Magazin der CVP Schweiz, Februar 2012

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Magazin für Meinungsbildung. Ausgabe 1 / Februar 2012 / CHF 7.80 www.die-politik.ch

Ästhetik SCHÖNHEIT SEIN UND SCHEIN


TiTel

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SCHÖNHEIT vISIoN gamEkUNST allTag waNDEl STIl wErbUNg

Foto: Matthew Jacques/Shutterstock.com

INHalT

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«Das Bankkundengeheimnis ist strikte zu gewährleisten.

impressum

HEraUSgEbEr Verein DIE POLITIK rEDakTIoNSaDrESSE DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern, Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail binder@cvp.ch, www.die-politik.ch rEDakTIoN Marianne Binder, Jacques Neirynck, Gerhard Pfister, Yvette Ming, Lilly Toriola, Simone Hähni gESTalTUNgSkoNzEpT, IllUSTraTIoNEN UND layoUT Brenneisen Communications, Basel DrUCk Schwabe AG, Muttenz INSEraTE UND aboNNEmENTS Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail abo@die-politik.ch, Jahresabo CHF 52.–, Gönnerabo CHF 80.– NäCHSTE aUSgabE März 2012 Titelbild: ©iStockphoto.com/Eduardo Jose Bernardino

Die SVP steht ohne Wenn und Aber zum Schutz der Privatsphäre und des Privateigentums der Bürger vor Übergriffen des Staates und Dritter. Eine Aufweichung kommt für die SVP nicht in Frage.» Aus dem positionspapier der sVp schweiz zum Bankkundengeheimnis, zumindest vor der Affäre sarasin.


ediTOriAl – Marianne Binder, Chefredaktorin

SCHÖN IST, waS gEfällT … und so entziehen sich ästhetische Kriterien sowohl der «Objektivität» als auch der «Kontrolle». Ich denke da an Missgriffe im privaten und öffentlichen Raum: triste Autobahnraststätten, global normierte Billigläden, Wohnquartiere wie Baumusterzentralen, überbreite Landstrassen durch alte Bauerndörfer, und eine Neuerscheinung der letzten Jahre: die Kreiselkunst. Weil man nicht vorschreiben kann, was gefallen soll, lässt man es bleiben und bestimmt bei Bauvorgaben verschiedene Normen, nur nicht ästhetische: Länge, Breite, Höhe, Dachwinkel und Abstand zum Nachbarhaus. Man mag das bedauern, wenn man sich einbildet, man wisse, was schön sei und hässlich, doch es ist wohl auch besser so. Was staatlich verordnete Kriterien für gute Architektur anrichten können, beweisen gewisse Hinterlassenschaften der DDR. Und der Gedanke an das Dritte Reich und seinen Überfall auf die Kunst lässt einen immer noch schaudern. Vor Jahren publizierte die Sonntagszeitung einmal eine hämische Reportage über die Villen der Schweizer Superreichen, und tröstlich war, dass man Geschmack nicht auch noch kaufen kann. Zumindest hier herrscht doch Gerechtigkeit.

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e . p. a .

In diesem demokratischen Sinne wenden wir uns dem Thema der Ästhetik zu. Wie jedes Mal haben wir auch über das Titelblatt abgestimmt, und siehe da: Auf jeden Vorschlag entfielen gleich viel Stimmen. Ich traf dann meine Wahl am Schluss, was wie gesagt nicht heisst, dass sie auch richtig war. Was denken Sie?

Magazin für Meinungsbildung.

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ÄSTHETIK

ÄSTHETIK ÄSTHETIK

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SCHÖNHEIT IST EIN GAR WILLKOMMENER GAST.

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ÄSTHETIK

Die Politik 1 Februar 2012

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So STErbEN, wIE wIr gEborEN wUrDEN… Ein Gespräch über Schönheit mit Enrique Steiger, Facharzt für Ästhetische und Plastische Chirurgie

Was ist Schönheit? Ein Grundbedürfnis des Menschen wie Ernährung und körperliches Wohlbefinden. Ein Gut wie Gesundheit. Man kann Schönheit nicht erwerben, was sie auch so wertvoll macht, und man kann sie schwer beschreiben. Wenn es so wäre, dass man die Kriterien auf einfache Weise festlegen könnte, wäre der Erfolg einer Mona Lisa reproduzierbar. Das ist bekanntlich noch nie gelungen. Aber gewisse Kriterien gibt es schon? Richtige Proportionen beispielsweise. Ja, Polykleitos hatte für die Antike den Idealmenschen so definiert, dass der Kopf einen Achtel der Körperlänge ausmachen sollte. Bei einem entstellten Verunfallten versuche ich die eine Gesichtshälfte der anderen anzupassen, weil wir mehr oder weniger symmetrisch sind. Mehr oder weniger. Denn allzu viel Symmetrie empfinden wir wiederum als langweilig. Ich dachte immer, Grace Kelly sei perfekt symmetrisch… Das ist sie nicht. Und Angelina Jolie auch nicht. Ein Gesicht ist in Drittel unterteilt und jedes Drittel muss die gleiche Grösse haben. Bei Angelina Jolie ist der unterste Teil deutlich kleiner als der oberste, und dennoch gilt sie als eine der schönsten Frauen der Welt. Auch in der Asymmetrie liegt Schönheit. Würde Ihnen eine Grace Kelly oder eine Angelina Jolie gelingen? Mit aufwändigen Operationen und kieferchirurgischen Eingriffen wahrscheinlich schon. Man kann einen Schädel auseinandernehmen, anders formen und wieder zusammenbauen. Aber das würde ich nie tun. Eigentlich wollen wir doch gar keine starken Veränderungen unseres Seins, sogar wenn wir uns wenig attraktiv finden. Wenn ich jemanden mit einer schlimmen Missbildung im Gesicht rekonstruiere, soll er sich schliesslich hinterher selber noch erkennen.

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Fay Weldon hat einen Roman geschrieben über eine hässliche Frau, welche sich in zahlreichen Operationen in ihr Schönheitsidol verwandelt, um so zu werden wie sie. Es gelingt ihr nicht. Man kann sich durch ein anderes Äusseres nicht neu erschaffen. Wenn jemand vollkommen anders aussehen will, wird er bei uns zuerst vom Psychiater begutachtet, nicht vom Schönheitschirurgen. Marilyn Monroe schrieb in ihr Tagebuch: «Ich bin nicht Marilyn Monroe. Ich spiele nur eine Frau, die ich nicht bin.» Marilyn Monroe hatte sich zu einer Kunstform machen lassen, erfolgreich und angebetet, aber sie stand ein Leben lang im Zwiespalt mit sich selbst. Und doch hat das Äussere Einfluss auf das Innere und umgekehrt. Ich nenne das Beispiel meiner Mutter, deren Äusseres wichtiger Bestandteil in ihrem Leben war, auch wenn sie das so nie gesagt hat. Sie war wegen ihrer Schönheit gesellschaftlich begehrt und umgeben von spannenden und interessanten Leuten. Als sie älter wurde, hat sie darum gekämpft, einen Teil ihrer Attraktivität zu bewahren. Ich stelle in meiner Praxis fest, dass attraktive Menschen mehr Mühe haben, älter zu werden. Der Verlust eines grossen Teils dessen, was sie ausmacht, wiegt schwerer. Und da haben Sie Ihre Mutter operiert. Ja. Sie fand, ihr Äusseres reflektiere nicht mehr ihr Inneres. Alter ist verbunden mit dem Verlust von Vitalität, Beweglichkeit, Lebensqualität. Deshalb ist es verständlich, dass der Mensch zur Erhaltung der äusseren Fassade drängt. Eine andere Form, den Alterungsprozess aufzuhalten, wählen beispielsweise ältere Männer, welche sich mit jüngeren Frauen zusammentun. Der Stress in dieser Situation wiederum besteht oft darin, dass man sie verwechselt mit dem Vater ihrer jungen Partnerinnen, worauf sie dann mich aufsuchen…


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Ist das nicht oberflächlich, sich so auf Äusserlichkeiten zu konzentrieren? Wer sagt, Schönheit sei etwas Oberflächliches, sie sei vernachlässigbar, verkennt die Realitäten des Daseins. Attraktivität suggeriert vieles, was wir gerne hätten: gesunde Gene, Vitalität, Erfolg. Da berühren Sie aber in einer Gesellschaft aus Gleichberechtigten ein Tabu. Zu behaupten, Schönheit sei ein Erfolgsfaktor, ist politisch alles andere als korrekt. Das hat damit zu tun, dass wir nicht fassen können, was Schönheit uns antut. Dass wir uns durch Dinge führen lassen, welche wir nicht unter Kontrolle haben. Dem Menschen ist die Bezogenheit auf Äusseres genmässig implantiert. In seinem Fortpflanzungsprozess ist er an Kriterien gebunden, welche aus Äusserlichkeiten bestehen. Und obwohl Sie sagen, Schönheit sei einem gegeben, pfuschen Sie der Schöpfung ins Handwerk. Wir können Schönheit nicht schaffen, wir verbessern nur. Schönheit entsteht aus der Schöpfung, aus Evolution und Fortpflanzung. Schönheitschirurgie ist sowieso ein anmassender Titel. Wenn ich ein Unfallopfer operiere mit zerschnittenem Gesicht, das danach wieder menschlicher ausschaut, habe ich nicht Schönheit kreiert, sondern habe rekonstruiert.

Ihre mehrmonatigen humanitären Einsätze, welche Sie in Kriegsgebieten leisten. Das ist doch besser! Ich weiss es nicht. Wenn ich einen Kindersoldaten behandle, der am nächsten Tag jemanden tötet, frage ich mich, ob es nicht sinnvoller ist, in der Schweiz jemandem die Nase zu operieren. Weshalb tun Sie sich solche Einsätze denn an? Sie könnten es bequemer haben in ihrem Leben. Ich bin dankbar, in Kriegsgebieten zu arbeiten. Da trage ich einen kleinen Teil dazu bei, dass es den Menschen besser geht. Sie sind schon mit einem ganz kleinen Eingriff zufrieden und der wenigen Aufmerksamkeit, welche man ihnen zukommen lassen kann. Es geht einem natürlich an die Substanz, zu sehen, wie die Bevölkerung leidet, mitzuerleben, welche Traumatisierungen der Krieg verursacht hat, die Angst um die Existenz, die Verluste.

«Auch in der Asymmetrie liegt Schönheit.»

Foto: Joe Seer/Shutterstock.com

Sie haben in ihrer Branche aber mit Imageproblemen zu kämpfen. Es gibt Skepsis und Vorurteile. Anders als in den USA. Da steht man Äusserlichkeiten viel unverkrampfter gegenüber. Schönheit ist dort ein Königsweg. Nicht nur Intelligenz, nicht nur Schaffenskraft. In der Schweiz rümpfen wir natürlich die

Nase darüber. Bei uns heisst es in zwinglianischer Manier, wir sind erfolgreich, weil wir rechtschaffen sind und ordentlich. Wir sollen so sterben, wie wir geboren wurden. Man fragt mich oft, ob ich nicht Besseres tun könnte.

