Der Schimmelreiter oder Unsere Welt vom Ende her denken — Textbuch

Page 1

Textfassung vom 12.11.2021

in einer Bearbeitung von Juliane Kann frei nach Theodor Storm


1 Hauke Haien Ich weiß auch nicht wie es geht, aber wer meint, es könnte weitergehen wie bisher, irrt sich genauso. Elke Volkerts! Warum hört mir denn niemand zu?

Hauke Haien Dieser Deich steht für Begrenzungen im Kopf. Statt, dass aus der Flut ein Dialog hervorgeht, ebben ­Gespräche ab und der Müll wird sichtbar.

Elke Volkerts Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, stand trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deich und lachte zornig gegen die immer höher schlagenden Wellen:

Elke Volkerts Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, lag trotz Sturm und Wetter weit draußen am Deich und lachte zornig. Du bist ganz eindeutig eine Referenz an den Wanderer über dem Nebelmeer, Hauke Haien.

Hauke Haien Ich weiß doch auch nicht wie es geht, aber wer meint, es könnte weitergehen, wie bisher, irrt sich genauso.

Hauke Haien Eine Referenz an wen? Elke Volkerts Epoche der Romantik, gemalt von Caspar David Friedrich?

Elke Volkerts Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, will einen neuen Deich bauen, weil der alte Deich die höher schlagenden Fluten nicht auszuhalten scheint. Aber niemand hört ihm zu.

Hauke Haien Das hier ist kein Postkartenmotiv, Elke Volkerts. Elke Volkerts Wenn du dich sehen könntest, wärst du anderer Meinung.

Hauke Haien Alle fragen, ist das Kunst oder kann das weg und ich denke, es wäre eine Kunst, wenn das weg wäre, und damit meine ich nicht auf einem Müllhaufen in Malaysia, sondern weg, wie niemals da oder weg im Sinne von zurückgeführt zu dem, woraus es ist. Ihr wollt den neuen Deichbau zum mindesten als ein Ding ansehen, das nun nicht mehr zu ändern steht, und lasset uns demgemäß beschließen, was nun Not ist!

Hauke Haien Und Wellen, kennt der Mensch heute nur noch als Einschlafhilfe von einer App auf dem Telefon, ­findest du nicht, dass das die falsche Aussage wäre? Elke Volkerts Ich dachte, das wäre der Witz an der Sache. Du änderst eine Variable, das Meer ist kein Meer mehr, sondern Müll. Der Wanderer über dem Müllmeer. Dann beziehst du mithilfe eines Satzes –

Elke Volkerts Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, will einen ­neuen Deich bauen, um das Fortbestehen der menschlichen Zivilisation zu sichern, aber einfach niemand hört ihm zu.

Hauke Haien Das ist nicht romantisch! Elke Volkerts Ja, genau! Mit dem Satz, Das ist nicht romantisch, beziehst du Position und stellst eine Beziehung her zwischen Alt und Neu oder Gegenwart und Vergangenheit und lenkst damit die Aufmerksamkeit auf dich und DEIN PROBLEM.

Hauke Haien Ja, genau! Niemand will hören, dass das permanente Besitzenund Besetzenwollen die Natur in ein Ungleichgewicht gestürzt hat und die Wellen höher und höher schlagen, im wörtlichen und metaphorischen Sinne. Dieser Deich steht für Begrenzungen im Kopf.

Hauke Haien Das ist nicht mein Problem, Elke Volkerts, das ist unser Problem, aber warum erregt das niemanden?

Elke Volkerts Guter Satz, sprich den da rein.

2


Elke Volkerts Ja, genau, warum erregt das hier niemanden, der Ausfall einer U-Bahn und die daraus folgende ­Verspätung auf der Arbeit aber schon.

Elke Volkerts Das ist zynisch. Dass ich dir unser Müll anbiete, heißt nicht, dass es dann plötzlich ausschließlich mein Müll ist.

