Magazin der CVP Schweiz, November 2010

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Magazin fĂźr Meinungsbildung. Ausgabe 9 / November/Dezember 2010 / CHF 7.80 www.die-politik.ch

HerAn- kunft Zu-


inHAlt

titel

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AufbrucH PersPektiven WeG urvertrAG AdoPtion rückblick ZukunftsbeWältiGunG selbsterfindunG verlust GeWinn

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ortstermine

17 MorGArten 32 aus der Bundeshausfraktion

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«Das Parteiprogramm ist ein Grundsatz und spielt keine Rolle für unsere politische Arbeit.» impressum

Herausgeber Verein DIE POLITIK redaktionsadresse DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern, Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail binder@cvp.ch, www.die-politik.ch redaktion Marianne Binder, Jacques Neirynck, Yvette Ming, Lilly Toriola, Rudolf Hofer, Karikatur: Nico gestaltungskonzept, illustrationen und layout Brenneisen Communications, Basel druck UD Print, Luzern inserate und abonnements Tel. 031 357 33 33, Fax 031 352 24 30, E-Mail abo@die-politik.ch, Jahresabo CHF 32.–, Gönnerabo CHF 60.– näcHste ausgabe Januar 2011 titelbild: ©iStockphoto.com/Adrian Assalve, Kuppel Stiftskirche St. Gallen

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Die Politik 9 November/Dezember 2010

SP-Nationalrat Max Chopard, Vizepräsident der Sicherheitspolitischen Kommission, zum Entscheid seiner Partei, die Armee abzuschaffen. Aargauer Zeitung, 3.11.2010


editorial – Marianne Binder, Chefredaktorin

Advent-Ankunft Die letzte Nummer des alten Jahres eröffnet den Advent. Wir befragten Vertreter der drei monotheistischen Religionen nach der Bedeutung des Wortes ankunft. Wir fragen Adoptivkinder aus Indien nach dem Bedürfnis ihre herkunft zu kennen und wir wollen wissen, wer die Eidgenossen erfunden hat. Wir fragten Kinder und junge Menschen nach ihrer Zukunft und ihren Perspektiven. Das Gleiche fragten wir Nationalrat Jacques Neirynck aus dem Kanton Waadt. Er ist mit achtzig Jahren der älteste Parlamentarier in Bern. Wir danken Ihnen, dass Sie die POLITIK abonniert haben und möchten Ihnen das Magazin auch als Geschenkidee auf Weihnachten beliebt machen. Sie unterstützen damit unsere Arbeit und diejenige der CVP, einer pragmatischen und konstruktiven Partei, welche den Erfolg der Schweiz erst möglich macht.

Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Alfred Bodenheimer

unGebreMste Geduld – über jüdiscHe Ankünfte Gegenüber dem Ankommen war das Judentum immer schon skeptisch. Das beginnt in den biblischen Quellen: Abraham kommt in dem Land, in das ihn Gott im Buch Genesis hat wandern lassen, zwar wohlbehalten an. Doch bald schon zwingt ihn eine Hungersnot dazu, es wieder zu verlassen und vorläufig in die Kornkammer Ägypten zu emigrieren. Und er muss erfahren, dass seine Nachkommen zwar zahlreich, aber zunächst noch Knechte sein würden in fremden Landen, bevor sie dann von dort ausziehen können. Als dies dann geschieht, unter der Führung des Moses, ist es just dieser, der es wiederum nicht schaffen wird, im Land anzukommen. Ein letzter Blick darauf ist ihm zwar gewährt, doch der Midrasch, die rabbinische Exegese zum Pentateuch, hat sich lange darüber aufgehalten, welch persönlichen Schmerz es Moses bedeutet hat, das Land, zu dem der sein Volk hingeführt hat, selbst nicht mehr betreten zu können.

Bedingte Beheimatung Andererseits war er ein Skeptiker. Er ahnte, dass, einmal im Land angekommen, die Israeliten kein Mustervolk sein würden und drohte ihnen entsprechend göttliche Strafen an, falls sie Gottes Gebote verletzen würden. Die Israeliten bekamen ins Stammbuch geschrieben, dass ihr Recht, das Land zu bewohnen, an ihr Rechttun gebunden sei. Der Religionsphilosoph Franz Rosenzweig hat aus dieser bedingten Beheimatung Israels in seinem Land, einem «Lehen» Gottes, wie er es nannte, geradezu auf dessen Charakter des Heiligen geschlossen. An diesem Land dokumentierte sich Gottes Weltherrschaft in nuce – kein Volk, und schon gar nicht jenes, dem Gott es zugesprochen hatte, konnte es schlicht um seiner Ansässigkeit oder Eroberung wegen beanspruchen. Entscheidender sind die Aufbrüche Ankünfte in der jüdischen Tradition sind in der Regel misslungene, verzögerte oder bedingte. Entscheidender sind die Aufbrüche, möchte man sagen: bei Abraham, beim Exodus, und in gewisser Weise sogar die Aufbrüche ins Exil. Im 6. Jahrhundert v.u.Z. ins babylonische und danach immer wieder an andere Exilorte, letztlich in die ganze Welt. 4

Die Politik 9 November/Dezember 2010

Ankunft des Messias immer nur erwartet … Die grundlegende Skepsis der Juden gegenüber dem Ankommen hat auch dazu geführt, dass sie die Ankunft eines Messias immer nur erwarten – wo ein Messias als solcher anerkannt wird, spaltet sich das Judentum früher oder später auf zwischen denen, die den Messias als solchen anerkennen und den anderen, die Juden bleiben. Das war bei Jesus so, das war im 17. Jahrhundert gegenüber dem Messiasprädendenten Sabbatai Zwi so, dessen Aura die von Kriegen und Massakern gebeutelten Judenheiten Europas und Kleinasiens erschütterte. Mit seinem vom türkischen Sultan erzwungenen Übertritt zum Islam verlor er, allerdings nicht für alle Anhänger, an Glaubwürdigkeit. …doch vollkommener Glaube an die Ankunft Wie komplex der jüdische Glaube an die Ankunft des Messias ist, spiegelt der zwölfte der dreizehn Glaubenssätze, die einer der bedeutendsten Denker der jüdischen Geschichte, Moses Maimonides (ca. 1135–1204) formulierte: «Ich glaube mit vollkommenem Glauben an die Ankunft des Messias. Und obwohl er (die Ankunft) verzögern wird, nichtsdestoweniger werde ich ihn erwarten an jedem Tag, dass er kommen wird.» Der vollkommene Glaube an die Ankunft des Messias ist unmittelbar verknüpft mit dem Wissen darüber, dass er die Ankunft bislang nicht nur hinausgeschoben hat, sondern sie weiter verzögern wird. Unter dieser Prämisse ist es gegeben, ihn jeden Tag zu erwarten – was heissen würde, dass eines Tages ein Teil des Glaubenssatzes, nämlich dass der Messias die Ankunft verzögern wird, nicht mehr stimmt. An diesem Tag, an dem der Glaubenssatz in die Brüche geht, wird der Messias kommen.


COLONNE LIBRE

Zur Perspektive eines Achtzigjährigen Die Rolle Israels Die Frage nach dem Messias ist beileibe keine theoretische: Grosse politische Gräben haben sich in den vergangenen Jahrzehnten zwischen jenen Juden aufgetan, die die Gründung des Staates Israel als evolutionären Schritt in der messianischen Verheissung verstanden haben, und jenen, die mit Macht dagegen sind, die Erlösung beschleunigen zu wollen und dem Staat deshalb die religiöse Legitimation absprechen. Sie sehen den Messias nicht als evolutionäres, sondern als göttlich revolutionäres Ereignis. «Der Messias kommt nicht; der Messias ruft auch nicht an», sang der israelische Rockstar Shalom Chanoch in einem seiner berühmtesten Songs in den achtziger Jahren. Es war der ironische Bruch mit einer Doktrin, die die Juden durch Jahrhunderte eines beispiellosen Existenzkampfes geführt hatten. Fast ein halbes Jahrhundert vorher hatte Walter Benjamin über die Zeit nach jüdischem Geschichtsverständnis gesagt, es sei in ihr «jede Sekunde die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte», gewesen. «…werde ich ihn erwarten an jedem Tag, dass er kommen wird» Man könnte sagen, das ungebrochene Warten auf eine intrinsisch sich verzögernde Ankunft hat eine Art ungebremster Geduld entwickelt. Juden haben es in ihrer Geschichte immer verstanden, an jedem Ort schnell eigene Infrastrukturen aufzubauen. Und sie haben sich zugleich (mit mehr oder weniger Erfolg) bemüht, an den Orten ihres Exils auch heimisch zu werden. Das rasche «Ankommen» wurde aber oft konterkariert durch die Feindseligkeit der Umgebung und das eigene Bewusstsein, hier womöglich nur provisorisch zu sein. Es scheint zuweilen, der Schock, in Israel eigentlich tatsächlich dort angekommen zu sein, von wo kein Aufbruch mehr nötig sein wird und dennoch oder gerade in der Spannung ungelöster Konflikte zu leben, hat eine kaum je dagewesene Sehnsucht nach dem Messias generiert, eine noch gesteigerte Erwartung seiner Ankunft «an jedem Tag, dass er kommen wird». ■ Alfred bodenheimer, Judaist und Literaturwissenschaftler, geboren 1965 in Basel. Promotion an der Uni Basel, Habilitation an der Uni Genf; nach Lehr- und Forschungstätigkeiten an der Hebräischen Universität Jerusalem, der Bar-Ilan Universität (Israel) und der Universität Luzern. Seit 2003 Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums und Leiter des Instituts für Jüdische Studien an der Universität Basel. Seit 2010 der erste jüdische Dekan einer Theologischen Fakultät in Europa. In Vorbereitung (Erscheinungstermin voraussichtlich 2011) ist der Essay «Ungebrochen gebrochen. Über jüdische Narrative.» ■

In weniger als einem Jahr feiere ich meinen achtzigsten Geburtstag. Nie hätte ich mir vorstellen können, so alt zu werden und noch weniger, dass ich dann gleichzeitig auch noch Parlamentarier bin, Journalist, Schriftsteller. Aktiver denn je. Viele meiner Altersgenossen sind verstorben oder versinken in Depressionen. Ich ziehe daraus den Schluss, dass wer arbeitet, lang lebt und wer Stress hat, noch länger. Diese These ist politisch nicht korrekt, gibt es doch ein offizielles Rentenalter. Arbeitet man darüber hinaus, wird das beinahe als Delikt angesehen. Auf jeden Fall als Unverschämtheit gegenüber Jüngeren, welchen man den Arbeitsplatz besetzt. Oder anders: Wenn die Arbeit einen am Leben erhält, verzögert sie den Moment des Todes, was die AHV belastet, die zweite Säule und die Krankenkasse. Vorwürfe von diesem Niveau erhält man in Briefen und Mails. Selbstverständlich anonym. Deshalb verzichte ich auf political correctness und ergebe mich abtrünnigen Gedanken und aufrührerischen Prinzipien: je länger man arbeitet, je länger lebt man, man freut sich des Lebens und bleibt nützlich; das Zusatzeinkommen des aktiven Rentners schafft zusätzliche Arbeitsplätze; derjenige, der keine Karrieregelüste mehr hat, ist unabhängig. Er äussert sich gemäss seinem eigenen Gewissen und den Erfahrungen eines langen Lebens; das Rentenalter muss frei bleiben und bei der Berechnung der Rente müssen die Zusatzbeiträge einbezogen werden. Kurz: Man soll länger arbeiten, besser arbeiten, so lang wie möglich arbeiten. Man soll arbeiten, um zu gewinnen. An finanziellen Mittel, an Lebensjahren und an Lebenskraft. Die Kinder, welche jetzt geboren werden, werden hundert Jahre alt. Wollen wir ihnen tatsächlich nahelegen, mit 65 Jahren schlapp zu machen? –Jacques Neirynck

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Abt Martin Werlen, Kloster Einsiedeln

Höre und du Wirst AnkoMMen Als mir die Benediktsregel vor 30 Jahren zum ersten Mal in die Hände kam, war ich von diesem Büchlein aus dem 6. Jahrhundert begeistert. Vieles darin hat mich sehr beeindruckt und mich so sehr angesprochen, dass es mir warm ums Herz wurde. Ich wusste: Das ist mein Weg. In Einsiedeln bin ich «gelandet», weil die Regelausgabe, die mir in die Hände kam, vom damaligen Einsiedler Abt Georg Holzherr übersetzt und kommentiert war. Zwei Wörter haben mich schon bei der ersten Lektüre fasziniert. Als ich 2001 zum Abt von Einsiedeln gewählt wurde, habe ich sie zu meinem Leitmotto gewählt. Das erste Wort der Regel: ausculta (höre), und das letzte Wort der Regel: pervenies (du wirst ankommen). Höre, und du wirst ankommen! Das ist die Verheissung, die in der Benediktsregel liegt. Das Hören bezieht sich auf Gott, der Anfang und Ziel unseres Lebens ist. Der heilige Benedikt ist überzeugt, dass dieser Gott auf verschiedene Weisen zu uns spricht: in der Heiligen Schrift, im Gebet, im Fremden, im Jungen, im Kranken, im Kritiker, im Abt, durch Begegnungen und Erfahrungen usw. Gelungen ist unser Leben, wenn wir durch immer neues aufmerksames Hören – Benedikt spricht davon, dass wir das Ohr unseres Herzens neigen sollen – bei dem ankommen, von dem unser Leben ausgegangen ist.

Programm für christliche Politik Das ist nicht nur ein Lebensprogramm für Mönche. Es ist ein Lebensprogramm für Christinnen und Christen. Zu Recht gibt Abt Georg Holzherr seiner Regelausgabe den Untertitel: «Eine Anleitung zu christlichem Leben.» «Höre, und du wirst ankommen!» ist daher auch ein Lebensprogramm für christliche Politikerinnen und Politiker. Mit dem Ohr am Herzen Gottes und der Hand am Puls der Zeit können sie tatkräftig dazu beitragen, dass Menschen ihre eigentliche Berufung entdecken und leben können. Eine solche Haltung bewahrt davor, kurzfristige Erfolge anzupeilen und sich damit zufrieden zu geben. Sie schenkt eine Vision des menschlichen Lebens, in der alle Aspekte ihren richtigen Platz finden und von daher auch geordnet werden. Sie lässt Durststrecken besser durchstehen und bewahrt von jeder Art von Populismus. Sie kann Niederlagen einstecken ohne zu resignieren. Für den heiligen Benedikt liegt im Hören das Rezept zum Ankommen. Und Hören macht Sinn, weil Gott immer neu bei uns ankommt. So gesehen ist das ganze Jahr Weihnachten.1 6

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Wenn dumme Leute auf gescheite Gedanken kommen Michael Ende beschreibt in seinem Buch MOMO auf eindringliche Weise, was Hören heisst und wie beim aufmerksamen Hören Erfahrungen der Ankunft geschenkt werden: «Was die kleine Momo konnte wie kein anderer, das war: Zu­ hören. Momo konnte so zuhören, dass dummen Leuten plötz­ lich sehr gescheite Gedanken kamen. Nicht etwa, weil sie etwas sagte oder fragte, was den anderen auf solche Gedanken brach­ te, nein, sie sass nur da und hörte einfach zu, mit aller Aufmerk­ samkeit und aller Anteilnahme. Dabei schaute sie den ande­ ren mit ihren grossen, dunklen Augen an, und der Betreffende fühlte, wie in ihm auf einmal Gedanken auftauchten, von den­ en er nie geahnt hatte, dass sie in ihm steckten. Sie konnte so zuhören, dass ratlose oder unentschlossene Leute auf einmal ganz genau wussten, was sie wollten. Oder dass Schüchterne sich plötzlich frei und mutig fühlten. Oder dass Unglückliche und Bedrückte zuversichtlich und froh wurden. Und wenn je­ mand meinte, sein Leben sei ganz verfehlt und bedeutungslos und er selbst nur irgendeiner unter Millionen, einer, auf den es überhaupt nicht ankommt und der ebenso schnell ersetzt werden kann wie ein kaputter Topf – und er ging hin und er­ zählte alles das der kleinen Momo, dann wurde ihm, noch während er redete, auf geheimnisvolle Weise klar, dass er sich gründlich irrte, dass es ihn, genauso wie er war, unter allen Menschen nur ein einziges Mal gab und dass er deshalb auf seine besondere Weise für die Welt wichtig war. So konnte Momo zuhören!… Und wer noch immer meint, zuhören sei nichts Besonderes, der mag nur einmal versuchen, ob er es auch so gut kann.» ■ 1 Martin Werlen, Das ganze Jahr Weihnachten. Alltägliche Erfahrungen benediktinisch betrachtet. Orell Füssli. Zürich 2008.