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Haben Sie selber keine Angst? Angst habe ich nicht, doch das Risiko ist grösser geworden. Unsere Situation auf dem Feld hat sich massiv verschlechtert in den letzten zehn Jahren, auch wenn Hilfsorganisationen das von sich weisen. Wir verzeichnen unter uns Helfern viel mehr Verluste, weil sich die Formen des Krieges verändert haben. Es gibt weniger internationale Konflikte von Staaten, in welchen Armeen gegeneinander antreten, welche mehr oder weniger die Genfer Konvention berücksichtigen. Wir haben es heute vorwiegend mit Wegelagerern, Paramilizen und Banditen zu tun. Diese kümmern sich einen Deut um das Völkerrecht. Deshalb engagiere ich mich in einem Projekt für einen bewaffneten Schutz der humanitären Arbeit. Dieser soll nicht durch das Militär geschehen, sondern in Form einer zivilen Sicherheitsbehörde, welche sich den humanitären Prinzipien unterwirft und unparteilich humanitäre Arbeit im Feld schützt. Ihre Praxis in Zürich und ein Kriegslazarett, wie können Sie diese beiden Welten vereinbaren? Es sind tatsächlich Welten. Aber manchmal kommen sie auch zusammen. Einmal fragte mich eine bosnische Krankenschwester in Sarajewo – wir hatten eben eine Bombardierung überstanden und die Operation eines Schwerverletzten hinter uns – ob ich ihre Brüste verkleinern würde. Ich dachte, ich höre nicht recht, aber der Kampf um das Leben des Patienten war gewonnen. Da rückte für die Krankenschwester ein Wunsch, den sie schon immer mit sich trug, wieder in den Vordergrund. Nicht überlebenswichtig, aber wichtig für sie. Bei so viel Wertschätzung unseres Äusseren, käme unserer immer älter werdenden Gesellschaft ein Jungbrunnen schon gelegen. Gibt es Hoffnung? Immerhin steigen heute Sechzigjährige auf den Himalaya und machen Bungee-Jumping. Eine Folge unserer gesunden Lebensbedingungen und des medizinischen Fortschrittes. Ein gesunder Körper und ein gesunder Geist allein werden dem Menschen der Zukunft jedoch nicht reichen. Er will auch eine Hülle, welche dies reflektiert. Es wird ihm gelingen über Medikamente, welche beispielsweise die Zellteilung stoppen, den Zerfall der Elastizität, den Abbau des Skelettes. Es würde mich nicht überraschen, wenn alle eines Tages mit vierzig Jahren noch aussähen wie mit fünfundzwanzig. Eine homogene Gesellschaft von alten Kindern? Ich hoffe nicht, denn das wäre der Tod unserer Gesellschaft. Sie hat überlebt aufgrund ihrer Heterogenität. ■

Missing Link

D

er Euro feiert sein zehnjähriges Jubiläum. Richtig zum Feiern war niemandem zumute, innerhalb und ausserhalb der «Zone». Es scheint, dass die, die drin sind, recht gern raus möchten, aber nicht dürfen. Und die, die draussen sind, noch weiter weg möchten, aber nicht können. Das Duo Merkel/Sarkozy ist sich nur im Banalen einig: man möchte weiterhin sagen, was sich gehört und was nicht, und die eigenen Banken retten. Dass es vor allem Frankreich und Deutschland waren, die die Maastricht-Kriterien zur Makulatur machten, das Geld mit beiden Händen zum Fenster hinaus warfen, wird ungern zugestanden. Wer solche kreativen Umgehungen der Schuldengrenze vorturnt, muss sich nicht wundern, wenn der in solchen Dingen noch viel beweglichere europäische Süden nicht lange zögert mit dem Nachmachen. Die EU ist seit vierzig Jahren nicht in der Lage, in ihrer Zone einheitliche Steckdosen einzuführen – was mal eine bürgerfreundliche Sache wäre. Wie soll sie dann fähig sein, verbindliche und einheitliche Finanzregeln durchzusetzen? Cameron verletzte Ende letztes Jahr eine stillschweigende Regel: EU-Gipfel haben harmonisch zu enden, das heisst, Deutsch-Französisches abzunicken, und im Gruppenfoto zu lächeln. Sarkozy verweigerte prompt den Handschlag. Die Medien hetzen wieder nationalistisch gegeneinander. So viel zum «Friedensprojekt» EU.

– Interview: Marianne Binder

Enrique Steiger führt in Zürich eine Praxis für Ästhetische und Plastische Chirurgie und leistet jedes Jahr humanitäre Einsätze als Kriegsarzt.

Und der Bundesrat? Denkt immer noch, die EU sei so stark, dass Mimikry als Strategie genüge. What about a trip to London? –Gerhard Pfister Die Politik 1 Februar 2012

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Rudolf Hofer, Bümpliz

markSTEINE aUf DEm wEg DEr Cvp

Das hundertjährige Bestehen der CVP 2012 als nationale Partei ist ein guter Anlass zurückzublicken. Warum wurde die CVP was sie ist? Welche Entscheidungen in welchen Situationen stellten die Weichen der Entwicklung? Die Parteigeschichte, die mehr als hundert Jahre zurückreicht, ist eine Basis, um neue Optionen zu erkennen.

sonderbundskrieg Freischarenzüge und Sonderbundskrieg schufen eine «Blutschuld», welche politische Identitäten zementierte. Zwischen Liberalen und protestantischen Konservativen einerseits und Katholisch-Konservativen andererseits entstanden dauerhafte Schranken. Politische Identitäten wurden vielerorts zu praktisch unüberwindbaren Familientraditionen. Die militärisch besiegten Katholisch-Konservativen wurden vorerst zu einer marginalen Gruppe am Rand des politischen Spektrums.

Josef Leu Der 1842 gegründete Ruswiler Verein unter der Führung Josef Leus war die politische Organisation, mit der sich eine katholisch-konservative Landbevölkerung gegen die Fortschrittsdogmatik städtischer Eliten wehrte. Die katholischen Vertreter brauchten ihre neuen demokratischen Rechte gegen die liberalen Erfinder dieser Rechte. In der Schweiz verbanden sich konservative Inhalte mit einem demokratischen Anspruch, während sonst in Europa konservativ zugleich aristokratisch und monarchistisch bedeutete.

Jesuitenberufung 1844 übertrug die konservative Luzerner Regierung dem Jesuitenorden die Lehrerausbildung. Aus luzernischer Sicht war dies sinnvoll. Das Landvolk musste seine Bildungsspezialisten auswärts holen. Gesamtschweizerisch wurde damit aber die Chance eines Bündnisses mit konservativ-demokratischen Gruppen protestantischer Konfession verspielt, für welche die Jesuiten seit der Gegenreformation ein Schreckgespenst waren. 8

Die Politik 1 Februar 2012

kulturkampf Das Unfehlbarkeitsdogma führte zum Versuch der Freisinnigen, den gesellschaftlichen Einfluss der römisch-katholischen Kirche zurückzudrängen. 1848 hatten sich die Liberalen so weit gemässigt, dass sich die katholische Minderheit mit dem Bundesstaat arrangieren konnte. Der Kulturkampf wurde als Aggression empfunden. Die Folge war ein Wiedererstarken der katholisch-konservativen Kräfte.

Referendumskämpfe Mit dem 1874 eingeführten Gesetzesreferendum konnten die Katholisch-Konservativen die Bundespolitik entscheidend beeinflussen. Katholisch-konservative Stimmen konnten mit jenen der protestantischen Konservativen und Föderalisten addiert werden. Das Bündnis gegen den radikalen Freisinn, das vor dem Sonderbundskrieg verpasst worden war, wurde nun rechnerisch nachgeholt. Unterschriftensammlungen boten Gelegenheit zum Aufbau lokaler und kantonaler Parteiorganisationen.


Josef Zemp 1891 wurde mit Josef Zemp der erste katholisch-konservative Bundesrat gewählt. Er war das erste Mitglied der Schweizer Landesregierung, das nicht der bisher allein regierenden liberal-radikalen Fraktion angehörte. Der Freisinn war kompromissbereit geworden, nachdem klar war, dass mit dem Referendum die Regierungspolitik ausgehebelt werden konnte. Über das Referendum und die Bundesratsbeteiligung wurden die Geschlagenen von 1847 definitiv wieder in das politische System der Schweiz integriert.

industrialisierung Als Folge der Industrialisierung wanderten viele Katholiken in die grossen, bisher fast ausschliesslich protestantischen Städte. Diese katholische Diaspora bildete ein neues Wählerpotential. Zugleich mussten sich die Katholisch-Konservativen vermehrt sozialpolitisch engagieren, wenn sie diese Wähler – meist Arbeitnehmer – ansprechen wollten.

Nationale Parteiorganisation 1912 wurde die Schweizerische Konservative Volkspartei gegründet. Diese Parteigründung kann als organisatorische Antwort auf das zunehmende Gewicht der Bundespolitik, die gesteigerte bundespolitische Rolle der Katholisch-Konservativen und ihre soziale Differenzierung durch das Entstehen eines Arbeitnehmerflügels verstanden werden.

Proporzwahlrecht Die Schweizerische Konservative Volkspartei unterstützte 1918 ziemlich geschlossen die Einführung des Nationalratsproporzes. Selber gewann sie dadurch kaum Sitze. Indem da-

durch der Freisinn aber die Mehrheit im Nationalrat verlor, konnten neue Mehrheiten gebildet werden. Diese neuen Koalitionsmöglichkeiten trugen auch dazu bei, den Weg in die Mitte des politischen Spektrums zu finden.

Zauberformel Die CVP, die sich seit 1957 so nennt, war 1959 massgeblich an der Entstehung der Zauberformel für den Bundesrat beteiligt. Urheber der Zauberformel war der Generalsekretär der Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei Martin Rosenberg. Durch den Einbezug von zwei Sozialdemokraten erweiterten sich auch in der Exekutive die Koalitionsmöglichkeiten, welche die CVP, die sich klar als Partei der Mitte etabliert hatte, voll nützen konnte.

Aufhebung der konfessionellen Ausnahmeartikel Mit der Aufhebung des Jesuiten- und des Klosterartikels 1972 wurde die Diskriminierung der katholischen Minderheit beseitigt. Eine Folge von Sonderbundskrieg und Kulturkampf wurde beseitigt. Damit verlor die CVP aber zugleich die Rolle der Vertretung einer konfessionellen und regionalen Minderheit.

Wie geht es weiter? Die Geschichte der CVP ist nicht zu Ende. Sie wird fortgeschrieben. Weitere Marksteine sind zu setzen. Welche dies sein werden, entscheiden die Mitglieder. Sie tun dies aber auf der Basis einer langen Geschichte und eines reichen Erbes. Dieses Erbe für die Gestaltung von Land und Partei fruchtbar zu machen, ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor. ■ Die Politik 1 Februar 2012

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Was ist unästhetisch ?

Zu viel make-uP

80er-Jahre-architektur

weNdehälse

PlatteNbauteN

NeoNfarbeN

schNeematsch

berluscoNi

Parkhäuser

fische

leggiNs

grosse Power-PoiNt-PräseNtatioNeN hotelbuNker uNgePflegte ZeitgeNosseN

Neid aNgeber magersüchtige models

griesgrämige gesichter ausgedorrte laNdschafteN

raucheN

bermudas

schlechte ZähNe füsse

überheblichkeit badelatscheN

Zu kurZe hoseN

selbstüberschätZuNg schwere Pw’s mit Nur eiNer PersoN am steuer

besserwisserei

liNke uNd rechte oPPortuNisteN

kaugummi kaueN

weisse sockeN uNterirdische bahNhöfe

sommerstiefel

rasierte mäNNerkörPer

gier

Ergebnis einer nichtrepräsentativen Umfrage. 10

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Warum spielen ästhetische Kriterien bei der Bewilligung von Bauvorhaben eine untergeordnete Rolle? Die Ideologie des Funktionalismus, die die

Funktion eines Gebäudes zum alles be­ stimmenden Faktor erhebt, hat in den letz­ ten Jahrzehnten die billige Rechtfertigung für die Vernachlässigung einer guten Ge­ staltung gegeben. Durch diese Wertset­ zung verkommt die Gebäudegestalt nicht selten zum Abfallprodukt aus Funktion und Konstruktion. Ästhetik in der Archi­ tektur artikuliert sich jedoch nicht über den Bestimmungsfaktor einer Baute. Die höher bewertete Funktionalität eines Ge­ bäudes durch die Bauherrschaft und das oft fehlende Fachwissen zur Beurteilung einer guten Baugestaltung schränken ei­ ner Baubehörde die Möglichkeiten ein, im Baubewilligungsverfahren konkrete Auf­ lagen zur Verbesserung der Gebäude­ ästhetik zu machen. Dies mit der Folge, dass Stadt­ und Dorfbilder vielerorts in Konturlosigkeit verformt werden. Dabei macht das nicht einmal ökonomisch Sinn, denn ungestaltete Bauwerke kosten nicht weniger als gut gestaltete! Sep Cathomas, alt Nationalrat (GR) und Architekt

Zeitloses Design

Die Nivea Creme wurde eben 100 Jahre alt. Ersten Hautkontakt mit Konsumenten hatte sie 1911, damals noch in einer gelben Dose, verziert mit verspielten grünen Jugendstilranken. 1925 beginnt die Ära der unverwechselbaren blauen Dose. Blau und Weiss sind ab sofort die beiden prägenden Farben. Das Blau steht laut Nivea für Klarheit und Vertrauen, für Ehrlichkeit und Verantwortung. Weiss ist die Farbe der Unschuld und Reinheit.

