Magazin der CVP Schweiz, Mai 2012

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Magazin fĂźr Meinungsbildung. Ausgabe 3 / April/Mai 2012 / CHF 7.80 www.die-politik.ch

TradiTion ManageMent des wandels 100 Jahre cVP erfolgsModell schweiz


inhalt

TiTel

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100 Jahre c grundrecht Volkskultur konserVatisMus schweiz schwiizertüütsch agrarPolitik energie traditionsbetrieb tracht

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OrTsTermin

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impressum

Herausgeber Verein DIE POLITIK redaktionsadresse DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern, Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail binder@cvp.ch, www.die-politik.ch redaktion Marianne Binder, Jacques Neirynck, Gerhard Pfister, Lilly Toriola, Philipp Chemineau, Rudolf Hofer gestaltungskonzept, illustrationen und layout Brenneisen Communications, Basel druck Schwabe AG, Muttenz inserate und abonnements Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail abo@die-politik.ch, Jahresabo CHF 52.–, Gönnerabo CHF 80.– näcHste ausgabe Juni 2012

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ediTOrial – Marianne Binder, Chefredaktorin

der nutzen alter gegenstände… …in seiner Studierstube hat Faust zu Recht beschäftigt. «Du alt Geräte, das ich nicht gebraucht, du stehst nur hier, weil dich mein Vater brauchte.» Als ehemals grosse staatstragende Bewegungen stehen auch CVP und FDP vor der Frage nach ihrer Rolle. Weichen sie zu stark von ihren Traditionen ab, verlieren sie ihre Identität, beharren sie allein auf ihren Wurzeln, verkennen sie aktuelle politische Gegebenheiten. Für die CVP heisst das, dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Konfessionen bei der Wahl der Partei nicht mehr die zentrale Überlegung bilden, ja sogar hemmend wirken können. Ebenso heisst es, dass gerade die Konfession oder das C – wie auch immer man es interpretiert – Gründe sind, bei der CVP zu bleiben. Doch Faust fällt auch zu diesem Dilemma etwas ein: «Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen. Was man nicht nützt, ist eine schwere Last.» Ich nehme an, er will damit sagen, dass die historische Mission der CVP – die Katholiken in diesen Bundesstaat einzuführen – ein tragender Teil ihrer Tradition ist. Ein anderer Teil hat sich jedoch daraus entwickelt und liegt in der Schweizerischen Identität selbst, welche die CVP als übergreifende Volksbewegung verkörpert: Föderalismus, Solidarität, Subsidiarität, soziale Marktwirtschaft. Mass und Mitte. «Nur was der Augenblick erschafft, das kann er nützen», meint Faust als Massnahme gegen unseren Wählerschwund im Weiteren und so müssen wir wohl wieder unbequemer werden. Wie zu Beginn. Auffallen. Provozieren. Nicht wir beissen uns die Zähne an den anderen aus, sondern sie an uns. Der Ausgleich zwischen den verschiedenen Forderungen muss unsere Position werden, nicht einfach Resultat einer Auseinandersetzung. Fehlt diese Position, verändert sich die Schweiz. Unser Erfolgsmodell. Eine POLITIK dem Thema Tradition zu widmen heisst, sich auf die Suche zu machen, was uns zusammenhält. «Im Innersten.» Dies in dem Jahr zu tun, in dem die CVP hundert Jahre wird, ist kein Zufall.

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Vor 100 Jahren wurde mit der Gründung der Schweizerischen Konservativen Volkspartei der Grundstein zur heutigen CVP Schweiz gelegt. Besser gesagt, einer der Grundsteine. Denn die Idee, auf der Basis der kantonalen Parteien der katholischen Bewegung eine nationale Partei zu gründen, kam schon früh nach der Gründung der Eidgenossenschaft auf. Bis es aber soweit war, dauerte es viele Jahre. Und die Diskussionen von damals prägen unsere Partei bis heute. Christophe Darbellay Präsident CVP Schweiz

Die Idee der Schaffung einer neuen nationalen Partei kam schon früh auf. Projekte und Hoffnungen gab es 1893, 1903 und 1908 – geklappt hat es dann vier Jahre später. Am 22. April 1912 wurde die Schweizerische Konservative Volkspartei im Unionssaal in Luzern gegründet. Die langen Geburtswehen brachten dann aber nicht nur eine neue Partei hervor, sondern lieferten auch gleich einige typische Merkmale mit, die unsere Politik, aber auch den Umgang bis heute prägen. Die Konservative Volkspartei hatte im Gegensatz zu den anderen bürgerlichen Parteien von Beginn an eine ausgeprägte soziale Ader. Die Weltanschauung sorgte für den Zusammenhalt der Partei, die Positionen waren dafür umso breiter gestreut. Mit der katholischen Soziallehre im Rücken brachten christlichsoziale Kreise das Prinzip der Solidarität ins Programm. Für die tiefe Verankerung des Prinzips der Subsidiarität sorgten die auseinanderdriftenden Interessen der Kantonalparteien und involvierten Verbände, und die ständige Suche nach dem vernünftigen Ausgleich bot sich bereits in den Verhandlungen als bestmögliche Option an.

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Damit nahm die Schweizerische Konservative Volkspartei die Ideen der modernen Christdemokratie, welche auf die 1940er Jahre zurückgehen, vorweg. Ziemlich genau 60 Jahre später verpasste sich unsere Partei einen neuen Namen und ein neues Kleid. «Politik der dynamischen Mitte», so lautete der Untertitel des ersten Aktionsprogramms der CVP von 1971. Damit wurde die einzigartige Position und Rolle unserer Partei unterstrichen: Die Mitte definiert sich nicht nur über die Position im Parteienspektrum, sondern auch über die politische Arbeit. Ich bin gerne Präsident einer Partei, wo der Mensch mit seiner Familie, die Arbeit und die Umwelt im Zentrum der Politik steht. Die ständige Abwägung der Interessen, der Ausgleich zwischen divergierenden Kräften und gleichzeitig die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung – das zeichnet uns aus. Und darin liegt bis heute unsere grösste Stärke: in der Schaffung von Rahmenbedingungen, die unser Land vorwärts bringen. In dieser Rolle – in der Mitte – gibt es nur ein Original. Seit 100 Jahren. ■


Anton Keller, alt Nationalrat

tradition Verbindet

Der gelegentlich geäusserte Vorschlag, vom C im Parteinamen abzurücken, würde die CVP ins Abseits führen. Denn das traditionelle C stiftet, wie nichts anderes, Identität. Es ist das Markenzeichen, in dem sich die Mitglieder erkennen. Es müsste nur dann aufgegeben werden, wenn es nicht als Verpflichtung empfunden würde.

Festschrift zu 100 Jahre CVP Die CVP Schweiz – 1912 als Schweizerische Konservative Volkspartei (KVP) gegründet – feiert dieses Jahr ihr 100-JahrJubiläum! Nebst regelmässigen Beiträgen zur Geschichte in den kommenden Ausgaben, gibt DIE POLITIK zu diesem Anlass im Herbst eine Festschrift heraus, bei der Sie als Leserinnen und Leser aktiv an der Entstehung teilhaben können. Haben Sie Fotos, Tonaufnahmen oder Schriftzeugnisse, die die Geschichte der CVP Schweiz dokumentieren? Oder möchten Sie einen Artikel über einen Aspekt unserer Entstehungsgeschichte oder über eine herausragende CVP-Persönlichkeit schreiben? Dann wenden Sie sich an die Redaktion der POLITIK (E-Mail: redaktion@die-politik.ch, Tel: 031 357 33 33). Redaktion DIE POLITIK

Was ist das C? Es drückt weder Frömmelei noch Anmassung aus. Es ist nicht Ausdruck eines diffusen Christentums. Dieses C ist politisch. Es beruht auf der christlichen Soziallehre, insbesondere der Enzyklika rerum novarum von 1891. Es meint eine ganz bestimmte gesellschaftliche Zusammengehörigkeit, die sich auf die drei Säulen Freiheit, Solidarität und Subsidiarität abstützt. Diese Prinzipien in die Praxis umzusetzen, ist der traditionelle Auftrag der CVP. Dieses C heisst Volkspartei sein, das heisst Einbindung aller Volksgruppen, das heisst Einsicht, allen Volksgruppen zu ihrem Recht innerhalb des Volksganzen zu verhelfen, und zwar gemeinsam. Zu meiner besten Zeit in Bern arbeiteten führende Köpfe in der Fraktion auf dieses Ziel hin. So denke ich etwa an den Aargauer Ständerat und Wirtschaftsvertreter Binder, der sich voll hinter ein Arbeitnehmeranliegen stellte, wenn man ihn von der Wichtigkeit dieses Anliegens für die entsprechende Gruppe überzeugte. Ich denke an den wirkungsvollen Förderer der Bergkantone Dumeni Columberg, den man aber mit Erfolg auch für städtische Fragen ansprechen konnte. Ich denke an den Landwirt Josef Kühne, der beispielsweise das neue Gesetz über die berufliche Vorsorge der Arbeitnehmer als Sprecher der Fraktion mit Überzeugungskraft vertrat. Ich denke an die beiden Luzernerinnen Josi Meier und Judith Stamm, welche die Anliegen der Frauen mit grossem Erfolg in der männerlastigen Fraktion vertreten haben. Ich denke an den Genfer Jean-Philipp Maître und sein effizientes Engagement für den Ausgleich der Interessen in der Fraktion. Zwar blieb jeder in einem gewissen Sinne Interessenvertreter. Das Ringen um Lösungen in der Fraktion war intensiv, auch schmerzlich, weil gemeinsame Lösungen immer auch Verzicht bedeuteten mit Blick auf die Interessengruppe, der man primär angehörte. Jeder musste bei Gelegenheit über seinen Schatten springen. Aber es waren tief befriedigende Augenblicke, wenn sich die Fraktion gemeinsam hinter ein bestimmtes Anliegen mit grosser Geschlossenheit stellen konnte, sei es eines der Bauern, der KMU, der Industrie, der Arbeitnehmer. Da entfaltete das C seine Strahlkraft. Für mich sollte die CVP jene Volkspartei sein, wie ich sie oben skizziere. Als Vertreter des christlichsozialen Lagers erlaube ich mir insbesondere die Frage, ob es für die Partei nicht erfolgversprechend wäre, über den Stellenwert der Arbeitnehmer in der CVP vertieft nachzudenken. ■ Die Politik 3 April/Mai 2012

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Pirmin Bischof, Ständerat

Weg miT dem Bankgeheimnis

oder doch nicht?

«Hausdurchsuchung bei Blocher», «Hat Blocher das Bankgeheimnis verletzt?», so und ähnlich titelte die Presse kürzlich, als die Zürcher Staatsanwaltschaft gegen einen der reichsten und einflussreichsten Schweizer ein Strafverfahren eröffnete. Abgesehen vom «Promi»- und «Crime»-Effekt: Was geht uns dieser Fall an? Was ist schon dabei, wenn man das Bankgeheimnis verletzt? Ist es nicht sowieso tot? Ganz und gar nicht! Das sagt die CVP und plädiert dafür, das Bankkunden- wie auch das Arzt- und das Anwaltsgeheimnis nicht verludern zu lassen, sondern diese Pfeiler unserer Privatsphäre zu verteidigen und strafrechtlich besser zu schützen. Mit grossem Getöse wurde die Frage diskutiert, ob Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand hätte einschreiten müssen, als seine Ehefrau einen Dollarkauf tätigte. Die Meinungen waren geteilt. Hildebrand trat zurück.

Was ist geschehen? Im Schatten blieb lange die Frage, warum der «Fall» an die Öffentlichkeit kam. Inzwischen wissen wir, dass ein Bankmitarbeiter die Kundendaten des Ehepaars Hildebrand in der Bank heimlich gestohlen und Exponenten der grössten schweizerischen Partei diese gestohlenen Daten an die Bundesbehörden und ein nahestehendes Presseorgan weitergaben. Im Gegensatz zum obigen Dollarkauf ist die Verletzung des Bankgeheimnisses ein schwerer Straftatbestand, der mit Gefängnis bis zu drei Jahren geahndet wird. Die Staatsanwaltschaft hat deshalb Einvernahmen und Hausdurchsuchungen bei den Verdächtigen vorgenommen. Richtigerweise behandelt sie dabei Milliardäre gleich wie «normale» Schweizerinnen und Schweizer. Und pikanterweise handelt es sich dabei um Exponenten der gleichen Partei, die seit Jahren vorgibt, das Bankkundengeheimnis zu schützen und es sogar in der Verfassung verankern will. Mit Recht verurteilte die gleiche Partei noch vor kurzem scharf, dass die deutsche Regierung gestohlene Schweizer Bankkundendaten erwarb und verwendete. Die Reaktion folgt nun postwendend: Die deutsche Finanz6

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presse empfiehlt der Schweiz hämisch, nie mehr Deutschland wegen der Verwendung gestohlener Bankdaten zu kritisieren, da nun ja Exponenten der grössten schweizerischen Partei das gleiche täten. SVP-Vizepräsident Christoph Blocher (im Email-Verkehr der Exponenten «Chef» genannt) bestritt zunächst, gestohlene Bankdaten verwendet zu haben, wurde dann von Journalisten auf zunehmende Widersprüche angesprochen und erklärte sein Handeln schliesslich mit den Worten: «Wir lügen ja den ganzen Tag.»

geharnischte reaktionen Fachleute reagieren entsetzt. «Durch den Datenklau ist ein schwerer Schaden für den Finanzplatz und die politischen Institutionen generell entstanden», meinte Economiesuisse-Präsident Gerold Bührer. «Ein Datenklau ist das Schlimmste, was einer Bank passieren kann», bekräftigte Christoph Gloor, der Vizepräsident der Vereinigung Schweizerischer Privatbankiers. Und selbst die sonst so zurückhaltende «Neue Zürcher Zeitung» fragt: «Hat Christoph Blocher…gelogen? Diesen Fragen muss sich der starke Mann der SVP stellen, zumal es ihm als gewesenem Justizminister schlecht anstünde, mit entwendeten Bankdaten zu hausieren.» Die NZZ fordert: «Die Verantwortlichen sind für allfällig straf- und medienrechtliche Verfehlungen schonungslos zur Verantwortung zu ziehen. Das gilt insbesondere für Christoph Blocher selbst.»