Martin Werlen, aufgewachsen in Obergesteln VS, wurde 2001 von der Einsiedler Klostergemeinschaft zum 58. Abt gewählt und von Papst Johannes Paul II. bestätigt. Er ist Lehrer an der Stiftsschule und Dozent an der Theologischen Schule des Klosters. In der Bischofskonferenz betreut er unter anderem die Ressorts Kommunikation und Iustitia et Pax.


Ali Özgür Özdil

doPPelte Ankunft

Umar ibn al­Khattab (Kalif von 634–644 n. Chr.) fragt Ali ibn Abi Talib (Kalif von 656–661): «Es gab Zeiten, da war ich mit dem Propheten zusammen und du warst nicht anwesend, und es gab Zeiten, da warst du mit dem Propheten zusammen und ich war nicht anwesend. Ich habe zu drei Themen eine Frage an dich und viel­ leicht hast du etwas vom Propheten darüber gehört…»

Eine dieser Fragen lautet: «Es gibt Menschen, die dir nie einen Gefallen getan haben und dennoch empfindest du Sympathie für sie und es gibt Menschen, die dir nie einen Schaden zugefügt haben und du magst sie dennoch nicht. Was ist der Grund dafür?» Ali berichtete ihm: Ich hörte den Propheten sagen: «Die Menschen, deren Seelen sich in der Seelenwelt begegnet sind, mögen auch einander im irdischen Leben und die Menschen, deren Seelen sich nicht begegnet sind, mögen sich nicht.»1

Existenz beginnt vor der Geburt Ich beginne mit einer Welt jenseits unseres irdischen Daseins. Unsere Existenz ist demnach nicht nur biologisch und beginnt nicht erst mit der Geburt. Laut einer Aussage des Propheten wird dem im Mutterleib entstehenden Leben am vierzigsten Tag die für diesen Körper bestimmte Seele eingehaucht. Der Koran geht sogar so weit und berichtet uns, wie Gott, der Schöpfer allen Daseins, von den Menschen ein Versprechen abnimmt, noch bevor sie ins irdische Leben treten: «Und als dein Schöpfer aus den Kindern Adams – aus ihren Lenden – ihre Nachkommenschaft hervorbrachte und sie zu Zeugen wider sich selbst machte (indem Er sprach): ‹Bin Ich nicht euer Schöpfer?›, sagten sie: ‹Doch, wir bezeugen es.› Damit ihr nicht am Tage der Auferstehung sprecht: ‹Siehe, wir waren dessen unkundig.›» (Sure 7,172) Viele muslimische Koranexegeten – unter ihnen auch der Prophetengefährte ibn Abbas – erkennen hier einen «Urvertrag» Gottes mit der Menschheit.2

Der göttlichen Bestimmung folgen Folgender Koranvers behandelt das Schöpfungsziel: «Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur darum erschaffen, dass sie Mir dienen.» (Sure 51,56) Der Vers macht den Menschen darauf aufmerksam, dass er ein Geschöpf Gottes ist und deswegen zum Gottesdienst verpflichtet ist. Im islamischen

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Vgl. Kandehlevi, Muhammed Yusuf: Hayatüs-Sahabe, Band 3. Istanbul 1993 Vgl. Gramlich, Richard: Der Urvertrag in der Koranauslegung zu Sure 7, 172–173, in: Der Islam 60 (1983), S. 208

Verständnis dient der Mensch Gott, wenn er seiner göttlichen Bestimmung folgt; mit anderen Worten, nicht gegen seine von Gott gegebene Natur handelt. Die «Fünf Säulen» des Islams oder die Gebote (siehe Sure 6, 151–153 und Sure 17,30–40) sind nur ein Teil dessen, was hier mit «Gottesdienst» gemeint ist. Schliesslich ist der Mensch mit der natürlichen Veranlagung geschaffen (arab. Fitra) Gott zu dienen. «So richte dein ganzes Wesen aufrichtig auf den wahren Glauben, gemäss der natürlichen Veranlagung, mit der Gott die Menschen erschaffen hat. Es gibt keine Veränderung in der Schöpfung Gottes. Dies ist die richtige Religion. Jedoch, die meisten Menschen wissen es nicht.» (Sure 30,30)

Ewiges jenseitiges Leben Ein zentraler Koranvers beantwortet schliesslich die Sinnfrage «woher komme ich, wozu bin ich da und wohin werde ich gehen?»: «Aus ihr (der Erde) haben Wir euch erschaffen, und in sie werden Wir euch zurückkehren lassen, und aus ihr bringen Wir euch abermals hervor.» (Sure 20,55) Er erinnert den Menschen nicht nur daran, woraus er erschaffen wurde, sondern auch wer ihn erschaffen hat. Er erinnert ihn an seine Vergänglichkeit, da der Tod eine Realität ist, aber auch daran, dass der Tod nicht das Ende seiner Existenz ist, sondern der Übergang zum ewigen, jenseitigen Leben. es gibt demnach eine doppelte herkunft, nämlich eine seelische und eine körperliche, eine doppelte ankunft, eine ins irdische und dann eine ins jenseitige leben und eine doppelte Zukunft, eine zeitliche und eine überzeitliche. ■

Ali özgür özdil (geb.am 30.08.1969) ist Islamwissenschaftler und Religionspädagoge. Er ist Direktor des Islamischen Wissenschafts- und Bildungsinstituts in Hamburg und promovierte an der Universität Hamburg über Islamische Theologie und Religionspädagogik in Europa. Neben seinen vielen Publikationen (siehe z.B. «Wenn sich die Moscheen öffnen») ist er als Ko-Autor und Herausgeber tätig und engagiert sich im interreligiösen Dialog und in der Fortbildung aller Berufsgruppen mit Kontakt zu Muslimen. Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Interview: Lilly Toriola

HeiMAt und identität

nadja stirnimann

Hanna Meier

ihr leben habe eigentlich erst mit viereinhalb Jahren begonnen, sagt hanna meier. es war der 4. april 1982, als die heute 32-Jährige aus indien in die schweiz gebracht und zum ersten mal von ihren eltern und schwester in die arme genommen wurde. menschen, die sie nie zuvor gesehen hatte. ihre neue familie. «meine erste familie überhaupt», sagt hanna meier. davor, in den ersten lebensjahren, habe es niemanden gegeben. Über ihre herkunft weiss die Gastronomin praktisch nichts.

auch für nadja stirnimann ist die herkunft eine grosse unbekannte. sie wurde ein Jahr früher aus demselben kinderheim in madras adoptiert. die kommunikationsfachfrau kennt weder ihr genaues alter, noch ihren ursprünglichen namen. «anfänglich schätzte man, dass ich 1979 geboren sei, später 1978.» unter welchen umständen sie ins kinderheim kam, was mit ihren leiblichen eltern passiert ist; alles fragen, die nadja stirnimann nicht beantworten kann.

Sie wurden beide aus Indien adoptiert, haben aber den grössten Teil Ihres Lebens in der Schweiz verbracht. Was bedeutet für Sie Herkunft? Hanna Meier: Ich denke dabei einerseits an Indien. Ausser der Tatsache, dass ich dort geboren bin, verbindet mich mit meinem Herkunftsland allerdings weiter nichts. Herkunft bedeutet für mich deshalb vor allem Familie, nicht meine leibliche, sondern meine Adoptivfamilie. Nadja Stirnimann: Ich empfinde die Schweiz als mein Herkunftsland und meine Heimat. Mich hat nicht mein Geburtsland, sondern meine Adoptivfamilie geprägt. Ich bin überzeugt, dass nicht die Gene, sondern das soziale Umfeld entscheidend sind. Die Werte, Vorbilder und Moralvorstellungen, die mir meine Eltern mitgegeben haben, haben mich zu dem gemacht, was ich heute bin. Ich erkenne beispielsweise in vielen meiner eigenen Verhaltensweisen meine Eltern wieder.

Sie waren beide seit Ihrer Adoption nie wieder in Indien, wieso? N. S.: Bis heute hatte ich nie wirklich das Bedürfnis, mich auf die Suche nach meinen Wurzeln zu begeben. Ich würde in ein Land reisen, das mir völlig fremd wäre, indem ich – trotz meiner Herkunft – doch nur Touristin wäre. H. M.: Irgendwann werden meine Kinder die Frage stellen, wieso sie und ich anders aussehen. Wenn die beiden etwas älter sind, kann ich mir eine Reise mit der ganzen Familie durchaus vorstellen. Allerdings mehr meiner Kinder wegen, als mir. Letztlich hatte ich selbst auch nie das Bedürfnis nach einer Rückkehr.

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Weshalb zieht Sie nichts nach Indien zurück? H. M.: Ich weiss es selbst nicht so genau. Vielleicht habe ich eine gewisse Angst davor, Dinge zu sehen, die ich nicht sehen


möchte. Die grosse Armut beispielsweise. Oder Dinge zu erleben, mit denen ich nicht umgehen kann. Emotional würde mich das Ganze sicher stark mitnehmen. N. S.: Für mich stellt sich die Frage, was ich dort soll? Das Kinderheim in dem wir die ersten Jahre verbracht haben, gibt es heute nicht mehr. Ich kenne niemanden in Indien. Ich spreche die Sprache nicht, mir ist die Kultur fremd. Es gibt nichts, an das ich anknüpfen könnte. Ist die Möglichkeit, etwas über Ihre leibliche Familie zu erfahren, für Sie kein Anreiz? H. M.: Ich wurde als Kind auf der Strasse gefunden oder im Kinderheim abgegeben. So genau weiss man es nicht. Die Chance, dass ich etwas über meine Herkunft in Erfahrung bringen könnte, ist deshalb gering. Einerseits würde ich gerne mehr über meine Vergangenheit wissen. Mir ist ausser ein, zwei Fotos, ein paar Kleidungsstücken und meinem Pass nichts aus dieser Zeit geblieben. Auf der anderen Seite weiss ich nicht, ob ich meine leiblichen Eltern – sollten sie noch leben – wirklich treffen möchte. N. S.: Mir geht es da sehr ähnlich. Mir wurde zwar gesagt, dass meine Mutter bei der Geburt verblutet sei und ich von meiner Grossmutter ins Heim gebracht wurde. Genau weiss man es allerdings nicht. Würde mir die Chance geboten, meine leiblichen Eltern kennenzulernen, ich wüsste nicht ob ich sie nutzen würde. Ich habe enormen Respekt vor dieser Situation. Weshalb sind Ihre Gefühle in diesem Bereich so gemischt? H. M.: Ich habe ja eine Familie, für mich gibt es keine anderen Eltern als jene, die ich heute habe. Plötzlich eine zweite Familie zu haben, eine die man gar nicht kennt, mit der man zwar durch die Gene verbunden ist, aber sonst keine Berührungspunkte hat? Ich wüsste nicht wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. N. S.: Mich beschäftigt insbesondere die Vorstellung, unter welchen Umständen meine Eltern leben würden. Wie sollte ich, die in der Schweiz im Vergleich im Überfluss lebt, ihnen gegenüber treten? Welche Erwartungen würden von ihrer Seite bestehen? Würde ein Zusammentreffen das Ganze nicht für beide Seiten viel schwieriger machen, macht es überhaupt Sinn? Das sind alles Fragen, die ich mir in diesem Zusammenhang stelle. Ich kenne Fälle von Adoptivkindern, deren Zusammentreffen mit den leiblichen Eltern, die aus demselben Sprachund Kulturraum stammen, eine grosse Enttäuschung war. Sie wissen kaum etwas über Ihre Herkunft, über die ersten Lebensjahre. Haben Sie das Gefühl, das Ihnen deshalb etwas fehlt? H. M.: Sicher, es fehlt ein wichtiger Teil des Lebens. Mir ist

das erst richtig bewusst geworden, seitdem ich selbst Mutter bin und sehe, was mein fünfjähriger Sohn und meine zweijährige Tochter bereits können, was sie alles mitbekommen. Dieses fehlende Stück lässt sich nicht zurückholen. Für mich ist das allerdings nicht weiter schlimm. Es ist einfach eine Tatsache, die ich nicht ändern kann, es ist etwas, das zu meinem Leben gehört. N. S.: Ich persönlich habe nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlt, sondern dass mir durch die Adoption vielmehr etwas gegeben wurde. Da ich bereits mit dreieinhalb Jahren in die Schweiz kam, kann ich mich nicht an die Zeit vor der Adoption erinnern. Ein «vorher» existiert für mich faktisch gar nicht. Während der Pubertät gab es allerdings schon Phasen, in denen ich mir Gedanken darüber gemacht habe, wo meine Wurzeln sind. Als Teenager habe ich mich hin und wieder der unrealistischen Vorstellung hingegeben, was wäre, wenn meine Mutter in die Schweiz geflüchtet ist, vielleicht in der Migros an der Kasse arbeitet und ich vor ihr stehe. Würde sie mich vielleicht sogar suchen? H. M.: Die meisten Gedanken habe ich mir auch während der Pubertät gemacht; wie ich die ersten Jahre aufgewachsen bin, wieso ich weggegeben wurde. Es gibt so viele verschiedene Aspekte meiner Herkunft, die ich nicht kenne. Geblieben sind mir aber die Erinnerungen an das Kinderheim. Ich weiss noch heute, wie es dort ausgesehen hat. Ich erinnere mich daran, wie wir aus Bananenblättern Reis und Fladenbrot gegessen haben. Auch die Ankunft in der Schweiz ist mir stark präsent. Die Schweiz ist für Sie zur Heimat geworden, trotzdem werden Sie immer mit Indien verbunden sein, allein durch Ihr Aussehen. Fühlen Sie sich ganz als Schweizerin? H. M.: Meine Mentalität, meine Werte sind alle typisch schweizerisch. Ich wäre manchmal gerne ein bisschen lockerer, hätte gerne ein bisschen mehr von der indischen Mentalität. Aber ich bin hier aufgewachsen und fühle mich deshalb ganz als Schweizerin. N. S.: Die Hautfarbe ist in der Tat das einzige, was an meinen Geburtsort erinnert. Meine Mentalität und Wertvorstellungen sind stark schweizerisch geprägt – ich finde das grundsätzlich auch gut so. Meine Mutter schickte mich als Kind in einen Indisch-Tanz-Kurs, um mir «meine» Kultur näher zu bringen. Das war gut gemeint, doch ich fühlte mich dort unwohl. In der Schule dagegen, obwohl ich das einzige dunkelhäutige Kind war, fühlte ich mich nie fremd. Mir selbst ist meine Hautfarbe im Alltag nicht bewusst. Es sind die Reaktionen der Umwelt, die mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass ich nicht wie eine Schweizerin aussehe – obwohl ich mich ganz und gar als solche fühle. ■