Hauke Haien Die Kunst ist mit ihrem Können am Ende, Elke V ­ olkerts. Und die Leute werden so oder so mehr über uns, als über die Sinnhaftigkeit unserer Idee reden. Niemanden interessiert, dass wir was zu sagen haben. Wir sind erst zwölf.

Hauke Haien Dein Besitz ist es nur so lange, wie andere davon etwas hätten, was mensch ihnen dann wieder wegnehmen kann. Elke Volkerts Wie meinst du das?

Elke Volkerts Hast du gerade unsere Idee gesagt? Hat sie gerade unsere Idee gesagt?

Hauke Haien Schmeiß das bitte weg!

Hauke Haien Entschuldige, es bleibt natürlich deine Idee.

Elke Volkerts Die sind doch noch gut.

Elke Volkerts Nein, nein, darauf bestehe ich nicht. Ich finde gut, dass du unsere Idee gesagt hast, darum geht es doch. Es nicht mehr dein und mein, sondern unser ­Problem zu nennen. Dieser Müll ist unser Problem! Ein Haufen Müll ist unser Problem!

Hauke Haien Wenn du einen Laden hast zum Beispiel und einen Joghurt wegschmeißt, oder Bananen, weil sie ein bestimmtes Datum überschritten haben, das ein Produkt als verträglich kennzeichnet, dann sind der Joghurt oder die Bananen, die du weggeschmissen hast …

Hauke Haien Ja, genau!

Elke Volkerts Wer ich? Nein, du!

Elke Volkerts Wieso lacht sie denn jetzt?

Hauke Haien noch immer DEIN BESITZ, was du auch denen gegenüber zu verstehen gibst, die sich den Joghurt oder die Bananen aus der Tonne fischen. Wenn ich dir aber deine Zigarettenkippe oder dein achtlos weggeworfenes Taschentuch hinterher trage, hat es dir plötzlich nie gehört. ABER DAS HAST DU DOCH AUCH BEZAHLT! Das ist doch auch dein Geld. Du bezahlst für etwas, das es längst nicht mehr geben müsste, was du noch nicht mal wirklich haben willst und lässt doch andere dafür bezahlen, die nie etwas davon hatten? Giving up the concept of ownership …

Hauke Haien Die lacht uns aus. Der lacht darüber, dass wir einerseits sagen, man müsse das Konzept von Besitz aufgeben und andererseits hier stehen und darauf deuten und sagen, das ist doch deiner. Elke Volkerts Meiner ist das nicht! DEN MÜLL HAST DU DOCH GEKAUFT! DANN IST DAS DEIN MÜLL. ALSO KÜMMERE DICH DARUM! Hauke Haien Nein …

Elke Volkerts Was?

Elke Volkerts Was?

Hauke Haien Also das Konzept von Besitz aufzugeben heißt nicht, dass wir keine Verantwortung mehr übernehmen müssen. Ja, ownership kann mit Besitz und Verantwortung übersetzt werden, ist aber nicht zwingend miteinander verknüpft. Im Grunde meint das, weniger Besitz, mehr Verantwortung. Das ist nicht von mir, das ist von Audre Lorde. Google das.

Hauke Haien … sagen die, eben hast du von teilen gesprochen. Elke Volkerts Wer, ich? Nein, du! Hauke Haien Also teile ich gern meinen Müll mit dir. 3


Elke Volkerts Sag das nicht mir, sag das ihm.

Elke Volkerts Ich wusste nicht, dass du an Geister …

Hauke Haien Er hat doch keine Zeit!

Hauke Haien AHHHH!

Elke Volkerts JA, GENAU! DU HAST KEINE ZEIT MEHR!

Elke Volkerts ... glaubst.

Hauke Haien Wer hat denn hier Papier in den Plastikmüll geworfen?