Die Nivea Dose hat zahlreiche Design-Preise gewonnen und gilt in der Geschichte der Markenartikel als eine der erfolgreichsten Verpackungen. Der Wiedererkennungswert ist hoch. Schrift und Sonderfarbe wurden eigens für Nivea entwickelt. Die Regeln bei der Umsetzung des Designs sind streng: So muss beispielsweise der Abstand zwischen dem N und dem I genau vier Fünftel von der Dicke des I betragen… (pd)

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Aeneas Wanner

vISIoN EINEr NaCHHalTIgEN ENErgIEvErSorgUNg

Laut der Uno wächst die Weltbevölkerung bis 2050 auf zehn Milliarden Menschen. Nahrung, Wasser und vor allem Energie werden zu knappen Gütern. Heute wird der weltweite Energiehunger hauptsächlich durch das Verbrennen fossiler Energieträger gestillt. Eine langfristige Lösung für die drohende Energie-Knappheit ist DESERTEC.

Wohlstand und Energieverbrauch sind zwei Grössen, die aneinander gekoppelt sind. Mehr Wohlstand führt zu steigendem Energieverbrauch. Für Menschen, die in Industrieländern leben, ist es selbstverständlich in warmen Wohnungen zu leben und sich durch Computer, Kühlschrank oder Waschmaschine das Leben einfacher zu machen. Schweizer verbrauchen ungefähr drei Mal so viel Energie wie ihre Eltern im gleichen Alter früher. So verwundert es nicht, dass sich Entwicklungsländer an der energieintensiven Lebensweise der westlichen Welt orientieren. Die Energienachfrage steigt in diesen Regionen bereits stark und holt zum Verbrauchslevel der Industrieländer auf.

konsens als herausforderung Erneuerbare Energien spielen bei der Reduktion der Auswirkungen des Klimawandels und der Versorgung der Weltbevölkerung mit Nahrung und Wasser eine tragende Rolle. Auch wenn Öl knapper wird, ist nicht der Energiemangel die grosse Herausforderung, sondern das Finden eines Konsenses darüber, wie die erneuerbaren Energiepotentiale erschlossen und 12

Die Politik 1 Februar 2012

genutzt werden sollen. In sechs Stunden empfangen die Wüsten der Erde so viel Energie, wie die Menschheit in einem Jahr verbraucht. Ein Bruchteil der Wüstenfläche reicht somit aus, um die Welt mit Strom zu versorgen. Die DESERTEC Vision will diese und weitere Potenziale nutzen und die globale Energieversorgung aus dem Kohlezeitalter hieven. Die DESERTEC Vision ist einfach und technisch umsetzbar. Erneuerbare Energie soll dort genutzt werden, wo die Bedingungen am besten sind; Windenergie an den Küsten Europas und Nordafrikas, Sonnenenergie in Südeuropa und im Sonnengürtel. Durch ein Europa und die Mittelmeerregion umspannendes Netz von verlustarmen Stromautobahnen, den Hochspannungs-Gleichstrom-Leitungen (HGÜ), fliesst die Energie in die Verbrauchszentren vor Ort und ein geringer Teil nach Europa.

Marktreife erneuerbare energietechnologien Viele erneuerbare Energietechnologien sind marktreif und be-


zahlbar. Photovoltaik-Module werden durch verbesserte Produktionsprozesse von Monat zu Monat günstiger, sodass auch die Produktionskosten des Stroms sinken. Windparks sind heute leistungsstärker und nur noch halb so teuer wie vor zehn Jahren. Der Strom aus den Anlagen kostet genau so viel wie konventionell produzierter, sodass auch Schweizer Energieversorger Windkraftwerke in ganz Europa erwerben.

Bandenergie von der sonne Solarthermische Kraftwerke in der Wüste erzeugen gleichmässig Strom und sind eine ideale Ergänzung zur Windkraft. Die Sonnenenergie wird durch Spiegel gebündelt, die hohen Temperaturen erzeugen Wasserdampf. Der Dampf treibt Turbinen an und Generatoren erzeugen Strom. Das solarthermische Kraftwerk besteht zum Grossteil aus Bauteilen, die auch in Kohlekraftwerken verwendet werden. Anstatt des Heizkessels benutzt das Solarkraftwerk jedoch die durch Spiegel gebündelte Sonne. Kraftwerksteile können somit auf dem Weltmarkt gekauft werden und machen die Anlage günstiger. Der Wüstenstrom deckt in erster Linie die lokale Nachfrage, denn Nordafrikas Energiehunger wächst schnell. Lediglich die Überschüsse sollen in die EU exportiert werden. Die Sonnenkraftwerke schaffen vor Ort Arbeitsplätze beim Bau und Betrieb und bieten neue Wohlstands- und Entwicklungsperspektiven für wirtschaftlich wenig entwickelte Regionen, ohne das Klima zu belasten.

Die Bedeutung für die schweiz Schweizer Energieversorger investieren bereits in erneuerbare Energiekraftwerke in ganz Europa. So hat die EBL mit der IWB, ewz, EKZ und der ewb ein solarthermisches Kraftwerk im Bau, das ab April rund 11'000 Haushalte mit Sonnenstrom beliefern wird. Zunächst in Spanien, langfristig will man den Strom auch in die Schweiz importieren. Kritische Stimmen wenden gegen solche Auslandsinvestitionen ein, dass sie den Ausbau der erneuerbaren Energien in der Schweiz bremsen würden. Die DESERTEC Vision will jedoch sowohl lokale Potenziale, als auch grosse Lösungen nutzen. So zum Beispiel alle geeigneten Dächer in der Schweiz mit Photovoltaik-Modulen auszustatten und zugleich solarthermische Kraftwerke in Marokko zu fördern. Denn allein mit lokalem Engagement in der Schweiz dämmt man weder den Klimawandel ein, noch versorgt man im Jahre 2050 rund zehn Milliarden Menschen nachhaltig mit Energie. ■

BuchTipp

CIvIlISaTIoN. THE wEST aND THE rEST. Wenn Sie Ihre Ferien in Europa verbringen, kann es sein, dass Sie in einem Hotel landen, das über Satelliten-TV verfügt. Kanäle aus allen Ecken der Welt. Unter anderem aus China und den arabischen Ländern. Vermutlich werden Sie nicht verstehen, was dort gesagt wird. Vielleicht zappen Sie einfach weiter, es gibt ja genug Alternativen. Trotzdem: es würde mich schon interessieren, wie der Kommentar lautet, wenn man den chinesischen Staatschef auf Besuch bei seinen einfachen Landarbeitern sieht, die zwar Shanghai bauen dürfen, aber keinesfalls dort wohnen. Oder was der Kommentar aus dem Off meint, wenn ein islamischer Prediger am Freitag beste Sendezeit erhält, und ob er gerade beiläufig dazu auffordert, Israel zu vernichten. Arbeiterrechte? Toleranz? Sharia? Osama vs Obama? Wer kann es schon sagen. Ich, als Westler, weiss nicht, was bei uns im Westen am eigenen Fernsehen über den Äther läuft. Theoretisch legen wir im Westen Wert darauf, dass unsere Ideale global durchgesetzt werden (Menschenrechte! Demokratie! Rechtsstaat! Freiheit!), aber den chinesischen und arabischen Touristen liefern wir bei uns freien Zugang auf ihre gewohnten TV Kanäle, ohne zu wissen, was sie senden. Unsere Tourismusindustrie beweist, was uns andere Kulturen vorwerfen: Wir tun für Geld alles, auch unsere westlichen Werte verkaufen. Der englische Historiker Niall Ferguson schrieb ein lesenswertes Buch, wie es nur Angelsachsen können: Civilisation. The west and the rest. Da können Sie erfahren, warum wir 500 Jahre lang die Welt weiter brachten, aber uns jetzt selbst zugrunde richten. Gewidmet ist das Buch Ayaan Hirsi Ali. Zu Recht. –Gerhard Pfister

aeneas wanner ist DESERTEC-Koordinator und seit 2006 Geschäftsleiter von Energie Zukunft Schweiz (EZS). Er war zuvor massgeblich an der Gründung der Klimaschutzorganisation myclimate beteiligt. Wanner doziert an der Fachhochschule Nordwestschweiz zum Thema erneuerbare Energien. Die Politik 1 Februar 2012

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Raji C. Steineck

rEICH DEr zEICHEN

Als Japan im März 2011 durch die dreifache Katastrophe von Erdbeben, Tsunami und Super-GAU in den Blick der hiesigen Öffentlichkeit rückte, wurde bei aller spontanen Hilfsbereitschaft schnell eines deutlich: Für die meisten hier ist Japan immer noch ein sehr fremdes Land.

Man wunderte sich über die Selbstbeherrschung, mit der die Opfer anscheinend auf die Katastrophe reagierten und bewunderte die Disziplin, mit der sie sich an das Leben in den Notunterkünften anpassten. Immer wieder wurde in diesem Zusammenhang aber auch die Frage gestellt: «Wo bleiben die Gefühle?» Und vom Erbe der Samurai bis zum Zen-Buddhismus liess man allerlei Gründe dafür paradieren, warum so wenig Chaos und Verzweiflung zu sehen waren. Das war allerdings ein Missverständnis. Denn obwohl die Bilder häufig abbrachen, wenn jemand über dem Unglück vollends die Beherrschung verlor, so waren doch die Gefühle durchaus zu sehen. Der naheliegende Grund dafür, dass sie nicht wahrgenommen wurden, ist, dass der mimische Ausdruck von Gefühlen in Japan in Gesellschaft stark zurückgehalten wird. Und wenn das Gesicht unter ihrer Übermacht zu entgleisen droht, ob im Lachen oder Weinen, wird es schnell hinter den Händen verborgen. Man hätte also auf die Stimmen hören oder auf die körperliche Anspannung sehen müssen, mit der die Gesichter in Zaum gehalten wurden, um die Gefühle zu ermessen, die sich dahinter verbargen. 14

Die Politik 1 Februar 2012

Ein weiterer Grund für das Missverständnis liegt aber wohl auch in der Vorstellung, die man sich hier von der japanischen Kultur macht – wofür eben «Samurai» und «Zen» zwei Stichwörter sind. Als im 19. Jahrhundert die Pariser Weltausstellungen erstmals japanische Kunst in grösserem Masse in Europa bekannt machten, übten die japanischen Holzschnitte von Hokusai und Utamaro vielleicht den offensichtlichsten Einfluss aus. Vor allem die impressionistischen Maler liessen sich von ihnen inspirieren. Für das 20. Jahrhundert viel wichtiger wurde aber die Begeisterung, mit der die Vertreter der Bauhaus-Architektur die traditionelle japanische shoin («Schreibklausen»)-Architektur sowie Teehäuser und Trockengärten rezipierten. Sie sahen darin die Reduktion auf das Wesentliche und den Verzicht auf Schmuck und Schnörkel zugunsten einer Eleganz der funktionellen Form. Sie übersahen oder übergingen, dass die reduzierte Form der shoin Teil einer Inszenierung ist, in der prachtvolle Dekorationen durchaus ihren Platz haben, und dass die sinnlich so reduzierten Elemente der Trockengärten von kulturellen Anspielungen geradezu überfliessen.

selektiver Blick des Westens Flankiert wurde dieser selektive Blick von dem Interesse vieler Intellektueller an der modernisierten Variante des Zen-Buddhismus, die Suzuki Daisetz zuerst im Westen propagierte. Suzuki, der selbst keinen Rang als Geistlicher hatte, entkleidete den Zen von seinen Institutionen ebenso wie von allem dogmatischen und rituellen «Beiwerk», und reduzierte ihn auf das Ziel der Erleuchtung und die Beziehung zwischen Meister und Schüler. In dieser Form wurde er im 20. Jahrhundert populär, nicht zuletzt durch Eugen Herrigels Buch «Zen in der Kunst des Bogenschiessens» – dem vermutlich weltweit meistverkauften Buch über die «japanische Kultur». Attraktiv daran erschien dem Publikum vor allem die Reduktion aufs Wesentliche, gepaart mit äusserster Konzentration und existenziellem Ernst. Zen also als das Gegenteil zur urba-