Braucht es ein Bankgeheimnis? Die schweizerische Form des Bankgeheimnisses ist ein Bankkundengeheimnis. Geschützt ist nicht die Bank, sondern die Bankkundin. So ist es auch mit dem Arzt- und dem Anwaltsgeheimnis: Geschützt ist nicht der Arzt oder die Anwältin,

sondern deren Patientin und deren Klient. Sie werden davor geschützt, dass mit ihren privaten oder sogar geheimen Daten Schindluderei getrieben wird. Es geht meine Nachbarn nichts an, welche Krankheiten ich habe und welche Medikamente ich nehme. Es geht die Zeitung nichts an, welche Unterhaltsstreitigkeiten ich mit meinem Exmann habe. Und es geht meine Vereinskollegen nichts an, welches Bankkonto ich geerbt habe. Ausser ich sage es ihnen. Das Bank-, das Arzt- und das Anwaltsgeheimnis haben also nichts mit Steuerhinterziehung zu tun, obwohl es dafür missbraucht werden kann. Die Missbräuche sind zu bekämpfen, aber das Geheimnis ist konsequent gegen Verletzungen zu schützen. Der Anspruch auf Privatsphäre ist nichts Böses, auch nichts Anrüchiges, sondern ein wesentliches Grundrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat. Aus diesem Grunde werden Ärzte, Anwälte und Bankangestellte, also die besonderen «Geheimnisträger» strafrechtlich verfolgt und und mit Gefängnis bestraft, wenn sie solche privilegierten Informationen ihrer Patienten, Klienten und Bankkunden verraten. Zu Recht! Und bestraft wird zu Recht auch, wer ihnen dabei hilft oder sie dazu anstiftet.

empfindliche Löcher im Bankgeheimnis Ereignisse der letzten Monate wie der Fall Blocher/Hildebrand, aber auch die gestohlenen Bankdaten-CDs, die in Frankreich und Deutschland aufgetaucht sind, haben nun aber gezeigt, dass der strafrechtliche Schutz des schweizerischen Bankgeheimnisses empfindliche Lücken aufweist. So bestraft Artikel 47 des Bankengesetzes zwar die Geheimnisverletzung durch einen Mitarbeitenden der Bank, ebenso die Anstiftung, den Anstiftungsversuch und die Gehilfenschaft, nicht aber die Weitergabe, Verwendung und Publikation der gestohlenen Bankdaten. Ähnliches gilt für die Verletzung des Fabrikationsund Geschäftsgeheimnisses, den wirtschaftlichen Nachrichtendienst und die unbefugte Datenbeschaffung. Artikel 160 des Strafgesetzbuches bestraft zwar die Hehlerei. Diese umfasst aber nach Lehre und Rechtsprechung nur körperliche «Sachen», nicht aber elektronische Daten. Das unbefriedigende Ergebnis: Heute bleiben Hehler und andere Mittelsmänner bei Datendiebstählen oft straflos. Im strafrechtlichen Schutz der Privatsphäre, aber auch der schweizerischen Wirtschaftsordnung, klaffen damit empfindliche Lücken. Die CVP fordert deshalb in einem neuen Positionspapier und mit gleichzeitigen Vorstössen in der Frühjahrssession in National- und Ständerat den Bundesrat auf, die heutigen Lücken bei der Strafbarkeit der Weitergabe, Verwendung und Publikation von unrechtmässig erworbenen Daten, insbesondere Arzt-, Anwalts- und Bankdaten, zu schliessen und ein kohärentes Schutzsystem vorzuschlagen. ■ Die Politik 3 April/Mai 2012

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David Vitali, Leiter der Sektion Kultur und gesellschaft, Bundesamt für Kultur

die schweiz lebt ihre traditionen

Das Bundesamt für Kultur hat in Zusammenarbeit mit den Kantonen eine Liste der Schweizer Traditionen aufgestellt, die einzigartig und typisch für unser Land sind. Diese Liste gewährt einen Einblick in den erstaunlichen Reichtum der Schweizer Volkskultur. Ein detailliertes Inventar dieses kulturellen Erbes, begleitet von wissenschaftlichen Kommentaren und aussagekräftigen Bildern, wird im Sommer 2012 vom Bundesamt für Kultur veröffentlicht. Im Jahr 2008 hat die Schweiz die Unesco-Konvention zur Bewahrung des immateriellen Kulturerbes ratifiziert. In diesem Zusammenhang verpflichtete sie sich dazu, ein Inventar des immateriellen Kulturerbes in der Schweiz zu erarbeiten. Konkret handelt es sich um eine Liste mit den «Lebendigen Traditionen», jenen Bräuchen also, die fester Bestandteil des täglichen Lebens in unserem Land sind. Ziel der Inventarisierung ist es, die Anerkennung, Aufwertung und Bewahrung des immateriellen Kulturerbes zu fördern. Ein Eintrag in der Liste der lebendigen Traditionen der Schweiz ist Voraussetzung für einen Eintrag in den internationalen Unesco-Listen des immateriellen Kulturerbes. Das Bundesamt für Kultur hat dieses Inventar zusammen mit den Kantonen erarbeitet, da diese den regionalen Traditionen am nächsten stehen und somit unerlässliche Partner bei der Erfassung der lebendigen Traditionen sind. Ende Mai 2011 präsentierte das Bundesamt für Kultur die 387 lebendigen Traditionen, die von den kantonalen Kulturstellen für eine Einschreibung in eine nationale Liste vorgeschlagen worden waren. Eine Expertengruppe hat unter diesen Vorschlägen nun 167 lebendige Traditionen für das Bundesinventar ausgewählt. Das Inventar wird im Sommer 2012 in Form einer Webseite mit Kommentaren und Illustrationen veröffentlicht. In der Folge wird eine Auswahl dieser Traditionen bei der Unesco eingereicht, damit sie neben dem Argentinischen Tango in der Unesco-Liste erfasst werden können.

Was sagen diese Traditionen über uns aus? Die Auswahl der für diese renommierte Unesco-Liste vorgeschlagenen Traditionen wurde von intensiven und leidenschaftlichen Debatten begleitet: Was zeichnet uns wirklich 8

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aus? Welches kulturelle Bild der Schweiz soll die Liste vermitteln? Wie kann sie der kulturellen Vielfalt der Schweiz gerecht werden? Die Steuerungsgruppe achtete besonders auf die ausgewogene Präsenz von lebendigen Traditionen aus allen Regionen und aus allen Bereichen des immateriellen Kulturerbes. Traditionen mit nationaler oder überregionaler Ausstrahlung wie der Jodel oder die Fasnacht wurden primär in ihren lokalen oder regionalen Verankerungen und Varianten erfasst, so wie es der föderalistischen Struktur des Landes entspricht.

Verbundenheit mit dem Brauchtum In der nun vorliegenden Auswahl liegt der Schwerpunkt auf dem Brauchtum. Dies zeigt, dass immaterielles Kulturerbe vor allem mit der Bedeutung von Ritualen und der Sinnlichkeit von Festen verbunden ist. Hingegen sind alltägliche Traditionen wie zum Beispiel die spezielle Art und Weise des Obstbaus im Kanton Aargau in der Auswahl nur vereinzelt zu finden. Auch das traditionsreiche handwerkliche Wissen und Können ist noch nicht hinreichend vertreten. Die Liste ist jedoch als Beginn eines Prozesses, nicht als dessen Abschluss zu verstehen. Sie kann in Zukunft erweitert und ergänzt werden. schwerpunkt der kulturförderung des Bundes 2012–2015 Die Erstellung der Liste steht im Zusammenhang mit dem Schwerpunkt «Lebendige Traditionen» in der Kulturförderung des Bundes. Mit verschiedenen Projekten beleuchten das Bundesamt für Kultur, die Stiftung Pro Helvetia, die Schweizerische Nationalbibliothek und das Schweizerische Nationalmuseum die Bedeutung regionaler und traditioneller Kulturformen für das gesellschaftliche und künstlerische Leben in der Schweiz. ■


lebendige traditionen in der schweiz Fronleichnamprozession in appenzell ai hürnen und mazza cula gr patois jurassiens ju luzerner herrgottskanoniere lu marche commémorative de la révolution du 1er mars 1848 ne wilderergeschichten nw alpverlosung ow bauerngarten in osterFingen sh appenzeller witz und satire ar-ai glarner orchester- und chorwesen gl und deutschschweiz haute horlogerie vd und ge, ne, ju, be, so, sh historische beFreiungsmythen lu-ur-sz-ow-nw-zg bauernmalerei rund um den säntis ai-ar-sg dreikönigs- und sternsingen in graubünden und tessin gr und ti greiFlet sz maskenschnitzen und Fasnacht im sarganserland sg uhrencup in grenchen so bauernmalerei rund um den säntis ai-ar-sg mani matter und die berner mundartmusik be glarner landsgemeinde gl rabadán ti bechtelistag in FrauenFeld tg woldmanndli ur automates et boîtes à musique vd

st. nikolaus-brauchtum lu-ur-sz-ow-nw-zg stäcklibuebe ag-so stierenmarkt in zug und viehschauen in der zentralschweiz lu-ur-sz-ow-nw-zg stroh-kultur, geFlechtund hutindustrie im Freiamt ag und ti tavillonnage Fr und vd alphorn und büchel ch unspunnenFest be und ganze schweiz volksmusikpraxis und naturjodel im appenzell und toggenburg ai-ar-sg volkstanzpraxis in der zentralschweiz lu-ur-sz-ow-nw-zg volkstanzpraxis in der nordwestschweiz bl und ganze schweiz voyage belle-epoque vd und vs, ge weidlingFahren und weidlingsbau sh und ganze schweiz wetter- und klimawissen lu-ow-nw-ur-sz-zg wildheuen ow-nw-ur-sz basler trommeln bs pFingstblütter bl les tschäggättä au lötschental vs Flössen auF dem ägerisee zg älplerchilbi lu-ur-sz-ow-nw appenzeller und toggenburger alpFahrten ai-ar-sg eierleset ag-so und bl Fasnacht in der zentralschweiz lu-ur-sz-ow-nw-zg la Fondue comme repas Fr und ganze schweiz gebetsheilen ai und deutschschweiz meitlizyt in Fahrwangen und meisterschwanden ag

naturheilkunde in appenzell ausserrhoden ar geistergeschichten aus der zentralschweiz lu-ur-sz-ow-nw-zg la gestion des risques d’avalanches vs und alpenraum hornussen be und ag-so jüdisches kulturerbe im kanton aargau ag touristische landschaFtserschliessung lu-ur-sz-ow-nw-zg jugendFeste in den kantonen aargau und solothurn ag-so zürcher textil- und seidenindustrie zh kräuterwissen in zentralschweizer Frauenklöstern lu-ow-nw-ur-sz-zg laientheater in der zentral schweiz lu-ow-nw-ur-sz-zg maibaum in baselland bl und ganze schweiz operettentradition im kanton aargau ag und lu patois du valais romand en scène vs und Fr les promotions ge und vd, ne, Fr le secret ju und Fr seidenbandindustrie bl-bs und ag-so la torrée ne und ju übernamen lu-ur-sz-ow-nw-zg bénichon Fr l’esprit de genève ge zentralschweizer betruF lu-ur-sz ow-nw zentralschweizer volksmusikpraxis und juuz lu-ur-sz-ow-nw-zg

Die vollständige Liste der lebendigen Traditionen in der Schweiz finden Sie auf www.bak.admin.ch/kulturerbe Die Politik 3 April/Mai 2012

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Gerhard Pfister, Nationalrat

konserVatiV ist nicht Von gestern «Es erben sich Gesetz und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort; sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte und rücken sacht von Ort zu Ort.» So erklärt Mephisto bei Goethe die Tradition zum Ärgernis. Kant definiert Aufklärung als «Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit». Für viele Aufklärer gehörte die Tradition zur «selbstverschuldeten Unmündigkeit». Niemand wird etwas dagegen einwenden, dass der Mensch seinen Verstand benützt. Fraglich ist nur, ob der Verstand alleine genügt, um eine Gesellschaft zu gestalten. In der französischen Revolution wurde der Versuch einer «vernünftigen» Staats- und Gesellschaftsordnung gewagt. Er endete in einer Militärdiktatur.

ein Brief und seine Folgen Im Herbst 1789 bat ein Mitglied der französischen Nationalversammlung den englischen Unterausabgeordneten Edmund Burke um eine Beurteilung der Umwälzungen in Frankreich. Von Burke, der Sympathien für die amerikanische Revolution gezeigt und das Ende religiöser Diskriminierung verlangt hatte, wurde wohl ein wohlwollendes Urteil erwartet. Ende 1790 publizierte Burke seine Antwort als «Überlegungen zur Revolution in Frankreich»: Ein fundamentaler Angriff auf die Idee, man könne allein aufgrund eines rationalen Konzepts oder allgemeiner Prinzipien Staat und Gesellschaft umgestalten. Burke brachte sechs grundsätzliche Argumente vor: 1. Es gibt keinen Naturzustand mit edlen Wilden, die dann durch die Zivilisation verdorben werden. Der Naturzustand des Menschen ist das Leben in der Gesellschaft. Nur in der Gesellschaft kann er sein positives Potential entwickeln. 2. Staat und Gesellschaft und die Wechselwirkungen ihrer Elemente sind zu komplex, um mit dem menschlichen Verstand vollständig erfasst zu werden. Jede Änderung wird Auswirkungen haben, die nicht vorausgesehen werden können. 3. Abstrakte Prinzipien wie «Freiheit» oder «Gleichheit» werden dieser Komplexität nie gerecht. Prinzipien gewinnen erst in Verbindung mit konkreten Umständen eine sinnvolle Bedeutung. 10

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4. Traditionelle Institutionen sind historisch im Wechselspiel von Vernunft und Erfahrung entstanden. Tradition ist eine Bank, deren Kapital die Vernunft früherer Generationen ist. Wer zu wenig Vernunft oder zu wenig Zeit zu ihrer Anwendung hat, tut gut daran, sich aus dieser Bank etwas Vernunft zu leihen. 5. Traditionelle Institutionen funktionieren. Sie mögen Fehler haben, die man korrigieren soll, aber sie ermöglichen das Fortbestehen von Staat und Gesellschaft. Ob und mit welchen Kosten dies neue Institutionen tun werden, wird erst die Erfahrung zeigen. 6. Tradition schafft Vertrauen und Respekt und hält eine Gesellschaft zusammen.

management des Wandels «Burkes Reflections» sind der Ausgangspunkt des modernen konservativen Denkens. Tradition ist nicht zu verteidigen, weil sie einer überzeitlich vorgegebenen «richtigen» Ordnung entspricht. Wandel ist nicht schlecht oder nur als Dekadenz zu verstehen. Tradition ist wertvoll, weil sie selber ein Produkt der Geschichte und des Wandels ist. Konservativ bedeutet nicht reaktionär. Konservativ ist nicht von gestern, sondern von heute. Dieses Heute ist das Produkt der Geschichte, von dem aus wir die Zukunft sehen können. Kieron O’Hara identifiziert das «Management des Wandels» als zentralen Punkt konservativen Denkens (Conservatism,

edmund burke


V e r B i n d L i c h

Reaction Books, 2011). Wie können die Institutionen einer Gesellschaft trotz des raschen Wandels funktionsfähig erhalten werden? Wie kann verhindert werden, dass Reformen mehr unvorhergesehene Nebenwirkungen als geplante positive Wirkungen haben? Reformen sollen nicht aufgrund doktrinärer Prinzipien, sondern aufgrund klar erkannter Missstände und Missbräuche durchgeführt werden. Was funktioniert, soll nicht verändert werden. Reformen sollen sorgfältig geplant werden, in kleinen Schritten durchgeführt und wegen der letztlich nie vollständig erkennbaren Nebenwirkungen reversibel sein.

konservativismus für die schweiz Ist konservative Politik in der Schweiz möglich und nötig? Mit dem Föderalismus, einem – im internationalen Vergleich – schlanken und meist zurückhaltenden Staat und der direkten Demokratie stehen die Chancen für eine konservative Politik an sich gut. Wandel findet zu einem grossen Teil im nichtstaatlichen Bereich statt und ist von der Grössenordnung her reversibel, wenn Fehler gemacht werden. Die Kantone sind ideale Gefässe für konkrete, schrittweise und überschaubare Reformschritte. Die wirtschaftliche und kulturelle Verflochtenheit unseres Landes führt ohne zusätzlichen politischen Druck zu einem schnellen Wandel. Trotzdem macht sich – nicht aufgrund realer Missstände, sondern abstrakter Prinzipien – ein Reformeifer breit. So fanden einige Juristen, es würden Dinge in der Verfassung geregelt, die in ein Gesetz gehörten. Das war kein Missstand, der im täglichen Leben empfunden wurde, sondern ein Studierstubenproblem. 2002 schlug das Parlament dem Volk die Neuregelung vor. 2009 wurde diese Bestimmung in einer zweiten Volksabstimmung wieder aufgehoben, weil sie undurchführbar war. Ein anderes Beispiel ist die Flut von Schulreformen, die einzeln manchmal auch sinnvoll sein könnten, die aber in ihrer Gesamtheit die Institution Schule schädigen und den Lehrern den Beruf verleiden.

