machen. Aber das würde ja bedeuten, dass man die Renditemaximierung überdenkt,
dass man eine Unternehmenskultur des Vertrauens aufbaut, und dass man nicht immer meint, nur kurzfristige Gewinne seien auch gute Gewinne. Dass wenigstens ein Mitglied der Konzernleitung in einem zufälligen Moment des Nachdenkens, zum Beispiel beim Golfspielen, sich fragen könnte, ob und was denn eigentlich schief lief in den letzten Jahren. Und keine unglaubwürdige Versprechen macht oder Drohungen wie: «wir werden nicht ruhen.» Doch, bitte, Ruhe wäre schön! Eine ruhigere, dafür seriösere UBS genügte schon, statt Glorie zu inszenieren, die nur auf geliehenen Geldern basiert. Der Soundtrack zu den Bildern: eine Arie aus «Gianni Schicchi» von Puccini. Der Titelheld dieser Oper war ein Fälscher von Testamenten, zugunsten der eigenen Bereicherung – eine zusätzliche hübsche Freudsche Fehlleistung der Marketingstylisten. Vielleicht könnte die UBS nicht aufhören zu ruhen, ihre Werbung zu überdenken. Gerhard Pfister
Schweizer Genuss, der verzaubert.
Ausgewählte Früchte, beste Schweizer Milch und die sorgfältige Zubereitung sind das Geheimnis eines unvergleichlich-cremigen Genusses. Ganz frisch aus dem Glas:
Toni Himbeere von Emmi.
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«eines meiner liebsten Bilder ist ‹Mädchen, sich kämmend› von Hans erni. Das Gemälde erinnert mich an die Geburtsstunde unseres Museums ‹HAARUNDkAMM› in Mümliswil, dessen Präsidentin ich bin. einerseits ist es die Verbundenheit mit dem thema kamm, andererseits fasziniert mich an ernis Bild die Willensstärke, die diese junge Frau ausstrahlt.» Elvira Bader, Nationalrätin
Christoph Merki
musIK Ist nIcht vom Alle in der schweiz mögen Musik. Doch scheinen manche Musik nur als eine Art Feierabendvergnügen wahrzunehmen. Dabei ginge es doch darum, Musik in ihrer gesellschaftlichen Relevanz anzu erkennen, ihr auch entsprechende unter stützung angedeihen zu lassen. Ohne Zweifel: Erklärte Musikfeinde sind in der Schweiz selten wie Mondstaub. Kaum jemand wagt öffentlich kundzutun, dass ihn Musik kalt lässt. Es ist fast wie bei der Frage nach Gott: Nur ein ungeschickter Mensch leistet sich öffentlich Atheismus, Gottesleugner gelten als unheimlich. Bei der Musik ist es nicht anders. Wer sich für ihre Schwingungen unempfänglich erklärt, dessen Seele scheint verstockt. Ohnehin wird musiziert landauf, landab in der Schweiz. Die Kids haben Etuis mit der Aufschrift «I love music» und in SF DRS läuft «Musicstar». Dann gibt es auch noch Toni Brunner, den SVP-Präsidenten. Als der Rockmusiker Gölä vor einigen Wochen im «Blick» politische Parolen schwang, war Brunner sogleich zur Stelle und erwog öffentlich eine Kandidatur Göläs als Nationalrat.
CHRISTOPH MERKI (HG.) • MUSIKSZENE SCHWEIZ BEGEGNUNGEN MIT MENSCHEN UND ORTEN
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musikszene schweiz – begegnungen mit menschen und Orten Christoph Merki (Hrsg.) ISBN-10:3-0340-0942-9 Chronos Verlag, Zürich
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Und so bleibt die einzige Schlussfolgerung: Man muss in der Schweiz nur Musikerin oder Musiker sein. Und schon geht’s einem formidabel! Leider ist öfter das Gegenteil der Fall. Gewiss ist die Schweiz heute nicht mehr «ein Holzboden der Kultur», wie Gottfried Keller einst meinte. Viele Menschen setzen sich für Musik auch gesellschaftspolitisch ein. Aber es gibt falsche Freunde der Musik. Musizieren, meinen sie, sei etwas Grossartiges. Sie benutzen aber nicht das Wort «musizieren», sondern sagen «musigen». Und sie sind die ersten, die sich verweigern, wenn Musik auch mal ein paar Franken kosten soll. Sie halten nichts von staatlicher Pflege der Musik, sind gegen Zuschüsse an Musikinstitutionen und sie sagen gleichsam: Wir lieben Musik, also lasst uns sie nicht unterstützen! Musik, wer würde etwas anderes behaupten, darf nun auch Erholung sein und feierabendliches Vergnügen – nur ein Sektierer würde gegen das «Musigen» sein. Aber Musik muss auch mehr sein dürfen, sonst verniedlicht man sie. Einen Nerv treffen, Dringliches artikulieren: Ein Jazzmusiker, wie der Amerikaner Archie Shepp, protestiert mit wilden Saxofontönen gegen die Verhältnisse in Amerika; in gregorianischen Chorälen singen sich Benediktinermönche in die Gewissheit eines religiösen Weltbilds; Punkmusik gibt uns eine Ahnung von kompromisslosem Freiheitsdrang; in der Klassik gibt es Schicksals- und Verbrüderungssinfonien… Solche Musik rührt ans Tiefste. Und vielleicht ist es diese Art Musik, die manche Musiker auch hierzulande ein Leben lang im Steinbruch der Musik arbeiten lässt. Und sie empfinden das Wort «musigen» als Hohn. Auch für Hörer ist die existenzielle Seite von Musik zu entdecken. Und je mehr man sich auf die Musik einlässt, auch auf zunächst unverständlich anmutende Spielarten, desto mehr
Honni soit...