Mythos der japanischen Ästhetik Im Gefolge entwickelten sich «Zen» und «japanische Ästhetik» zu so etwas wie unregistrierten Handelsmarken, unter denen sich vieles gut verkaufen liess: von Fotobüchern über «Zen-Gärten» im Taschenformat bis zu Lebenshilfeseminaren, von Futons über Kochbücher bis zu Kinofilmen. Manches davon hat tatsächlich Japanisches einem europäischen Publikum näher gebracht. Einiges – wie Sushi oder die flexible Raumaufteilung der Grossraumbüros – ist kaum aus dem heutigen urbanen Leben wegzudenken. Mehr verborgen als erschlossen wurde durch dieses Branding jedoch die Breite der ästhetischen Produktion und Überlieferung in Japan. Eine neue Perspektive eröffnen hier die Produktionen der neueren Unterhaltungskultur, die zunächst durch Comics und Zeichentrickfilme (manga und anime) Eingang fanden. Sosehr Vorurteile auch die Wahrnehmung zu prägen vermögen, vor der knallbunten Welt von Akira bis Hello Kitty musste die Gleichung Japan/Zen einfach versagen. Pessimistische Geister mögen den Untergang einer Kultur wittern, wer genauer hinsieht, entdeckt in vielen Produktionen die Kontinuität zu älteren Gestaltungsformen. Die farbenfrohe Welt der neuen Populärkultur lässt sich als zeitgenössische Variante einer Liebe zur bunten Fülle sehen, die auch schon die Stellschirme des Spätmittelalters oder das Kabuki-Theater der Frühneuzeit kennzeichnete. Dazu gehört auch die Freude am Neuen und Unerhörten: Auf den ersten Kontakt mit den Europäern im 16. Jahrundert reagierten ästhetisch alsbald die nanban-Wandschirme, die langnasige Portugiesen und Spanier in schwarzen Gewändern zeigten. In den Dramen des Kabuki ging es übrigens meist um den Konflikt zwischen giri, gesellschaftlicher, standesmässiger Verpflichtung, und ninjō, dem «menschlichen Gefühl». Von hier liesse sich eine Brücke schlagen zur reichen Kultur emotionalen Ausdrucks, die von Anfang an einen zentralen Bestandteil der japanischen Ästhetik ausmachte. Sich von den Dingen anrühren zu lassen, galt schon im Altertum als Zeichen echter Kultur. Aber japanische Ästhetik darauf zu reduzieren, geht angesichts der Lust vieler Werke und Genres am Spielerischen und dem Sinn für Stilisierung auch nicht an. nen und medialen Welt der Moderne, mit ihrem multisensuellem Lärm und ihren vielfachen Zerstreuungen. Zen aber auch als eine Welt frei von allen gewöhnlichen menschlichen Gefühlen; von Angst, Liebe, Unsicherheit, Zweifel, Freundschaft, Wut oder Langeweile. Eine Welt, die Klarheit versprach, ohne mit allzu einfachen Erklärungen aufzuwarten, einfach weil sich der Zen – in Suzukis Variante – der Form der Erklärung verweigerte. So deutete auch der französische Philosoph Roland Barthes Japan: Als «Reich der Zeichen», die von der Last befreit sind, etwas bedeuten zu müssen.

Es gibt «japanische Ästhetik» eben nicht in der Einzahl, sondern in einer Vielzahl von Spielarten, von denen viele noch der Entdeckung durch das hiesige Publikum harren. •

prof. Dr. raji C. Steineck ist Professor für Japanologie am Ostasiatischen Seminar der Universität Zürich. Seine Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind die japanische Kultur- und Ideengeschichte, die Ideengeschichte des japanischen Buddhismus, die moderne japanische Philosophie sowie die Bioethik in Japan. Die Politik 1 Februar 2012

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11. März 2012: Ja oder Nein? An der CVP-Delegiertenversammlung vom 21. Januar 2012 haben die Delegierten Nein zur Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen» und Ja zum Bundesgesetz über die Buchpreisbindung gesagt. Die Parolen zu den weiteren Vorlagen wurden vom Parteivorstand gefasst.

Buchpreisbindung

Das Gesetz über die Buchpreisbindung hat zum Ziel, die Vielfalt und die Qualität des Kulturgutes Buch zu fördern und möglichst vielen Konsumenten den Zugang zu Bü­ chern zu den bestmöglichen Bedingungen zu gewährleis­ ten. Dazu legen Verleger oder Importeur den Endver­ kaufspreis ihrer Bücher fest. Der Buchhandel darf die Bücher nur zu diesem festgesetzten Preis verkaufen. Der Preisüberwacher kann beim Bundesrat beantragen, maxi­ mal zulässige Preisdifferenzen zum Ausland festzulegen.

Ja

zur Buchpreisbindung, weil

+ damit die Büchervielfalt und die Qualität erhalten bleiben. Die Preisbindung fördert die Erzeugung und den Vertrieb des Wirtschafts­ und Kulturguts Buch. + nur so eine flächendeckende Versorgung mit Büchern möglich ist. Mit der Preisbindung können kleine Buch­ handlungen im ländlichen Gebiet Bücher zu den gleichen Bedingungen verkaufen wie in städtischen Gebieten. + damit kein Anstieg der Preise zu befürchten ist. Das zeigen die Beispiele im Ausland. Des Weiteren erhält der Preisüberwacher die Kompetenz, für faire Preise zu sorgen. + es gemäss Bundesverfassung und Auslegung des Kartellgesetzes eine zulässige Wettbewerbsabrede ist. Mit der Buchpreisbindung wird ein überwiegendes öffentliches Interesse verwirklicht.

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Die Politik 1 Februar 2012

Bauspar-Initiative

Die Bauspar­Initiative fordert, dass die Kantone Bausparein­ lagen von den Steuern befreien können. Die Bauspareinla­ gen dürfen jährlich maximal 15‘000 Franken für den erstma­ ligen Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum betragen. Alternativ können jährlich maximal 5‘000 Franken für die Finanzierung von Energiespar­ und Umweltschutzmassnah­ men am selbstgenutzten Wohneigentum angespart werden. Die maximale Spardauer beträgt 10 Jahre.

Ja

zur Bauspar-Initiative, weil

+ die Bundesverfassung die Förderung des Wohneigen­ tums vorsieht. Die Wohneigentumsquote in der Schweiz ist mit 34 Prozent im internationalen Vergleich sehr tief. Das steuerlich begünstigte Bausparen ist ein wirkungs­ volles Instrument zur Förderung von Wohneigentum, wie das Beispiel des Kantons Baselland zeigt. + sie Arbeitsplätze schafft und Bausparen sich volkswirt­ schaftlich lohnt. Zwar führt es kurzfristig zu Steueraus­ fällen. Das angesparte Eigenkapital macht bei der In­ vestition aber nur rund einen Drittel des Bauvolumens aus. Der Rest der Finanzierung wird durch Hypotheken erbracht (die ohne Eigenkapital nicht geleistet würden). Dadurch ist mehr Kapital zum Bauen verfügbar. Es wer­ den in der Bauwirtschaft Aufträge ausgelöst und neue Arbeitsplätze geschaffen. + damit Energiespar­ und Umweltschutzmassnahmen zu­ sätzlich gefördert werden und damit neue nachhaltige Umwelttechnologien unterstützt werden. Die Reduktion des Energieverbrauchs ist gerade jetzt mit dem Aus­ stieg aus der Kernenergie besonders wichtig. + das steuerlich begünstigte Bausparen im Kanton Basel­ land bereits seit über 15 Jahren erfolgreich praktiziert wird. Die Wohneigentümerquote ist damit von 37 auf 41,5 Prozent angestiegen. Zwei Drittel aller Bausparer im Baselbiet erzielen ein steuerbares Jahreseinkommen von weniger als 80’000 Franken. Dies zeigt, dass Bau­ sparen ein geeignetes Instrument zur Wohneigentums­ förderung ist.


Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!»

Die von der Stiftung Helvetia Nostra eingereichte Volksinitiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnun­ gen!» will den Anteil von Zweitwoh­ nungen am Gesamtbestand der Wohneinheiten und an der für Wohn­ zwecke genutzten Bruttogeschossflä­ che auf höchstens 20 Prozent be­ schränken. Der Bundesrat und das Parlament haben diese Initiative klar abgelehnt. Auch die CVP empfiehlt Ablehnung. Der Handlungsbedarf im Bereich der Zweitwohnungen wird zwar nicht bestritten, doch Bestim­ mungen zur Beschränkung des Zweitwohnungsbaus sind bereits er­ reicht worden im Rahmen der flankie­ renden Massnahmen zur Aufhebung der Lex Koller. Sie sollen durch die Kantone umgesetzt werden.

Nein

zur Initiative, weil

– sie starr und schematisch ist, kaum Handlungsspielraum lässt. – sie den wirtschaftlichen Interessen und regionalen Besonderheiten kaum Rechnung trägt. – sie in den Tourismusdestinationen faktisch zu einem Baustopp führen würde sowie zu einem generellen Preisanstieg für Liegenschaften in Gemeinden, in denen der Zweit­ wohnungsanteil von 20 Prozent noch nicht ausgeschöpft ist. – der Zweitwohnungsanteil vor allem in denjenigen Gemeinden zunehmen würde, deren Anteil noch tief ist.

Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle»

Die von Travail­Suisse lancierte Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» fordert, dass alle Arbeitnehmen­ den Anspruch auf jährlich mindes­ tens 6 Wochen bezahlte Ferien haben.

Nein

zur Initiative, weil

– sie der Wirtschaft schadet. Das liberale Schweizer Arbeitsrecht ist ein Erfolgsmodell und wichtig für die hohe Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Volkswirtschaft. Es er­ laubt den Unternehmen, flexibel auf die Auftragslage zu reagieren und somit Arbeitsplätze zu erhalten. – sie Arbeitsplätze gefährdet. Längere Ferien bedeuten höhere Lohnkos­ ten, was zu einer Verlagerungen der Arbeitsplätze ins Ausland führt. – der erwünschte Erholungseffekt des Arbeitnehmers bei zusätzlichen Ferien nur gewährleistet wird, wenn die Unternehmen gleichzeitig zusätzliche Arbeitsplätze schaffen würden. Andernfalls drohen mehr Stress und längere Arbeitszeiten für den Rest der Belegschaft. Vielen Arbeitsgebern ist es aber nicht möglich, zusätzliche Arbeitsplätze zu schaffen, da damit eine hohe Lohnkostensteigerung verbunden ist. – Ferien alleine nicht ausreichen. Wichtig sind vor allem attraktive Arbeitsbedingungen und flexible Arbeitszeitmodelle. Solche Privile­ gien wären durch die Initiative gefährdet.

Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Für Geldspiele im Dienste des Gemeinwohls»

Die Volksinitiative, welche am 10. September 2009 mit 170'000 gültigen Unterschriften eingereicht wurde, will die Gewinne von Geldspielen zur Finanzierung von gemeinnützigen Zwecken und zur Finanzierung der AHV/IV verwenden. Zudem verlangt sie eine klarere Abgrenzung der Kompetenzen zwischen Bund und Kantonen im Bereich der Geldspiele. Die Initiative wurde am 30.11.2011 zurückgezogen, weil ein überzeu­ gender Gegenvorschlag erarbeitet wurde. Hinter dem Gegenvorschlag stehen Bundesrat und Parlament, ebenso das Initiativkomitee sowie weitere betroffene Kreise.

Ja

zum Gegenvorschlag, weil

+ mit den Gewinnen von Lotterien und gewerbemässigen Wetten Sport, Kultur und der Sozialbereich unter­ stützt werden. Ohne diese Gelder würde die Förderung des Sports und der Kultur durch die Kantone marginalisiert. Zudem tragen die Bruttoerträge der Spielbanken zur Finanzierung der AHV/IV bei. + für den ganzen Bereich der Geld­ spiele, inklusive Geschicklichkeits­ spiele, eine Bundeskompetenz ge­ schaffen wird. + die bisher in der Lotteriegesetzge­ bung verankerten Vollzugskom­ petenzen der Kantone garantiert werden. + sämtliche von den Geldspielen aus­ gehenden Gefahren wie Spielsucht, Geldwäscherei, Beschaffungskrimi­ nalität und Betrug berücksichtigt werden.