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an kann sich glücklich schätzen, wenn weiter nichts ist, aber ich stosse mich seit längerem an einem neuen mundartlichen Plural. Angefangen hatte es mit «Ideeene» und «Skizzene». Unterdessen greift die Form aber auch aufs Hochdeutsche über und die Moderatorin im Kulturplatz spricht von «Ideeenen» und «Skizzenen». Ebenfalls der Präsident einer Jury, der eine Autorin ehrt und ihr Schaffen in verschiedenen «Phasenen» schildert. Bliebe es dabei, könnte man sich ja wieder einrenken, doch unterdessen diskutieren wir über «Reformene» und «Perspektivene», entziffern «Hyroglyphene», bauen «Turbinene», machen «Notizene», schreiben «Gschichtene», definieren «Sichtwiisene» und studieren «Siitene» vo «Charakterene», blicken hinunter von «Türmene», wandern in den «Bergene», und empfehlen «Schiibene», gemeint sind CDs. Als kürzlich ein Kollege von «Frauene» sprach, empfand ich die Grenze als überschritten. Folgen werden «Mannenen», «Schirennenen», «Gedankenen» an «Affenen», «Heldenen» in «Schweizer Sagenen», und «Flaschenen» in «Harassenen». Man sagt mir, das komme aus dem Berndeutschen. Eine Hauptstadt diktiert uns die Mehrzahl. Schleichend. Zentralistischer Mehrzahleinheitsbrei unterwandert das Recht der Bürgerinnen und Bürger auf ihre persönliche Vielfalt. Soll man nicht wachsam sein? Ich weiss, es sind Luxusprobleme. Doch deshalb auch leichter zu lösen. Man schreibt sie sich von der Seele. –Marianne Binder

Mehr Orientierung an den tatsächlichen Problemen der Menschen und nicht an Studierstubenweisheiten täte der Schweiz gut. Reformen mit Augenmass, welche Traditionen nur ändern, wenn die Notwendigkeit klar ausgewiesen ist, würden auch auf Verständnis stossen. ■ Die Politik 3 April/Mai 2012

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Markus Zürcher

generationenPolitik Der demographische Wandel, der sich abzeichnende Arbeitskräftemangel und die Zukunft der Alterssicherung sind zentrale Herausforderungen. Sozialpolitische Reformen sind notwendig, doch konnte bislang kein Konsens gefunden werden, wie dies die sozialpolitische Bilanz der Legislaturperiode 2008 bis 2011 zeigt. Neue Ansätze, die nicht sogleich zu Verteilungskonflikten führen, sind gefragt. Neue Ansätze wurden über die letzten vier Jahre von der Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) unter dem Titel Generationenpolitik erarbeitet. In der nun aufgelegten Schrift «Was ist Generationenpolitik? Eine Positionsbestimmung» werden konkrete Massnahmen für sechs Politikbereiche bezeichnet: die Familienpolitik, die Bildungspolitik, die Organisation des Erwerbslebens, die Fiskal- und Transferpolitik, die Sozialpolitik sowie das Familienund Erbrecht. Diese zielen darauf ab, die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbstätigkeit zu ermöglichen und eine je länger je weniger haltbare Bindung von Handlungsmöglichkeiten an einzelne Lebensphasen zu überwinden.

anpassung der institutionellen ordnung Die Lebensverhältnisse in der Schweiz haben sich markant verändert: Männer wie Frauen nehmen heute sowohl am Erwerbsleben als auch an der Familie teil. Die Familienformen sind vielfältig geworden und die Ehe ist nicht länger Garant für Stabilität und Sicherheit. Die Geburtenrate nimmt ab und die Lebenserwartung bei guter Gesundheit zu. Drei Konsequenzen dieser Entwicklungen sind bereits wirksam: Die Sorge für die abhängigen Generationen, Kinder und pflegebedürftige ältere Personen, kann nicht länger als selbstverständliche Verpflichtung der Frauen vorausgesetzt werden. Viele ältere Menschen sind in der Lage und interessiert, sich über das heutige Pensionsalter hinaus am Erwerbsleben zu beteiligen. Schliess12

Die Politik 3 April/Mai 2012

eine PositionsbestiMMung

lich wird sich der heute im Gesundheitsbereich sowie in technologischen Schlüsselbereichen bereits spürbare Arbeitskräftemangel noch verschärfen. Eine zeitgemässe und zukunftsorientierte Anpassung der institutionellen Ordnung in Familie und Erwerbsleben ist daher zwingend. Die Sozialpolitik allein kann es nicht richten. Es bedarf einer Gesamtsicht und diese wird von der Generationenpolitik bereitgestellt.

aktive Teilhabe Weder die geschlechtsspezifische Teilung von Familien- und Erwerbsarbeit noch das Nacheinander von Ausbildung, Erwerbs- sowie Familienarbeit und schliesslich Ruhestand sind haltbare Modelle. Diese nicht mehr angemessene Zweiteilung und Dreitaktung des Lebens lässt sich durch gezielte Massnahmen zur Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit, Investitionen in das Humanvermögen und die Beseitigung zahlreicher Fehlanreize überwinden. Angezeigt sind eine als Teil des Bildungssystems öffentlich finanzierte, familienergänzende, frühkindliche Bildung, frühe Einschulung, Blockzeiten, Tagesstrukturen sowie Entlastungsdienste für pflegende Angehörige und Unterstützungsangebote für Pflegebedürftige. Massgeblich zum Verbleib im Arbeitsleben tragen flexible Arbeitszeiten, geregelte Auszeiten, der Erwerb neuer Qualifikationen und den sich wandelnden Fähigkeiten angepasste Tätigkeiten bei. Anreize zur Frühpensionierung sowie Altersgrenzen sind zu beseitigen. Altersarbeit kann durch versicherungstechnisch korrekte, altersmässig unbe-


nen in das Humanvermögen. Für dessen Aufbau ist die frühe Kindheit von zentraler Bedeutung. Familienergänzende Bildungsangebote verbessern daher nachweislich die Lebenschancen sowie die Chancengleichheit und zahlen sich später in Form von höheren Einkommen und damit höheren Fiskal- und Sozialabgaben aus. Mit Blick auf den demographischen Wandel wie die finanzielle Sicherung der Sozialwerke ist der Aufbau, die Pflege und der Erhalt des Humanvermögens sowie die Nutzung und Ausschöpfung des damit verbundenen Potenzials vordringlich. Es braucht weder mehr Geld noch mehr vom Gleichen. Durch Investitionen in gute Lebensumstände und die Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten kann hingegen eigenverantwortliches Handeln und Selbständigkeit über alle Altersgruppen gefördert und erhalten werden.

grenzte Rentenaufschübe gefördert werden. Zu mehr Leistungsgerechtigkeit führt nach meinem Dafürhalten die Individualbesteuerung und eine konsequent leistungsorientierte, vom Geschlecht und Alter unabhängige Salär- und Anstellungspolitik. Die Arbeitsmarkt integration lässt sich durch Teillohnsysteme, Aktivierungs-, Qualifizierungs- und Beratungsmassnahmen, ein konsequentes Fallmanagement, stufenlose Bedarfsleistungssysteme, den Verzicht auf die Besteuerung des Existenzminimums und eine moderate Besteuerung des selbstverdienten Frankens fördern.

Potenziale statt defizite Die Fixierung der sozialpolitischen Diskussion auf die Verschuldung der Sozialwerke ist verfehlt und kontraproduktiv: Über die letzten Jahrzehnte wurde massiv in den heute den Widrigkeiten der globalen Finanzmärkten ausgesetzten Kapitalstock investiert. Vernachlässigt werden hingegen Investitio-

stärkung der selbständigkeit und aufwertung der sorgearbeit In dem Masse wie sich Männer und Frauen an der Erwerbsarbeit beteiligen, darf die Sorgearbeit nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Entlastungsdienste für pflegende Angehörige, hauswirtschaftliche und pflegerische Unterstützungsangebote für Pflegebedürftige stärken deren Selbständigkeit und Selbstinitiative. Wegen reduzierten Erwerbspensen haben jene, die Sorgearbeit leisten, oftmals keinen Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen. Durch tiefere Einkommensschwellen bei den Pensionskassen, einem vollständigen Vorsorgeausgleich bei verheirateten wie unverheirateten Paaren im Falle der Trennung und einer mit den Betreuungspflichten kompatiblen Regelung der Zumutbarkeit sowie der Vermittelbarkeit bei der Arbeitslosenversicherung liessen sich rasch Verbesserungen erzielen. Zu prüfen ist die Ausdehnung von Betreuungsgutschriften auf unverheiratete Lebenspartner/innen und weitere nahe stehende Personen. Auch über eine Abgeltung von Betreuungsleistungen nicht nur unter den gesetzlichen Erben, sondern auch jenen, die sie erbracht haben, ist nachzudenken. ■

dr. Markus zürcher ist Generalsekretär der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) und betreut das Netzwerk Generationenbeziehungen der SAGW. Was ist Generationenpolitik? Eine Positionsbestimmung. Bern 2011, Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW). Weitere Informationen: www.sagw.ch/generationen Die Politik 3 April/Mai 2012

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Die AUNS-Initiative

schadet der Wirtschaft die auns-initiative «staatsverträge vors Volk» greift ein problem auf, nämlich dass unser Bundesrat in der aussenpolitik nicht immer eine gute Figur machte. dieses problem besteht. aber die initiative löst das problem nicht. indem sie offen lässt, was «wichtige» Vorlagen sind, die zwingend vors Volk müssen, öffnen die initianten der freien auslegung Tür und Tor. Was der einen Gruppe in der Schweiz «wichtig» ist, ist es der andern noch lange nicht. Genau aus diesem Grund sieht unser politisches System das fakultative Referendum vor: was «wichtig» ist, entscheiden 50'000 Stimmbürgerinnen und -bürger. Und dann die Mehrheit des Volks. Die vielen Doppelbesteuerungsabkommen, die eben vom Parlament beschlossen wurden, müssten nach Ansicht der Initianten alle zwingend dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Das würde mindestens zehn Abstimmungsvorlagen an einem Urnengang bedeuten. Die Bundesverfassung schreibt vor, wann welche Vorlage zwingend den Entscheid des Volks braucht. Das hat sich bewährt, und wenn es sich einmal nicht bewährt hat, lag das an der falschen Beurteilung des Bundesrats. Bad cases make bad laws. Die Verfassung kann nichts dafür, dass es Bundesräte gibt, die Fehler machen. Wegen Einzelfällen die Verfassung zu ändern, ist mit dem Kanonenrohr auf Ameisen geschossen. Manche dieser Staatsverträge betreffen Abkommen, die für die international vernetzte Wirtschaft enorm wichtig sind – die aber nichts an den politischen Rechten der Schweizerinnen und Schweizern ändern. Solche Abkommen ebenfalls zwingend der Abstimmung zu unterbreiten, heisst, der Wirtschaft massiven Schaden zuzufügen, oder diesen mindestens fahrlässig in Kauf zu nehmen. Die AUNS-Initiative schadet der Wirtschaft – das ist auch ein Grund, warum unternehmerisch denkende und handelnde Parlamentarier auch aus der SVP dieser Vorlage distanziert gegenüber stehen. Bei 247 Staatsverträgen

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in den letzten 90 Jahren wurde nur zehn Mal das Referendum ergriffen, und davon zwei Mal die Vorlage abgelehnt. Die wirklich wichtigen Staatsverträge, über die das Volk befand, wurden alle angenommen: Personenfreizügigkeit, Bilaterale, Bretton Woods, Biometrische Pässe. Vermutlich stört die Initianten mehr, dass der Volkswille dabei ihrer Meinung widersprach, als das «Problem», dass es eine Abstimmung über ein fakultatives Referendum war. Die Unsitte, nur das als Volkswillen anzuerkennen, was einem selbst passt, ist verbreitet, auch und gerade bei denjenigen, die das Volk besonders häufig zitieren. Die Initiative sollte man aus folgenden drei wichtigsten Gründen ablehnen: Sie schadet der Wirtschaft, sie schadet der Schweiz, und sie schadet der direkten Demokratie. Deshalb nein zur AUNS-Initiative. ■ Für das Co-Präsidium der CVP gegen die AUNS-Initiative –Gerhard Pfister, Nationalrat –Elisabeth Schneider-Schneiter, Nationalrätin –Pirmin Bischof, Ständerat

am 17.6.