mond erhält man von ihr zurück. Man hört mit der Zeit plötzlich Dinge und Botschaften, die einem zuvor verborgen blieben. Dass es in der Schweiz eindrucksvolle Musikerinnen und Musiker gibt, hat nicht damit zu tun, dass hier alles rund laufen würde. Manche Musiker leben von der Hand ins Maul. Auch in der Musik gäbe es aber eine Standortförderung, die diesen Namen verdient. Musik ist das ernste Geschäft ernsthafter Menschen. Man sollte Musiker nicht als Genies hochjubeln und sie zugleich verachten als gesellschaftliche Leichtgewichte, Luftibusse. Musik ist nicht einfach da, sie wächst nicht von selbst wie das Gras. Sie wird geschaffen, macht viel Arbeit. Und man sollte ihr einen fruchtbareren Nährboden bereiten, als es ihn auf dem Mond gibt. ■ christoph merki ist Musiker, Kulturjournalist und Professor an der Zürcher Hochschule der Künste.
Kunst und
Politik … Politik – die Kunst des Möglichen? Also grenzenlos. Zweck heiligt Mittel. Geist? Taktik. … Politik: Die Kunst des Notwendigen. Dann Grundsätze, Eingrenzung, Überblick, Vernunft. Idealismus? Verantwortung.
Kunst … Kann ohne Kunst nicht sein-ausser-mit. … Sinn und Kunst Geschwister oder Kunstsinn? … Kkünstler Aauch Kkunst?
«Die kunst, die ich mag, ist für mich eng mit meinem Heimatkanton Appenzell-innerrhoden verbunden. ich komme kaum dazu Musik zu hören. Wenn ich mir aber doch einmal Zeit dafür nehme, dann sind es die volkstümlichen Stücke des engel-Chörli Appenzell, dessen Musiker ich zum teil persönlich kenne. Bei der Malerei sind es die landschaftsbilder des Appenzeller Malers Carl Walter liner, die mich besonders berühren. in seinen Bildern ist die kultur unserer Region spürbar.» Arth Ar thur ur Lo Loep epfe fe,, Na Nati tion onalr alrat at
EtymologieHilfe Kunst – Können. Kunnst nach? –Reto Wehrli
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VEnEDIG 2011:
EIn GrOSSErEIGnIS Für KUnST AUS DEr SchWEIz
Die Schweiz darf stolz sein auf die Kunst. Immerhin agiert hier in hoher Dichte eine höchst aktive Szene, davon sind ein gutes Dutzend Künstlerinnen und Künstler interna tional sehr bedeutend. Zu ihnen gehört seit etlichen Jahren auch Thomas Hirschhorn. Die Biennale in Venedig ist das älteste inter nationale Forum der Gegenwartskunst. Die Ausgabe 2011 wird für die Schweiz beson ders spannend sein. Schliesslich wurde die Zürcher Kuratorin Bice Curiger zur künstleri schen Leiterin der ganzen Ausstellung berufen. Um auf dieser Weltbühne zu bestehen, braucht es höchste Qualität und ein feines Sensorium für zukunftsweisende Haltungen. Vom Bundesrat als Fachgremium eingesetzt, haben die neun Mitglieder der eidgenössi schen Kunstkommission Andrea Thal vom Kunstraum «Les complices» in Zürich und Thomas Hirschhorn zur Vertretung der Schweiz ausgewählt. Denn seit einigen Jahren zeigt sich in der Kunst weltweit wieder eine verstärkte Auseinandersetzung mit Fragen der gesellschaftlichen Verantwortung. Thomas Hirschhorn hat mit seiner Generosität eine unverkennbare Position bezogen, von der aus eine jüngere Generation wie Andrea Thal ihre kritische Praxis in den Zwischenbereichen von Kunst, Theater und Debatten weiter führen kann. Dass sich das Bundesamt für Kultur vorbehalt los hinter dieses Zweierticket stellt, spricht für dessen Respekt vor Fachkompetenz und der Unabhängigkeit der Künste. Venedig 2011 bietet die Chance, die neuen Produktionen von Andrea Thal und Thomas Hirschhorn zu entdecken – auch für die Öffentlichkeit in der Schweiz. hans rudolf reust Präsident der Eidgenössischen Kunstkommission