Weitere Informationen zu den Abstimmungsvorlagen vom 11. März 2012 finden Sie auf unserer Website: www.cvp.ch Die Politik 1 Februar 2012

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Unser Team für eine erfolgreiche Schweiz

ChriStiNe BulliArD-MArBACh Nr/Fr

YANNiCk Buttet Nr/VS

MArtiN CANDiNAS Nr/Gr

ChriStoPhe DArBellAY Nr/VS

DoMiNique De BuMAN Nr/Fr

DANiel FÄSSler Nr/Ai

rueDi luSteNBerGer Nr/lu

luCreZiA Meier-SChAtZ Nr/SG

leo Müller Nr/lu

SteFAN Müller-AlterMAtt Nr/So

JACqueS NeirYNCk Nr/VD

GerhArD PFiSter Nr/ZG

Ständerat > eliSABeth SChNeiDer-SChNeiter Nr/Bl

BriGitte hÄBerli-koller Sr/tG

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kArl VoGler Nr/oW

reNe iMoBerDorF Sr/VS

Die Politik 1 Februar 2012

iSiDor BAuMANN Sr/ur

FiliPPo loMBArDi Sr/ti

PAul NieDerBerGer Sr/NW

urS SChWAller Sr/Fr

ANNe SeYDoux-ChriSte Sr/Ju


Nationalrat > ViolA AMherD Nr/VS

luC BArthASSAt Nr/Ge

JAkoB BüChler Nr/SG

iDA GlANZMANN-huNkeler Nr/lu

AloiS GMür Nr/SZ

JeAN-PAul GSChWiND Nr/Ju

ruth huMBel Nr/AG

MArkuS lehMANN Nr/BS

ChriStiAN lohr Nr/tG

FABio reGAZZi Nr/ti

kAthY rikliN Nr/Zh

MArkuS ritter Nr/SG

MArCo roMANo Nr/ti

urS SChlÄFli Nr/So

BArBArA SChMiD-FeDerer Nr/Zh

Peter Bieri Sr/ZG

PirMiN BiSChoF Sr/So

iVo BiSChoFBerGer Sr/Ai

SteFAN eNGler Sr/Gr

JeAN-reNe FourNier Sr/VS

koNrAD GrABer Sr/lu

Bundesrat >

Bundeskanzlei > DoriS leuthArD Br

CoriNA CASANoVA Bk

Die Politik 1 Februar 2012

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Dario Hardmeier, Raffaele de Lauretis

Pius Knüsel, Direktor Pro Helvetia, schweizer kulturstiftung

SIND gamES kUNST? Entsteht aus Computerspielen eine neue Kunst? Diese Frage steht im Fokus des Programms GameCulture, das Pro Helvetia 2010 aus der Taufe hob und das im Herbst 2012 zu Ende geht. Anderthalb Jahre hat es gedauert, bis die dazugehörige öffentliche Debatte ins Rollen kam – mit einer Attacke von Suisseculture, dem Dachverband der Schweizer Kulturschaffenden, auf das GameCulture-Programm. Pro Helvetia dürfe, so Suisseculture, nicht selber denken und schon gar nicht initiativ werden. Ein typisch helvetischer Stellvertreterstreit. In der Oktoberausgabe 2010 von DIE POLITIK antwortete der Aktionskünstler Heinrich Gartentor auf die Frage, was Kunst sei: «Kunst ist, was der Künstler oder die Künstlerin macht.» Die Antwort bezeugt nicht nur die gegenwärtige Ratlosigkeit, die den Begriff Kunst umgibt. Sie ist vor allem tautologisch, denn auf die Folgefrage, was ein Künstler sei, müsste die Antwort heissen: «Ein Künstler ist jemand, der Kunst macht.» Oder meint Gartentor, selber Präsident von visarte, Berufsverband der visuellen Künstler, ein Künstler sei jemand, der einem der bei Suisseculture zusammengeschlossenen Verbände angehöre? Künstlertum sei also eine Sache der Mitgliedschaft bei visarte, beim Tonkünstlerverband oder bei den Vereinigten Theaterschaffenden der Schweiz? Dazu würde gut passen, dass Pro Helvetia gemäss Suisseculture nur auf Bedürfnisse 20

Die Politik 1 Februar 2012

eingehen dürfte, die von verbandsmässig organisierten Künstlern formuliert werden. Eine solche Maxime bedeutete auf einen Schlag das Ende von Kulturpolitik und Kulturförderung. Natürlich dreht sich die Tätigkeit von Pro Helvetia um die Bedürfnisse von Künstlerinnen und Künstlern. Doch sie zum alleinigen Massstab der Förderpolitik zu machen, hiesse ganz einfach, jene zu privilegieren, die im Umgang mit der Stiftung geübt sind. Es hiesse, die gegenwärtigen Verhältnisse zu zementieren und jene auszuschliessen, die aus heutiger Sicht an den ästhetischen, geographischen und sozialen Rändern von Kunst und Kultur tätig sind. Es hiesse, das Desinteresse der Hochkultur an der Volkskultur zum Prinzip zu erheben. Es hiesse, Computerspiele zu einer Aufgabe der Sozialpolitik zu machen, weil sie mit Sucht und Gewalt konno-


tiert sind. Die Attacke von Suisseculture auf die Programme von Pro Helvetia ist in diesem Sinne ein Stellvertreterstreit. Es geht darum, wer die Definitionsmacht hat über den Begriff Kunst. Und die damit verbundene Möglichkeit staatlicher Unterstützung. Pro Helvetia selbst dürfte in dieser Sache gar nicht mitreden.

Öffentliches experiment Programme, in erster Linie Themen- oder Impulsprogramme, wie Pro Helvetia sie nennt, sind nichts anderes als öffentliche Experimente. Sie betreffen meistens Phänomene, über die sich die Gesellschaft nicht einig ist. Computerspiele zum Beispiel. Die Fakten: Computerspiele sind das dominierende kulturelle Phänomen. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung ergibt sich ihnen. Computerspiele sind auch ein ästhetisches Faktum. Sie sind mehr als ein Äquivalent zu Schach oder «Mensch ärgere dich nicht». Sie gestalten Welten, Erzählungen, bauen auf Musik, verlangen moralische Entscheide. Vor allem sind sie interaktiv – sie erfüllen einen Jahrhunderte alten Traum der Künstler. Sie sind eine Art Oper, in der der Spieler die Hauptrolle spielt. Nur dass in dieser Interaktivität der Künstler selbst verschwindet. Sind Computerspiele deswegen Kunst? Sie können Kunst sein. Genau wie bei den Büchern. Nur 10 Prozent aller Bücher haben etwas mit Literatur zu tun. Und von diesen 10 Prozent ist nur 1 Prozent künstlerisch wertvoll. Ohne Literaturförderung wäre es vielleicht nur ein halbes Prozent.

Grincheux Aujourd’hui, des hommes, des femmes et des jeunes manifestent, se battent et parfois même meurent pour la démocratie. Que ce soit dans les pays arabes, en Syrie ou en Birmanie, des citoyens s’engagent au péril de leur vie pour obtenir le droit de décider de leur futur et de choisir librement leurs dirigeants. Et pendant ce temps, au pays des Helvètes… j’ai lu qu’une initiative avait été lancée pour «Récompenser la participation aux élections et aux votations». Cette initiative propose d’octroyer une déduction fiscale de 25 francs par objet soumis au vote et par scrutin électoral au niveau communal. Pour les scrutins cantonaux, la déduction serait de 50 francs et elle atteindrait 100 francs pour les votations et les élections fédérales. Cette initiative me laisse tout simplement pantois. Seuls des enfants gâtés de la démocratie peuvent avoir une telle idée!

Die Aufgabe von Kulturförderung ist eine doppelte: für ein herausforderndes Angebot in den verschiedenen Künsten zu sorgen. Und Raum für Entwicklung zu schaffen. Kultur, ja Kultur steht niemals still, und wer sie im Gestern festhalten will, verliert den Anschluss – ans Publikum.

Förderungswürdige Computerspiele? Angebotsverbreiterung schafft Kulturförderung – Pro Helvetia im Besonderen – durch finanzielle Anreize für Projekte, die von Künstlern und Institutionen entwickelt werden. Entwicklungsförderung hingegen betreibt sie mit Programmen, an denen Künstler, Förderer, Hochschulen, Veranstalter und die Öffentlichkeit beteiligt sind. Programme schaffen eine Bühne, auf der der Kunstbegriff verhandelt wird. Auf der die junge Generation von Schweizer Gamedesignern lernt, was «künstlerischer Anspruch» bedeutet. Wo Kulturförderer sich klar werden, was förderungswürdige Computerspiele sind. Das passiert alles nicht, wenn Gamedesigner Gesuche einreichen wie die Profis aus den Verbänden (und wie Suisseculture es vorschlägt). Sie hätten gar keine Chance, weil es noch keine Kriterien, keine Werteskalen gibt, keine öffentliche Verständigung über die Ästhetik von Computerspielen. Im Kontext eines Programms ist das möglich, Polemiken inklusive.

Wenn es Pro Helvetia dank GameCulture gelingt, den Anteil der künstlerisch wertvollen Computerspiele made in Switzerland in den nächsten Jahren zu verdoppeln, so hat sich GameCulture mehr als gelohnt. Dann können die Spieler auch zu Spielen greifen, die inhaltlich und ästhetisch herausfordern. Dass das Potential in der Schweiz vorhanden ist, hat der erste Projektwettbewerb gezeigt. Die Entwicklung der Kunst wird von der Entwicklung der Medien getrieben. Das begann mit der Erfindung des Buchdrucks. Computerspiele sind ein neues Medium, und wie alle neuen Medien populärer als die alten. Das dürfen Kulturförderer, die ihre Aufgabe integrativ statt ausschliessend verstehen, nicht ignorieren. ■ www.gameculture.ch Die Politik 1 Februar 2012

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GlOssAr ÄsTheTik Ästhetik: Während der Begriff der Ästhetik heute meist als Synonym für schön, geschmackvoll oder ansprechend verwendet wird, liegt seine ursprüngliche Bedeutung in der reinen Wahrnehmung (griechisch aísthesis = Wahrnehmung) der Umwelt. So bezeichnet der Begriff in der Wissenschaft die Palette von Eigenschaften, die darüber entscheiden, wie Menschen Gegenstände wahrnehmen. In der Philosophie hat das Wort verschiedene Bedeutungen: Entweder ist damit die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung allgemein oder eine philosophische beziehungsweise soziologische Theorie von Kunst oder Design gemeint. Nach vielen Auffassungen geht die Bedeutung viel weiter als die rein subjektiven Kategorien «schön» und «hässlich». Transzendentale Ästhetik: Immanuel Kant beschäftigte

sich in seinem Hauptwerk «Die Kritik der reinen Vernunft» ausgiebig mit der Ästhetik. Im Rahmen der sogenannten transzendentalen Elementarlehre verstand er den Begriff Ästhetik in seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung als sinnliche Wahrnehmung. Die transzendentale Ästhetik ist also eine Theorie der Wahrnehmung oder – mit Kants Begriff – der Sinnlichkeit als Erkenntnisgrundlage. Ihr folgt die transzendentale Logik – die Theorie vom Denken. So kommen nach Kant rein zeitlich erst die sinnlichen Anschauungen und dann das Denken. Doch Erkenntnis ist auf Anschauung und Denken gleichermassen angewiesen. In der transzendentalen Ästhetik behandelte Kant vorrangig die Bedeutung von Raum und Zeit für das menschliche Wahrnehmungsvermögen. Da er das Räumliche als Grundlage für die Geometrie und das Zeitliche als Grundlage für die Arithmetik sah, ist die transzendentale Ästhetik zugleich eine Theorie darüber, wie reine Mathematik möglich ist.