StaatsvertragsInitiative

NeIN

www.auns-initiative-nein.ch Informationen zu allen drei Abstimmungsvorlagen vom 17. Juni 2012 finden Sie auf www.cvp.ch/abstimmungen


OrTsTermin Christine Bulliard-Marbach, Nationalrätin

in meinem GarTen Mindestens zehn Minuten jeden Tag schlendere ich durch meinen Garten, den Ort der Ruhe, der Entspannung, des Nachdenkens, der Inspiration und des kreativen Arbeitens. Da entwickle ich meine Pläne für die Zukunft und da treffe ich meine politischen Entscheidungen. Heute bewundere ich das Wechselspiel von Licht und Schatten, die unterschiedlichen Blütenfarben, die kunstvoll in Form geschnittenen Buchsbäume, erwarte sehnlichst den Duft des Rosengartens und erlebe das harmonische Zusammenspiel von Pflanzen, Stein und Wasser als Abbild der Natur. Vor der bronzenen Flötenspielerin, einem meiner Lieblingsplätze, mache ich Halt. Musik ist meine Freude. Ihre Harmonie symbolisiert meine politischen Vorstellungen für ein respektvolles, sich ergänzendes und gleichberechtigtes

Zusammenleben der Geschlechter, der Generationen und verschiedenen Kulturen im Einklang mit der Umwelt. Als Politikerin will ich die Interessen aller Menschen in unserem Land vor Augen haben, in Achtung ihrer Würde, ihrer Eigenverantwortung und persönlichen Freiheit. Und ich will das Gemeinwohl in Familie, Gemeinde und Staat auf der Grundlage solidarischen und nachhaltigen Handelns fördern. Nur wo einzelne überfordert sind, ihr Geschick in die eigene Hand zu nehmen, soll subsidiär die übergeordnete Ebene helfen, ohne dabei jedoch zu entmündigen. Zur bestmöglichen Entfaltung des Menschen und seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit in einer gut funktionierenden Gesellschaft setze ich auf eine glaubwürdige Bildungs- und Weiterbildungspolitik. ■

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Über die Schwierigkeit bei der Umsetzung von Volksinitiativen Die Verwahrungsinitiative ist wieder in aller Munde. Anlass dazu gibt das Urteil im «Fall Lucie», welches die Schwierigkeiten bei der Umsetzung der Verwahrungsinitiative einmal mehr verdeutlicht. Nicht selten stehen Volkswille und Initiativtext der Umsetzung auf Gesetzesstufe und der dazugehörigen Rechtsprechung konträr gegenüber. Gerade in besonders brutalen Fällen, wie in jenem von Lucie, geben rechtsstaatliche Argumente oder der Verweis auf Menschenrechte wenig her. Sofort wird der Vorwurf laut, man messe dem begangenen Verbrechen nicht genügend Gewicht bei oder man möchte die direkte Demokratie untergraben. Die Ausführungen in diesem Artikel sind keinesfalls in diesem Sinne zu verstehen. Vielmehr sollen sie aufzeigen, wie schwierig gewisse Initiativen umzusetzen sind und welche Schwierigkeiten trotz Gesetzestext verbleiben.

Präzisierung von kriterien Umsetzungsschwierigkeiten können einerseits entstehen, wenn die in der Initiative geforderten Massnahmen mit den Grundrechten oder dem Völkerrecht kollidieren, andererseits wenn der Initiativtext zu ungenau ist und so die Umsetzung einem grossen Interpretationsspielraum unterworfen ist. Im Falle der Verwahrungsinitiative wird verlangt, dass eine lebenslängliche Verwahrung ausgesprochen werden soll, wenn der Täter «dauerhaft nicht therapierbar» ist. Damit hat das Initiativkomitee die Voraussetzung sehr hoch angesetzt. Die Formulierung wurde zwar eins zu eins ins Strafgesetzbuch übernommen, bleibt aber unklar. Im Fall Lucie wurden eine lebenslängliche Freiheitsstrafe und eine ordentliche Verwahrung ausgesprochen. Dies ist für viele nicht genug, weshalb die Forderung nach einer lebenslänglichen Verwahrung laut wurde, so wie sie die Volksinitiative forderte. Dazu müssen zwei Gutachter die im Initiativtext beschriebene «dauerhafte Nichttherapierbarkeit» diagnostizieren. Genau hier liegt

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die Schwierigkeit: Ist bei einer psychischen Störung eine Prognose möglich, die für ein ganzes Leben gültig ist? Vor diesem Dilemma stand das Parlament bereits bei der Beurteilung der Initiative. Die Rechtsprechung wird also weiterhin gefordert sein.

gleiches droht bei der Unverjährbarkeitsinitiative Ähnliche Probleme kommen auf die Rechtsprechung im Falle der Unverjährbarkeitsinitiative zu. Deren Umsetzung wurde in der Frühlingssession vom Nationalrat beraten. Die Initiative verlangt, dass sexuelle und pornografische Straftaten an Kindern vor der Pubertät und die Strafe für solche Taten unverjährbar sind. Gleich zwei Ausdrücke, nämlich «sexuelle und pornografische Straftaten» sowie «Kinder vor der Pubertät» sind hier sehr ungenau und schaffen damit Umsetzungsschwierigkeiten. Was sind «sexuelle und pornografische Straftaten», was heisst «vor der Pubertät»? Der Nationalrat hat festgelegt, dass schwere sexuelle Straftaten an bis zu 12-jährigen Kindern nicht mehr verjähren. Zudem hat er im Strafrecht festgelegt, für welche Vergehen Straftäter lebenslang zur Verantwortung gezogen werden können. Dazu zählen sexuelle Handlungen mit Kindern sowie sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Schändung von Kindern, sexuelle Handlungen mit Anstaltspfleglingen, Gefangenen, Beschuldigten sowie die Ausnützung einer Notlage. Soweit die gesetzlichen Bestimmungen. Bereits jetzt ist aber klar, dass diese Definitionen zu Diskussionen füh-


MISSINg LINK ren werden. Was, wenn die Straftat kurz nach dem 13. Geburtstag geschieht? Was, wenn die Tat nicht unter einen der genannten Artikel fällt? Die Umsetzungsschwierigkeiten werden damit ersichtlich, die Ungerechtigkeit und Unfassbarkeit eines Sexualverbrechens an sich bleiben immanent.

knacknuss ausschaffungsinitiative In den kommenden Monaten wird sich das Parlament mit einer weiteren juristischen Knacknuss, der Umsetzung der Ausschaffungsinitiative befassen. Die Initiative, die vom Stimmvolk am 28. November 2010 angenommen wurde, verlangt, dass kriminelle Ausländer ausgeschafft werden. Was einfach tönt, entpuppt sich bei der Umsetzung einmal mehr als grosse Schwierigkeit. Denn die geforderte automatische Ausschaffung bei bestimmten Delikten entbehrt dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit und ist mit völkerrechtlichen Prinzipien wie dem Non-Refoulement-Prinzip (dieses besagt, dass niemand in einen Staat ausgeschafft werden darf, in dem ihm Folter oder eine andere Art grausamer oder unmenschlicher Behandlung oder Bestrafung droht, BV Art. 25) nicht vereinbar. Wollen wir an dieser Rechtsstaatlichkeit festhalten, kommen die Initianten nicht umhin, sich in dieser Frage kompromissbereit zu zeigen. Auf der anderen Seite ist das Parlament dazu verpflichtet, die Initiative so nah wie möglich am Wortlaut umzusetzen und damit den Volkswillen zu respektieren. Demokratie und Rechtsstaat sind die zwei Grundprinzipien, die in unserem direktdemokratischen System in Widerstreit treten können. Es ist die Aufgabe des Gesetzgebers, bei der Umsetzung politischer Plebiszite sorgsam die austarierte Balance zwischen dem demokratischen und dem rechtsstaatlichen Prinzip zu wahren und darauf zu achten, dass nicht Recht wird was widerrechtlich ist. ■ –Muriel Haunreiter, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Bundeshausfraktion

D

as Mittelalter hat bei uns Aufgeklärten immer noch einen schlechten Ruf. Wir glauben, wir seien vernünftiger, fortschrittlicher, gerechter.

Der frühscholastische Platoniker Bertrand von Chartres beschrieb das Verhältnis zur Tradition so: Die Heutigen seien Zwerge auf den Schultern von Riesen. Die Zwerge sehen weiter und mehr, aber nur deswegen, weil die Grösse der Riesen sie emporhebe. Das Mittelalter war herausgefordert durch einen veritablen Einbruch von für die westliche Kultur neuem, aber eigentlich traditionellem Wissen aus der Antike, aus dem Islam, was die eigenen altgewohnten Vorstellungen und Gewissheiten massiv erschütterte. Anstatt defensiv zu reagieren, wussten damalige Denker – bis hin zu Thomas von Aquin – dies als Chance zu begreifen, und ihren Glauben weiter zu entwickeln, anstatt sich dogmatisch zu verhärten. Manche Modernen sehen nicht nur ihn falsch.

Heute könnte man durchaus von einem mittelalterlichen offenen Umgang mit dem Neuen, aber auch der Tradition, der eigenen wie der fremden, lernen. Wir aufgeklärten Menschen haben mehr Atavismen als uns lieb ist und als unser Selbstbild zulässt. Wir glauben an so viele Irrationalismen wie der mittelalterliche Mensch, nur an andere. Aber wir machen weniger aus den Traditionen als manche Denker vor fast tausend Jahren. Wir betrachten uns selbstgerecht als Riesen mit genügend Weitblick. Betrand von Chartres und weitere mittelalterliche Philosophen waren bescheidener und moderner im Umgang mit Tradition. Sie wussten dass sie als Zwerge weiter kommen, als sich riesenhaft zu überschätzen. Heute finden viele Zwerge, sie seien Riesen, ohne deren Grösse auch nur zu kennen. –Gerhard Pfister Die Politik 3 April/Mai 2012

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Was die Schweiz ausmacht

Die direkte Demokratie und die Abgrenzung gegen die Nachbarn sind wesentliche Elemente für den Zusammenhalt der Schweiz. Ebenso gehören Versicherungen zu unserer Identität und werden weltweit geschätzt. Wir sind das bestversicherte Land. Versichert gegen alle möglichen Risiken. So gibt es eine Diebstahl-, Hausrat-, Wertsachen-, Privathaftpflicht-, Unfall- und Krankheits-, Rechtsschutz-, Reise-, Gebäude- und neu eine Erdbebenversicherung. kathy Riklin, Nationalrätin, ZH Wir sind ein Land der Vielfalt und haben gelernt, Konflikte friedlich auszutragen. Eine durch Sachlichkeit und Nüchternheit geprägte Bevölkerung hat sich aneinander gewöhnt, was nicht selbstverständlich ist. Der Mythos, wir seien besser als andere, hindert uns ab und zu daran, zu verinnerlichen, dass wir Partner und Freunde brauchen. Nichts desto trotz gelingt es uns immer wieder, die Führungsrolle in Partnerschaftlichkeit zu übernehmen. Bestes Beispiel ist das Rote Kreuz. Barbara Schmid-Federer, Nationalrätin, ZH

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Ce qui fait la Suisse Il y a bien sûr l’amour de la patrie et du travail bien fait, le plurilinguisme et le multiculturalisme, la créativité et l’innovation Mais de mon point de vue, ce qui fait avant tout la Suisse, c’est la volonté de vivre ensemble dans la meilleure harmonie possible, le respect de l’autre et la détermination de trouver des compromis dans l’intérêt général. La structure fédéraliste de la Confédération, dans laquelle aucun parti ne peut dominer le débat politique, nous force à imaginer jour après jour des voies pour pérenniser le succès suisse. A l’heure des populismes, c’est un véritable défi à relever! Anne Seydoux-Christe, conseillère aux États, JU Tradition bedeutet Heimat Von diesem Grundgedanken ist der Zukunftsglaube unseres Landes in seinem Innersten geprägt. Dies im Wissen, dass es Heimat nicht einfach so gibt. Heimat kann man nicht erlernen. Heimat hat vielmehr mit Gefühl, mit Liebe zu tun und muss daher tagtäglich erfühlt, erlebt, ja erfahren werden. Heimat ist dort, wo man sich geborgen, verwurzelt fühlt. Feste, tradierte Wurzeln geben Sicherheit, vermitteln Kraft zu Toleranz und Offenheit. Diese Verbundenheit mit der Heimat, diese Liebe zur Tradition dienen uns als Voraussetzung, gegenüber der Zukunft offen zu sein, Neues kritisch zu prüfen und die notwendigen, entscheidenden Schritte dann auch überzeugt zu tun. Denn» Tradition ist eine Laterne: Der Naive hält sich an ihr fest, dem Klugen leuchtet sie den Weg», mahnt uns der irische Dramatiker George Bernard Shaw. ivo Bischofberger, Ständerat, Ai

Die Schweiz hält in erster Linie der Wille zur Einheit zusammen. Unsere Vorfahren hatten weder kulturelle noch geografische Gründe ein Land zu bilden, aber einen starken gemeinsamen Willen, die Schweiz zu sein und hoffentlich auch zu bleiben. Alle vier Landesteile, alle vier Sprachgebiete, alle vier Kulturen müssen sich stets von neuem anstrengen, dass dies auch so bleibt. Diese Vielfalt in der Einheit macht die Schweiz aus und darauf bin ich stolz! Brigitte Häberli-koller, Ständerätin, tG Die Marke Schweiz steht für einen hervorragenden Bildungs- und Forschungsplatz, für gut ausgebaute Infrastruktur, für politische Stabilität und vor allem für die Berechenbarkeit unseres Rechtssystems und die strikte Ausgabendisziplin auf allen Staatsstufen. Sie steht aber vor allem für Menschen mit einer Vielseitigkeit an Mentalitäten, Sprachen und geografischen Verortungen, welche sich mit unseren gemeinsamen Werten in der globalen Weltgemeinschaft behaupten. elisabeth Schneider-Schneiter, Nationalrätin, Bl


Speakers’ Corner

Deutsche Sprache, Schwiizer Sprache Ich bin ein Einzelfall. So wie es viele davon gibt. Ich bin mit Französisch und mit Deutsch aufgewachsen. Hochdeutsch. Zwar habe ich einen Grossteil meiner Kindheit in der Romandie verbracht, doch dank einer österreichischen Deutschlehrerin als Mamma bin ich im Glauben erzogen worden, dass ich die «Sprache Goethes» beherrsche. Und zwar auf Muttersprachler­ niveau. Das stimmt auch, zumindest was das Mündli­ che angeht.

gesucht. Bereits als Praktikant bekam ich von Deutsch­ sprachigen Antworten auf Französisch. Dafür gibt es selbstverständlich vernünftige Erklärungen: «Mais tu es francophone, non?» oder «Comme ça, je peux exercer mon français.» Böse Zungen werden auch be­ haupten, dass viele Deutschschweizer deshalb lieber französisch sprechen, damit man nicht merkt, dass sie auf Hochdeutsch den Dativ vom Akkusativ nicht unterscheiden können.

Eine erste ernüchternde Erfahrung habe ich im Kolle­ gium «Spiritus Sanctus» in Brig gemacht. Am Ende des Jahres, während der Sporttage, wurde mir vorgeführt, wie man ein Fahrrad am besten in Stand hält. Auf Deutsch. Besser gesagt in einem alemannischen Dia­ lekt, der die zweite Lautverschiebung (Sprachwandel aus dem 4. bis 8. Jahrhundert) nicht mitgemacht hat: Walliserdeutsch.

Doch das Frustrierende für mich war, dass ich das Ge­ fühl hatte, ich würde aus Höflichkeit oder Mitleid auf Französisch angesprochen. Diese Angst habe ich heute bezwungen. Mein leicht österreichisch angehauchtes Hochdeutsch wurde von vielen irrtümlich für einen französischen Akzent gehalten. Einen alemannischen Dialekt zu lernen ist schwierig, weil die meisten Deutschschweizer viel zu höflich sind. Wenn sie er­ fahren, dass man Tütsch nicht versteht, sprechen sie Schriftdeutsch. Deshalb bin ich jetzt ein Meister im Vortäuschen geworden, dass ich eine in Wirklichkeit mir unverständliche Aussage perfekt erfasst habe (bit­ te meiner Vorgesetzen nicht verraten!).