Hauke Haien Es gibt auf Erden allerlei Dinge, die verwirren können. Aber ich bin weder ein Narr, noch ein Dummkopf. Ich sehe starr dem possenhaften Unwesen zu und sage mit fester Stimme: Du sollst mich nicht vertreiben! Was wolltest du sagen?

2

Elke Volkerts Entschuldige, geht es, wenn ich G…

Hauke Haien »Der Schimmelreiter« Theodor Storm

Hauke Haien Ahh!

Hauke Haien In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, steht Hauke Haien am Deich …

Elke Volkerts … sage. Ok, geht nicht. Geht es, wenn ich sp…

Hauke Haien … steht Hauke Haien am Deich und sieht an einer Stelle das Eis gespalten …

Hauke Haien Ahh! Elke Volkerts Ich bin verwirrt.

Elke Volkerts Sag das mal hier rein.

Hauke Haien Ich bin weder ein Narr, noch ein Dummkopf. Ich sehe starr dem possenhaften Unwesen zu und sage mit fester Stimme: ihr sollt mich nicht vertreiben! Du willst wissen, warum der Begriff Besitz noch immer so präsent ist.

Hauke Haien Jetzt kann ich nichts mehr lesen. Rauchwolken stiegen aus den Rissen, und über das ganze Watt spann sich ein Netz von Dampf und Nebel, das sich seltsam mit der Dämmerung des Abends mischte. Hauke Haien sah mit starren Augen darauf hin, denn in dem Nebel schritten dunkle Gestalten auf und ab, sie schienen ihm so groß wie Menschen. Plötzlich begannen sie wie Narren unheimlich auf und ab zu springen, die großen über die kleinen und die kleinen gegen die großen; dann breiteten sie sich aus und verloren alle Form.

Elke Volkerts Ja, genau! In einer Welt voller Loser! Hauke Haien Niemand will ein Loser sein, das ist das Problem. Elke Volkerts Wenn niemand ein Loser sein will, schafft mensch sich erst gar nichts an, was menschlosen kann.

Elke Volkerts Warum geistert …

Hauke Haien Mensch sollte annehmen, dass es so einfach ist.

Hauke Haien AHHHHH!

Elke Volkerts Wir verlieren doch von Geburt an.

Elke Volkerts … Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.

Hauke Haien Andere sprechen da von gewinnen. Wir gewinnen Lebenszeit. Sag nicht ich, sagen die.

Hauke Haien Ahhh.

4


Elke Volkerts Nein, wir verlieren sie. Es wäre mir ja im Grunde egal, wenn du Zeit verlieren kannst, aber verliere bitte nicht auch noch meine.

Hauke Haien Wer, ich? Elke Volkerts Ja, du. Einen neuen Deich bauen will, heißt das nicht, dass die Idee des alten Deiches schlecht war, sondern sie war einfach noch nicht gut genug.

Hauke Haien Ja, genau! Aber weil du nach dem WARUM gefragt hast – darüber würde ich mich gerne unterhalten mit denen die schon länger da sind als wir, aber die, die länger da sind als wir, Elke Volkerts, unterhalten sich nicht mit uns, weil sie denken, dass wir, Elke Volkerts, zu jung sind.

Hauke Haien Sag das doch bitte nicht mir, sondern denen. Der Deich könnte besser sein. WIR SIND DOCH BITTE BESSER ALS DAS

Elke Volkerts Zu jung? Wer sagt denn das? Sagen die das?

Elke Volkerts I see. Ich sehe. Du könntest das Kassandras Calling nennen.

Elke Volkerts In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, hatte die Hauptfigur, Hauke Haien,

Hauke Haien Ist das nicht ein Film?

Hauke Haien Wer ich?

Elke Volkerts Nee, der heißt »The Cassandra Crossing«, stammt aus dem Jahr 1976 und war Teil der Katastrophenfilm-Welle, aber bravo, Hauke Haien, genau darauf hatte ich mich mit dem Titel beziehen wollen.