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Q Oh du fröhliche Q Politische Geschenke

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«Ich schenke Christian Levrat und Toni Brunner

«Ich schenke Economiesuisse, insbesondere

das Buch «Das kleine Einmaleins der Konkordanz». Vielleicht hätte die Lektüre dessen verhindert, dass sie in der letzten Session so wichtige Vorlagen wie die AHV-Revision und das Sparpaket in der Krankenversicherung gemeinsam beerdigt haben. Solche unheiligen Allianzen werden immer häufiger und lähmen das Land! Falls es dieses Buch noch gar nicht gibt, so schlage ich Jacques Neirynck vor, es bis am 23. Oktober 2011 zu schreiben. Vielleicht können wir ja an jenem Tag die Konkordanz neu definieren!» Christophe Darbellay, Präsident der CVP Schweiz Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

«Ich schenke Doris Leuthard einen CD-Player, damit sie bei Staatsbesuchen stets die richtige Nationalhymne abspielen kann.» Norbert Hochreutener, Nationalrat

dem Präsidenten Gerold Bührer und dem CEO Pascal Gentinetta, aber auch der FDP eine 3D-Brille, damit sie Europa nicht nur bilateral sondern dreidimensional sehen.» Kathy Riklin, Nationalrätin Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

«Der SVP würde ich gerne ein Buch über Völkerrechte schenken, damit sie ihre Bildungslücke schliessen kann und wieder vertretbare Volksinitiativen lanciert. Pro Juventute erhält von mir eine Ehrenauszeichnung, weil sie eine Kampagne zum Schutz vor Cybermobbing führen.» Barbara Schmid-Federer, Nationalrätin

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«Ich schenke den Schweizer Milchbauern ein

damit seine «die beste Armee» ausser den vielen Auspüffen der neu beantragten Autos doch auch noch etwas erhält, das tätscht.» Philipp Stähelin, Ständerat

Pulver, das dazu führt, dass sie alle die gleiche Strategie für die Zukunft haben und entsprechend geeint sind. Den Linken und Grünen schenke ich das Einsehen, dass wir die wirtschaftliche Stromversorgung nicht nur aus subventionierter, sogenannt erneuerbarer Energie sicher stellen können.» Markus Zemp, Nationalrat

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«Ich schenke unserem Fraktions-Chef und

«Unserer neuen Vorsteherin des UVEK,

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«Ich schenke Ueli Maurer eine Chepselipistole,

meinem Sitznachbarn im Ständerat einen mächtigen Christbaum mit 52 orangen, strahlenden Weihnachtskugeln als Dank und Anerkennung für seine umsichtige, immense und mit Geduld und Ausdauer geleistete strategische und operative Arbeit.» Paul Niederberger, Ständerat

Doris Leuthard, schenke ich einen «Runden Tisch Schweiz 2030». An diesem kann sie mit den wichtigsten Kräften aus Politik, Gewerkschaften, Wirtschaft und Ökologie einen Konsens über die Zukunft der Infrastruktur und Versorgung unseres Landes herstellen.» Filippo Lombardi, Ständerat

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«Nach Abschluss der nationalen Armutskonferenz

wünsche in Bundesrat Burkhalter, dass er die nötigen Reformen – mit der tatkräftigen Unterstützung der CVP und dank der Verantwortung eines jeden einzelnen – erfolgreich realisieren kann und sich die Armutsschere so wieder etwas schliesst. Nur so bleiben der Schweiz ihr Zusammenhalt und ihre wirtschaftliche Attraktivität erhalten.» Dominique de Buman, Nationalrat Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

«Zu seinem Abschied hat uns Bundesrat Moritz

Leuenberger die «Via sicura» als Geschenk hinterlassen. Im Gegenzug möchte ich ihm ein Dreirad schenken. Bei diesem Fortbewegungsgerät ist kein Sehtest ab 50 Jahren nötig, Raserexzesse sind nicht möglich. Das Dreirad erlaubt Leuenberger, sich ohne Risiko einer Freiheitsstrafe fortzubewegen.» Paul-André Roux, Nationalrat Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

«Ein kleines Geschenk für alle Politiker, Präsiden-

ten, Manager und Chefs aller Art: Sie erhalten von mir ein bisschen Erde, damit sie stets mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben. Damit pflegen wir das, was wir brauchen, um alle gemeinsam in einem gerechten Verhältnis zu leben – in der Hoffnung auf eine bessere Welt für uns und unsere Kinder.» Luc Barthassat, Nationalrat Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

«Ich wünsche mir, dass Doris Leuthard für vier

Jahre zur Bundespräsidentin gewählt wird und sie frei ein starkes Team zusammenstellen kann, um die Schweiz mit einem klaren Programm und einer zuverlässigen Mehrheit zu regieren.» Jacques Neirynck, Nationalrat Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q Q

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ir erleben derzeit in demokratischen Staaten wie den USA, Deutschland, Frankreich den Aufstand der Gefühle. Zornige Grizzly-Mamas machen trägen Republikanern so Beine, dass diese schon zwei Jahre nach einer vernichtenden Niederlage wieder in den Kongress gespült werden. Das Absingen der Verfassung und Kritik am Washingtoner Establishment genügt schon. Sonst brav staats- und CDU-gläubige Häuslebauer gehen in Stuttgart betroffen empört auf die Strasse und wünschen sich, dass Stuttgart so im letzten Jahrhundert stecken bleiben möchte wie die Züge im dortigen Sackbahnhof. In Frankreich entwickeln Demonstranten gegen die homöopathische Anhebung des Rentenalters eine zornige Energie, die die lahme gallische Wirtschaft locker ankurbeln könnte, wenn sie in Form von Arbeit produktiv eingesetzt würde. Wut und Entrüstungsbekundungen, weil die Realität sich leider nicht an die eigene Weltsicht anpasst, ersetzen das politische Argument. Politik wird Reality-TV. Die reine Ideologie wird zum Goldenen Kalb.

Die SP Schweiz macht hier gerne mit. Sie unterwirft sich den Jakobinern. Man buht schon mal präventiv die neue eigene Bundesrätin aus, wenn sie einen Kompromiss verteidigt. Bald wird sie für Grizzly-Daddy Levrat nur noch eine halbe Bundesrätin sein, denn sie hat ja nur das «Krümel-Departement» EJPD (Zitat Calmy-Rey). Als einzige Partei ausserhalb Nordkoreas will die SP den Kapitalismus noch überwinden. Im Gegensatz zur SP gibt es das erwerbslose Grundeinkommen nicht einmal bei Kim Jong Il bedingungslos. Mit ihrem wütenden Klassenkampfjargon wird die SP zur Teaparty für Linke. –Gerhard Pfister

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Schon schรถn, dass man an die Umwelt denkt.

Thomas Steiner, Axpo Mitarbeiter

Stimmt Stim mt.. Als Sc Schw hwei eize zerr Unt Unter ernehmen nehmen im Be Besi sitz tz de derr Ka Kant ntone one lilieg egtt un unss die di e Natu Naturr am Her Herze zen. n. Mi Mitt de derr Pr Produk odukti tion on vo von n na nahez hezu u CO2-f -fre reie iem m St Stro rom m trag tr agen en wi wirr in de derr Sc Schw hwei eizz ak akti tivv zu zum m Kl Klima imasch schut utzz be bei. i.

Mehr dazu und zu den Umweltdeklarationen von Axpo unter www.axpo.ch/energiedialog


Rudolf Hofer, Bümpliz

2001 BIS 2010: ein rückblick in scHlAGlicHtern Das letzte Jahrzehnt hat wegen spektakulärer Firmendebakel, dem Nachgeben gegen­ über dem Druck anderer Staaten und wegen der Schwierigkeit Reformen durchzusetzen, einen schlechten Ruf. Wie weit ist dieser berechtigt? Weshalb lief nicht alles so, wie wir es gerne gewollt hätten? RückScHLäGE

BLockADEN

Swissair Die Swissair gehörte zum Stolz der Schweiz. Sie symbolisierte unseren Zugang zur Welt. War das alles weg, als die Flugzeuge 2001 in Kloten am Boden standen und auf den Konkursverwalter warteten? Nun fliegen sie wieder als Filiale der deutschen Lufthansa. Was als Trumpf der Schweiz betrachtet wurde, ist verloren.

Sozialversicherungen Dass die Zunahme der Rentner im Vergleich zu den Beitragszahlern Änderungen bei der AHV unumgänglich machen, ist eigentlich allgemein bekannt. Die Reform der AHV kommt aber nicht vorwärts. Eine erste Vorlage scheiterte 2004 in der Volksabstimmung und eine zweite im Herbst 2010 bereits in der Schlussabstimmung im Nationalrat, weil sie SVP und SP, die in der Sache völlig uneins sind, in trauter Zweisamkeit ablehnten. Die Reform ist nötig, aber sie ist blockiert.

UBS-krise Auf etwas, was solide wie eine Schweizer Bank ist, konnte man sich verlassen. Es brachte dem Staat auch viel Geld. Als die UBS 2008 gerettet werden musste, war der Ruf ruiniert und das Geld floss in der umgekehrten Richtung. Später kam es zwar mit einem ansehnlichen Gewinn zurück. War der Finanzplatz, dem die Schweiz über direkte Wertschöpfung und tiefe Zinsen einen erheblichen Teil ihres Wohlstands verdankt, in Gefahr? ScHockS Bankgeheimnis Während Jahrzehnten hörten wir, das klassische Bankgeheimnis mit der Unterscheidung zwischen Steuerbetrug und Steuerhinterziehung sei erstens legitim und zweitens ein Wesensmerkmal der schweizerischen Rechtsordnung. Als der Druck der OECD und der G-20 kam, war es von einem Tag auf den andern selbstverständlich, dass auch bei Steuerhinterziehung Amtshilfe geleistet wird. Für ein paar Tausend UBS-Kunden in den USA galt das sogar rückwirkend. Libyen-Affäre Der Sohn eines arabischen Diktators wird 2008 in Genf verhaftet. Als Rache für die Schmach lässt der Vater zwei Schweizer Bürger verhaften. Der Bundespräsident pilgert nach Libyen. Die Schweiz entschuldigt sich. Trotzdem kommen die beiden Geiseln erst nach Monaten frei.

Recht und Sicherheit Mit der Annahme der Verwahrungsinitiative 2004 und der Unverjährbarkeitsinitiative 2008 machte das Volk seinem Unmut über die Kriminalitäts- und Strafrechtspolitik der Behörden Luft. Hier besteht ein Graben zwischen Volk und Behörden. Das Parlament ist aber einmal mehr, bedingt durch die Blockadepolitik der Pole nicht fähig, hier sachgerechtere Lösungen zu präsentieren, als sie mit dem relativ groben Instrument der Volksinitiative vorgeschlagen werden können. ERfoLGE krise Die Schweiz fürchtete sich nach der globalen Finanz- vor der Wirtschaftskrise und der Arbeitslosigkeit im eigenen Land. Bezüglich tiefer Arbeitslosigkeit und mittelfristigem Wirtschaftswachstum steht sie aber unter den OECD Staaten ausgezeichnet da. Die schweizerische Krise fand praktisch nur in einzelnen Regionen mit einseitig starker Exportorientierung statt. Bundeskasse Während andere Länder 2009 unter der Schuldenkrise stöhnen und nur die USA sie richtig geniessen, weil die Chinesen sparen und US-Anleihen kaufen, damit die Amerikaner konsumieren können, zahlte die Schweiz 11 Milliarden Schulden zurück. ■ Die Politik 9 November/Dezember 2010

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schweizer stolz gegroundet.

Gebeutelt Aber erfolGreicH Fr den wi Frag agtt ma man n na nach ch den wich chti tige gen n Er Erei eign gnis isse sen n de dess Ja 20 01 bi 2010,, krie kriegt Jahr hrze zehn hnts ts 2001 biss 2010 gt ma man n vo vorr al alle lem m Nega Ne gati tive vess zu höre hören: n: Swis Swissa sair ir, UB UBS, S, Li Liby byen,, Wi Wirt rt­­ sch man di schaf aftskr krise ise.. Fr Frag agtt man diee gl glei eich chen en le leid idge gepl plag ag­­ ten te n Le Leut ute, e, wi wiee es ih ihne nen n pers persön önli lich ch ge gehe he,, so an ant­ t­ wort rten en si siee mit ». Die ne La Lage ge un und d je jene ne wo mit «gut «gut». Die eige eigene de of nbar dess La Land ndes es we werd rden en offenb ar se sehr hr un unter tersch schie iedl dlic ich h be beur urtei teilt lt.. Als Beleg für die schlechte Verfassung des Landes werden Rückschläge wie bei der Swissair oder der UBS, das Nachgeben unter dem Druck anderer Staaten wie beim Bankgeheimnis oder die Demütigung durch Libyen angeführt. Kritisiert wird auch, dass man bei der Lösung grosser Fragen nicht weiterkomme, wo dann auch von einem «verlorenen Jahrzehnt» die Rede ist.

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Woher kommt der Widerspruch zwischen der Einschätzung der eigenen Lage und jener des Landes? Wenn es dem Land schlecht geht, müsste es doch eigentlich auch den Menschen im Land schlecht gehen. Die Erklärung dürfte in der Art und Weise liegen, wie die Schweiz erfolgreich ist. Sie ist nicht erfolgreich, indem sie keine Rückschläge erleidet. Sie ist vielmehr erfolgreich, weil sie mit Rückschlägen umgehen kann. Der Rückschlag selber ist offensichtlich. Dass er relativ rasch überwunden wird, viel weniger. Wie oft haben wir gelesen, dass der Wirtschaftsstandort Schweiz mit der Swissair den Zugang zur Welt verliere? Dass die Lufthansatochter Swiss und viele andere Fluglinien diesen Zugang genau so gewährleisten, ist kaum jemandem eine Zeile wert. Es sind die Beweglichkeit der Schweiz, ihre Fähigkeit, neue Chancen zu nutzen, wenn bisherige Möglichkeiten verschwinden, die den Erfolg unseres Landes möglich machen.


ZukunftsbeWältiGunG stAtt PolArisierunG Die Leserbriefspalten sind voll von Klagen über den Streit der Politiker, dem Vorrang von Parteiinteressen vor dem Gemeinwohl oder dem Scheitern von Reformen im Parla­ ment oder in der Volksabstimmung. Ist die Schweiz durch Parteiengezänk blockiert? Ein Teil dieser Klagen ist normal. Dagegen scheinen die Blo­ ckaden im politischen Prozess tat­ sächlich zuzunehmen.