Als der Vortragende das Getriebe geputzt hat, habe ich verstanden, dass er mir erklärt hat, wie man das Ge­ triebe reinigt. Als er den Schlauch ersetzt hat, habe ich erahnt, dass er davon spricht, wie man einen kaputten Fahrradschlauch am besten auswechselt. Getröstet habe ich mich damit, dass sogar die meisten nicht­ Walliser Deutschschweizer behaupten, Walliserdeutsch nicht zu verstehen. Nach dem Dolmetscher­ und Übersetzerstudium in Wien habe ich in der Schweiz eine nützliche Anstellung

Schweizerdeutsch beherrschen? Ja, ich weiss, es heisst «Schwiizertüütsch». Werde ich es eines Tages perfekt verstehen? Wahrscheinlich. Sprechen? Ich getrau mich nicht. Philipp Chemineau

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Markus Ritter, Nationalrat und Präsident St.galler Bauernverband

landwirtschaft zwischen tradition und Moderne

Die Fläche der Schweiz beträgt etwa vier Millionen Hektaren, zwei Millionen davon werden von den Bäuerinnen und Bauern bewirtschaftet. Etwa eine Million ist Kulturland, die andere besteht aus Sömmerungsflächen. Die Arbeit der Bauernfamilien prägt weite Teile der Schweizer Landschaft: grüne Wiesen, fruchtbare Äcker, saftige Alpweiden, blühende Obstbäume oder wertvolle Ökoflächen. Doch kaum eine andere Branche ist von derart vielen Gesetzen und Verordnungen betroffen wie die Landwirtschaft. Der Kulturlandverlust in der Schweiz schreitet nach wie vor mit hohem Tempo voran. Pro Sekunde wird ein Quadratmeter Kulturland verbaut. Dies entspricht etwa 2500 Hektaren pro Jahr. Betroffen sind vor allem das fruchtbare Mittelland und damit die besten Ackerböden. Würden wir mit dieser Geschwindigkeit weiter Kulturland verschwenden, wäre im Jahr 2300 das gesamte Gebiet vom Bodensee bis zum Genfersee verbaut. Auch in Zukunft ein erfolgreiches wachstumsorientiertes Land zu bleiben und dabei den natürlichen Lebensgrundlagen Sorge zu tragen, gehört zu den grossen Herausforderungen. Die Landwirtschaft und damit unsere Bauernfamilien stehen mitten in diesem Spannungsfeld.

agrarpolitik 2014/17 1996 hat das Schweizer Stimmvolk der Landwirtschaft mit dem Artikel 104 der Bundesverfassung einen klaren Auftrag erteilt: – Basierend auf den Grundsätzen der Nachhaltigkeit soll sich die Landwirtschaft weiter entwickeln.

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– Die Versorgung der Bevölkerung muss mit gesunden Nahrungsmitteln sichergestellt, die Kulturlandschaft gepflegt und die dezentrale Besiedlung des Landes gewährleistet werden. Die Botschaft zur Agrarpolitik 2014/17, die vom Bundesrat Anfang Februar 2012 zuhanden des Parlamentes verabschiedet worden ist, will die Ziele der Verfassung mit der Ausgestaltung der Agrarpolitik noch stärker ansteuern. Dies wird von breiten Kreisen begrüsst und ist im Interesse der Landwirtschaft. Die Erwartungen an die Bauernfamilien sind allerdings gewaltig: – Unter möglichst hohen Standards von Tierwohl, Ökologie und Ressourcenschonung sollen gesunde Lebensmittel produziert werden. – Trotz höherer Kalorienproduktion soll die Biodiversität gesteigert, die Landschaftsqualität ausgebaut und in Ressourceneffizienz investiert werden. – Dies mit gleich bleibenden Direktzahlungen und unter Druck stehenden Marktpreisen.


Viele Bauernfamilien schauen mit Sorge auf das, was da präsentiert worden ist. In vielen Regionen ist die Lage der Betriebe zurzeit schwierig. Der Industriemilchpreis für die Bauern beträgt rund 60 Prozent des Preises, der vor 20 Jahren erzielt wurde. Vor 30 Jahren wurden höhere Schweinepreise gelöst als heute.

Weniger Bürokratie Damit diese Leistungen durch unsere 60'000 Bauernfamilien erbracht werden können, muss mit hochwertigen Produkten das Vertrauen der Konsumentinnen und Konsumenten täglich neu gewonnen werden. Mit den Direktzahlungen sollen die gemeinwirtschaftlichen, auf der Verfassungsgrundlage basierenden Leistungen der Landwirtschaft abgegolten werden. Die administrative Belastung darf weder bei den Bauernfamilien noch bei den das Gesetz vollziehenden kantonalen Amtsstellen grösser werden. In diesem Bereich gilt es einfacher und unbürokratischer zu werden. Auf diese Forderung bringt die Botschaft der Agrarpolitik 2014/17 noch keine Antwort beziehungsweise geht sogar in eine gegenteilige Richtung. Ökonomie, Ökologie und soziales Die Stärke der CVP liegt darin, dass sie in der Lage ist, ganzheitliche Betrachtungen anzustellen und den Menschen in den Mittelpunkt ihrer Politik stellt. Das Ziel der Nachhaltig-

keit, das für den Erfolg der Agrarpolitik entscheidend ist, besteht aus den drei Elementen der Ökonomie, Ökologie und dem Sozialen. Während in den Bereichen Ökonomie und Ökologie sehr vieles in der Landwirtschaft mit der neuen Agrarpolitik erreicht werden konnte, sieht es im Bereich Soziales düster aus. Wie auf Seite 19 der Botschaft nachgelesen werden kann, ist der Lebensqualitätsindex der bäuerlichen Bevölkerung stetig gesunken. Der Druck auf unsere Bauernfamilien und vor allem auf unsere Bäuerinnen ist sehr gross. Oftmals können die Einkommensausfälle nur mit zusätzlichem Nebenerwerb und weiterer Vergrösserung der Betriebe kompensiert werden. Dies führt zu enormen Mehrbelastungen und immer weniger Freizeit. Die durchschnittliche Einkommensdifferenz im Vergleich zu Angestellten zum Beispiel im Gartenbau beträgt vierzig Prozent. Den Auftrag, den die Schweizer Landwirtschaft erfüllt, werden wir langfristig nur sichern können, wenn die Bauernfamilien mit der Entwicklung des Wohlstandes sowie der Lebensqualität in unserem Land mithalten können. Die Lehrlingszahlen in der Landwirtschaft zeigen, dass es künftig grössere Anstrengungen braucht, auch junge Menschen für diesen Beruf und diese Lebensform zu begeistern. In diesem Bereich gilt es mit der Agrarpolitik 2014/17 die Antworten noch zu formulieren. ■

100% erneuerbare Energie

Unsere Vision ist eine Welt, die ganz auf saubere Energie setzt. Deshalb decken wir unseren Strombedarf zu 100% mit erneuerbarer einheimischer Energie. Wir sind einer der grössten Bezüger von Strom aus Wind- und Sonnenkraft in der Schweiz.

Unser Engagement für Umwelt und Gesellschaft www.swisscom.ch/hallozukunft

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Markus Lehmann, Nationalrat

swiss Made Wie viel «Schweiz» muss in einem Schweizer Produkt stecken? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Parlament aktuell im Rahmen der Erarbeitung der Swissness-Vorlage.

Wer einen Blick auf Schweizer Traditionen wirft, stösst unweigerlich auf das Schweizer Kreuz. Vor 70 Jahren war es ein Symbol des politischen Widerstandes. Dass das Schweizer Kreuz ein starkes Verkaufsargument ist, hat auch bald einmal die Wirtschaft realisiert. Sie hat traditionelle Erzeugnisse mit dem «Gütesiegel Schweiz», das heisst, in der Schweiz hergestellt mit Schweizer Produkten, versehen. So haben Produkte wie Toblerone, Ovomaltine und Schweizer Uhren einen weltweiten Siegeszug angetreten und Vertrauen für unser Land geschaffen. Dieser Umstand hat Nachahmer auf den Plan gerufen. Problematisch wurde es, als das Schweizer Kreuz immer öfter auch auf Produkten auftauchte, die nie Schweizer Boden gesehen haben. Produkte, die den Qualitätsstandard unseres Landes bei weitem nicht erreichen und im Jargon als «Fake» bezeichnet werden. Ein Zweig der Wirtschaftskriminalität, der konsequent angegangen und bekämpft werden muss.

schutz des Labels schweiz 2007 wurden deshalb auf nationaler Ebene verschiedene Vorstösse eingereicht, die eine Anpassung des Markenschutzge22

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setzes und die Ausarbeitung einer sogenannten SwissnessVorlage verlangen. Das Ziel muss sein, das Label Schweiz vor der unlauteren Verwendung zu schützen und so unsere Wirtschaft zu stärken. Auch innerhalb unseres Landes, insbesondere bei der Lebensmittelverarbeitung brauchen wir Regeln, die eine stabile Entwicklung garantieren.

Praxistaugliche regelung Dass der Wert «Marke Schweiz» mit der Swissness-Vorlage gesichert wird und langfristig erhalten bleibt, ist für unser Land zentral. Wichtig ist, dass die Vorlage praxistauglich ausgestaltet wird und nicht am Ende dazu führt, dass traditionelle Schweizer Produkte wegen einer zu rigiden Regelung nicht mehr unter dem Label «Schweiz» produziert werden können. Die CVP unterstützt deshalb den Vorschlag, dass bei stark verarbeiteten Lebensmitteln der Anteil an Schweizer Rohstoffen 60 Prozent beträgt (80 Prozent bei schwach verarbeiteten Produkten). Ein höherer Prozentsatz könnte langfristig zu einem Fallstrick werden. Dann nämlich, wenn im europäischen Kontext die Agrarkontingente gelockert werden müssten. Hinzu kommt, dass bei einem höheren Prozentsatz diverse Unternehmen grösste Mühe hätten, ihre Produkte noch als «Swissness-like» zu verkaufen. Denn nebst Schweizer Rohstoffen werden auch ausländische in Schweizer Produkten verarbeitet. Stellen Sie sich vor, dass das Basler Läckerli oder Ricola-Bonbons nicht mehr als klassische Schweizer Spezialität angepriesen werden dürften… auf gutem Weg Was lange dauert, muss nicht immer gut kommen, aber im Fall der Swissness-Vorlage ist das Parlament auf gutem Weg, ein griffiges Gesetz auszuarbeiten. Im März 2012 hat der Nationalrat den ersten Wurf gemacht und man darf nun gespannt sein, wie es weiter geht. Unter der Prämisse, dass die Schweiz mit diesem Gesetz gestärkt auftreten kann, bleibt noch einiges zu tun. Partikularinteressen von gewissen Industriezweigen muss subtil Einhalt geboten werden. Es darf nicht sein, dass ein Gesetz nur für eine Branche einen gangbaren Weg darstellt. Wir freuen uns deshalb auf die Weiterentwicklung dieser Vorlage – bald durch den Ständerat – und die Sicherung von Schweizer Traditionen, mit Bedacht, Weitsichtigkeit und Fingerspitzengefühl. ■


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nützliche Begriffe, um die Schweiz zu erklären Muss man die Schweiz in einem Satz erklären, so lautet die Antwort: «Das ist von kanton zu kanton verschieden.» Hat man etwas mehr Zeit, so können die folgenden Begriffe ein Gerüst für eine erklärung bilden.

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Vielfalt: Die Schweiz ist ein Land der – topografischen, klimatischen, sprachlichen, religiösen und kulturellen – Vielfalt auf engstem Raum. Dieses Sammelsurium ist einerseits das Resultat der Eroberungs- und Bündnispolitik der alten Eidgenossen mit ihren unterschiedlichen Interessen. Andererseits wurden diesem ganzen Gebilde vom Wiener Kongress feste Grenzen gegeben, um einen Pufferstaat gegen das revolutionsgefährdete Frankreich zu schaffen. Die Schweiz gibt es nur als politische Einheit. Berge: Nicht nur für die Touristen, sondern auch für ihre Bürgerinnen und Bürger ist die Schweiz ein Land der Berge. Der Zürcher Investmentbanker, die Basler Industriearbeiterin, der Genfer Diplomat, die Tessiner Hotelangestellte und der Berner Bundesbeamte sind eigentlich alles Sennen und Sennerinnen. Auch ein gemeinsamer Irrtum verbindet. Mehrsprachigkeit: In der Schweiz werden vier anerkannte Sprachen gesprochen. Die individuelle Mehrsprachigkeit wird aber de facto eigentlich nur von den Eliten und von Menschen an den Grenzen der Sprachregionen erwartet. Sprachkonflikte spielten eine untergeordnete Rolle gegenüber Konfessions- und Klassenkonflikten. Föderalismus: Die Schweizer haben den Föderalismus weder erfunden noch eingeführt. Sie haben bloss mit der Zentralisierung lange gewartet und sie dann sehr zögerlich durchgeführt. Schweizer Kantone haben eine sehr ausgedehnte Souveränität. So bestimmen sie völlig selbständig über die Höhe der direkten Steuern, was beispielsweise die Bundesländer der BRD nicht tun können. Neutralität: Als Beginn der schweizerischen Neutralität gilt die Niederlage von Marignano im Jahre 1515. Dass die Eidgenossenschaft ihre Eroberungspolitik aufgab, hatte zwei tiefere Gründe. Einerseits überstieg die militärische Revolution der Neuzeit – mit ständig verbesserten Kanonen und Handfeuerwaffen – die Möglichkeiten der alten Eidgenossenschaft. Das betraf

sowohl die militärische Organisation und Logistik als auch einen Staatsapparat, der die nötigen Mittel hätte beschaffen können. Andererseits hätte nach der Reformation die Teilnahme an europäischen Kriegen die Eidgenossenschaft einer Zerreissprobe ausgesetzt, die sie kaum überlebt hätte. Später trat – angesichts der Rivalität von Frankreich und Deutschland – der sprachliche Gegensatz an die Stelle des konfessionellen.