Elke Volkerts Ja, du. Seit seiner Knabenzeit den Gedanken in sich getragen, dass er der rechte Mann sei, wenn’s einen neuen Deichgrafen geben müsse.

Hauke Haien Deinen Verweis auf das Genre der Katastrophen­ filme finde ich nicht richtig.

Hauke Haien Aber eine Reihe von – ja, genau – Gesichtern ging vor seinem – also meinem – ­inneren Blick vorüber und sie sahen ihn alle mit bösen A ­ ugen an.

Elke Volkerts Warum?

Elke Volkerts da fasste ihn ein Groll gegen diese Menschen, er streckte die Arme aus, als griffe er nach ihnen; denn sie wollten ihn vom Amte drängen, zu dem von allen nur er berufen war. Weg. Es ist weg.

Hauke Haien Sie suggerieren meistens eine Rettung menschlicher Zivilisation. Aber das Problem ist doch, DIESER MÜLL IST KEINE WEITERE FIKTIVE KATA­ STROPHE, unser Überleben steht ernsthaft auf dem Spiel.

Hauke Haien Die Gesichter sind weg. Aber das ist immer noch da. Auch wenn ich das nicht glauben kann, glaub ich, der Mensch ist nicht ausschließlich schlecht. Das ist doch auch von ihm.

Elke Volkerts Wie wäre es mit die Büchse der Pandora? Hauke Haien Auch deine zweite Verknüpfung mit der griechischen Mythologie führt, so sehr ich deine doppelte Anspielung schätze, also auf das drohende Unheil zum einen, und auf das Verpackungsmaterial als solches zum anderen, in diesem Falle auch nur dazu, dass das reale Bild des Unglücks durch das fiktive Bild des Unglücks verklärt wird.

Elke Volkerts Wie meinst du das? Hauke Haien Die Erfindung ist nicht schlecht, sie ist nur nicht weit genug gedacht. Elke Volkerts Ja, genau. Du meinst: Wenn in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm die Hauptfigur, Hauke Haien …

Elke Volkerts Kannst du das bitte nochmal sagen?

5


Hauke Haien Ich suche nicht nach einem Titel für das hier, Elke Volkerts. Das hat einen Titel: Müll.

Elke Volkerts Du kannst ja witzig sein, Hauke Haien. Wenn ich groß bin, werde ich in meinem Garten eine Esche pflanzen. Setz dich! Hast du das verstanden?

Elke Volkerts Ja, genau.

Hauke Haien Nee.

Hauke Haien Aber du hast schon recht, ich suche nach einer ­Verknüpfung, aber eher nach einer in uns. Ich suche nach der verloren gegangenen Verbindung zwischen Mensch und Natur.

Elke Volkerts Ok, dann tanzt du mir das jetzt einmal nach. Eschen sind anpassungsfähige Tiefwurzler. Sie haben ein großes Volumen, brauchen viel Licht und vertragen keine Nachbarschaft. Das dichte und weit ­verzweigte Wurzelwerk hilft bei der Befestigung von rutschgefährdeten Hängen.

Elke Volkerts Ist dir schon aufgefallen, dass es in unserer Sprache vor Naturvergleichen nur so wimmelt, aber niemand wirklich eine Verbindung dazu hat? Staub aufwirbeln. Ein erdrutschartiger Sieg. Wie eine Lawine über alles drüber rollen. Sowas sagen wir doch ständig und denken trotzdem, wir würden nicht miteinander in Beziehung stehen?! Aber beim Namen einer Verstorbenen denkst du doch auch nie nicht an die Verstorbene, oder? Deshalb reißt die Verbindung nie ab. Du, Hauke Haien, wirst immer an mich denken, wenn du meinen Namen hörst, und kurz innehalten, und dir wird sofort ein Bild vor Augen sein.