Gehorsam oder Widerstand? Ähnlich reagiert die Schweiz auf den Druck aus dem Ausland. Sie verteidigt Regelungen, die für sie vorteilhaft sind, bis der Druck zu stark wird. Dann gibt sie akzeptablen Forderungen nach und weist überrissene Ansprüche zurück. So vermeidet sie eine totale Zerstörung ihrer Position und ist nicht der Gnade oder Ungnade anderer Staaten ausgeliefert. So akzeptierte die Schweiz, als der Druck zu stark wurde, die Amtshilfe in Steuersachen und lehnte den automatischen Datenaustausch ab. Weder vorauseilender Gehorsam noch Widerstand bis zum Letzten bringen langfristig Erfolg. Die Kombination von sichtbaren Niederlagen und langfristigem Erfolg führt zum Eindruck, die Schweiz verliere an Terrain. Sie verliert gleichzeitig sichtbar und gewinnt unsichtbar Terrain. Das Endresultat lässt sich sehen. –Brigitte Häberli-Koller, Vizepräsidentin der Bundeshausfraktion CVP/EVP/glp

Das schweizerische System ist für Blockaden auch anfällig. Um ein Gesetz zu ändern, braucht es in der Schweiz übereinstimmende Beschlüsse beider Parlamentskammern und die – zumindest stillschweigende – Zustimmung des Volkes. Nun kommen aber zwei Faktoren hinzu, welche den notwendigen Konsens zusätzlich erschweren. Die 68-er haben die öffentliche Meinung lange dominiert. Diese Dominanz bricht jetzt zusammen. Andererseits haben die Mitteparteien nur noch rund einen Drittel der Sitze im Nationalrat. 1968 brachte zwar nicht, wie die Protagonisten der Revolte gehofft haben mögen, den Sozialismus. 1968 brachte aber sicherlich mehr Möglichkeiten, ohne nennenswerte Sanktionen vom Verhalten der Mehrheit abzuweichen. Teilweise war dies auch eine dringend nötige Öffnung. In der öffentlichen Meinung erhielt aber oft das Verständnis für Aussenseiter oder die Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten Vorrang vor den Rechten jener, die sich konform verhielten, arbeiteten und so die Existenz der Gesellschaft sicherten. Die Annahme der Verwahrungs- und der Unverjährbarkeitsinitiative zeigt beispielhaft, dass eine Mehrheit der Toleranz gegenüber extrem abweichendem Verhalten Grenzen setzen will. Dieser Umschwung in der öffentlichen Meinung führt zu einer Polarisierung. Was die einen für selbstverständlich halten, betrachten die anderen als selbstverständlich falsch. Das erschwert die Mehrheitsfindung bei Volksabstimmungen.

Neuer Post-68-konsens SP und Grüne einer- und SVP andererseits nützten die Polarisierung, um ihre Sitzzahlen – vor allem im Nationalrat zu steigern. Verfügten die Mitteparteien nach den Wahlen 1987 noch über 114 Sitze im Nationalrat, so waren es 2003 noch 71. Reformen scheitern den auch im National- und nicht im Ständerat, wo die Mitte nach wie vor eine unangefochtene Mehrheit hat. Es nützt den Mitteparteien wenig, die Polarisierung zu beklagen. Wenn sie tragfähige Lösungen durchsetzen wollen, mit denen die Schweiz weiterhin erfolgreich bleiben kann, müssen sie einen neuen – Post-68-Konsens – politisch formulieren. In einem solchen Konsens werden Werte wie Leistungsbereitschaft, individuelle Verantwortung und Respekt vor den Regeln des Zusammenlebens eine zentrale Rolle spielen. –Urs Hany, Nationalrat Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Madeleine Zemp (29), Mitglied der JCVP Kanton Luzern, Redaktionsleiterin von Jmpuls

WHen i’M

Wünsche Ich möchte mit 64 Jahren Grossmutter sein von vielen Enkelkindern und auch durch diese Jugendlichkeit bewahren. Ich möchte mit meinem Mann um die Welt reisen und nehme an, das Tempo wird gemütlicher sein als unser heutiges. Ich wünsche mir, dass ich noch aktiv unsere Welt mitgestalten kann, sei das im privaten Bereich oder in der Politik, und ich hoffe, meine Lebenserfahrung wird mir dabei helfen. Lebenserfahrung, die ich im Beruf, in der Familie, in der Politik gesammelt habe, die mir keiner mehr nehmen kann. Welche mich reflektieren lässt, besonnener werden, überlegter. Ich wünsche mir eine weltoffene Schweiz, eine, die sich nicht verstecken muss hinter ihren grossen Nachbarn. Ich wünsche mir eine tolerante Schweiz, die zu ihren Werten stehen kann. Ich wünsche mir eine konstruktive Politik, welche nach Lösungen sucht und auch Kompromisse eingehen kann, statt nur zu polarisieren und anzuklagen. Ich wünsche mir einen Umgangston, der von Respekt geprägt ist.

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64 … Wie wird es mir wohl gehen in diesem Alter? Habe ich Osteoporose? Werde ich meine Knie­ arthrose spüren? Habe ich schon eine Chemo­ therapie hinter mir? Ich muss zugeben, die ersten Gedanken, die ich mir mache, sind unerfreulich. Was wird sein, wenn ich – aus meiner heutigen Perspektive gesehen – alt bin? Kann ich noch so ungezwungen tun, was ich will? Wird mich mein Körper einschränken? Wie wird mein Geist sein? Bin ich immer noch aktiv?

fragen Wie wird in fast 40 Jahren unsere Demokratie aussehen? Werden im Jahr 2045 noch sieben Bundesräte unser Land regieren? Werden wir mit 64 Jah-

ren überhaupt schon pensioniert sein? Wird es noch genügend AHV-Gelder geben? Wird die Konkordanz noch gelebt? Darf jede Schweizerin und jeder Schweizer seine Meinung frei äussern und mitgestalten? Oder wird am Ende das Geld regieren? Diese Fragen motivieren mich, mitzugestalten. Ich möchte aktiv einen Beitrag leisten, die Welt so mitzutragen, dass ich auch in 40 Jahren nicht resigniert auf der Bank vor dem Haus sitzen muss.

Mitgestalten Wir Jungen haben die Möglichkeit unsere Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Wir müssen unsere Wünsche und Vorstellungen, aber auch unsere Ängste und Befürchtungen, unsere Bedürfnisse und Hoffnungen in die Politik tragen. Im Jahr 2046 werde ich, so Gott will, 64 Jahre alt. Es tönt zwar noch unrealistisch, aber ich freue mich darauf. Ich freue mich auf die nächsten 40 Jahre voller Leben. Ich freue mich darauf, ganz bewusst da zu sein, im Hier und Jetzt, aber auch vorauszuschauen und die Zukunft mitzugestalten. ■


ortstermine Gerhard Pfister, Nationalrat

morGarten am tage vor sankt othmar, 15. November 1315. Die erste Freiheitsschlacht der Eidgenossen fand genau hier(!), im Grenzgebiet zwischen den Kantonen Schwyz und Zug, statt. Vielleicht auch etwas weiter weg. Vielleicht auch nicht an diesem Tag. Vielleicht war es auch keine Schlacht. Sondern ein spontaner Überfall auf harmlose Österreicher unterwegs zum Kloster Einsiedeln. Ausgeführt von aggressivem ruralem Personal mit ausgeprägten, aber unklaren Territorial- oder Besitzansprüchen. Eidgenossen, auf dem langen Weg zur besten Armee der Welt. Waffen: biologisch (Holz und Stein). Der Schlachtort Morgarten ist ein Zentrum der historischen Erinnerungs- und Identitätskultur der Schweiz. Trotz hoffnungsloser Faktenlage. Deshalb

errichteten die Zuger schnell ein Denkmal und damit den unwiderlegbaren Beweis, dass die Schlacht genau hier(!) stattfand. Zum Ärger der Schwyzer. Sie reklamierten in Bern. Doch auch das Parlament konnte den Lauf der Geschichte nicht mehr ändern. Die derzeitige Planung der 700 Jahr-Feier zeigt, dass Kantonsregierungen lernende Organisationen sind. Ein gemeinsames OK ist an der Arbeit, mit kooperativ-friedlich-festlichen Absichten. Das jährliche Morgartenschiessen am 15. November auf Schwyzer und Zuger Boden gehört zum festen Bestandteil politischer Kultur beider Kantone. So verweben sich Mythos, Geschichte, Erinnerung und gelebte Kultur. Das Ägerital bildet die prachtvolle Naturkulisse dazu. Alles zusammen heisst: Heimat. ■ Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Thomas Maissen

Wo die Wilden eidGenossen HerkAMen – die selbsterfindunG eines volkes

Im Raum der heutigen Schweiz entstand im 14. Jahrhundert eine Vielzahl von Bündnissen, die den Landfrieden ge­ währleisten sollten. Städte und Talschaf­ ten sprachen sich ab, um Streitigkeiten friedlich beizulegen und sich gegenseitig Rechtshilfe zu leisten, die jeweilige Herr­ schaftsordnung zu sichern, Überland­ wege zu schützen. Dabei entstand nicht eine Eidgenossenschaft, sondern ein Netzwerk von Bündnissen, befristet die einen, unbefristet andere, bilateral oder mit vielen Partnern, zum Teil weit den Rhein hinunter, nach Köln oder in den schwäbischen Raum.

Gemeinsames Geschichtsbild dank Erbfeinden Mit dem Ende des Zürichkriegs setzte sich nun, von derselben Innerschweiz her, ein Geschichtsbild durch, in dem die Habsburger zu historischen Erbfeinden der ganzen Eidgenossenschaft stilisiert wurden. Im 14. Jahrhundert hatte es noch keine Geschichtsschreibung gegeben; und wo sie, wie in Zürich und Bern, um 1420 zaghaft einsetzte, blieb sie auf die Vergangenheit der eigenen Stadt ausgerichtet. Das änderte sich in der zweiten Jahrhunderthälfte, als die Eidgenossenschaft nicht nur zu einem exklusiven Bündnis mit der festen Institution der Tagsatzung geworden war, sondern mit den Burgunderkriegen ab 1474 vorübergehend auch aussenpolitisch zu einem europäischen Machtfaktor wurde. Erst jetzt, aber umso drängender, stellte man sich weithin die Frage: Wer sind eigentlich diese Eidgenossen?

Solche Landfriedensbündnisse gab es viele. Aussergewöhnlich an den schweizerischen war, dass sie sowohl städtische wie auch ländliche Gemeinden zusammenbrachten und, dass sie sich territorial verdichteten und dadurch Bestand hatten: nicht nur die Eidgenossenschaft, sondern auch die Drei Bünde in Rätien und die Walliser Zendenrepublik. Das war vor allem deshalb möglich, weil das adlige und fürstliche Element, anders als etwa im nahen habsburgischen oder savoyischen Raum, schwach und an der vergleichsweise armen Voralpenregion wenig interessiert war. Verbindend wirkten aber ebenso gemeinsame Kriegsabenteuer und Machtausübung: die Gemeinen Herrschaften der Eidgenossen, das Veltlin der Bündner, das Unterwallis.

Auf der Suche nach den Ahnen In einer Gesellschaft, in welcher der Adel das Modell abgab, war dabei die Frage nach der Herkunft zentral: Adel beweist sich durch Ahnenreihen, die möglichst weit zurückreichten – bis in die Zeiten Karls des Grossen oder Caesars. Dieses Vorbild steckte hinter dem Herkommen der Schwyzer und Oberhasler: Ursprünglich aus Schweden eingewandert, halfen sie angeblich in der Völkerwanderung Kaiser und Papst gegen die Westgoten und erhielten dafür die Reichsfreiheit und die von Blut getränkte rote Fahne mit ihrem christlichen weissen Kreuz. Mit dieser Dichtung fügte sich das neue Volk der «Schwyzer» um 1460 erstmals in die Weltgeschichte ein und trat zugleich dem Vorwurf entgegen, es bestehe nur aus mordenden aufständischen Bauern.

Neues Bundesverständnis nach Altem Zürichkrieg Aber erst eine schwere Krise führe dazu, dass die eidgenössischen Bündnisse sich auch ideologisch verfestigten. Im Alten Zürichkrieg (1440–1450) zwangen Schwyz und die anderen Orte Zürich in einen engeren Verband, in dem die Limmatstadt das Recht auf freie Bündniswahl verlor. Für die Reichsstadt Zürich war bis dahin die Kaiserdynastie der Habsburger eine mindestens ebenso interessante Alternative zu den unberechenbaren Innenschweizer Grossbauern und Soldunternehmern gewesen.

Ein paar Jahre später erdachte sich der Obwaldner Hans Schreiber im Weissen Buch von Sarnen die Befreiungsgeschichte um den Schwyzer «Stoupacher», den er mit dem Urner Tell zusammenbrachte – eine skandinavische Sagengeschichte, die drei Jahrzehnte zuvor im Umfeld des Basler Konzils bekannt geworden war. Damit ging es nicht mehr um die Herkunft der einzelnen Orte, sondern um ihren gemeinsamen Befreiungskampf gegen die Habsburger, die so auch in der Geschichtsschreibung zum ewigen Feind der Eidgenossen aufstiegen. Die

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Ein auserwähltes Volk


V E R B I N D L I c H

Schlachtensiege der «Sviceri», womit jetzt zusehends alle, auch die städtischen Eidgenossen bezeichnet wurden, galten in dieser Sichtweise als Urteile Gottes für sein auserwähltes Volk.

Ur-Switzerland in der Antike Den nächsten entscheidenden Schritt taten die Humanisten. Sie beriefen sie auf Autoren wie Caesar, um ein – in der Antike allerdings noch unbekanntes – Land «Helvetia» zu entdecken, das sich mit den Grenzen der Eidgenossenschaft deckte. Die Helvetier seien von Natur aus frei gewesen, dann in das Kaiserreich gekommen, um sich aber von den habsburgischen Unterdrückern zu befreien: So sei das «land Helvetia (jetz Switzerland genant) wider in sin uralten stand und frijheit gebracht» worden, wie Aegidius Tschudi um 1560 festhielt. So erfanden vor allem Innerschweizer Autoren eine weit zurückreichende, gemeinsame historische Herkunft und machten aus einem Netz von (Städte-)Bünden ein Land «Helvetien» und ein «Alpenvolck» (so 1548 der Zürcher Johannes Stumpf). ■

Thomas Maissen Geschichte der schweiz hier+jetzt Baden 2010 336 Seiten, 13 Abb. Format 15,5 × 24 cm, gebunden ISBN 978-3-03919-174-1

in seinem eben erschienenen Werk «Geschichte der schweiz» schildert der Autor auf Grund der neuesten forschungsergebnisse die entstehung der schweizerischen eidgenossenschaft, ihre ausserordentliche kontinuität, aber auch die vielen bruchlinien bis in die jüngste vergangenheit.

thomas Maissen (1962) ist Professor für Neuere Geschichte an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er habilitierte sich 2002 mit der Arbeit «Die Geburt der Republic. Staatsverständnis und Repräsentation in der frühneuzeitlichen Eidgenossenschaft» und war bis 2004 SNFProfessor an der Universität Luzern. Maissen war von 1996 bis 2004 Mitarbeiter der Neuen Zürcher Zeitung für historische Analysen und hat dabei auch die Arbeiten der Bergier-Kommission kommentiert.