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Direkte Demokratie: Am ehesten definieren sich Schweizer über die direkte Demokratie. Dies entspricht der These, dass die Schweiz als Gesamtheit eine politische Grösse und die gesamtschweizerische Kultur eine ausschliesslich politische Kultur ist. Die Möglichkeit, die Beschlüsse der gewählten Abgeordneten im Einzelfall zu überprüfen, gilt als Vollendung der Demokratie. Konsens: Das Streben nach Konsens, nach der möglichst breiten Abstützung von Entscheidungen, ist ein typisches Merkmal der schweizerischen Politik. Seit den Neunzigerjahren verfolgt allerdings die SVP eine Strategie der Konsensverweigerung, die ihr – bis vor Kurzem – Wahlerfolge brachte. Konsensverweigerung erschwert es aber, in den Parlamenten seine Ziele durchzusetzen. Konkordanz: Konkordanz ist das Bestreben, durch eine proportionale Verteilung von Ämtern die Chance der Konsensfindung zu vergrössern. Paradoxerweise herrscht über die Frage, was Konkordanz konkret bedeutet, kein Konsens. Stabilität: Die Schweiz gilt – vor allem im Ausland – als sehr stabiles Land. Verblüffend ist aber: Während die USA seit 1790 27 Verfassungsänderungen vornahmen, schlug die Schweiz diese Zahl allein im Zeitraum von 1996 bis 2012. Die Schweiz erweckt den Eindruck der Stabilität deshalb, weil sie ständig kleine Veränderungen vornimmt. Im sozialen und wirtschaftlichen Bereich dürfte die Schweiz zu den entwickelten Ländern mit dem stärksten Wandel gehören. –Rudolf Hofer, Bümpliz

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Niklaus Zepf, Leiter Unternehmensentwicklung Axpo Holding Ag

weg Mit alten zöPfen

Mit dem Verzicht auf neue Kernkraftwerke geht die Schweiz international einen eigenen Weg. Von den gewichtigen Industrienationen haben sich lediglich Deutschland für einen Ausstieg aus der Kernenergie und Italien gegen den Neubau von Kernkraftwerken ausgesprochen. Axpo ist sich jedoch bewusst, dass in der heutigen Situation keine Abstimmung für ein Ersatz-Kernkraftwerk zu gewinnen wäre. Der Fokus verschiebt sich in der Folge. Erstens wird es für die Versorgung entscheidend sein, ob es gelingt, in den nächsten Jahren eine Stabilisierung oder gar ein Absinken des Stromverbrauchs gemäss der Energiestrategie des Bundesrates zu erreichen. In den letzten vierzig Jahren hat sich der Stromverbrauch verdoppelt. 2010 stieg er um 4 Prozent. Axpo rechnet mit einem weiteren Anstieg von jährlich zwischen 0,8 und 1 Prozent bis 2040, wobei der Anstieg zunächst höher sein wird und sich dann langfristig abschwächt. Ein wesentlicher Grund ist das Bevölkerungswachstum: Bis 2035 wird gemäss dem Bundesamt für Statistik die Schweiz voraussichtlich von heute 7,8 auf rund 9 Millionen Menschen wachsen. Andere Gründe sind trotz zunehmender Energieeffizienz die Substitution von fossilen Energieträgern durch Elektrizität sowie die exponentiell steigende Anzahl von Endgeräten.

erneuerbare energien Zweitens spielen künftig die erneuerbaren Energien eine zentrale Rolle. Axpo setzt dabei einerseits auf den weiteren Ausbau der Wasserkraft und neue erneuerbare Energien sowie den 24

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Bau von Gas-Kombikraftwerken. Bereits heute sind wir die grösste Produzentin von neuen erneuerbaren Energien in der Schweiz. Dabei liegt der Fokus auf Biomasse (vergärbare und verbrennbare) und kleinen Wasserkraftwerken. In Windanlagen sehen wir das grössere Potenzial im Ausland. Axpo ist bereits in ausländischen Windanlagen (La Peñuca in Spanien, WinBis in Italien, Offshore-Projekt Global Tech I in Norddeutschland) engagiert. Zudem sind wir am Bau eines Geo-


PodiUmsdiskUssion cVP 60+ Medien zwischen Anmassung und Anpassung – eine Standortbestimmung mit kritischem Blick. thermiekraftwerkes in Deutschland beteiligt und beabsichtigen dieses erworbene Wissen in die Schweiz zu transferieren. Neben dem weiteren massiven Ausbau der neuen erneuerbaren Energien in der Schweiz werden wir deshalb auch verstärkt Projekte im Ausland prüfen. Wir haben unser Produktionsziel für neue erneuerbare Energien von 2,2 Terawattstunden (TWh) auf 5 TWh bis 2030 mehr als verdoppelt.

mehr importe Drittens nimmt die Bedeutung der Importe weiter zu. Der Ausbau von erneuerbaren Energien braucht Zeit und noch bessere Technologien. Die durch den Wegfall der Kernkraft entstehende Stromlücke in den nächsten 20 Jahren allein mit neuen Energieträgern und Sparen decken zu wollen, ist nicht realistisch. Schon heute kann die Schweiz den Strombedarf im Winter nur dank Importen aus dem Ausland bewältigen. Wir müssen davon ausgehen, dass in 15 Jahren dieser Import im Winterhalbjahr auf 40 Prozent und mehr ansteigen wird. Das heisst, wir müssen uns intensiv mit den kurz-, mittel- und langfristigen Importmöglichkeiten und den damit verbundenen Konsequenzen wie beispielsweise der verstärkten Auslandabhängigkeit auseinandersetzen. Dies wird auch eine grosse Aufgabe für die Politik sein.

Bei Thomas Borer begann es mit unscharfen Fotos in einer Tiefgarage, bei Philipp Hildebrand war eine vermutliche Bankgeheimnisverletzung die Initialzündung, bei Christian Wulff stand eine nicht der ganzen Wahrheit entsprechenden Antwort im Landtag am Anfang: Sie alle wurden faktisch durch die Medien zum Rücktritt gezwungen. Heiligt der Zweck alle medialen Mittel? Welche Rolle haben die Medien in Gesellschaft und Demokratie? Woher rührt der neue Anspruch der Medien nach einer Moral, die sich von Gesetzen und Regeln abgrenzt? Erfüllen die Medien ihre Rolle als kritische Begleiter von Politik und Wirtschaft? Gibt es eine konstruktive Grundaufgabe der Medien für unsere Gesellschaft? Über diese Fragen diskutieren am 9. Mai 2012 unter der Leitung von alt Nationalrat Norbert Hochreutener: – Hannes Britschgi, Mitglied der Konzernleitung Ringier AG – Prof. Kurt Imhof, Universität Zürich – Iso Rechsteiner, Leiter Unternehmenskommunikation SRG, SSR – Markus Spillmann, Chefredaktor NZZ

(nh)

Liberalisierung Wir sind bereit, die Herausforderungen anzunehmen. Die Verantwortung für die Stromversorgung kann aber weder ein Unternehmen allein, noch die Branche eigenständig übernehmen. Dies hat damit zu tun, dass die Abhängigkeiten sehr gross sind. Einerseits hat die Schweiz mit der bundesrätlichen Energiestrategie 2050 die Selbstversorgungsstrategie aufgegeben und ist immer mehr auf Importe aus Europa angewiesen. Anderseits hat der Einfluss der Politik in den letzten Jahren massiv zugenommen, so dass der Freiheitsgrad für die Unternehmungen sehr gering geworden ist. In einigen Fällen sind die Rahmenbedingungen sogar überbestimmt und ein Optimum nicht mehr realisierbar. Ein funktionierender und effizienter Strommarkt kann sich nur dann bilden, wenn der Strommarkt echt liberalisiert wird und die Politik die notwendigen Rahmenbedingungen mit Vernunft setzt. ■

Medien zwischen Anmassung und Anpassung – eine Standortbestimmung mit kritischem Blick Mittwoch, 9. Mai 2012, 14 Uhr, Volkshaus Zürich, Stauffacherstrasse 60 Die Veranstaltung der CVP 60 + Schweiz ist öffentlich.

Die Politik 3 April/Mai 2012

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Alois Gmür, Nationalrat und Braumeister im Familienbetrieb Rosengarten in Einsiedeln

hoPfen und Malz bewahren

Von den vor 100 Jahren erwähnten elf Brauereien im Kanton Schwyz hat nur eine die wirtschaftlich bewegten Zeitläufe erfolgreich überstanden – die Brauerei Rosengarten in Einsiedeln. Von Biertradition und Traditionsbetrieben. Schon 4000 vor Christus haben die Babylonier Bier gebraut. Im Mittelalter war es Aufgabe der Frauen, Bier herzustellen. Bierkränzchen unter Frauen waren an der Tagesordnung. Da man auch in den Klöstern nicht auf das edle Getränk verzichten wollte, begannen auch die Mönche Bier zu brauen. Sie verfeinerten das Handwerk, schrieben ihre Erfahrungen nieder und trugen damit viel zur Verbesserung der Qualität bei.

Wallfahrt und Bier Um 1900 gab es in der Schweiz mehr als 300 Braustätten. Allein in Einsiedeln deren fünf. Sie profitierten vom boomenden Wallfahrtstourismus. Mein Urgrossvater kam zu dieser Zeit als junger Braumeister von München nach Luzern und arbeitete in der Luzerner Brauerei Enderli. Nach seiner Heirat mit einer Luzernerin erwarb er mit seiner Frau die Brauerei Rosengarten in Einsiedeln, deren Bier sehr begehrt war. Nicht zuletzt war der Ruf meines Urgrossvaters ausschlaggebend für den Erfolg, denn bayrische Braumeister waren bekannt für grosse Braukompetenz. Als er 1925 viel zu früh verstarb, war dies ein harter Schicksalsschlag. Meine Urgrossmutter mit ihren vier Kindern, hatte Familie und Betrieb zu organisieren. nachhaltiger entscheid Grossbrauereien versuchten die schwierige Situation auszunützen und boten an, den Betrieb zu übernehmen. Sie wollten meine Urgrossmutter überzeugen, dass sie als Frau und Mutter vor allem für die Kinder zu sorgen habe. Doch als Frau, welche nachhaltig und langfristig dachte, war es ihr ein Anliegen, die Arbeitsplätze zu erhalten, ebenso wie die Brautradition im Klosterdorf. Sie wollte die Grundlagen schaffen, welche auch ihren Kindern ein Engagement im Unternehmen ermöglichten. Deshalb entschied sie sich, den Betrieb nicht zu verkaufen, sondern diesen selbst zu führen. Das hat sie in ausserordent26

Die Politik 3 April/Mai 2012

lich schwierigen wirtschaftlichen Zeiten von 1925–1956 souverän getan.

Familienaktiengesellschaft 1956 wurde eine Familienaktiengesellschaft gegründet und von diesem Zeitpunkt an war bereits die dritte Generation am Ruder. Bis zum heutigen Tag ist es das Ziel der Besitzerfamilie, den Betrieb, die zweiundzwanzig Arbeitsplätze und die Brautradition zu erhalten. Dem Unternehmen wurden nie finanzielle Mittel entzogen und den Beteiligten keine Dividenden ausbezahlt. Dank dieser guten finanziellen Grundlage konnten in regelmässigen Abständen Investitionen getätigt werden – allein in den letzten zehn Jahren zwanzig Millionen in Gebäude und technische Einrichtungen. Parallel dazu wurden in Abständen von fünf Jahren neue Biere kreiert und lanciert. In der Brauerei Rosengarten entstand das schweizweit erste Bier mit Mais, das Maisgold. Ebenso einmalig ist das Einsiedler Dinkelbier, welches mit Dinkelkorn gebraut ist. Obwohl in den letzten zwanzig Jahren der Bierkonsum um fünfundzwanzig Prozent rückläufig war, hat unser Unternehmen den Bierabsatz verdoppelt und bewiesen, dass nicht nur Grosskonzerne, sondern auch Familienbetriebe erfolgreich wirtschaften können. Die Einsiedler-Biere werden nicht nur in der Region, sondern weit darüber hinaus geschätzt und sind sehr beliebt. Heute wird der Betrieb von der vierten Generation geführt und von der fünften unterstützt. In der Wirtschaft Traditionen aufrecht zu erhalten, hängt von verschiedenen Faktoren ab: langfristiges Denken, nachhaltiges ökonomisches Handeln, persönliches Engagement, Ausdauer, Mut, Innovation, Investitionen, Motivation und Einigkeit. So ist Hopfen und Malz nie verloren und Traditionen bleiben bestehen. ■


Daniel Fässler, Nationalrat und Landammann

Foto: Edgard Theiss

aPPenzell innerrhoden – gelebte traditionen

Wir Appenzeller gelten als heimatverliebt und traditionsverbunden. Brauchtum ist im Volk stark verwurzelt. Tradition hat in Innerrhoden nichts mit musealen Kulturerbstücken zutun.

Appenzell Innerrhoden ist mit seinen knapp 16'000 Einwohnern der bevölkerungsmässig kleinste Kanton der Schweiz. Der Kanton liegt abseits des grossen Fernverkehrs, weil er bis heute weder über einen Autobahnanschluss noch über eine Anbindung an das nationale Normalspur-Schienennetz verfügt. Die verkehrsmässig abgeschiedene Lage führte im 19. Jahrhundert dazu, dass der Kanton von der Industrialisierung «verschont» blieb, sodass seither der Tourismus einen hohen Stellenwert geniesst. Appenzell Innerrhoden wird aber in erster Linie als Bauernland, oder präziser, als Milchwirtschaftsland wahrgenommen. Noch 1970 gehörten 32,6 Prozent der Beschäftigten im Kanton dem Sektor Land- und Forstwirtschaft an. Dieser Wert ist zwar mit aktuell 16 Prozent auf die Hälfte gesunken, doch das bäuerliche Element ist vor allem in volkskultureller Hinsicht nach wie vor prägend. Zu diesem gesellt sich die katholische Tradition, die das kulturelle Leben in Appenzell Innerrhoden bis zum heutigen Tag wesentlich mitprägt.

im alltag stark verankert Zusammen mit der Streusiedlung, die das hügelige Appenzeller Landschaftsbild seit Jahrhunderten prägt, haben die erwähnten Faktoren eine Kulturlandschaft geschaffen, die sich durch eine grosse Vielfalt bäuerlich-katholischer Traditionen auszeichnet. Diese sind im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Alltag nach wie vor stark verankert, verfügen über eine hohe Dynamik und sind entsprechend identitätsrelevant. Die Innerrhoder Traditionen sind keine musealen Kulturerbstücke und keine Events. Sie leben, weil sie gelebt

werden, ob mit oder ohne Zuschauende. Dies ist nicht selbstverständlich, denn die lebendigen Traditionen des Kantons wurden von der Tourismus- und Lebensmittelbranche schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts marketingmässig instrumentalisiert, was deren Bekanntheit im In- und Ausland förderte. Die Innerrhoderinnen und Innerrhoder liessen sich aber nie zu reinen Aufführenden machen, sondern fühlen sich durch das Interesse nur positiv in ihrem Tun bestärkt. Wenn Beispiele für typisch appenzell-innerrhodische Traditionen aufzuzählen sind, hat man die Qual der Wahl. Denn welches Land in vergleichbarer Grösse hat eine eigene Tracht, einen eigenen Musikstil, eine eigene Art des Jodelns, eine eigene Baukultur und so viel Brauchtum? Die sennischen Traditionen wie das Öberefahre (Alpfahrten), die Alpstobeden, die Bauernmalerei und das Sennenhandwerk gehören dazu, die Handstickerei, religiöse Traditionen wie die Stosswallfahrt, die Fronleichnamsprozessionen und die Bräuche an Weihnachten, das Neujahrssingen am Altjahrabend, die Appenzeller Streichmusik, die Rugguserli (Naturjodel) und Ratzliedli, aber auch die Botzerössli (Fasnachtsfigur mit Ross und Reiter) und das Maschgeren (fasnächtliches Treiben von Maskierten in Gassen und Beizen). Und schliesslich gehört auch die Landsgemeinde zu den lebendigen Traditionen Innerrhodens, eine feierliche, ernsthafte und festliche Demonstration des direktdemokratischen Selbstbewusstseins von Appenzell Innerrhoden. Die Appenzeller Traditionen sind mehr als nur eine Reise wert. ■ Die Politik 3 April/Mai 2012

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ParlaMent – ort der Politischen entscheidung?