Hauke Haien Ok. Elke Volkerts Das Holz der Esche ist robust, abriebfest, tragfähig und elastisch. Verstehst du, was ich dir damit sagen will, Hauke Haien? Hauke Haien Um ehrlich zu sein, nein. Wir stehen knietief im Müll, den die Flut übrig gelassen hat und du bastelst einen Baum aus Plastik?!

Hauke Haien Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich.

Elke Volkerts Ich bin keine Umweltschützerin. Ich sehe mich auch nicht als Naturliebhaberin, aber jetzt sitze ich hier mit dir und mir fällt eben ein, einen Baum zu ­basteln.

Elke Volkerts Steh auf! Steh auf! Steh auf! Warum passiert das mit der Natur nicht genauso? Weil niemand weiß, was die Natur ist. Was die ­Natur des Menschen ist. Was die Natur dem Menschen ist. Setz dich. Was zum Beispiel ist das?

Hauke Haien Steh auf! Das ist so traurig.

Hauke Haien Das ist …

Elke Volkerts Du meinst, weil das nicht die Kreislaufwirtschaft ist, auf die du hinaus wolltest?

Elke Volkerts Eine Esche, Hauke Haien! Siehst du? Mit ­etwas Fantasie? Du hast doch Fantasie? Ich hab viel Fantasie.

Hauke Haien Ja, genau. Aus Müll Kunst zu machen, ist keine ­Lösung! Das hatten wir doch schon. DAS IST KEINE LÖSUNG FÜR DIESES PROBLEM. Steh bitte auf.

Hauke Haien Muss wohl so sein.

Elke Volkerts Was?

Elke Volkerts Wie meinst du das?

Hauke Haien Wir müssen mit beiden Füßen auf dem Boden ­bleiben. Um die Verbindung mit der Erde zu spüren. Stell dich hin und stell dir vor, du bist mit der Erde verwurzelt. Ich stell mich jetzt hinter dich und versuche dich umzuschubsen.

Hauke Haien Um darin eine Esche zu erkennen.

6


Elke Volkerts Das wird nicht gehen, denn ich bin ja mit der Erde verwurzelt.

Hauke Haien Dass du mich jetzt einfach ignorierst … Elke Volkerts WHEN DO WE WANT IT?

Hauke Haien Ich versuch dich zu schubsen. Jetzt denk an das, was du heute morgen gefrühstückt hast.

Hauke Haien … ist das schon die Antwort?

Elke Volkerts Ja, genau, jetzt haben wir keine Beziehung mehr! Aber wir müssen in einer Beziehung sein. Du bist das Wurzelwerk und ich der lose Hang.

Elke Volkerts Deine Stimme, Hauke Haien, die ist es, die noch fehlt! Ich weiß, dass das nicht einfach ist. Und dann auch noch ohne Rückhalt durch Familie und Freund*innen. Denn mit denen zu verkehren, die mit dir auf der Schulbank sitzen, fällt dir natürlich nicht ein.

Hauke Haien Naturvergleich! Ich habe mein Leben bis jetzt nur in Städten verbracht und erfreue mich an Apparaten, die in industriellen Lieferketten entstehen, auf die ich kaum einen Gedanken verschwende. Ich war auch noch nie campen, und obwohl ich es immer für eine gute Idee angesehen habe, die Flüsse und unsere Luft sauber zu halten, fand ich es genauso schlüssig, dass man zwischen Wirtschaftswachstum und dem Preis, den die Natur dafür zahlt, abwägen müsse und musste zu dem Schluss kommen, dass in den meisten Fällen wohl das Wachstum vorging.

Hauke Haien Unterstellst du mir Arroganz? Elke Volkerts Ganz von der Hand zu weisen ist es nicht. Dass du erwartest, dass die Leute zu dir kommen, ist – ­Entschuldigung – arrogant. Hauke Haien Es scheint, als ob ihnen an einem Träumer nichts gelegen sei!

Elke Volkerts Und jetzt bist du anderer Meinung? Hauke Haien Ich bin 12.