I

In unserem Land ist es nach wie vor so, dass wer heiratet, in steuerlicher Hinsicht benachteiligt wird. Das ist zwar klar verfassungswidrig, stört aber offenbar den Gesetzgeber nicht mehr. Nachdem sich das Parlament auf Druck der CVP vor ein paar Jahren bemüht hat, dieser Ungerechtigkeit mit Sofortmassnahmen zumindest ein wenig beizukommen, ist es wieder still geworden um die Anliegen der verheirateten Paare. Kein Wunder. Die FDP und die SP bevorzugen die Individualbesteuerung. Das beschränkt die freie Wahl des Familienmodells.

Einige Kantone wie der Aargau sind mit gutem Beispiel vorangegangen und haben die steuerliche Benachteiligung verheirateter Paare mit einem Vollsplitting abgeschafft. Das heisst: Gemeinsames steuerbares Einkommen geteilt durch zwei. Daraus wird der Satz bestimmt. Wenn Ehepaare als Erwerbsgemeinschaft angesehen werden und beide Partner gleichberechtigt sind, soll der Anteil am Erwerb auch je die Hälfte ausmachen und so besteuert werden. Warum funktioniert das nicht auf Bundesebene? Zur Veranschaulichung dient ein junges berufstätiges Paar. Beide haben ein Einkommen von 75 000 Franken zu versteuern. Im einen Fall sind sie verheiratet, im anderen leben sie im Konkubinat. Im ersten Fall bezahlen sie 4911 Franken direkte Bundessteuer. Im zweiten 2880 Franken. Bilde weitere Beispiele! Fazit: Die Abzüge für Verheiratete, welche das Parlament im Zuge der Sofortmassnahmen bei der Ehepaarbesteuerung beschlossen hat, reichen nicht. Auf jeden Fall bleibt noch viel zu tun, um die Ungerechtigkeiten in diesem Bereich endlich aus der Welt zu schaffen. Wenn das Parlament nicht endlich handelt, dann vielleicht bald einmal das Volk. –Marianne Binder

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Blick in die Zukunft mit Kinderaugen

«Das Leben ist nun viel bequemer. Mein Vater hat einen neuen Job, er ist nun Baumeister von der ‹Drück auf den Knopf und der Stuhl ist auf dem Pult›-Maschine. Es gibt viele neue Berufe. Bauern oder Gärtner müsstest du mit der Lupe suchen gehen. Die Leute haben keine Gärten mehr, sondern einfach grüne Teppiche mit Blumen, die jederzeit ausgetauscht werden können. Damit man nicht nur bequem, sondern auch sicher leben kann, haben sie neulich eine super Erfindung gemacht: Weil die Fussgängerstreifen zu unsicher und zu anstrengend waren, haben sie nun gebogene Rolltreppen über die Strassen gebaut, auf denen man eine super Aussicht hat.» Joëlle (13)

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«Die Autos fahren mit Wasserstoff herum und beim Auspuff kommt nur sauberes Wasser heraus. Eine Impfung reicht und man ist ein ganzes Jahr gegen Sonnenbrand geschützt. Und der Computer erkennt unsere Stimmen und man muss nicht mehr mühsam den Text eintippen. Aber es gibt auch schlechte Sachen. Ein paar von diesen bedrohten Tieren sind ausgestorben. Und an dem Aussterben sind meistens wir Menschen schuld. Bei ein paar Gewässern kann man nicht mehr baden, weil das Wasser verschmutzt ist. Aber etwas Gutes habe ich vergessen zu sagen: Das Münster in Bern ist ohne Baustelle. Das ist doch was Gutes.»

«Als die Schule aus ist, steigen die Kinder in den Zug ohne Schienen und fahren los. Im Zug erzählen sie sich von früher, als die Schweiz noch klein war. Seit dem Erdbeben im Jahre 2020 ist die Schweiz verformt. Sie sieht aus wie ein Hut, ist eine Insel und ist sehr weit entwickelt. Der Erfinder des Nok-hat kommt auch aus der Schweiz. Das Nok-hat ist ein computergesteuerter Präsident. Er ist 2,2 Meter gross und kann alles, was ein Mensch kann. Die Bundesräte sind schon seit 25 Jahren abgeschafft.» Florentin (13)

Seraphine (13)

Roger

Joëlle

«Wir werden uns rein vegetarisch ernähren, weil das Fleisch aus künstlichem Geschmack hergestellt wird. Es gibt Autos, die vollautomatisch fahren. Wir kommunizieren mit Maschinen und Gedanken. Die Weltsprache ist immer noch Englisch. Die Schule erfolgt über elektronische Mittel und ist auf jeden Schüler abgestimmt. Die Schüler sehen den Lehrer fast nie. Es gibt eine Möglichkeit durch Nacht eine Fremdsprache direkt ins Gehirn zu lernen. Reisen in fremde Länder sind nicht mehr gefragt. Es gibt nämlich Filme, die mehrdimensional, mit Bild, Klang, Geruch und Klima sind. Das ist billiger, einfach und wie echt. Es gibt keine körperliche Arbeit, sondern dies wird von intelligenten Robotern erledigt. Die Arbeitszeit in einer Woche ist nur noch 20 Stunden. Auf der ganzen Welt gibt es nur noch eine Währung. Nach wie vor gibt es Arme und Reiche.» Deborah (13)


Marika

Chantal

«Es könnte sein, dass die Menschheit ausstirbt, wie die Dinosaurier. Auch ein Verlust kann möglich sein, ein Wissensverlust. Wir wissen so viel, dass wir schon fast zu viel wissen. Vielleicht wissen wir dann nicht mehr so viel, denn eine Vorstellung der Zukunft ist, dass wir wieder in ganz alten Kulturen leben müssen, weil die modernen Rohstoffe ausgegangen sind.» Mischa (13)

«Ich habe ein Fahrrad, das einen Meter über dem Boden schwebt. Die Tiere können sprechen und gehen nicht mehr, sondern die fliegen! Unser Schulzimmer liegt im 172. Obergeschoss. Die Häuser haben bis zu 400 Stöcke! Unsere Pulte und Stühle schweben über dem Boden. Wir müssen uns anschnallen, damit wir nicht runter fallen. Unsere Lehrerin ist ein Computer. Manchmal schalten wir sie aus, so dass wir schwänzen können. Unsere Schreibsachen sind keine Füller. Wir haben Laser. Wir schreiben auch nicht mehr auf Papier, sondern auf Blattgold. Und das Gold ist etwa so dick wie Karton. Ach ja, und die Toten werden immer ins Weltall befördert (im Sarg). Also dann noch viel Glück im Leben.» Nils (13)

Deborah

«Zwischen modernen Hochhäusern flitzen lautlos die Elektromobils vorbei. Wenn man über die Strasse will, muss man höllisch aufpassen. In der Schule gibt es schon längst keine Lehrer mehr (Lehrer sind Roboter). Am Mittag fliege ich mit dem Privatjet nach Hause. Heute muss ich glücklicherweise nicht kochen, Robi der Roboter kocht. Am Abend essen wir ohne Papa, weil er im Moment noch auf dem Mars ist (mit 3 Robotern).» Anja (13)

Simea

«Es hat sich sehr viel verändert. Die Bäume blühen im Winter und die Blätter fallen im Herbst. Die gefallen Blätter springen im Herbst aber wieder an. Es hat nur Wollwege, die bestehen alle aus Wolle. Sie sind sehr weich. In der Schweiz bestehen die Berge und der Schnee zum Teil sogar aus Watte. Aber einige sind immer noch aus Stein. Manche Berge fliegen in den Himmel, weil die Erde eine Scheibe ist und wenn die Berge unten an der Scheibe sind, dann fliegen sie halt einfach weg und kommen auf der anderen Seite wieder ins Blickfeld.» Chantal (13)

«Vor fünf Jahren gab es ein schreckliches Erdbeben. Es schob die Erde aufeinander. Seitdem sind die alten Häuser Ruinen. Wir haben keine Autos mehr. Seither ist unsere Umwelt sauberer. Wir haben viele Tiere und wir bewirtschaften auch Felder. Wir haben Wälder bis zum geht nicht mehr. Strom haben wir keinen, wir haben nur Kerzen.» Marika (13)

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Wie wäre es, gebildet zu sein?

Während im Nationalrat die «Wölfe heulten» und diese zum Abschuss freige­ geben wurden, diskutierte der Ständerat in der letzten Session als Erstrat das neue Hochschulförderungs­ und Koordi­ nationsgesetz (HFKG). Es erstaunt des­ halb nicht weiter, dass sich die Medien der Jagd auf den ins Wallis infiltrierten Vierbeiner anschlossen und die Bil­ dungspolitik in der öffentlichen Wahr­ nehmung einmal mehr ein Schatten­ dasein genoss. Mein Namensvetter, der Berner Peter Bieri, der bis 2007 Philosophieprofessor an der Freien Universität in Berlin war und vielen von uns besser unter seinem Schriftstellersynonym Pascal Mercier bekannt ist, meinte: «Ausbildung durchlaufen wir mit dem Ziel, etwas zu können. Wenn wir uns dagegen bilden, arbeiten wir daran, etwas zu werden – wir streben danach, auf eine bestimmte Art und Weise in der Welt zu sein.» Unsere schweizerischen Hochschulen, von der ETH, den Universitäten, den Fachhochschulen bis hin zu den pädagogischen Hochschulen, möchten diesen Ansprüchen gerecht werden. Sie sollten als Orte der Bildung und nicht nur als Orte der Ausbildung und schon gar nicht nur als reine Arbeitsmarktbefähigungsstätten ausgestaltet sein. Der «andere» Peter Bieri stellte seine Festansprache an der pädagogischen Hochschule Bern unter den Titel: «Wie wäre es, gebildet zu sein?» Das neue HFKG möchte für unser Land Voraussetzungen schaffen, damit unsere akademische Jugend eine Bildung erwerben kann, die den hohen und facettenreichen Anforderungen eines Hochschulstudiums zu genügen vermag. All jene, die unser historisch, kulturell und föderalistisch geprägtes Bildungssystem kennen, wissen um die Herausforderung eines solchen Unterfangens. 22

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Angst vor dem eidgenössischen Bildungsvogt Bereits der neue Bildungsartikel in der Bundesverfassung musste ordentlich «erstritten» werden, schürte man doch von gewissen Seiten immer wieder die Furcht vor dem eidgenössischen Bildungsvogt. Dass der Souverän 2006 diesem Grundrechtsartikel mit grossem Mehr, aber ebenso geringer Stimmbeteiligung zustimmte, liess erahnen, dass «das Eingemachte» dereinst im Ausführungsgesetz «gekocht» würde. Obwohl eine in der Bildungspolitik ausgewiesene Expertengruppe die bundesrätliche Vorlage entwarf, zeigten die Hearings in der ständerätlichen Wissenschafts-, Bildungs- und Kulturkommission, wie kontrovers die Vorstellungen über den zukünftigen, in einem einzigen Gesetz geregelten Hochschulraum sein würden. Wir betreten gesetzgeberisches Neuland, indem wir für die strategische Führung und die Koordination des schweizerischen Hochschulraums gemeinsame politische Organe aus Vertretern des Bundes und der Kantone bestimmen. Ohne Zweifel sind dabei erst einmal Erfahrungen zu sammeln, um allenfalls später Nachjustierungen vorzunehmen. Der Ständerat hat die Mehrheitsvorschläge der vorberatenden Kommission vollumfänglich übernommen und ist der bundesrätlichen Linie gefolgt. Die ständerätliche Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur hat sich bei ihrer Vorarbeit immer wieder am Hochschulverfassungsartikel 63a orientiert, welcher das nicht immer ganz einfache Spannungsverhältnis zwischen Autonomie der einzelnen Hochschulen und der Koordination innerhalb des Hochschulraums Schweiz zum Ausdruck bringt. Auch wenn sich das HFKG schwergewichtig mit Fragen der Organisation, Koordination, Studiengestaltung, Qualitätssicherung und Finanzierung befasst, sollten wir nicht vergessen, dass unsere Hochschulen allem voran Bildung im Sinne meines Namensvetters vermitteln sollten. ■ –Peter Bieri, Ständerat, Präsident der Subkommission für das neue HFKG


LESERBRIEFE

Grincheux Je suis le premier à soutenir la prévention de l’alcoo­ lisme chez les jeunes. Mais là, on pousse quand même le bouchon un peu trop loin! Les élèves de Suisse romande ont reçu la toute dernière édition de leur livre de cuisine qui a été modifié et adapté à la ver­ sion en allemand. Ce livre étant destiné à des ado­ lescents, l’alcool a été totalement banni de la cui­ sine. On ne tient plus compte des goûts et traditions culinaires des régions. Certaines recettes ont été revisitées comme par exemple la fondue qui ne se fait plus avec du vin blanc mais avec du cidre sans alcool. Je suis assez sceptique… et le petit verre de kirsch pour faciliter la digestion? D’autres plats comme le jambon au madère, le coq au vin ou les poires au vin rouge ont tout simplement disparu car on n’a pas trouvé de substituts! Comme il n’est pas bon de manger trop de sucre, faut­il s’attendre à ce que la crème brûlée, la confiture, la mousse au cho­ colat disparaissent bientôt des livres de cuisine. Et qui disait que manger est un réel plaisir?

Zur Kolumne «Verbindlich», Ausgabe 8 «Kunst» Marianne Binder hält die angeprangerte weibliche Schreib­ weise für ein Konstrukt und eine schreibtechnische Verren­ kung, eine für mich zu nachsichtige Beurteilung. Ich nehme diese Art zu schreiben als eine Vergewaltigung unserer Spra­ che wahr. Es bleibt ja nicht bei Verdoppelung bekannter Wör­ ter, es werden neue Un­wörter kreiert: eine Elefantenkuh wird zu einer Elefantin, beliebige Substantive werden zusammen­ geschweisst, abstruse Begriffe verderben eine flüssige Sprache. Was soll ich mit einer Entscheiderin, einer Geistkraft, einem Empörungsbewirtschafter, einem Kantonsentwickler anfan­ gen? Und schrecklich die «Partizipitis», die das Lesen über Stolpersteine leitet: Einwohnende, Richtende, Hundehaltende, Hungerstreikende, Lehrende und Pflegende. Den akademi­ schen Gipfel der Verunstaltung erreicht wohl der Ausdruck Studierendenschaft (Uni Basel). Verfügen unsere Westschweizer Kantone eigentlich über keine Gleichstellungsbüros, die den «Gender­Mainstreaming» durchsetzen? Im Beipackzettel zu einem Medikament lese ich nämlich: «Pour des amples renseignement adressez­vous à votre médecin ou votre pharmacien», während mir auf Deutsch geraten wird, für weitere Auskünfte «Ihren Arzt, Apotheker oder Drogist, bzw. Ihre Ärztin, Apothekerin oder Drogistin» zu fragen. Die Amtsstellen der Romands dürfen sich vermutlich echter Probleme annehmen. Félicitations! Guido Huwyler, Binningen Ihre Meinung interessiert uns. Schicken Sie uns Ihre Leserbriefe an DIE POLITIK, Postfach 5835, 3001 Bern oder redaktion@die-politik.ch oder diskutieren Sie auf der Website www.die-politik.ch über aktuelle Artikel.