Schönheitsideal: Ein Schönheitsideal ist eine bestimmte

Vorstellung von Schönheit innerhalb einer Kultur. In der Regel bezieht sich der Begriff auf das Aussehen des menschlichen Körpers und Gesichtes. Schönheitsvorstellungen, welche sich auf Kleidung, Schmuck oder Frisur beziehen, werden als Mode bezeichnet. Es gibt Vertreter der Meinung, dass sich Schönheitsideale beliebig entwickeln. Beispielsweise galt während der Renaissance das Doppelkinn als sexuell attraktiv. Im alten China entsprach lange Zeit der Lotosfuss (verkrüppelter Fuss) dem Schönheitsideal, während in Afrika heute noch ein Volk seine Hälse mit Messingringen künstlich verlängert. Neuere Forschungen bezeugen aber einerseits, dass es einzelne Faktoren gibt, die einem relativen Konsens zwischen Individuen und Kulturen unterliegen und biologisch verankert sind – wie etwa die Makellosigkeit der Haut. Andererseits deuten diese Forschungen darauf hin, dass das Schönheitsempfinden eine deutliche genetische Komponente besitzt. Das 20. Jahrhundert war in der westlichen Welt geprägt vom Ideal des schlanken, jugendlichen, durch Sport geformten Körpers. Goldener Schnitt: Der Goldene Schnitt wird auch Göttli-

cher Schnitt genannt und beschreibt ein bestimmtes Verhältnis zwischen zwei Zahlen oder zwei Grössen. Das Verhältnis ist definiert durch a : b = (a × b) : a und zeichnet sich durch eine Reihe von weiteren besonderen mathematischen Eigenschaften aus. In Prozentzahlen ausgedrückt, definiert es eine Proportion von zwei Grössen bei etwa 61,8 zu 38,2 Prozent. Der Goldene Schnitt geht zurück auf die griechische Antike und wird seither als Inbegriff von Ästhetik und Harmonie betrachtet. Bereits Euklid (um 300 v. Chr.) verfasste im Rahmen seiner Untersuchungen an den platonischen Körpern wie dem Fünfeck beziehungsweise dem Pentagramm eine genaue Beschreibung des Goldenen Schnittes. Man findet das goldene Verhältnis in vielen geometrischen Formen, so beispielsweise auch, wenn man einen Papierstreifen in Form eines Überhandknotens faltet. Das Goldene Verhältnis ist häufig bei der Bildkomposition in der Malerei zu finden und wird heute oft in der Fotografie verwendet. – Quelle = Wikipedia

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Die Politik 1 Februar 2012


OrTsTermin Marco Romano, nationalrat

VAlle leVenTinA Ich möchte Sie auf eine Schneeschuh-Wanderung mitnehmen. Es sind jene Momente im Kontakt mit der Natur, die mich am stärksten berühren und mir die nötige Energie geben, um die Herausforderungen des Alltags zu meistern. Strahlender Sonnenschein, feiner Pulverschnee, Stille… und die Kälte, die auf der Haut kribbelt und im Hals leicht kratzt. Wir wandern gemeinsam durch den Wald; eine wunderbare Gelegenheit, um einander kennenzulernen, um über Politik und Privates zu plaudern. Um uns herum die Tessiner Berge. Wir sind im Leventina Tal, vor uns thront stolz das Gotthardmassiv. Die Stille wird nur von unseren Worten durchbrochen. Eine intensiv und direkt geführte Diskussion.

So mag ich es auch beim Politisieren: Intensität und vollstes Engagement. Ohne die notwendige Ruhe und Aufmerksamkeit verliert man Kraft, die Route wird schwieriger zu bewältigen. Der Ausgleich zwischen all diesen Elementen, mit dem Respekt gegenüber der umliegenden vielfältigen Landschaft, ermöglicht es uns, rasch voranzuschreiten. Genau das ist auch die Stärke unseres Landes. Schritt für Schritt, nicht immer in einfachem Terrain, zeichnen wir den Weg für eine erfolgreiche Schweiz der Zukunft. ■

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Lambert Wiesing

allTag UND äSTHETIk –

oDEr DIE äSTHETISCHE vErfaSSUNg DEr CoCa-Cola-flaSCHE Aus einer traditionellen Sicht liesse sich sagen, dass sich Ästhetik und Alltag regelrecht ausschliessen, dass sie als eine Opposition verstanden werden müssen. Doch die Frage ist: Kann nicht auch Alltag ästhetisch sein?

Üblicherweise wird ja gerade jene Sphäre des menschlichen Lebens als «Alltag» bezeichnet, in der es nicht um ästhetische Belange, sondern um Durchschnittlichkeit, Funktionalität, praktische Interessen und Nützlichkeit geht. Dies ist zumindest die Bedeutung von Alltag, die sich heute durchgesetzt hat und die sich vielleicht das erste Mal in expliziter Form in Campes «Wörterbuch der Deutschen Sprache» von 1807 findet. Dort kommt es zu einem entscheidenden Umbruch in der Entwicklung des Alltagsbegriffs. «Alltag» bezeichnet nun nicht mehr nur ausschliesslich die Wochentage, welche keine Sonn- und Feiertage sind, sondern darüber hinaus auch eine – eben nicht an bestimmte Wochentage gebundene – lebensweltliche Wirklichkeit. Eine Wirklichkeit, die von Gewöhnlichkeit, Sorge, Arbeit, Normalität und Banalem bestimmt wird. Auf den Punkt gebracht heisst das: Auch ein Feiertag kann Alltag sein.

Opposition zwischen Ästhetik und Alltag Solange man davon ausgeht, dass sich die ästhetische Erfahrung dadurch auszeichnet, dass sie ein gesteigertes oder reflektiertes, ein besonderes — weil bewusstes — Erlebnis mit einer besonderen Einstellung ist, kann der Alltag nicht ästhetisch sein. Bei Immanuel Kant haben wir das klassische Musterbeispiel für ein Ästhetik-Verständnis, dass das Ästhetische und die Alltagserfahrung als Opposition definiert. Kaum eine andere Ästhetik dürfte für die Ausbildung dieses Gegensatzes derart grundlegend sein wie die von Kant. Seine bekannte Hauptthese besagt, dass eine ästhetische Erfahrung Interesselosigkeit bedingt. Nur ein Subjekt, welches den Dingen der Welt gegenüber kontemplativ eingestellt ist, erfüllt die Voraussetzungen, unter denen es zu ästhetischen Erfahrungen kommen kann. 24

Die Politik 1 Februar 2012

Doch genau diese kontemplative Haltung ist eine, die im Alltag normalerweise nicht eingenommen wird – und auch nicht eingenommen werden kann. Deshalb verhindert nichts eine ästhetische Erfahrung mehr, als die für alltägliche Vorgänge notwendige, normale Einstellung. Nämlich das lebensweltliche Interesse, das heisst das lnvolviert-Sein in Zweckzusammenhänge. Doch man braucht nicht nur an Kant zu denken. Dass zwischen Alltag und Ästhetik eine Opposition besteht, ist ein Gedanke, der sich auch im 20. Jahrhundert findet, wie man mit Adorno belegen kann.

hinwendung der Ästhetik zum Alltagsgegenstand Sowohl für Kant als auch für Adorno lassen sich im Vollzug des Alltagslebens — sei es beim Autofahren, beim Essen oder beim Einkaufen — keine ästhetischen Erfahrungen machen. Diese Ansicht ist nicht unkritisiert geblieben. Das ist auch gut so. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts lassen sich zahlreiche Versuche beobachten, das traditionelle Verständnis des Gegensatzes zwischen ästhetischen und alltäglichen Sphären zu unterwandern. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine heute kaum noch überschaubare Menge an Studien aus den unterschiedlichsten Kulturwissenschaften über die ästhetische Verfassung aller nur erdenklichen alltäglichen Dinge: sei es die Cola-Flasche, die Pfennig-Münze, eine Teetasse oder das Hotelzimmer. Der gemeinsame Grundgedanke dieser Hinwendung der Ästhetik zum Alltagsgegenstand scheint mir — bei allen Unterschieden innerhalb dieser Richtung — darin zu bestehen, dass die Ge-


staltung eines noch so alltäglichen Gegenstandes immer noch Aspekte und Entscheidungen enthält, die sich nicht auf funktionale Notwendigkeit oder Nützlichkeitserwägungen reduzieren lassen.

Nicht alles ist kunst Es mögen heute zwar alle möglichen Alltagsgegenstände im Kunstmuseum stehen, doch deshalb sind keineswegs alle Gegenstände des Alltags Kunstwerke. Die Ästhetik der Alltagsgegenstände ist immer mit der Gefahr konfrontiert, durch ästhetische Beschreibungen alles so zu behandeln, als wäre es grosse Kunst. Und genau diese Alles-zu-Kunst-machende-Beschreibung scheint mir eine Gefahr zu sein: Der ästhetischen Erfahrung von Alltagsgegenständen wird man eben nicht gerecht, wenn man diese Form der ästhetischen Erfahrung mit der ästhetischen Erfahrung von Kunstwerken gleichsetzt. Mir scheint in der Tat, dass das Konzept der ästhetischen Erfahrung bisher zu sehr mit der Prämisse erforscht wurde, dass es ästhetische Erfahrungen nur angesichts der Kunst und angesichts der Natur gibt. Nun kann man sagen, dass doch die bekannte, grundsätzliche Stärke einer jeden Theorie der ästhetischen Erfahrung ja gerade darin besteht, dass sie auch dem Alltagsgegenstand gerecht wird. Wenn man eine Theorie der ästhetischen Erfahrung entwirft, dann spielt die sukzessive Abkehr der Kunst im 20. Jahrhundert vom traditionellen Kunstbegriff keine Rolle, dann ist die Entgrenzung der Werkvorstellungen in der Avantgarde durch das Vermischen von Kunst und Leben für die Theorie nicht von Bedeutung: Alles ist dann schliesslich so ästhetisch, wie wir es in unserer ästhe-

tischen Einstellung sein lassen. So ist es — dem soll nicht widersprochen werden: Man kann natürlich auch an einem Alltagsgegenstand die Erfahrung machen, die man an Kunstwerken macht. Schon so manches Auto hat einem Betrachter ermöglicht, in den Zustand des freien Spiels seiner Erkenntniskräfte zu treten. Aber man fährt dann nicht mehr mit dem Auto, sondern behandelt es als Skulptur, was es im Alltag nun mal nicht ist. Das Problem ist: Wer etwas als Kunst betrachtet, betrachtet es eben nicht mehr so, wie es im Alltag genutzt, gesehen wird, wie es in der Verwendung gegenwärtig ist. Insofern kann man sagen: Die in der Ästhetik der letzten dreissig Jahre so ausgesprochen verbreitete Hinwendung zur ästhetischen Erfahrung korrespondiert mit Entwicklungen sowohl in der Kunst wie auch im Alltag, die es immer weniger plausibel erscheinen lassen, Ästhetik auf die Künste zu beschränken. Aber genau das, was einerseits ein Vorteil an Weite ist, nämlich dass Theorien der ästhetischen Erfahrung sowohl die Hochkultur wie auch den Alltagsgegenstand erfassen können, kann sich auch als ein Nachteil entpuppen, nämlich genau dann, wenn durch diese Beschreibung die ästhetischen Objekte des Alltags so thematisiert werden, als würden sie im Alltag wie Museumsstücke rezipiert. ■

prof. Dr. phil. lambert wiesing ist seit 2001 Inhaber der Professur «Vergleichende Bildtheorie» an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland. Seine Arbeitsgebiete sind Bildtheorie, Ästhetik, Wahrnehmungsphilosophie und Phänomenologie. Von 2005 bis 2008 war er Präsident der Deutschen Gesellschaft für Ästhetik. Die Politik 1 Februar 2012

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zU vIElE krawaTTEN…

Die Stellung von Frauen innerhalb von Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft wird immer grösser. Frauen treffen 80 Prozent aller Kaufentscheidungen; Frauen besitzen ein Viertel des Schweizer Vermögens, nämlich 450 Milliarden; Frauen haben im Jahre 2010 weltweit fünfzig Prozent aller Universitätsdiplome erworben; in der Biologie und Medizin sind sechs von zehn Studierenden Frauen; und im Jahre 2009 wurden fünf von zwölf Nobelpreisen an Frauen verliehen. Demgegenüber liegt heute der Anteil von Frauen im Verwaltungsrat bei den zwanzig grössten börsenkotierten Firmen in der Schweiz durchschnittlich bei vierzehn Prozent. Diese Untervertretung steht in einem grossen Missverhältnis zur erwähnten wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Bedeutung und ist dringend zu korrigieren.