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vOr 10 JAHren… Im Jahr 2000 setzte sich der Bundesrat verschiedentlich mit der schaffung einer zweistufigen Regierung auseinander. Dabei schwebte ihm eine Regierung mit Bundes rat auf einer oberen stufe und mit Minis tern auf einer unteren stufe vor. Diese soll ten die einzelnen Bundesratsmitglieder von zahlreichen Aufgaben entlasten. Im Früh ling 2000 beschloss der Bundesrat, dass die Gesamtzahl der Regierungsmitglieder 15 bis 20 Personen nicht überschreiten sollte. Ausserdem kam er zum schluss, dass die Realisierung des zweistufigen Re gierungsmodells mit einer Verstärkung des Bundespräsidiums verknüpft werden könnte. nach der Klausur vom 25. Oktober 2000 präsentierte der Bundesrat drei mögliche Modelle: –das stellvertretermodell (nur ein Regie rungsmitglied zweiter stufe; kein abge grenzter Zuständigkeitsbereich, sondern geschäftsbezogene Aufgabenverteilung) –das Vollgliederungsmodell (mindestens zwei Regierungsmitglieder zweiter stufe; vollständige unterteilung des Departe ments in Zuständigkeitsbereiche der Regierungsmitglieder zweiter stufe) –oder das schwerpunktmodell (ein oder zwei Regierungsmitglieder zweiter stufe; nur teilweise unterteilung des Departe ments in Zuständigkeitsbereiche der Regierungsmitglieder zweiter stufe) nach dieser Klausur teilte der Bundesrat mit, dass er als nächstes seinen Grundsatz entscheid über die Ausgestaltung einer zweistufigen Regierung vorbereiten wird. Zehn Jahre sind seither vergangen. Was wird in zehn Jahren sein? (ym)
AbsTimmungen
Hart, aber fair: Der Gegenvorschlag zur Ausschaffungsinitiative Am 28. november wird über die Eidgenössische Volksinitiative «für die Ausschaffung krimineller Ausländer» und den direkten Gegenvorschlag abgestimmt. Die Initianten wollen Ausländerinnen und Ausländer, welche straffällig geworden sind, ausschaffen. Zum Straftaten-Katalog zählen schwere Delikte, aber auch einfacher Diebstahl oder der missbräuchliche Bezug von Leistungen der Sozialversicherungen oder der Sozialhilfe. Der Ermessensspielraum der Behörden bei der Anordnung einer Ausschaffung soll gestrichen werden.
Was will der gegenvorschlag? Auch beim gegenvorschlag führen schwere straftaten wie mord, vorsätzliche Tötung, ver gewaltigung oder schwere Fälle von sozialhilfe missbrauch zu einer Ausschaffung. indem er auch die schwere Körperverletzung sowie Wirt schaftsdelikte in den Katalog aufnimmt, ist er jedoch konsequenter und geht damit sogar weiter als die initiative. im unterschied zu dieser werden jedoch verfassungsmässige und völker rechtliche prinzipien respektiert. ergänzt wird der gegenvorschlag mit bestimmungen zur integration.
zusammenfassend: Der Gegenvorschlag hat dasselbe Ziel wie die Initiative. Ausländer, die sich nicht an unseren Rechtstaat halten und schwere Straftaten begehen, sollen ausgeschafft werden. Im Gegenvorschlag ist der Strafenkatalog klar definiert, strukturiert und umfassender geregelt als in der Initiative. Im Gegensatz zur Initiative werden schwere Delikte und Bagatellfälle jedoch nicht vermischt. Der Gegenvorschlag wahrt die Verhältnismässigkeit. Diese ist ein Grundprinzip unserer Verfassung und schützt den Menschen vor Willkür. Mit der Initiative wird die Verhältnismässigkeit aufgehoben. Der Gegenvorschlag enthält Bestimmungen zur Integration. Eine vorausschauende Migrations- und Ausländerpolitik will mögliche Probleme wie Kriminalität präventiv verhindern.
deshalb: nein zur initiative, Ja zum gegenvorschlag, stichfrage: gegenvorschlag –Simone Hähni
Hart, aber fair
zum Gegenvorschlag Nein zur Ausschaffungsinitiative
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