HONECKERS HANDSCHLAG Die SP will im neuen Parteiprogramm: - die Armee abschaffen - den Kapitalismus überwinden «Alter Wein in neuen Schläuchen», die demontierte DDR lässt grüssen!

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Die Di e Genossen Peter Vo Vollmer llmer und Helmut Hubacher bei Erich Honecker in Ost-Berlin (DDR) 1982

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Adrian Meyer

steinPlAtte 351 – ein neAPolitAniscHer lebenslAuf Saverio Tacchettis zertrümmerter Schädel wurde im schlickigen Brackwasser des Fosso reale, einem Seitenarm des Volla gefunden. «Il serpente», der Held der Armen, war tot. Ermordet und erschlagen. Es war ein feuchter, nebliger November­ abend im Jahre 1803, als man seinen Schädel zusammen mit sechs weiteren Leichen aus dem «albergo dei poveri» und zwei hingerichteten Strassenräubern in den Schacht unter der geöffneten Steinplatte 351 hinunterliess.

schwerlichen Weges das letzte an Identität, ihren Namen, mit der Zahl des Todestages.

Il serpente «II serpente», wie ihn die Geächteten und Verdrängten liebevoll zu nennen pflegten – «II serpente», die Schlange, war in Wirklichkeit ein kleiner, windiger Gauner. Er lügte sich mit allerlei Wichtigtuereien durchs Leben, gewann jedoch zusehends an Einfluss und Bedeutung. Als Anführer einer Gruppe von Tagedieben und kleinen Gaunern machte er sich daran, die Reichen und Adligen Neapels um ihr Geld zu erleichtern, zum Beispiel während des Festes zu Ehren von San Bartolomeo. Das fest zu Ehren von San Bartolomeo

Die Leichen aus dem riesigen Armenhaus, in dem zeitweise bis zu 8000 Seelen vegetierten, wurden mit einem Ochsengespann in den rechteckigen Hof des «cimitero delle 366 fosse» auf dem Poggioreale gekarrt. 360 Steinplatten, fein säuberlich nummeriert, in den Kalk gemeisselt, reihten sich ein zum stummen Gebet für ein besseres Leben. Neunzehn mal neunzehn Reihen im Quadrat, in der Mitte ist eine ausgelassen. Vier Steine sind in einer seitlichen Apsis untergebracht und fünf weitere sind in der Seitenkapelle beim kleinen Zugang zum Friedhof in Messing eingelegt. Die Kapelle bildet den Anfang und das Ende des Umgangs, in dessen Hofraum sich diese seltsame, namenlose Totenstätte befindet, die ganz auf Hygiene und auf Platzersparnis ausgerichtet ist. Von Ferdinando Fuga, auf Geheiss des Bourbonenkönigs, 1762 auf dem Buckel der Armen und der Rechtlosen Neapels, ausgeheckt. Ein vertikaler Friedhof.

Nur noch eine Nummer Saverio Tacchettis Schädel wurde ganz am Schluss ins offene Grab gekarrt, kurz bevor der Friedhofwächter den Deckel wieder schloss. 351 – «II serpente», der eine Legende zu Lebzeiten war – von nun an nur noch eine Nummer. Viele der Ärmsten taten es mit ihm gleich und tauschten ganz am Ende ihres be24

Die Politik 9 November/Dezember 2010

Alle einflussreichen Neapolitaner waren geladen, mit kleinen und grossen Pferden aus Holz an den Reiterspielen zu Ehren des heiligen San Bartolomeo teilzunehmen, die alljährlich am Hofe des Königs Gioachino Murat, einem Schwager von Napoleon, stattfanden. Die bunt bemalten Pferde, den Stand und die Würde der Familien repräsentierend, wurden in den einfachen Werkstätten am «lungo San Matteo» gefertigt. Sie waren in der Mechanik und der Bedienung teilweise so kompliziert, dass ganze Hilfsmannschaften aus den Armenvierteln angeheuert wurden.


Planung eines Deliktes Die Gruppe derer von «Il serpente» verdingte sich bei der Familie Bersaglia und war auch verantwortlich für die Herstellung eines imposanten, mannshohen und dickbauchigen Holzgauls. Es wurden ihm Pfauenfedern auf den Kopf gesteckt, der Schweif war ganz in Gold gehalten und der glänzende Lack des roten Rumpfes reflektierte das Flackern der Fackeln in der Nacht. Am Tag vor dem grossen Gesellschaftsspiel präparierten sie den grossen, hohlen Pferdebauch. Er wurde mit Stroh vollgestopft und mit Pech durchtränkt. Der Geruch des frischen Lacks seines Leibes vernebelte den Gestank seiner illegalen Ladung. Ausführung Der Aufmarsch folgte am folgenden Abend, die Dämmerung zog auf, es begann eine Art Prozession. Die Familien begleiteten ihre prächtigen Standesinsignien, die von den Helfern in den Hof des Schlosses von Capodimonte gezogen wurden. Da setzte eine Petarde das pechdurchtränkte Pferd der Bersaglias in Flammen. Einige der in der Nähe stehenden Holzpferde begannen zu brennen. Saverio Tacchetti nutzte das Getümmel und packte Orlando, den jüngsten, wohlbehüteten Sohn des Königs, einen sechsjährigen Jungen, und verschwand mit ihm im Schutze der immer wilder flackernden Schatten. Eingesperrt in einem kleinen Kämmerchen, das den Hinterhof eines halb verfallenen Hauses an der Cariati-Treppe abschloss, blieb der Knabe einige Tage bei Brot und Wasser. Genau so lange, bis das geforderte Geld, zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Armen, in der Krypta von Santa Chiara abgelegt wurde.

Verrat? Verbessert bei den Armen hat sich aber seltsamerweise kaum etwas, nur «serpente» hatte von nun an genügend Geld, um seine immer grösser werdenden Kumpaneien zu unterhalten.

«il cimitero delle 366 fosse» ist ein «vertikaler» friedhof in neapel, entstanden im jahre 1762. der Architekt ist ferdinando fuga (1699–1782), ein florentiner, dessen Werke in neapel, sizilien und vor allem in rom stehen. 1750–1760 baute er das Albergo die Poveri mit einer 300 m langen fassade in neapel. der friedhof ist insofern speziell, als er als eigentliche erfindung des Gemeinschaftsgrabes verstanden werden kann. Allerdings waren hygienische Gründe ausschlaggebend um die verbreitung von cholera und Pest einzudämmen. «il cimitero delle 366 fosse» war – vor allem für die Armen und entrechteten – die letzte station ihrer lebensreise.

Es begannen sich wilde Gerüchte breitzumachen. Komplotte wurden geschmiedet. Es ist bis heute ungeklärt, ob «Il serpente» durch seine eigenen Leute oder durch die Familie des Königs umgebracht wurde.

Legende 351 Der Friedhofwärter vermörtelte die Kalkplatte mit der Nummer 351 und ging mit seinen Utensilien in den Geräteraum hinter der Kapelle. Wahrscheinlich war er froh, dass die Arbeit des Tages 351 abgeschlossen war. Er ging die schmale Strasse hinunter, die sich eng um den «cimitero delle 366 fosse» schmiegt und ihn von Aussen wie eine uneinnehmbare Festung auf dem Poggioreale erscheinen liess. Doch die Geschichten, die man sich über «Il serpente» erzählt, überdauerten bis in die heutige Zeit. In ihrer «favola in musica» erzählen die «nuova compagnia di canto popolare» noch heute davon. ■

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Kurt Imhof

inforMAtionsjournAlisMus in der krise Die Schweiz hat eine grossartige publi­ zistische Tradition in drei grossen Sprachregionen mit einer Geschichte her­ vorragender Zeitungen, die mit ihrer journalistischen Qualität auch einst den Standard für ein gutes öffentliches Ra­ dio, später das öffentliche Fernsehen bil­ deten. Diese Tradition ausgezeichneten Journalismus ist in einer tiefen Krise.

spitzen, eine Gefährdung der Konkordanz und ein Rationalitätsverlust in der demokratischen Auseinandersetzung. Besonders sichtbar ist ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung der Qualitätsverlust in der Auslandberichterstattung, für die der Journalismus in der Schweiz berühmt war: Korrespondentennetze werden abgebaut, Agenturmeldungen und Softnews ersetzen die einordnende Berichterstattung. Bei den nutzungsstarken Gratismedien besteht die Welt ausserhalb der Schweiz vorwiegend aus Katastrophen, Krisen und Affären.

Einschränkung der Demokratie Mangelnde Ressourcen durch sinkende Werbe­ und Abonne­ mentseinnahmen; stagnierende Gebühreneinnahmen, Ab­ wanderung der Werbeetats zu Suchmaschinen und zum So­ cial Web bedeuten Abbau von Ressorts und Redaktionen. Die Einnahmen in der Gattung Presse, im Onlinebereich und beim privaten Radio und TV lassen die Ausstattung von Re­ daktionen mit ausreichenden Ressourcen nicht (mehr) zu.

Das ist misslich, denn die Qualität der öffentlichen Kommunikation bedingt die Qualität der Demokratie. Die medienvermittelte öffentliche Kommunikation ist – unbesehen von der Finanzierung und der Mediengattung – der wichtigste Service public überhaupt. Wenn den Demokraten die Demokratie lieb ist, dann dürfen sie sich keinen billigen Journalismus leisten.

Boomende Gratismedien Gleichzeitig lässt sich ein Siegeszug eines deutlich qualitätsschwächeren Journalismus in Gratismedien Off- und Online beobachten, der von jüngeren Publika, die in der Gratiskultur sozialisiert worden sind, am meisten konsumiert wird.

An dieser Kluft zwischen der Bedeutung der Medien und der Krise des Informationsjournalismus setzt das Jahrbuch «Qualität der Medien – Schweiz Suisse Svizzera» an. Es will dazu beitragen, dass das Qualitätsbewusstsein auf Seiten der Medienmacher und auf Seiten des Publikums erhöht wird. Dem Publikum muss klar werden, dass es ressourcenschwachen und daher schlechten Informationsjournalismus dreifach zahlt – finanziell hauptsächlich über die Werbekosten, kulturell über mangelhafte Wissensvermittlung und politisch über die sinkende Rationalität der Auseinandersetzungen. Es muss wieder klar werden, dass guter Journalismus etwas kostet. Demokratien brauchen eine Öffentlichkeit, die nicht durch einen Wettbewerb um Anzeigen und Aufmerksamkeit, sondern durch einen publizistischen Qualitätswettbewerb konstituiert wird. ■

Beitrag zur Qualitätssteigerung

inhaltlich bedeutet dies die Zunahme der Personalisierung, der moralisch-emotionalen Aufladung auf Kosten sachlicher Informationsvermittlung, die Stärkung des Episodischen zu Ungunsten der journalistischen Einordnung und ein Professionalitätsverlust im Journalismus. sozial bedeutet dies ein Vertrauensverlust in die Medien, ein Statusverlust des Journalistenberufs, ein wachsendes Unbehagen auf Seiten der Journalisten und sinkende Zahlungsbereitschaft mitsamt einem sinkenden Kostenbewusstsein für Journalismus auf Seiten des Publikums. politisch bedeutet dies eine Aufmerksamkeitsverschiebung zu Gunsten derjenigen politischen Akteure, die ihre Botschaften möglichst konfliktträchtig und damit medienwirksam zu26

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Prof. dr. kurt imhof ist Soziologe und Publizistikwissenschaftler an der Universität Zürich. Er ist Leiter des Forschungsbereichs Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög). www.qualitaet-der-medien.ch


Artur K. Vogel, Chefredaktor «Der Bund»

Zukunft der ZeitunG – ZeitunG der Zukunft Wenn neue Medien auf den Markt kommen, wird stets der Tod der bestehenden pro­ phezeit: Die Zeitung werde das Buch verdrängen, hiess es im 18. Jahrhundert. Das Radio werde der Zeitung und dem Buch den Garaus machen, befürchtete man in den 1920er­ und 1930er­Jahren. Als das Fernsehen ab den 1950er­Jahren populär wurde, lastete man ihm an, alle andern zu verdrängen, vor allem das Kino. Und jetzt soll das Internet, das mobilste, anpassungsfähigste und zugänglichste Medium aller Zeiten, wiederum für den bevorstehenden Tod aller andern verantwortlich sein. Die Vorhersagen sind nie eingetroffen: Die bestehenden Medien haben stets an der Seite der neuen weiterexistiert. Sie mussten sich allerdings anpassen: Ein Film wird heute viel mehr nach den ästhetischen Prinzipien des Fernsehens gedreht als früher. Das Fernsehen muss von seiner starren Programmplanung immer mehr abweichen, damit seine Nutzer die Sendungen dann konsumieren können, wenn es ihnen passt. Und Zeitungen sind farbiger und aktueller geworden – sogar die konservativste, die «Neue Zürcher Zeitung», musste sich dem Zeitgeist anpassen. Zudem publizieren auch seriöse Blätter mehr von dem, was das Publikum offenbar wünscht: Klatsch, Prominente und Faits divers. Dass durch diese notwendigen inhaltlichen Anpassungen die Debatten verkümmerten oder gar die Demokratie gefährdet werde, wie gewisse linke Kulturpessimisten behaupten, ist nicht nachweisbar. Hingegen ist nicht zu verneinen, dass bezahlte Zeitungen einen harten Kampf ausfechten müssen: um die Aufmerksamkeit der Medienkonsumenten einerseits, die auf ein immer grösseres Informationsangebot zurückgreifen können, das immer weniger kostet; um Inserenten anderseits, die immer mehr Plattformen für ihre Werbebotschaften vorfinden.

Unlösbares Dilemma? Machen wir uns keine Illusionen: Die Leser- und Anzeigenmärkte werden weiter schrumpfen; gleichzeitig werden Zeitungen höheren Qualitätsansprüchen genügen müssen, damit Medienkonsumenten noch für sie zu bezahlen gewillt sind.

Zeitungen müssen deshalb massiv Kosten senken. Das bedeutet erstens, dass sie weniger Journalisten beschäftigen können. Dies sieht wie ein unlösbares Dilemma aus, weil es im direkten Widerspruch zur Forderung nach höherer Qualität steht. Was tun? Der «Tages-Anzeiger» und meine Zeitung, der «Bund», haben eine gemeinsame Lösung gefunden, die sie seit einem guten Jahr erfolgreich praktizieren: Kooperation. In Zukunft werden immer mehr Zeitungen Inhalte von andern hinzukaufen und versuchen, das, was sie selber produzieren, an weitere Abnehmer zu liefern. Zweitens müssen sich Zeitungen Gedanken über zwei weitere Kostenfaktoren machen, welche zusammen mit fast der Hälfte der Ausgaben zu Buche stehen: Produktion und Vertrieb. Ist es noch sinnvoll, täglich Tonnen von Papier zu bedrucken und Tausende von Verträgerinnen und Verträgern in die kalte Morgenluft zu schicken, wo man doch dasselbe Produkt auch auf elektronischem Weg an die Leserinnen und Leser liefern könnte? Werden Leserinnen und Leser es akzeptieren, ihre Zeitung künftig auf dem iPad oder andern elektronischen Trägern zu lesen statt auf Papier?