Moralische Bedeutung von entscheiden Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre hätte es nicht deutlicher aufzeigen können: Entscheidungen im Verwaltungsrat sind auch von moralischer Relevanz. Sie haben nicht nur Einfluss auf das Unternehmen selber, sondern auch auf die gesamte Gesellschaft. Denken wir bloss an das von einem Verwaltungsrat beschlossene Entlöhnungssystem sowie die Boni. Unter der Annahme, dass der Verwaltungsrat auch Entscheide von moralischer Bedeutung trifft, stelle ich die These auf, dass mehr Frauen in den Verwaltungsrat gewählt werden sollten, weil sie sich von den Männern durch ihre andere moralischethische Denkweise unterscheiden. Bewusst löse ich mich von der viel diskutierten Geschlechtergleichheit und der damit zusammenhängenden Frauenquote, denn es gibt andere und über26

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Die Energie der Zukunft erleben • Führungen auf einer Vielzahl erneuerbaren Energieanlagen in der ganzen Schweiz • Workshops mit spannenden Experimenten für Schulklassen • Komplett organisierte Firmen- und Vereinsausflüge

Informationen und Buchung: www.linie-e.ch, 061 500 18 00

zeugendere Gründe, den Frauenanteil in den Verwaltungsräten zu erhöhen. Hierzu beziehe ich mich auf die Forschung der amerikanischen Harvard-Professorin Carol Gilligan, welche anhand ihrer empirischen Studien herausgefunden hat, dass Frauen moralische Probleme tendenziell mehr mit Fürsorglichkeit, Anteilnahme, Empathie und Altruismus zu lösen versuchen, während die Männer ihr moralisches Denken tendenziell mehr an den Prinzipien der Gerechtigkeit, Fairness, Autonomie und Rationalität orientieren. Gilligan spricht von einer weiblichen Fürsorgeperspektive und einer männlichen Gerechtigkeitsperspektive.

Auswirkung der geschlechterspezifischen Perspektiven Akzeptiert man diese mehrheitlich unterschiedlichen Denkweisen von Frauen und Männern, so ergibt sich daraus ein neuartiges moralphilosophisches Argument für eine Forderung nach ausgeglichener Repräsentation von Frauen und Männern im Verwaltungsrat. Das Argument besteht darin, dass durch die Unterrepräsentation des weiblichen Geschlechts die angemessene Berücksichtigung einer ethisch bedeutsamen Perspektive, nämlich diejenige der Frauen, unmöglich gemacht oder doch wenigstens erschwert wird.

Geht man zusätzlich davon aus, dass die Entscheide eines Verwaltungsrates auf einem breit abgestützten und diversifizierten Entscheidungsfindungsprozess beruhen sollten, dann wäre es wünschenswert, dass auch die von den Entscheiden in- und ausserhalb des Unternehmens Betroffenen, nämlich die Frauen und die Männer, mit ihrem Denken und ihren Argumenten in diesem Diskussionsprozess gleichwertig und als gegenseitige Ergänzung vertreten sind. Neben der unumgänglichen Fachkompetenz wäre also die weibliche Fähigkeit der emotionalen Sozialkompetenz ein ergänzendes und gleichwertiges Auswahlkriterium für die Wahl zusätzlicher Frauen in den Verwaltungsrat. Zudem wäre es ein bestechend einfacher Weg, ohne gesetzliche Quoten, schon fast selbstverständlich und automatisch der vermehrten Einsitznahme von Frauen im Verwaltungsrat zum Durchbruch zu verhelfen. Dies bedingt jedoch ein Umdenken der heutigen Verwaltungsräte und derjenigen, welche sie wählen. ■

gabriele m. paltzer-lang M.A.E. (Master in Applied Ethics), Universität Zürich. Die Masterarbeit mit dem Titel «Die Vertretung von Frauen im Verwaltungsrat» kann bei paltzer@sunrise.ch bezogen werden. Die Politik 1 Februar 2012

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1950–1960 Grace Kelly, Gina Lollobrigida und Sophia Loren standen in den 50er Jahren für ein Schönheitsideal, das weibliche Rundung idealisierte. Marilyn Monroe trug Konfektionsgrösse 42, ein für die 50er und frühen 60er Jahre durchschnittliches Mass. In den 50ern wurde besonderen Wert darauf gelegt, dass farblich alles zueinander passte; vom Kleid zum Lippenstift bis zum Nagellack. Besonders populär waren in den 50ern die verführerischen Bilder der Pin-up-Girls.

1910–1920 Was vorher noch als unschicklich galt, kam langsam in Mode: Make-up wurde bei den Frauen immer beliebter, wenn auch noch gewisse Zurückhaltung geübt wurde. Insbesondere während der Kriegsjahre war es verpönt, für Make-up Geld auszugeben. Um 1910 galt weiter ein stattlicher Brustumfang als begehrenswert und schön. 1920–1930 In den Roaring Twenties gesellte sich zum Ideal der gesunden Natürlichkeit der grossstädtisch-dekadente Gegentyp der «Garçonne» hinzu. Als Vorbild galten schlanke, beinahe knabenhafte Frauen. Der Busen wurde oft mit einem Leibgürtel flachgedrückt. Frauen trugen zudem gerne Männerhosen. Ein kleiner Kopf, möglichst grosse, schwarz umrandete Augen und ein voller, geschminkter Mund waren das Sinnbild weiblicher Schönheit. Der wohl schwerwiegendste Traditionsbruch – neben dem Heben des Rocksaums – war der Sieg des Bubikopfs. 1930–1940 Die Nationalsozialisten setzten der in ihren Augen «entarteten» Schönheitsströmung der 20er ein jähes Ende. Blond, blauäugig und möglichst athletisch gestählt, gleichzeitig aber weiblich, lautete die Definition des Schönheitsbegriffs. In Hollywood gab man sich dagegen mondän. Der Stil der schwedischen Schauspielerin Greta Garbo wurde zum Schönheitsideal der 20er und 30er Jahre, insbesondere ihr sinnlicher Oberlippen-Schwung und ihre schweren Wimpern. 1940–1950 Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte eine kurze, für das 20. Jahrhundert einmalige Renaissance der üppigen weiblichen Formen ein. Rundliche Formen waren bei Männern und Frauen gleichermassen hoch im Kurs, liess doch eine vollschlanke Figur in der entbehrungsreichen Zeit auf Gesundheit und Wohlstand schliessen. Nach dem Krieg wurde die Kosmetikproduktion wieder aufgenommen, die Frauen begannen sich stärker zu schminken.

sChÖNheit iM WANDeL DeR Zeit

1900–1910 Um die Jahrhundertwende galten Wespentaille und ein blütenweisser Teint als Inbegriff von Schönheit. Der noblen Blässe wurde meist mit Puder und teilweise gar mit hochgiftiger Quecksilbertinktur nachgeholfen. Abgesehen davon war jede Künstlichkeit wie Make-up oder Haarefärben jedoch verpönt. Besonders beliebt waren gelockte Haare, die verspielt hochgesteckt wurden.

1960–1970 Die Phase der Üppigkeit endete mit dem britischen Model Twiggy. Knochig, hager und flachbusig hiess nun die Schönheits-Devise. Zu den Schönheitsikonen gehörte auch Schauspielerin Audrey Hepburn. Die 60er brachten Kosmetiksortimente von enormer Vielfalt und weitaus höherer Qualität. Besonders im Fokus stand das Auge, das so stark betont wurde wie nur möglich; mit falschen Wimpern, flüssigem Eyeliner, Lidschatten und Wimperntusche. 1970–1980 In den 70ern setzten die Frauen tagsüber auf Natürlichkeit, in den Discos sparten sie allerdings nicht an Glanz und Glitter. Möglichst ausdrucksstark geschminkte Augen galten weiterhin als modern. Als besonders attraktiv wurden eine schmale Taille und eine voluminöse Haarpracht empfunden. Die Kleidung war oftmals bunt und schrill. Die amerikanische Schauspielerin Jane Fonda verkörperte das Schönheitsideal der 70er. 1980–1990 Je mehr, desto besser. So lautete das Motto der 80er. Egal ob Make-up, Haare oder Mode – alles durfte ein wenig extremer sein. Schön war, wer seine Gesichtszüge mit viel Rouge, farbigem Augen-Make-up und knalligem Lipgloss betonte. Auch schmale Hüften, eine grössere Oberweite, breite Schultern und Schulterpolster gehörten zum weiblichen Idealbild. Der Fitness- und Aerobic-Boom der 80er schuf das Schönheitsideal «schlank und muskulös». 1990–2000 Als Gegentrend entstand in den 90er Jahren auf den Laufstegen der Welt der sogenannte «Heroin Chic». Das Gesicht zur Bewegung war Kate Moss, die über Nacht zum Superstar wurde und ein neues Schönheitsideal etablierte: blass, dünn, mit spitzen Hüftknochen, eckigen Schultern und einer Mini-Taille. Hauptsache mager. Beim Make-up setzten die Frauen wieder auf weniger Farbe. Wobei die neue Natürlichkeit in Wahrheit besonders aufwändig und kunstvoll geschminkt war. ■ – Lilly Toriola

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00er

10er

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30er

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50er

60er

70er

Die bilder zum artikel sind im rahmen der fachmittelschulabschlussarbeit von livia Schaeppi entstanden. Die 19-jährige appenzellerin schuf nebst ihrer schriftlichen arbeit unter dem Titel «100 Jahre Schönheit» eine fotoserie, in der sie – selbst als modell fungierend – die verschiedenen weiblichen Schönheitsideale der letzten zehn Jahrzehnte in bezug auf kleidung, frisur und make-up möglichst authentisch nachstellte. www.100jahreschönheit.ch

80er

90er Die Politik 1 Februar 2012

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Was ist ästhetisch? Obschon ich nicht an einen allgemeingültigen Imperativ der Ästhetik glaube, bin ich dennoch der Überzeugung, dass es gerade in der Literatur jene Momente gibt, die einem nachhaltig betören. Das geschieht dann, wenn erwachsene Männer sich ein Wettrennen liefern, um als erster die Tür des Bücherantiquariats zu berühren, um sich so das Vorkaufsrecht der besten soeben eingetroffenen Bücher zu erkämpfen. Und es geschieht dann, wenn ein Mann in Lutz Seilers Erzählung «Na?» seinen Kopf müde auf das Lenkrad legt, wenn die Mutter in «Tschick» von Wolfgang Herrndorf im Swimmingpool abtaucht, oder es ist das onomatopoetische «p» in der Erzählung einer Zweitklässlerin: ein Mädchen will seine Fee befreien und muss dazu eine ganz besondere Blume – ein Es sind jedenfalls gar nicht so sehr beGänseblümchen – anspucken: «p!».

stimmte Stilrichtungen oder Eigenschaften wie Virtuosität, welche die Ästhetik von mir bevorzugter Musik ausmachen. Genau wie bei einem guten Roman oder einem guten Gemälde ist es viel eher eine Stimmung, die sich als eine Art Hintergrundrauschen durch alles hindurch zieht. Eine schwer benennbare, aber deutlich spürbare ständige Präsenz des Musikers, die mich dazu veranlasst, mir seine/ihre Musik immer wieder anzuhören, egal ob es sich dabei um Henri Dutilleux, John Coltrane, The Meters oder Res Gwerder handelt.