Je mehr Aufgaben der Staat zu erfüllen hat, desto schwerer wiegt das Wissensproblem von Parlament und Regierung. Diese verfügen in besonders dynamischen Bereichen wie dem Umwelt- und Risikorecht, Wirtschaftsverwaltungs-, Regulierungs- und Gesundheitsrecht kaum mehr über genügendes Handlungswissen, um die differenzierte und pluralistische Mehrebenenverwaltung zu steuern. Das Wissensproblem zwingt den parlamentarischen Gesetzgeber dazu, wegen immer komplexer werdenden staatlichen Aufgaben, die sich hierarchischer Steuerung zunehmend entziehen, kaum mehr zu intervenieren, sondern die gesellschaftlichen Teilsysteme wie Wirtschaft und Gesellschaft ihren Handlungslogiken weitgehend zu überlassen. Staat und Parlament überfordern sich zusehends, wo sie in Märkte, Netzwerke oder andere bewegliche Geflechte intervenieren. Sie verfügen kaum über genügendes Handlungswissen, das sich in den gesellschaftlichen Teilsystemen ständig neu entwickelt. Der Wandel des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft und die Vielfalt der bundesstaatlichen (und europäischen) Mehrebenenverwaltung haben den Steuerungs- und Kontrollanspruch von Parlament und Regierung verändert. Die Konsensbeschaffung zwischen den Interessengruppen für die Lösung der politischen Sachfragen wird zum Problem.

Verhandlungssysteme – andere steuerungsfaktoren Seit geraumer Zeit können nationale Parlamente diese Legitimationsleistung nicht mehr alleine erbringen. In den genannten Rechtsbereichen treten grenzüberschreitende politische «Netzwerke», Verhandlungsgremien oder Funktionssysteme als neue Art der flexiblen und lernfähigen Organisation kompensatorisch an ihre Stelle, die – weitgehend unabhängig voneinander – politische Steuerungsaufgaben übernehmen und demokratische Legitimation vermitteln. Das Verhandeln in diesen «Netzwerken», das ergebnisorientierte Ausgestalten und Feinjustieren von Verhandlungssystemen, an denen der Staat nicht direkt beteiligt ist, sind die in modernen Gesellschaften zunehmend verwendeten (alternativen) Formen politischer Steuerung. 28

Die Politik 3 April/Mai 2012

Die wachsende Bedeutung von Verhandlungssystemen ist eine Begleiterscheinung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels. In solchen Konstellationen herrscht aber keine Harmonie, sondern eine Mischung aus Interessenkonflikten und gemeinsamen Problemlösungsversuchen. Das birgt die Gefahr von Entscheidungsblockaden oder der Einigung auf suboptimale Kompromisslösungen in sich. Dem Gesetz kommt zwar keine exklusive, aber eine nach wie vor zentrale Bedeutung zu. Andere Steuerungsfaktoren wie Wettbewerb, Organisation, Personal und Finanzen gewinnen hingegen an gestalterischer Kraft.

stellung von Parlament und regierung Die Parlamente sind für die Gestaltung der nationalen Entscheidungsprozesse vorrangig verantwortlich. Um die Staatsaufgaben möglichst problemlos erfüllen zu können, sind die Entscheidungsträger angesichts der sich verändernden staatlichen Wissensorganisation gezwungen, mit Wirtschaft und Gesellschaft im Zeichen von Internationalisierung, Europäisierung und Privatisierung zu kooperieren und die Staatsorganisation – namentlich die Rechtssetzung und die Kontrolle der Exekutive durch Parlament und Volk – darauf auszurichten. Die in der Verfassung verankerte Gewaltenteilung hemmt nicht nur staatliche Macht zur Sicherung der individuellen und politischen Freiheit, sondern ermöglicht auch staatliche


Foto: parl.ch

Handlungsfähigkeit in einer demokratischen Ordnung. Staatliche Macht ist im demokratischen Verfassungsstaat nicht konzentriert, sondern auf die drei Organe Parlament, Regierung und Gerichte verteilt. Mit dem Wachstum der Staatsaufgaben und der damit verbundenen Differenzierung der Ver-

zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft neu zu organisieren (Verwaltungsmodernisierung). Er hat im arbeitsteiligen Legitimationsprozess seinen politischen Gestaltungsauftrag zu erfüllen. Dieser besteht darin, die Beschaffung von Konsens und Akzeptanz für politische Entscheidungen im Dienste der Menschen durch gute Gesetzgebung und adäquate Normprogramme zu organisieren, die innovativen Potentiale der unterschiedlichen Akteure zu mobilisieren und Schwerpunkte für die politische Gestaltung zu setzen. Diese besteht weitgehend in begleitender und mitwirkender Kontrolle, die in allen Phasen der Entscheidungsfindung innerhalb der Parlamentsmehrheit stattfindet, während die parlamentarische Opposition auf die nachträgliche Kontrolle unter Einsatz der formellen Kontrollinstrumente verwiesen ist. Die Legitimität des parlamentarischen Systems hängt von seiner Problemlösungsfähigkeit und seiner Stabilität ab. Stabilität braucht Regeln (Verfassung, Gesetze, Verordnungen usw.), welche die Lern-, Leistungs- und Zukunftsfähigkeit des politischen Systems ermöglichen.

stärkung des Parlamentes waltung ist eine weitere Funktion des Gewaltenteilungsprinzips sichtbar geworden. Die funktionale Gewaltenteilung ordnet die Kompetenzen den Organen funktionsadäquat zu, damit sie ihre Aufgaben sachgerecht und effizient erfüllen können. So hängt es von der Leistungsfähigkeit jedes staatlichen Funktionsträgers ab, Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten, nach Möglichkeiten abschichtenden Entscheidens, nach der Fähigkeit, flexibel zu reagieren.

Begrenztes kontroll- und sanktionspotential In einem überwiegend dezentralen Gestaltungs- und Vollzugskonzept im Mehrebenensystem des Bundesstaates (und der EU) erweist sich das Kontroll- bzw. Sanktionspotential des Parlamentes gegenüber der Verwaltung als begrenzt. Die Abgeordneten können zwar im Rahmen ihrer Aufsichts- und Kontrollfunktion entsprechende Fragen und (Korrektur-) Vorschläge unterbreiten. Vieles hängt aber von ihrer Sachkunde und Dynamik ab, ob sie imstande sind, die Regierung beziehungsweise die fraglichen Ministerien zu den notwendigen Kurskorrekturen zu veranlassen. Der parlamentarische Gesetzgeber ist mit der Notwendigkeit konfrontiert, sich selbst zu entlasten und die Aufgabenteilung

Demokratie ist als Gestaltungsaufgabe zu konzipieren; sonst würde sich die Politik mit ihrem Anspruch der Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen selbst aufgeben. Hier weist die Verfassung dem Parlament für die Vermittlung demokratischer Legitimation eine zentrale (Mit-) Gestaltungsaufgabe zu. Dieses kann seinen Gestaltungsauftrag aber nur dann erfüllen, wenn es seine Anpassungs- und Legitimationsprobleme selbst bewältigt und im Mehrebenensystem des Bundesstaates (und der EU) die ihm zu Gebote stehenden Möglichkeiten ausschöpft, um auf die langfristigen politischen Entscheidungen, namentlich im Bereich der Gesetzgebung und des Staatshaushalts, wieder stärker Einfluss nehmen zu können. ■ –Quirin Weber

dr. iur., dr. phil. i. Quirin weber, Muri AG, war Sekretär des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes und Kommunikationschef des Schweizerischen Handels- und Industrie-Vereins (heute economiesuisse). Er ist Autor der juristischen und politologischen Studie «Parlament – Ort der politischen Entscheidung? Legitimationsprobleme des modernen Parlamentarismus – dargestellt am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland», die 2011 beim Helbing Lichtenhahn Verlag in Basel erschienen ist. Die Politik 3 April/Mai 2012

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Eidgenössische Volksinitiative «Für Ehe und Familie – gegen die Heiratsstrafe» Im Bundesblatt veröffentlicht am 3.5.2011. Die unterzeichneten stimmberechtigten Schweizer Bürgerinnen und Bürger stellen hiermit, gestützt auf Art. 34, 136, 139 und 194 der Bundesverfassung und nach dem Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte, Art. 68ff, folgendes Begehren: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 14 Abs. 2 (neu) 2 Die Ehe ist die auf Dauer angelegte und gesetzlich geregelte Lebensgemeinschaft von Mann und Frau. Sie bildet in steuerlicher Hinsicht eine Wirtschaftsgemeinschaft. Sie darf gegenüber andern Lebensformen nicht benachteiligt werden, namentlich nicht bei den Steuern und den Sozialversicherungen. Auf dieser Liste können nur Stimmberechtigte unterzeichnen, die in der genannten politischen Gemeinde in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt sind. Bürgerinnen und Bürger, die das Begehren unterstützen, mögen es handschriftlich unterzeichnen. Wer bei einer Unterschriftensammlung besticht oder sich bestechen lässt oder wer das Ergebnis einer Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative fälscht, macht sich strafbar nach Art. 281 beziehungsweise nach Art. 282 des Strafgesetzbuches.

Kanton

Nr.

Postleitzahl

Name

handschriftlich in Blockschrift

Vorname

handschriftlich in Blockschrift

Geburtsdatum

Tag/Monat/Jahr

Politische Gemeinde

Wohnadresse

Strasse/Hausnummer

Unterschrift eigenhändig

Kontrolle

leer lassen

1. 2. 3. Wichtig: Die Liste ist vollständig oder teilweise ausgefüllt sofort zurückzusenden an das Initiativkomitee: CVP / PDC / PPD / PCD, «Heiratsstrafe abschaffen!», Postfach 362, 3052 Zollikofen, das für die Stimmrechtsbescheinigung besorgt sein wird. Weitere Unterschriftenbögen können per Email bei info@cvp.ch bestellt oder auf der Homepage www.familieninitiativen-cvp.ch heruntergeladen werden. Ablauf der Sammelfrist: 3.11.2012 Die unterzeichnete Amtsperson bescheinigt hiermit, dass obenstehende (Anzahl) Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Volksinitiative in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt sind und ihre politischen Rechte in der erwähnten Gemeinde ausüben.

Amtsstempel

Die zur Bescheinigung zuständige Amtsperson (eigenhändige Unterschrift und amtliche Eigenschaft)

Ort: Datum: Das Initiativkomitee, bestehend aus nachstehenden Urheberinnen und Urhebern, ist berechtigt, diese Volksinitiative mit absoluter Mehrheit seiner stimmberechtigten Mitglieder zurückzuziehen. Darbellay Christophe, Le Perrey, 1921 MartignyCroix; Schwaller Urs, Rossackerstrasse 4, 1712 Tafers; Binder Marianne, Müntzbergstrasse 21, 5400 Baden; David Eugen, Marktgasse 20, 9000 St. Gallen; de Buman Dominique, Place de Notre-Dame 12, 1700 Fribourg; Frey Tim, Freiensteinstrasse 6, 8032 Zürich; Glanzmann-Hunkeler Ida, Feldmatt 41, 6246 Altishofen; Graber Konrad, Amlehnhalde 18, 6010 Kriens; Häberli-Koller Brigitte, Im Furth, 8363 Bichelsee; Hany Urs, Chileweg 8, 8155 Niederhasli; Meier-Schatz Lucrezia, Haus zum Bädli, 9127 St. Peterzell; Pedrazzini Luigi, Sentiero alle coste 1, 6600 Solduno; Pfister Gerhard, Gulmstrasse 55, 6315 Oberägeri; Romano Marco, Via Carlo Pasta 21, 6850 Mendrisio; Seydoux Anne, Rue du Mont-Terri 15, 2800 Delémont. 1

SR 101

Eidgenössische Volksinitiative «Familien stärken! Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen» Im Bundesblatt veröffentlicht am 3.5.2011. Die unterzeichneten stimmberechtigten Schweizer Bürgerinnenund Bürger stellen hiermit, gestützt auf Art. 34, 136, 139 und 194 der Bundesverfassung und nach dem Bundesgesetz vom 17. Dezember 1976 über die politischen Rechte, Art. 68ff, folgendes Begehren: Die Bundesverfassung1 wird wie folgt geändert: Art. 116 Abs. 2 zweiter Satz (neu) 2 … Kinder- und Ausbildungszulagen sind steuerfrei. Auf dieser Liste können nur Stimmberechtigte unterzeichnen, die in der genannten politischen Gemeinde in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt sind. Bürgerinnen und Bürger, die das Begehren unterstützen, mögen es handschriftlich unterzeichnen. Wer bei einer Unterschriftensammlung besticht oder sich bestechen lässt oder wer das Ergebnis einer Unterschriftensammlung für eine Volksinitiative fälscht, macht sich strafbar nach Art. 281 beziehungsweise nach Art. 282 des Strafgesetzbuches.

Kanton

Nr.

Postleitzahl

Name

handschriftlich in Blockschrift

Vorname

handschriftlich in Blockschrift

Geburtsdatum

Tag/Monat/Jahr

Politische Gemeinde

Wohnadresse

Strasse/Hausnummer

Unterschrift eigenhändig

Kontrolle

leer lassen

1. 2. 3. Wichtig: Die Liste ist vollständig oder teilweise ausgefüllt sofort zurückzusenden an das Initiativkomitee: CVP / PDC / PPD / PCD, «Steuerfreie Kinder- und Ausbildungszulagen!», Postfach 362, 3052 Zollikofen, das für die Stimmrechtsbescheinigung besorgt sein wird. Weitere Unterschriftenbögen können per Email bei info@cvp.ch bestellt oder auf der Homepage www.familieninitiativen-cvp.ch heruntergeladen werden. Ablauf der Sammelfrist: 3.11.2012 Die unterzeichnete Amtsperson bescheinigt hiermit, dass obenstehende (Anzahl) Unterzeichnerinnen und Unterzeichner der Volksinitiative in eidgenössischen Angelegenheiten stimmberechtigt sind und ihre politischen Rechte in der erwähnten Gemeinde ausüben.

Amtsstempel

Die zur Bescheinigung zuständige Amtsperson (eigenhändige Unterschrift und amtliche Eigenschaft)

Ort: Datum: Das Initiativkomitee, bestehend aus nachstehenden Urheberinnen und Urhebern, ist berechtigt, diese Volksinitiative mit absoluter Mehrheit seiner stimmberechtigten Mitglieder zurückzuziehen. Darbellay Christophe, Le Perrey, 1921 Martigny-Croix; Schwaller Urs, Rossackerstrasse 4, 1712 Tafers; Binder Marianne, Müntzbergstrasse 21, 5400 Baden; David Eugen, Marktgasse 20, 9000 St. Gallen; de Buman Dominique, Place de Notre-Dame 12, 1700 Fribourg; Frey Tim, Freiensteinstrasse 6, 8032 Zürich; Glanzmann-Hunkeler Ida, Feldmatt 41, 6246 Altishofen; Häberli-Koller Brigitte, Im Furth, 8363 Bichelsee; Hany Urs, Chileweg 8, 8155 Niederhasli; Meier-Schatz Lucrezia, Haus zum Bädli, 9127 St. Peterzell; Pedrazzini Luigi, Sentiero alle coste 1, 6600 Solduno; Pfister Gerhard, Gulmstrasse 55, 6315 Oberägeri; Romano Marco, Via Carlo Pasta 21, 6850 Mendrisio; Seydoux Anne, Rue du Mont-Terri 15, 2800 Delémont. 1

SR 101


Erfolgreiche CVP-Initiativen –

weiter so!