Ein Ding der Möglichkeit Wir wissen es noch nicht, aber wir haben in den letzten zwei, drei Jahrzehnten so viele technische Fortschritte und Veränderungen erlebt wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Das meiste, was heute Alltag ist – Computer, Handys, Navigationsgeräte, SMS, E-Mail – hätten wir uns vor ein paar Jahrzehnten nicht vorstellen können. Deshalb ist auch eine papierlose Zeitung ein Ding der Möglichkeit: Hauptsache, das Zeitungssterben kann so gebremst oder aufgehalten werden. ■ Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Berner Krippenspiel

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Die Politik 9 November/Dezember 2010


Alterspflege: Es braucht neue Wege zur Begleitung der Familien!

Aufgrund ihrer steigenden Lebenser­ wartung haben ältere Menschen immer mehr Zeit, sich mit ihrem Engagement in Familie und Gemeinschaft einzubringen. Sie unterstützen tatkräftig die nachfol­ genden Generationen und erbringen wertvolle Leistungen, sei dies, indem sie die nachkommende Generation bei der Familiengründung finanziell unter­ stützen oder indem sie Kleinkinder regelmässig betreuen. Und doch kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem Engagement und Mobilität dieser älteren Menschen eingeschränkt werden und die Unterstützung in die andere Richtung erforderlich wird.

Einerseits leisten sich die älteren Paare gegenseitig Unterstützung. So übernehmen fast ein Drittel aller älteren Männer Pflegeverantwortung für ihre Partnerin und sehr viele Frauen, die in einer Partnerschaft leben, pflegen ihren Partner. Andererseits springt die grosse Mehrheit der nachkommenden Generationen sehr oft ein und erbringt unschätzbare Unterstützungs-, Betreuungs- und Pflegeleistungen. Auch wenn Männer wie Frauen der nachkommenden Generation sich engagieren, werden diese Leistungen aber immer noch grossmehrheitlich von Frauen erbracht, die zum Teil bewusst ihre Erwerbstätigkeit reduzieren oder gänzlich auf eine solche verzichten.

Vergessene Angehörige Im Wissen, dass die grosse Mehrheit der älteren Menschen von ihren Angehörigen betreut und gepflegt wird, (nur jede fünfte Person verbringt ihren Lebensabend in einem Alters-

oder Pflegeheim), müssen wir eine gezielte und bewusste Generationenpolitik fordern. Denn selbstverständlich wird auch in Zukunft die Mehrheit der älteren Menschen wünschen, zu Hause von ihren eigenen Familienangehörigen gepflegt zu werden. Vergessen werden aber dabei oft die Angehörigen, der Partner oder die Partnerin, die eigenen erwachsenen Kinder, die diese Begleitung und Pflege übernehmen. Diese erbringen oftmals sehr grosse Opfer, welche nicht selten die Grenzen ihrer Belastbarkeit überschreiten. Sie aber dürfen mit dieser Doppelbelastung nicht länger alleine gelassen werden.

Zu priorisieren sind daher zwei Wege: – Einerseits braucht es vermehrt Entlastungsmöglichkeiten, damit die Pflegenden sich erholen können und nicht selber wegen der Belastung erkranken. Alle Pflegenden sollten das Recht auf eine jährliche Entlastung von 7 Tage à 24 Stunden haben, damit sie sich zwischendurch erholen können. Diese Entlastung hätte zwar eine Mehrbelastung der Spitex zur Folge, welche für diese Unterstützung zuständig sein könnte, aber sie würde auch dazu führen, dass die gepflegten und betreuten Menschen länger zuhause verbleiben können und somit die Heimkosten für die betroffenen Familien wie für die Gemeinden und den Kanton um vieles tiefer anfallen. – Andererseits müssen wir in Zukunft, wenn wir von Vereinbarkeit sprechen, nicht nur die Vereinbarkeit von Beruf und Familie (mit Kindern) berücksichtigen, sondern vermehrt die Politik und die Unternehmen auf die Vereinbarkeit von Beruf und häuslicher Pflege aufmerksam machen, denn es gilt in Zukunft die letztgenannte Vereinbarkeit zu verbessern. Denn eine humane, menschenwürdige Gesellschaft kann ohne Beziehungen – ohne intergenerationelle und innerfamiliäre Beziehungen – nicht gestaltet werden. Wir alle benötigen stabile Netze, die Rückhalt und Geborgenheit schenken. Netze, auf die Verlass ist. Deshalb brauchen wir vermehrt Familienzeit, Familienpflegezeit! ■ –Lucrezia Meier-Schatz, Nationalrätin Die Politik 9 November/Dezember 2010

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Die CVP betreibt KMU-Politik: Beispiel Rechnungslegungsrecht Die kleinen und mittleren Unternehmungen, die sogenannten KMU, bilden das Rückgrat der Schweizer Wirtschaft. Über 350 000 Betriebe in unserem Land gehören dieser Kategorie an. Dies sind mehr als 98 Prozent aller Unternehmen in der Schweiz. Gute Wirtschaftspolitik bedeutet deshalb vor allem auch gute KMU­Politik. Eine solche betreibt die CVP seit Jahren, sowohl auf Bundesebene wie in den Kan­ tonen. Im Fokus der CVP stehen dabei eine KMU­gerechte Steuerpolitik, der Abbau administrativer Belastungen, vereinfachte Firmengründungen und die Steigerung der Attraktivität der selbstständigen Erwerbstätigkeit. Jüngstes Beispiel für die aktive KMUPolitik der CVP im Bundesparlament ist die Revision des Rechnungslegungsrechts als abgekoppelter Teil der laufenden Aktienrechtsreform. Mit verschiedenen Anträgen und Voten hat die CVP in der Herbstsession im Nationalrat wichtige Entscheidungen zugunsten der KMU herbeigeführt. So hat der Nationalrat beispielsweise beschlossen, die erst vor wenigen Jahren festgelegten Schwellenwerte in Bezug auf die Revisionspflicht massiv zu erhöhen. Mit der Unterstützung der CVP habe ich mich ausserdem persönlich und erfolgreich dafür eingesetzt, dass die Mindestumsatzgrenze für Einzelunternehmen und Personengesellschaften, die eine doppelte Buchhaltung führen müssen, von 100000 Franken auf 500 000 Franken erhöht wird. Personengesellschaften und Einzelunternehmen mit einem Umsatz von weniger als 500 000 Franken Jahresumsatz können somit weiterhin eine einfache Einnahmen- und Ausgabenrechnung (Milchbüchleinrechnung) führen. Kleinstunternehmen sollen also nicht gezwungen werden, für die Führung einer doppelten Buchhaltung einen Treuhänder mit entsprechenden Kostenfolgen einsetzen zu müssen. Das ist umso mehr vertretbar, als diese Unternehmerinnen und Unternehmer gegenüber den Gläubigern mit 30

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ihrem ganzen Vermögen (auch privaten) haften.

keine Mehrbelastungen und Mehrkosten In der Wintersession wird der Nationalrat die Detailberatung der Revision des Rechnungslegungsrechts fortsetzen. Die CVP wird sich weiter für eine KMUfreundliche Reform einsetzen. So werden wir uns dagegen wehren, dass kleine Minderheiten von KMU-Aktionären gegen den Willen der Mehrheit einen teuren und komplizierten Abschluss nach einem anerkannten Standard verlangen können. Auch die in der Vorlage des Bundesrates vorgesehene Bestimmung, wonach ein einziger Gesellschafter eines

KMU oder ein einziger Genossenschafter einer Genossenschaft einen Konzernabschluss verlangen kann, versuchen wir zu ändern. Spezielle Abschlüsse nach Standards würden für die betroffenen Unternehmen zu hohen Mehrbelastungen und -kosten führen. Solche qualifizierten Abschlüsse würden die Führung eines KMU wesentlich erschweren, wenn sie willkürlich und missbräuchlich verlangt würden. Wir hoffen, dass es uns gelingen wird, auch den Rest der Vorlage KMU-freundlicher zu gestalten. ■ –Arthur Loepfe, Nationalrat

WENIGER STEUERN, WENIGER BüRokRATIE – EIN GEWINN füR ALLE Dass die staatliche Bürokratie bisweilen eigenartige Blüten treibt, ist bekannt. Gerade im Bereich der Mehrwertsteuer gibt es dafür unzählige Beispiele. So ist es beispielsweise aus Sicht des Steueramts ein gravierender Unterschied, ob man seinen Hamburger an einem Tischchen bei McDonalds isst oder ob man seinen Imbiss in einer Papiertüte mit ins Büro nimmt. Für Take-Away-Käufe verrechnet der Fiskus nämlich nur 2,4 Prozent Mehrwertsteuer, während Konsumationen in Restaurants dem ordentlichen Satz von 7,6 Prozent unterliegen. Diese Situation ist unbefriedigend und verwirrend. Gastrosuisse hat deshalb eine Initiative lanciert, welche diese Ungleichheiten beseitigen will. Die


Armee – Entwicklungen und Veränderungen Die erste gesamteidgenössische Armee wurde 1798 während der Helvetischen Repu­ blik gegründet. Schon damals leistete die Armee Auslandeinsätze, war doch die Schweiz verpflichtet, Frankreich rund 18 000 Mann als Söldner zu stellen. Innerhalb der Schweiz wurden die Truppen vor allem gegen aufständische Kantone eingesetzt. 1815 wurde die Schweiz als neutrales Land von den Grossmächten anerkannt. Zwei Jahre später wurde die Schaffung eines Bundesheeres beschlossen. Ebenso das Milizprinzip. Die Grösse der Armee wurde auf 32 880 Mann festgelegt. Die Kantone mussten pro hundert Einwohner zwei Personen stellen. Die Rekruten wurden durch ein Losverfahren bestimmt, konnten sich aber auch freikaufen oder einen Ersatzmann stellen. Die Militärorganisation von 1850 legte die allgemeine Wehrpflicht fest und die Armee wurde auf 100 000 Mann erhöht, 1874 bei einer erneuten Änderung auf rund 215 000 Mann.

Spannungen und Grabenkämpfe Um die Jahrhundertwende kam es oft zu Spannungen innerhalb des Offizierkorps und der Politik über die Weiter-

entwicklung der Armee. Dabei standen die Professionalisierung des Offizierkorps und die Erziehung der Bürger zu Soldaten durch Drill und Disziplin im Vordergrund. Die Arbeiterparteien bekämpften die Armee, weil diese gegen streikende Arbeiter eingesetzt wurde. Diese Spannung war auch während des 1. Weltkrieges zu spüren, ganz besonders beim Landesstreik 1918. Erst nach der Verschlechterung der internationalen Lage im Jahre 1936 konnten die Grabenkämpfe zwischen den bürgerlichen Parteien und den Arbeiterparteien beigelegt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Schweizer Armee massiv aufgerüstet und mit der Armee 61 wurden neue Heereseinheiten geschaffen. Durch die Verlängerung der Dienstzeit wurde der Bestand der Armee bis auf 880 000 Mann erhöht.

Branchengrenzen zwischen Restaurants und Take-Away-Betrieben verschwinden zusehends. Heute kann man in der Migros warme, fertig zubereitete Mittagsmenüs kaufen. Umgekehrt bieten beispielsweise die McDonalds-Filialen eine tadellose Restaurant-Infrastruktur an. Darum ist es auch richtig, für gastgewerbliche Leistungen die gleichen Steuern zu erheben wie für die Lieferung von Nahrungsmitteln. Davon profitieren alle – insbesondere die Konsumenten. Dass Gastrosuisse mit ihrer Volksinitiative ein wichtiges Anliegen aufgenommen hat, zeigt der Erfolg der Unterschriftensammlung. Markus Zemp, Nationalrat

Kein Feind im Osten Nach dem Fall der Berliner Mauer fehlte der Feind im Osten und die erste Abstimmung zur Abschaffung der Armee wurde lanciert. Diese erhielt einen JaStimmen-Anteil von 36 Prozent. Mit der Armeereform 95 wurde das Alter bei der Wehrpflicht auf 42 Jahre festgelegt und die Armee auf 400 000 Mann reduziert. 2003 konnte sich das Volk zur Armeereform XXI äussern und die Armee wurde auf 120 000 Mann in aktiven Verbänden und 80 000 Mann Reserve reduziert. Heute, im Jahr 2010, haben wir den Armeebericht auf dem Tisch, der von einem Bestand von 80 000 Mann ausgeht, die demographische Entwicklung unseres Volkes berücksichtigt, aber auch neue Aufgaben der Armee definiert. Wenn ich heute die veränderte Ausgangslage der Gefahren betrachte, die Zusammenarbeit im Sicherheitsverbund berücksichtige und wir die Anforderung der zukünftigen Armee definieren müssen, erwartet uns eine spannende Diskussion. Wir müssen uns mit Terroranschlägen und Cyberwar auseinandersetzen. Diese neuen Bedrohungen können wir nicht mehr mit einem riesigen Heer bekämpfen. Es müssen moderne Waffen und aktualisierten ITInfrastrukturen bereitgestellt werden. Die Zukunft wird die Schweizer Armee ebenso herausfordern, wie dies schon früher der Fall war. ■ –Ida Glanzmann-Hunkeler, Nationalrätin Die Politik 9 November/Dezember 2010

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die Bundeshausfraktion

IntensIve Debatten Alljährlich stehen in der Wintersession das Budget und die Feiern der Rats­ und Bundesratspräsidien auf dem Pro­ gramm. Wir werden diesen Dezember die Ehre und Freude haben, Hansheiri Inderkum aus Uri als Ständeratspräsi­ denten zu feiern. Für Diskussionen wer­ den das Post­ und das Postorganisations­ gesetz sorgen. Zudem steht in beiden Räte eine intensive Debatte zur schweize­ rischen Europapolitik an. Der National­ rat berät die 6. IV­Revision, während der Ständerat seine Eckwerte für Managed Care Modelle in der Krankenversiche­ rung definieren wird.