Tabea Steiner, Schriftstellerin, arbeitet an ihrem ersten Roman, Förderpreis der internationalen Bodenseekonferenz (IBK) in der Sparte Kurzgeschichten 2009

Fotografieren ist immer etwas politisches, denn mit jedem Bild wird Inhalt transportiert. Für mich als Pressefotograf ist letztlich alles schön. Alles und jeder ist fotografierbar. Jedes Sujet lässt sich in einer Fotografie ästhetisch umsetzen. Bernhard Bamert, Auch ein Kriegsfoto kann, trotz Posaunist und Jazzmusiker der Brutalität, etwas unheimlich Schönes an sich haben. Entscheidend für die Ästhetik eines Bildes sind die Bildaussage – jede Fotografie muss einen Sinn haben –, die Harmonie und gleichzeitig die Spannung der gesamten Bildkomposition. Einem Bild Leben einzuhauchen, ist die hohe Kunst der Fotografie. Dazu muss man sich als Fotograf mit der Materie auseinandersetzen. Es reicht nicht, bei einem Interview rasch ein paar Fotos zu schiessen. Man muss zuhören, sich mit der Thematik und auch mit dem Raum auseinandersetzen, den Menschen in seinem Charakter und seinen Bewegungen, seiner Gestik und Mimik spüren. Nur so erfasst man die ganze Dynamik und schafft es, ein ästhetisches Bild aufzunehmen. Ein gutes Bild braucht Zeit. Markus Hubacher, Pressefotograf

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Gute Werbung bedeutet nicht einfach einen ästhetischen Fernsehspot zu produzieren, der schön anzuschauen ist. Konsumenten sind heute einer enormen Informationsflut ausgesetzt, es gibt unzählige Medienkanäle, in denen sie dauerberieselt werden. Jede Werbung steht in einem harten Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit mit anderen (Unterhaltungs-)Angeboten. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um politische Werbung, einen Werbespot für Joghurt oder das Samstagabendprogramm im TV handelt. Aufmerksamkeit erregt, was auffällt. Eine gute Werbekampagne kann deshalb durchaus «trashig» umgesetzt sein. Wichtig ist, dass die Werbung zur beworbenen Marke passt. Wer ein Billigprodukt bewirbt, kann beispielsweise bewusst mit dem Billigimage spielen. Eine starke Werbekampagne beinhaltet als Basis eine smarte Strategie, einen Gedanken, der einen klar positioniert und von der Konkurrenz differenziert. Ein gutes Beispiel für eine gelungene Strategie ist Barack Obamas Präsidentschaftswahlkampf 2008 mit dem Claim «Change». Basierend auf der Strategie braucht es eine frische Idee. Immer gleiche Waschmittelwerbung ist kein Hingucker mehr. Obama hat in seinem Wahlkampf als einer der ersten gezielt die digitalen Kanäle bewirtschaftet. Auch das – auf neue Kanäle zu setzen – kann eine frische Idee sein. Gute Werbung muss ausserdem handwerklich exzellent umgesetzt sein. Wer eine eigene Bildund Wortsprache mit einem hohen Wiedererkennungswert entwickelt, erhöht die Chance, den Betrachter anzusprechen. Kommunikative Meilensteine setzt, wer in seinem Umfeld neue Standards definiert. Frank Bodin, Chef der Werbeagentur Euro RSCG, Werber des Jahres 2009

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Wahrnehmung des perfekten Partners

Frau /40 /Single – Kom mun ikat iv – Offen – Humorvoll – Spontan – Ehrl ich – Neugier ig – Kon flikt fähig – Krit ikfä hig – Eloq uent – Sozi alkompetent – Emp athi sch – Reflektierte s Handeln – Sportlich – Kult urintere ssiert Themen – Interess iert an tage sakt uellen h – Genussmensc – Freude an der Natu r nziell) – Auf eigenen Beinen stehend (fina lic kaho – Kein Wor – Gros s (> 178 cm) – Sportliche Figu r – Gepfleg te Hände und Zäh ne – Positive Aus stra hlung – Kein Bart oder Sch nau z – Fest e Kinnpart ie – «Leb end ige» Augen – Sympath isches Lachen – Schöne Schu he

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Ehe frau /77

– Gutes Au ssehen, Ge pfleg theit – Zu frie den heit – Die Bereitscha ft zuz uhören, sich aus ein ander zus etz en mit meinen Themen – Fröhlich keit – Mitei na nder ins Theat er gehen, ins Kino, in Konzerte – Unterha ltsa mkeit – Er sol l kochen kön nen

Ehemann /74

– Schön heit – Unterha ltsa mkeit sie mich liebt – Ich wi ll spü ren, da ss n las sen im – Sie sol l mich mache ht im mer nic r mi Haush alt und sser. be es ne kön sie en, sag machen. e ein all es Son st sol l sie da ss sie ll, wi Ich . eit dh sun – Ge ch. ges und ist . Auch für mi

Mann/36 /Single – Fröhliches Gemüt – Selbstä ndig – Schlanke Figur – Sie sollte die gewissen Unterschiede zwischen Mann und Frau anerken nen – Psychisch stabil – In gesundem Mass auf ihr Äussere s achtend – Guter, interess anter Job – Keine Feminis tin – Sie sollte Herz zeigen, auch anderen gegenü ber – Treu sein respekt ive Ehrlichkeit bei Untreue – Unkompliziert – Bodens tändig – Politisch mitte­li nks orientiert – Mit gutem Einfühlungsver mögen – Sie sollte das Gute im Mann wollen, nicht «Bad Boys» bevorzugen – Finanziell unabhä ngig – Bei allfälligem Kinderw unsch müsste sie bereit sein, zu den Kindern zu schauen – Sie muss meine Leidenschaften nicht teilen, aber mich diese leben lassen – Sie muss sich selbst beschäf tigen können – Sie muss zu mir als Partner stehen – Die Beziehu ng sollte eine Symbio se sein, in der jeder trotzdem für sich selber verantwortlich ist


VOr 10 JAhren…

t , die i m e i S P V C r H e l fe n e d tt e ä t s s t r u Geb en! t l a h r e zu Vor 171 Jahren, im Jahr 1840, wurde im Gasthof Rössli in Ruswil (LU) der Grundstein der CVP gelegt. Heute steht die Geburtsstätte der CVP zum Verkauf. Um das historisch bedeutsame Rössli Ruswil zu erhalten, hat sich eine CVP-nahe Interessengemeinschaft gebildet, die das Restaurant übernehmen möchte. Die Interessengemeinschaft unter der Führung des Luzerner CVPParteipräsidenten Martin Schwegler sowie Kantonsrat und Bauunternehmer Hans Aregger ist dazu auf der Suche nach Unterstützern. Das Restaurant ist als Aktiengesellschaft konstituiert. In einer ersten Phase soll geklärt werden, ob genügend Personen für den Aktienkauf gefunden werden können. In einer zweiten Phase soll die Trägerschaft verbreitert werden, um die Zukunft des Hauses längerfristig zu sichern. Erste konzeptionelle Überlegungen, wie aus der Tatsache, dass das Rössli die Geburtsstätte der CVP ist, ein optimaler Nutzen gezogen werden kann, bestehen.

Am 3. März 2002 hat das Schweizer Stimmvolk die eidgenössische Volksinitiative «Für den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO)» mit 1'489'110 Ja zu 1'237'629 Nein-Stimmen angenommen. Die Abstimmungskampagne verlief äusserst lebhaft. Joseph Deiss, damals Vorsteher des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, engagierte sich an vorderster Front für die Initiative. Seine Überzeugungsarbeit und sein entschlossenes Auftreten haben massgeblich dazu beigetragen, dass die Schweiz zum 190. Mitglied der UNO wurde. Man kann sich fragen, ob Joseph Deiss, als am 10. September 2002 die Schweizer Fahne vor dem UNO-Sitz in New York gehisst wurde, schon davon geträumt hatte, acht Jahre später Präsident der UNOGeneralversammlung zu werden. (ym)

Interessierte melden sich bei Hans Aregger, Tel 041 929 50 50, E-Mail hans.aregger@aregger-ag.ch oder Martin Schwegler, Tel 041 494 00 33, E-Mail schwegler@anwaltspraxis.ch

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Eva Sieber, Textilmuseum st.gallen

DEr SToff, aUS DEm DIE TräUmE SIND

Die 800-jährige St. Galler Textilgeschichte ist geprägt von schöpferischem Schaffen, einer ständigen Wandlungsfähigkeit und visionären technischen Errungenschaften, Tradition und Evolution, Geschichte und Innovation. Am Anfang der textilen St. Galler Geschichte stand das Leinengewebe, das zum Mythos aufstieg und bald einmal als «weisses Gold» bezeichnet wurde. Ein Mensch beanspruchte im Mittelalter im Durchschnitt rund 120 Meter Leinen für sich; verarbeitet zu Kleidern, Wäsche und anderen Produkten im Alltag. Als die Bevölkerung wuchs, wurde das Rohmaterial knapp und teuer. Gleichzeitig wurde der Körperhygiene mehr Beachtung geschenkt, womit das Bedürfnis stieg, Textilien unkompliziert waschen zu können.

Der stoff des weissen Goldes Ein einheimischer Globetrotter entdeckte die Baumwolle und brachte sie schliesslich nach St. Gallen. Baumwolle war einfach zu spinnen. Die Wollweber entwickelten daraus die sogenannt «halbwulligen» Fabrikate. Auch die Leinenweber nutzten die Baumwolle und produzierten den günstigeren Halbleinen. Mit diesem neuen Stoff, der für Bleicher und Ausrüster einfacher zu verarbeiten war, wurde die Mode leichter. Damit war der Impuls für die Verfeinerung der textilen Materialien gesetzt. So entstanden kurz darauf die neuen Stoffvarianten Mousseline und Voile aus reiner Baumwolle. Einige Zeit später kam die Baumwollbuntweberei dazu. Frauen und Kinder verzierten den Mousseline, indem sie ihn von Hand bestickten. Renaissance Von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert entwickelte sich in europäischen Zentren wie Venedig, Brüssel und Alençon die Technik der berühmten handgefertigten Nadel- und Klöppelspitzen. Diese Spitzenhandarbeit repräsentierte grössten Luxus für die Dekoration der Frauen- und Herrenbekleidung, vor allem für den Hochadel. Die St. Galler Händler und Sticker wie Iklé kauften in den europäischen Städten zahlreiche Spitzen ein, um sie als Inspiration für ihre eigenen Ideen und Handstickereien zu verwenden. 34

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industrialisierung Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis, diesen Luxus zu industrialisieren und damit einer breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen. Ostschweizer Erfindergeist führte zur Entwicklung der Handstickmaschine, einer mechanisch geführten Nadel mit zwei Spitzen und dem Öhr in der Mitte. Diese Kapazitätserweiterung machte sich im modischen Erfolg sichtbar und formulierte eine neue Nachfrage. Mit der nachfolgenden Konstruktion der Schifflistickmaschine – dem Pantograf und Stickautomat – schaffte es die Ostschweiz, grosse Mengen zu produzieren, die sie weltweit distribuierte und damit einen einzigartigen Boom auslöste. Geburtsstunde der st. Galler spitze 1881/1882 erfanden die hiesigen Textiler die «St. Galler Spitze» – jene Stickerei, die die handgefertigte Klöppelspitze perfekt imitierte und sich schnell zu einer eigenständigen und begehrten Stickereivariante – bekannt unter dem Namen «Guipure» – entwickelte. Aufgrund ihres Herstellungsprozesses wird sie auch Ätz-Stickerei genannt. Die Sujets werden auf einem Trägerstoff zusammenhängend gestickt, der anschliessend durch einen chemischen Vorgang entfernt wird. Die Guipure-Stickerei aus der Ostschweiz zählt bis heute zum festen Bestandteil der Modemacher und seit ein paar Jahrzehnten ist sie auch in der Lingerie vertreten. Von Beginn weg war ihre Geschichte ein Erfolg und erzielte bis zu den beiden Weltkriegen und der damit verbundenen Weltwirtschaftskrise grosse Absätze. stoffdruck Wegen der boomenden Stickerei mussten sich die Roh- und Baumwollweber allmählich neu orientieren und entwickelten mit höchster Qualität den industriellen Stoffdruck auf Baumwolle. In ihrer Sparte wurden sie weltweit zum Inbegriff der qualitativen Exklusivität. Allerdings erlitten viele Unterneh-


men durch den Preiszerfall gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine herbe Krise, die im Lauf der Geschichte nicht alle Fabrikanten überlebten. Zu diesen gehörten beispielsweise die über Jahrzehnte bedeutenden und weltweit anerkannten Betriebe Stoffel und Mettler.

stickerei neu interpretiert Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die feine Stickerei neu interpretiert und kam in der Mode der 50er-Jahre schwerer und plakativer daher. Die St. Galler Sticker fanden damit neue Absatzkanäle. Blusen, Herrenhemden, Schürzen und Krägen wurden aus ihren Dessins hergestellt. Kurz darauf, in den 60er-Jahren, trat im Be-

reich der Haute Couture eine neue Generation auf mit Visionen für Prêt-à-Porter-Mode, Hippie-Looks und Space-Träume – wiederum umgesetzt mit St. Galler Stickerei. Mit der Erfindung der PaillettenAggregate auf den Stickmaschinen hielt zudem der industrielle Glanz in der Mode Einzug. Durch die tiefgründigen gesellschaftlichen Veränderungen und die Emanzipation der Frau, setzten die St. Galler in den 70er-Jahren ihre Karte auf Damenunterwäsche und produzierten Stickerei für Dessous, mit der die weibliche Anmut akzentuiert, Wünsche und Fantasien projiziert wurden. Der grösste Verkaufsschlager bis heute. ■ Die Politik 1 Februar 2012

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A BC D E FGHIJK LMNOP QRSTU V W X YZ Alltagsästhetik. Versal-ABC aus der Helvetica von Max Miedinger / 1957.


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