Am 28. Februar dieses Jahres titelte der Tagesanzeiger: «Die CVP ist beim Unterschriftensammeln viel erfolgreicher als die FDP.» Damals hatten wir für unsere Initiativen (nota bene zwei!) nach zwei Dritteln der Sammelfrist bereits fast so viele Unterschriften beisammen wie die FDP sechs Wochen vor Ende ihrer Frist. Wir sammeln weiter – mit dem Bewusstsein, dass sich die CVP ein ganz besonderes Geburtstagsgeschenk machen kann: Wir sind wieder initiativfähig! Für die CVP heisst das: Weitersammeln! Unsere Basis in allen Kantonen muss nach dem kalten Winter wieder auf die Strasse, Präsenz markieren, und die restlichen Unterschriften, die je nach Kanton noch fehlen, zusammen bringen. Vor allem unsere Exponenten, Bundesparlamentarier, Regierungsräte, Mandatsträger müssen aktiv mit ihrer Präsenz auf der Strasse mithelfen. Die CVP Schweiz hat im Zusammenhang mit den eidgenössischen Abstimmungen nochmals einen grossen Versand an 80'000 Adressen mit Flyern für die Initiative gemacht. Wir planen die nationalen Sammeltage und eine Muttertagsaktion. Wir treffen uns mit den Kantonsverantwortlichen, um Koordination und Support zu bieten (Informationen erhalten Sie bei eigenmann@cvp.ch). Der Frühling macht sich erfreulicherweise auch wieder in der ansteigenden Unterschriftenzahl bemerkbar. Ich wünsche allen Unterstützern und Helfern viel Erfolg beim WeiterSammeln, viele gute Begegnungen mit unserer Bevölkerung, und danke Ihnen herzlich, wenn Sie Ihren Beitrag dazu leisten, dass der Tagesanzeiger möglichst bald titeln kann: Die CVP hat ihr Ziel erreicht. –Gerhard Pfister, Leiter CVP Familieninitiativen

Familieninitiativen

der nächste nationale sammeltag für die cVP-familieninitiativen findet am samstag, 28. april 2012 statt. am samstag, 12. Mai 2012 ist zudem eine schweizweite Muttertagsaktion geplant. detaillierte infos und Material zu den aktionen erhalten sie beim generalsekretariat der cVP schweiz. wenn sie sich als helfer engagieren oder den elektronischen initiativen-newsletter erhalten möchten, senden sie eine e-Mail an eigenmann@cvp.ch oder rufen sie uns an unter tel. 031 357 33 33.

Grincheux Le 11 mars dernier, les Suisses disaient non à l’initiative demandant six semaines de vacances pour tous. Quelques jours après ce scrutin, j’ai reçu un appel de mon cousin français qui me demandait sur quelle planète je vivais. J’ai eu beau lui présenter toute la panoplie des arguments économiques et lui rappeler que pour gagner plus il fallait travailler plus, rien à faire… Il ne peut pas concevoir qu’un peuple refuse d’avoir plus de vacances. Et quand je lui ai précisé que tous les cantons aussi bien urbains que ruraux, alémaniques que latins avaient dit non, j’ai bien cru qu’il allait s’étrangler au téléphone. Pour ne pas me fâcher avec mon cousin, nous avons rapidement changé de sujet de conversation – et évité de parler des résidences secondaires!

www.familieninitiativen-cvp.ch Die Politik 3 April/Mai 2012

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Sharon Siegenthaler

Hochzeitsbräuche aus aller Welt

Hochzeit in Rot Chinesische Brautpaare heiraten traditioneller­ weise in Rot – jener Farbe, mit der seit der Ming­ Dynastie Glück verbunden wird. Um böse Geister zu vertreiben, wird die Braut an der Hochzeit mit Knallfröschen begrüsst. Abgerundet wird die Trauung mit dem Tausch der Weingläser des Paa­ res. Das soll die Balance und Harmonie in den ge­ meinsamen Jahren erhalten. Nach einer Teezere­ monie folgt ein Festbankett, wobei dem Essen eine grosse Symbolik beigemessen wird: Fisch steht für Reichtum, Nudeln für langes Leben und Lotussamen für Fruchtbarkeit.

Heiraten in Weiss In Frankreich hält der Bräutigam um die Hand seiner Liebsten an, indem er ihr einen Weissdornzweig überreicht. Weissdornzweige galten als Heilmittel gegen Herzprobleme. Die Braut soll mit dem Zweig die «Herzprobleme» ihres Liebsten heilen. Auch das Sinnbild jeder Traumhochzeit, das weisse Braut­ kleid, kommt angeblich aus Frankreich. Herzogin Anne de Bretagne (1477–1514) soll die Erste gewesen sein, die einen weissen Stoff wählte. Durchgesetzt hat sich dieser Hochzeitsbrauch aber erst 400 Jahre später, als Kaiserin Eugénie Napoleon III in einem weissen Kleid heiratete.

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Die Politik 3 April/Mai 2012

Reis werfen Die Tradition des Reiswerfens stammt ur­ sprünglich aus dem asiatischen Raum. In vielen Teilen Asiens gilt die Reispflanze als Symbol für Fruchtbarkeit. Das Werfen von Reiskörnern bringt Fruchtbarkeit und Kin­ dersegen. In der Regel wird das Brautpaar von den Hochzeitsgästen mit Reiskörnern beworfen, wenn es aus dem Standesamt oder der Kirche kommt.

Hennaornamente Die Hindus bestimmen den Zeitpunkt der Ehe per Horoskop. Eine Tradition, die noch heute gepflegt wird, ist das Bemalen der Hände und Knöchel der Braut mit Hennapaste und Ornamenten, die Glück verheissen. Die Hochzeit dauert bis zu drei Tage. Die Braut trägt dabei einen farbenfrohen, meist purpur­ roten Sari. Der Bräutigam einen langen Kragenrock und eng anliegende Hosen. Den Kopf bedeckt ein golden glänzender Turban. Von besonderer Bedeu­ tung ist das heilige Feuer, welches das Brautpaar siebenmal umkreisen muss. Arrangierte Ehen sind üblich. Das Brautpaar sieht sich deshalb an seiner Hochzeit häufig zum ersten Mal.


VOr 20 Jahren…

Über die Schwelle tragen Das über die Schwellle tragen ist ein heidnischer Brauch, der auf dem Glauben basiert, dass böse Geister, die unter der Türschwelle lauern, der Braut ihr Glück nicht gönnen. Damit sie nicht von den Geistern berührt wird, trägt der Bräutigam sie über die Schwelle. Das Ritual hat eine weitere symbolische Bedeutung. Hinter der Schwelle be­ ginnt ein gemeinsames neues Leben. Auch durch den Lärm der Dosen, die am Auto des Hoch­ zeitspaares angebracht werden, sollen böse Geis­ ter vertrieben werden.

Feuersteine Quadratische Bonbons, in farbigem Papier einge­ wickelt und mit aufgedrucktem Spruch, sind auch bekannt als «Feuersteine». Ihren Namen erhielten diese Bonbons angeblich wegen ihrer Ähnlich­ keit mit der gleichnamigen Gesteinsart. Der Ur­ sprung dieses Brauchs ist heute kaum noch be­ kannt. Gemäss einer Publikation über Sitten und Bräuche im Kanton Zürich, haben sich jeweils Kinder auf der Strasse der Hochzeitsgesellschaft, die auf dem Weg zur Kirche war, in den Weg ge­ stellt. Mit Feuersteinen konnte sich das Brautpaar den Weg «freikaufen».

hat Yvette Ming ihre Arbeit auf dem Generalsekretariat der CVP Schweiz als Übersetzerin aufgenommen. Vor einem Monat ist sie frühzeitig in Pension gegangen, um mit ihrem Mann eine Weltreise zu machen. Abgesehen davon, dass sie uns allen auf dem Generalsekretariat fehlt, hinterlässt Yvette Ming (Bild) auch im Redaktionsteam der POLITIK eine grosse Lücke. Sie war «Blattmacherin» der Westschweizer Ausgabe La Politique, sie gestaltete aus deutschen Texten französische Kunstwerke, sie war ein äusserst kreatives und phantasievolles Redaktionsmitglied und sie hatte selber eine ausgezeichnete Feder. Und damit lüften wir ein Geheimnis: Yvette Ming schrieb die Kolumne «Il Y a …» und sie ist die Autorin des GRINCHEUX, des Griesgrams unter den sieben Zwergen. Das sagt aber nichts über ihren eigenen Charakter aus. Im Gegenteil: Yvette Ming war in unserem Team die charmante Vertreterin der Westschweizer Kultur, fröhlich und geistreich. Danke liebe Yvette, für deine riesige Arbeit beim Aufbau der POLITIK und bei der Gestaltung von La Politique. La Politique, c’était Yvette. Als Nachfolger von Yvette Ming ist Philipp Chemineau zu uns gekommen. Wir freuen uns sehr auf die Arbeit mit unserem neuen Teamkollegen. Sein erfolgreicher Einstand liegt vor: Voilà. La première Politique made by Philipp Chemineau. –Marianne Binder, Chefredaktorin von La politique/DIE POLITIK

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Peter Erismann, Projektleiter und Co-Kurator Schweizerische Nationalbibliothek

die schweizer Mundarten werden ausgestellt

Wie die Schweiz sprach und spricht ist das Thema der aktuellen Ausstellung der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern. Eine Toninstallation mit historischen und zeitgenössischen Aufnahmen macht die Vielfalt der gesprochenen Sprache hörbar. Vier offizielle Landessprachen kennt die Schweiz – und ist damit zumindest in Westeuropa einzigartig. Die französische

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Die Politik 3 April/Mai 2012

Schweiz ausgenommen, dominieren im Alltag aber nicht die offiziellen Standardsprachen, sondern die Dialekte. Diesen ist die Ausstellung «Sapperlot! Mundarten der Schweiz» gewidmet. «Wie stellt man die gesprochene Sprache aus? Indem man sie hörbar macht. In der Ausstellung ‹Sapperlot!› hört man, wie Menschen in der Schweiz sprechen und wie sie früher gesprochen haben. Möglich machen dies zahlreiche historische Tondokumente aus der Sammlung des Phonogrammarchivs der Universität Zürich sowie aktuelle Aufnahmen», sagt Marie-Christine Doffey, Direktorin der Schweizerischen Nationalbibliothek.


die sprachsituation der schweiz Der Blick auf die Sprachsituation der Schweiz zeigt ein farbiges und komplexes Bild. Das Französische der Romandie unterscheidet sich nur unwesentlich von der Sprache Frankreichs, und die Dialekte, die Patois, werden nur noch an wenigen Orten gesprochen. Diesem relativ einheitlichen Sprachraum steht in Graubünden mit dem Rätoromanischen ein stark gegliederter gegenüber. Dort existieren neben dem Deutschen und dem Italienischen fünf schriftliche Idiome und seit einigen Jahren mit Rumantsch Grischun eine umstrittene einheitliche Amtssprache. In der italienischsprachigen Schweiz werden Dialetti und Standarditalienisch selbstverständlich als Varianten der gleichen Sprache gesprochen. In der Deutschschweiz dagegen ist die Diglossie, das Verhältnis zwischen Hochdeutsch und Mundart, immer wieder Gegenstand von Diskussionen und Konflikten. stimmen der schweiz aus den letzten hundert Jahren Im Zentrum der Ausstellung «Sapperlot! Mundarten der Schweiz» steht eine Toninstallation mit Aufnahmen aus allen vier Sprachregionen. Die historischen Tondokumente stammen aus dem Phonogrammarchiv der Universität Zürich und gehen bis in die Zehner Jahre des letzten Jahrhunderts zurück. Daneben wurden auch zeitgenössische Stimmen ausgewählt, so etwa Beispiele der Ethnolekte von Jugendlichen in den Strassen von Zürich oder Stimmen aus der Politik wie die von Doris Leuthard oder Urs Schwaller. Zu hören sind ebenfalls Beispiele aus der deutschschweizer Mundartliteratur, darunter Gedichte von Kurt Marti und Julian Dillier, ein Slam von Pedro Lenz zusammen mit Melinda Nadj Abonij oder satirische Verse von Niklaus Meienberg. Insgesamt bietet die Ausstellung dreizehn Hörstationen mit rund vierzig Tonaufnahmen. die vier grossen schweizer Wörterbücher Neben zahlreichen regionalen Wörterbüchern, sammeln und verzeichnen die vier grossen nationalen Wörterbücher den Wortschatz der Schweizer Mundarten. Diese werden in der Ausstellung ebenfalls vorgestellt: das «Schweizerische Idiotikon», das «Glossaire des patois de la Suisse romande», das

VOr 50 Jahren… Der 5. April 1962 ist ein bedeutendes Datum in der Beziehung zwischen der Schweiz und Italien. An diesem Tag erfolgte der Durchstich am Grossen St. Bernhard, dem ersten Autobahntunnel durch die Alpen. Der Tunnel wurde fast ausschliesslich mit Sprengstoff geschaffen, da Tunnelbohrer in den sechziger Jahren erst wenig verbreitet waren. Die Bauarbeiten begannen im Jahr 1958, die Eröffnungsfeier des 5828 Meter langen Tunnels fand am 14. März 1964 statt. Der Eingang des Tunnels befindet sich auf Schweizer Seite auf 1915 Metern über Meer, auf der italienischen Seite auf 1875 M.ü.M. Heute benutzen jährlich mehr als 600'000 Fahrzeuge den Tunnel, Spitzenjahr war 2001 mit 814'000 Fahrzeugen. Zu dieser Zeit waren der Gotthard- und der Mont-Blanc Tunnel geschlossen. (ym)

«Vocabolario dei dialetti della Svizzera italiana» und der «Dicziunari Rumantsch Grischun». Zu sehen ist, wie diese Wörterbücher vor über hundert Jahren gegründet wurden und wie bis heute daran gearbeitet wird.

Tonstudio: stimmen der schweiz 2012 Die Grundlage für die heutige Mundart-Forschung bilden Tonaufzeichnungen. In zwei kleinen Tonstudios ist es möglich, den eigenen Dialekt mittels einer Aufnahme in der Ausstellung zu hinterlegen. Unter dem Titel «Stimmen der Schweiz 2012» besteht dieses mehrsprachige Angebot auch auf dem Internet: www.stimmen.uzh.ch. Damit leisten die Besuchenden einen aktuellen Beitrag an die Mundartforschung, denn die Daten werden später von der Universität Zürich ausgewertet. ■ «sapperlot! Mundarten der schweiz» ist vom 7. März bis am 25. August 2012 in der Schweizerischen Nationalbibliothek zu sehen. www.nb.admin/sapperlot Die Politik 3 April/Mai 2012

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Schweiz nicht ins Offside stellen.

S t a Sta ag r t r ve am 17.6.

StaatsvertragsInitiative

NeIN


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