Das postgesetz steht am Ende der Beratungen. Obwohl der Bundesrat mit der Gesetzesänderung den Briefmarkt vollständig öffnen wollte, haben die Räte einen anderen Weg eingeschlagen. Heute besteht keine Dringlichkeit den Postmarkt zu öffnen. Dafür gilt es gute Postdienstleistungen in allen Landesteilen zu sichern. Das erste Massnahmenpaket der 6. iV-revision verfolgt insbesondere zwei Ziele: Erstens werden Massnahmen eingeführt, die einen massgeblichen Beitrag zur finanziellen Konsolidierung der IV leisten. Zweitens will die Revision die Einführung eines Assistenzbeitrages zur Förderung einer selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Lebensführung von Menschen mit einer Behinderung. Die vorberatende Kommission des Nationalrates sieht neu eine Quote für Firmen mit über 250 Angestellten vor. Sie müssen ein Prozent ihrer Arbeitsplätze für Behinderte reservieren. Im Bereich der Krankenversicherung sollen die Krankenversicherer verpflichtet werden, innerhalb von drei Jahren managed Care modelle anzubieten. Die Versicherer erhalten die Möglichkeit, die Vertragsdauer für Versicherte, die sich einem integrierten Versorgungsnetz anschliessen, bis auf drei Jahre anzusetzen. Die Kostenbeteiligung soll für Versicherte in Managed Care Modelle neu 5 Prozent Selbstbehalt (maximale 32

Die Politik 9 November/Dezember 2010

Wörterbuch der Volksvertreter Anschubfinanzierung, die, beliebte verbale Tarnwaffe eines Politikers. Die Anschubfinanzierung bedingt ein Projekt, dessen Chancen auf dem Markt gleich Null sind. Deshalb muss man es anschieben. Das Projekt kann noch so sinnlos sein, einmal ange­ schoben, rutscht es auf der schiefen Bahn der laufenden Ausgaben unkon­ trolliert weiter. Sobald auch den letz­ ten klar ist, dass das Ganze nicht überlebensfähig ist, wird die befristet angeschobene Finanzierung von denen, die das Geld kassieren, in eine zeitlose verschoben. Angeschoben finanzierte Projekte kommen so harm­ los daher, dass der Kampf dagegen schwierig ist. Einmal angeschoben, auf Ewigkeit finanziert. Im Gegensatz zur Anschubfinanzierung stehen die Milliardenkredite. Sie sind trans­ parenter. Beispiel Kampfflugzeuge. Monströs und unnötig machen sie sich zu überdimensionalen Zielschei­ ben für politische Schiessübungen. Volksvertreter, die sie verfehlen, sind selber schuld.

Obergrenze 500 Franken), für alle anderen 15 Prozent Selbstbehalt (maximale Obergrenze 1000 Franken) betragen. ■ –Alexandra Perina, politische Fraktionssekretärin


der tipp

seHnsucHt des reisens, Glück der Ankunft Alain de Botton ist bekannt dafür, in seinen Büchern Philosophie alltagstauglich darzustellen, ohne banal zu werden. Wer darüber mehr wissen will, konsultiere seine Website www.alaindebotton. com, wo auch seine «school of life» vorgestellt wird. Sein jüngstes Werk, «Airport» beschreibt eine Woche, die er als writer in residence auf dem Flughafen Heathrow verbrachte. Was daran philosophisch interessant sein kann, ist wohl nur für diejenigen evident, die fasziniert sind von der Atmosphäre auf Flughäfen, vom Reisen, von Flugzeugen, von den Leistungen des Menschen, die das technische Wunder des Fliegens heute so selbstverständlich erscheinen lassen. Und die trotz dieser Selbstverständlichkeit darüber noch staunen können. Flughäfen sind Universen für sich. De Botton findet, in einer Welt voller Chaos und Unregelmässigkeit seien sie sogar eine würdige und faszinierende Zuflucht von Eleganz und Logik. Ein Flughafen sei das imaginative Zentrum unserer Kultur. Einem Ausserirdischen könne man auf einem Flughafen exemplarisch die grossen Themen unserer Zivilisation zeigen: vom technischen Fortschrittsglauben bis zur Zerstörung der Natur, von der Globalisierung bis zur Romantik, die der Mensch mit Reisen verbindet. Dabei gelingen ihm brillante kurze Studien und Skizzen von Menschen und Situationen, komisch, anrührend, faszinierend: Willy Walsh, Vorstandschef von British Airways, geplagt von täglichen 1,75-Mio-Euro Verlusten, freut sich trotzdem wie ein Kind auf die zwölf neuen A380, einfach aus Leidenschaft für das Fliegen. Der Flughafen-Seelsorger seufzt resigniert, die meisten Leute wollten von ihm nicht spirituellen Beistand, sondern nur den Weg zur Toilette wissen. Schicksale leuchten kurz auf, wenn Ana-Marie, eine Putzfrau, einst in Transsylvanien Jahrgangsbeste des Konservatoriums, erzählt, ihre Familie meine immer noch, sie habe im Westen längst einen guten Ruf als klassische Sängerin. Dabei ist de Botton nie moralisierend, auch nicht, wenn er einen Wutanfall eines Passagiers, der den Check-in verpasst, schildert, und diesem die Lektüre des Stoikers Seneca empfiehlt. Wer Flughäfen und Flugreisen liebt, findet hier die philosophischliterarische Untermalung dazu, warum das so sein darf. ■ (gp)

Alain de Botton airport. eine Woche in heathrow. Frankfurt: S. Fischer 2010.

Speakers’ Corner

Lieber Christian Seit eurem letzten Parteitag verstehe ich euch gar nicht mehr. Erst noch habt ihr eine moderne Armee gefordert. Jetzt wollt ihr sie abschaffen. Erst noch habt ihr überall von mangelnder Sicherheit im Alltag ge­ sprochen. Jetzt gibt es auf einmal keine Kriminalität mehr. Erst noch habt ihr euch dem bilateralen Weg verschrieben. Jetzt wollt ihr bedingungslos in die EU. Und einen Monat nachdem ihr euer Bekenntnis zur Konkordanz abgegeben habt, pfeift ihr diejeni­ gen öffentlich aus, welche sie leben wollen, während eine eurer Bundesrätinnen in einmaliger Peinlich­ keit ihre Regierungskollegen angreift. Mit euren extremen Positionen und euren wider­ natürlichen Allianzen mit dem politischen Gegner müsst ihr euch nicht wundern, dass ihr mehr und mehr marginalisiert werdet. Die Beispiele all der parlamentarischen Geschäfte, welche ihr mit der SVP torpediert, sind bald nicht mehr zu zählen: AHV­Revision, Massnahmen gegen die Erhöhung der Krankenkassenprämien, Aktienrechtsrevision und Lösungen im Zusammenhang mit exorbitan­ ten Managerlöhnen. Lediglich die Grünen schaffen es noch, euch links zu überholen. Warum desavouiert ihr eure neue Bundesrätin bei der erstbesten Gelegenheit? Sie hat Recht, wenn sie den Handlungsbedarf im Bereich der Ausländer­ kriminalität und der Integration aufzeichnet. Öffnet doch endlich die Augen! Die SP hat ihre Isolierung selbst zu verantworten. Sie hat sich mehr und mehr von den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger verabschiedet und damit von den Interessen des Landes. Was willst du eigentlich mit deiner Partei erreichen? Wollt ihr weiterhin Regierungsverantwortung übernehmen oder wollt ihr lediglich zum Sprachrohr der UNIA oder der JUSO verkommen? Mit freundlichem Gruss Christophe Darbellay

Die Politik 9 November/Dezember 2010

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«Cyber…-Glossar» was ursprünglich eine griechische Vorsilbe für steuerung war und in der antike im zusammenhang mit der seefahrkunst anwendung fand, ist heute ein weit verbreitetes modewort. Den sprung aus der antike in die neuzeit schaffte das wörtchen dank einem buch norbert wieners von 1848, in dem er unter dem titel «Cybernetics or control and communication in the animal and the machine» die kunst der steuerung mittels rückkoppelung beschrieb. in unserem alltag finden wir viele anwendungsbeispiele für dieses prinzip, von gesteuerten Heizungen und kühlanlagen über die Verkehrsregelung bis hin zum autopiloten in flugzeugen. in den 1970er Jahren brachte die Control Data Corporation eine serie von grosscomputern unter dem name «Cyber» auf den markt. Damit war die enge bindung des wortes an die digitale welt geknüpft.

CyberspaCe

Umgangssprachlich wird der Cyberspace, der «kybernetische Raum», meist mit «allem was Internet ist» gleichgesetzt. Genau genommen beschränkt sich der Cyberspace aber auf das, was man nicht berühren kann, auf die virtuelle Welt, auf die Welt, die durch Computer und deren Vernetzung geschaffen wird. William Gibson, der Erfinder des Begriffs, sprach als erster vom «Cyberspace», und zwar in seinem 1984 erschienenen Buch Neuromancer, einem mittlerweile in zahlreiche Sprachen übersetzten Klassiker der Science-Fiction-Literatur.

Cybergame

Genauer mmorpG (Massively Multiplayer Online Role-Playing Game, zu Deutsch: Massen-Mehrspieler-Online-Rollenspiel): So genannte MMORPGs kommen dem Ursprungsgedanken des Cyberspace wohl am nächsten. In diesen Spielen, wie zum Beispiel Second Life©, in denen zum Teil mehrere Zehntausend Spieler gleichzeitig in selbst erfundene, virtuelle Rollen schlüpfen, untereinander Handel treiben, sich bekriegen, sich lieben, zusammen Städte bauen oder in die Weiten des Alls vordringen, wird virtuell alles möglich, was die menschliche Phantasie erschaffen kann.

Cyber-bullying

(dt. Blossstellung, Schikane; Neudeutsch Mobbing), -stalking (dt. Anschleichen; hier im Sinne von nachstellen oder auflauern gemeint): Belästigung von Mitmenschen mittels elektronischer Kommunikationsmittel wie Chat, Email, SMS, oder sozialen Netzwerken. Eine besonders schwere Form von Cyber-Bullying besteht darin, gezielt falsche oder intime Informationen im Umfeld des Betroffenen zu verbreiten.

Cyber-grooming

Anmache von Kindern und Jugendlichen durch pädosexuelle Erwachsene übers Internet. Typisch für diese Form der Anmache ist, dass sich die Täter zu Beginn selbst als Kinder ausgeben, um ein Vertrauensverhältnis zu den Opfern aufbauen zu können (daher auch der Begriff Grooming, was im engeren Sinne «Fellputzen» heisst).

Cyberwar

Mit dieser Wortschöpfung wird eine kriegerische Handlung mittels Informationstechnologie bezeichnet. Oft wird diese Definition auch breiter ausgelegt und umfasst generell feindliche Aktivitäten gegen die eigene Infrastruktur. Zu diesen Aktivitäten gehören Spionage, Propaganda und Sabotage. Mit dem Internet-Wurm «Stuxnet» ist im Juli 2010 zum ersten Mal ein Schadprogramm entdeckt worden, das nicht nur spionieren, sondern gleichzeitig auch die Steuersoftware von Kraftwerken manipulieren kann. Vor seiner Entdeckung hatte er sich bereits über viele Länder verbreitet und in Zehntausenden Computern eingenistet.

Cyberzukunft

Diese ist nicht vorhersehbar. Sicher ist nur, dass bislang sämtliche Prophezeiungen, die weiter als zwei Jahre in die Zukunft blickten, ziemlich daneben lagen. IBM wurde nicht zur Weltregierung à la Orson Wells’ Roman «1984» und Bill Gates war noch Mitte der 1990er Jahre überzeugt, dass das Internet auf einen kleinen Kreis von Nutzern beschränkt bleibt. Die Zukunft des Präfix «cyber» zeichnet sich dafür deutlicher ab. War es Ende der 1990er Jahre sehr en vogue bei Jungen und Journalisten, so wird es heute vor allem von Juristen, Sicherheitsberatern und Politikern gebraucht. –Tim Frey

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©iStockphoto.com/Alfredo Ragazzoni

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Anku An kunf nftt

Vor VierZiG Jahren… Am 12. Dezember 1970 wurde die CVP Schweiz gegründet. Anlässlich ihrer Delegiertenversammlung in Solothurn hat die «Konservativ­christlichsoziale» Volkspartei einen Namenswechsel durch­ geführt und wurde in Anlehnung an die europäische Parteifamilie «christlich­ demokratisch». Ebenso gab sich die Partei neue Statuten. Zur neuen Orga­ nisationsform (Mitgliederpartei statt lose Rahmenpartei) gesellte sich die program­ matische Neuausrichtung als politische Kraft der «dynamischen Mitte». Die CVP wurde zur starken Zentrums­ kraft, eine Position, welche sie bis heute inne hat und welche den Erfolg der Schweiz verantwortet. (ym)

Unse sere re Pl Plän äne e schl ugen n fe fehl hl,, Un schluge weil we il wi wirr ke kein in Ziel Ziel hatt hatten en.. We weiss, Wenn nn ma man n ni nich chtt weis s, we welc lche hen n Ha Hafe fen n ma man n an anla lauf ufen en will wi ll,, da dann nn ist ke kein in Wind Wi nd de Richti derr Rich tige ge.. – SEN S ENEC ECA A

Zuku Zu kunf nftt Wenn nn de derr Me Mens nsch ch ni nich chtt We über üb er da dass nach nachde denk nkt, t, wa liegt, wass in fe fern rner er Zu Zuku kunf nftt lieg t, wi das sc wird rd er das scho hon n in na nahe herr Zu Zuku kunf nftt be bere reue uen n –KON ONFU FUZI ZIUS US –K

Administrativer Leiter (m/w) Generalsekretariat Die CVP steht als moderne Mitte-Partei auf Gemeinde-, Kantons- und Bundesebene in der Verantwortung. Sie entwickelt Lösungen, die im politischen Konsens zu tragfähigen Mehrheiten führen. Im Fokus steht das Ergebnis, nicht nur das Statement. Das ist anspruchsvoll. Anspruchsvoll ist es auch, diese politische Grundlagen- und Gestaltungsarbeit und die Zusammenarbeit aller Gremien und Gruppen vom Backoffice her wirksam zu unterstützen. Gefragt ist Koordination, Organisation, Administration, Vernetzung und Planung. Dazu gehört die effiziente Logistik in Kampagnen, in Wahl- und Abstimmungskämpfen, bei Events sowie die Kontaktpflege zu bestehenden und potenziellen Mitgliedern wie auch der Support der Ressorts – inklusive Ressourcenplanung und Mittelbeschaffung. Als

Administrativer Leiter (m/w) sind Sie verantwortlich für die zentralen Dienste mit Logistik /Administration, Personal sowie Marketing / Foundraising. Mit Ihrem Team verstehen Sie sich als in- und externe Dienstleister. Sie sind – einfach ausgedrückt – für die nichtpolitische Parteiarbeit verantwortlich und schaffen die optimalen Rahmenbedingungen für die wirkungsorientierte Arbeit und die ebenso effiziente Umsetzung.

www.cvp.ch

Wir sehen hier eine jüngere Frau/einen jüngeren Mann mit solider Ausbildung (Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Organisation), mit Freude am Koordinieren und vielfältiger Organisationserfahrung. Sie sehen sich als umsichtige Kraft im Hintergrund, die gerne Aufgaben löst, Support bietet und Lösungen findet. Das ist die Rolle, in der Sie schon einiges bewegt haben. Als «Digital Native» sind Sie mit IT-Möglichkeiten vertraut und wissen sie einzusetzen. Überhaupt haben Sie klare Stärken im Marketing: Sie sehen Möglichkeiten und nutzen sie! Und es würde Sie sehr reizen, «in Bern» mit dabei zu sein. Was auch bedeutet, dass Sie sich für die Schweiz, für Politik und für Menschen interessieren. Und sich mit den Werten der CVP identifizieren können. Sehr gute Deutsch- und Französischkenntnisse werden vorausgesetzt. Arbeitsbeginn: 1. Februar 2011 oder nach Vereinbarung. Kontakt: Jörg Lienert René Barmettler Jörg Lienert AG Unternehmensberatung in Personalfragen Hirschmattstrasse 15, Postfach CH-6002 Luzern Telefon 041 227 80 20 luzern@joerg-lienert.ch

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