Elke Volkerts Ich verurteile Eitelkeit nicht. Ich mag nur nicht, wenn man es ist und dann nicht dazu steht. Jetzt, Hauke Haien, ist es an der Zeit, dass du über deinen Schatten springst und deine Stimme findest. Vergiss, was die Anderen über dich sagen.

Elke Volkerts Das ist doch keine Antwort. Hauke Haien Der Mensch muss umprogrammiert werden, ­darüber sind wir uns doch einig. Ich suche nach eindeutigen Handlungsvorschriften zur Lösung dieses Problems. Habs!

Hauke Haien Was sagen die Anderen denn? Elke Volkerts Dass du nichts sagst?! Das ist nur nicht besonders hilfreich für das hier. Du stehst nicht ohne Grund hier. Du willst doch was.

Elke Volkerts Stichwort Verbindung, Verknüpfung, Hauke Haien, nenn es wie du es willst, ich nenne es Beziehung. Die Lösung dieses Problems kannst du nicht allein finden, Hauke Haien. Und einig bin ich mir mit dir darüber, dass du dich diesbezüglich umprogrammieren musst. Einig sind wir uns darüber, dass es dir noch an etwas fehlt.

Hauke Haien Aufmerksamkeit. Elke Volkerts Du willst, dass mensch aufmerksam wird.

Hauke Haien Sag jetzt bitte nicht Autorität.

Hauke Haien Ja, genau!

Elke Volkerts WHAT DO WE WANT?

Elke Volkerts Auf dich!

7


Hauke Haien Nein, ich will, dass mensch aufmerksam ist!

… eines Morgens, dass mensch den alten Deichgrafen Tede Volkerts …

Elke Volkerts Geht das an mich? Hast du gerade gesagt, ich hätte keine Empathie? Jetzt hast du Mikro-Verbot.

Hauke Haien Deinen Vater? Elke Volkerts … tot …

Hauke Haien Nein. Pass auf, hab ich gesagt. Das droht uns zu überrollen hab ich gesagt.

Hauke Haien Es tut mir so Leid. … in seinem Bett gefunden hatte.

Elke Volkerts Kein Wunder, dass ich nur Vorschläge mache, die wie Grabsteinsätze klingen. Das ist ein Grab. Findet du nicht?

Elke Volkerts Wenn du weiter nichts sagst, weiter schweigst, wie ein Grab, könnten die Menschen glauben, du hättest nichts zu sagen. Das ist doch ein Missverständnis.

Hauke Haien Ja, genau. Aber das verwest nicht, Elke Volkerts. Die Natur kann keinen Nutzen daraus ziehen.

Hauke Haien Ich weiß nicht, was ich dazu noch sagen soll. DAS SPRICHT DOCH FÜR SICH.

Elke Volkerts Ist das ein Vorwurf?

Elke Volkerts Wenn du das sagen würdest, hättest du auch was zu sagen.

Hauke Haien Ja, genau! Elke Volkerts Das ist aber nicht besonders produktiv.

Hauke Haien Du denkst, dass es mir darum geht? Dass ich endlich was zu sagen habe?

Hauke Haien Ja, genau!

Elke Volkerts Deshalb sagst du also weiter nichts, weil das jemand denken könnte und guckst einfach nur? Das ist ­unheimlich. Du bist unheimlich. Einfach nichts sagen und nur gucken, das ist unheimlich. Die M ­ enschen haben Angst.

Elke Volkerts Es hat den Beigeschmack eines Abschieds. Hauke Haien Ja, genau! Ich würde mich sehr gern davon verabschieden.

Hauke Haien Vor mir?

3

Elke Volkerts Und Angst, weißt du, ist kein besonders guter ­Berater. Angst erzeugt ein Verhalten der Abwehr, verstehst du?

Elke Volkerts Du kannst dich nicht von etwas verabschieden, für das du noch nicht alles versucht hast.

Hauke Haien Angst schützt.

Hauke Haien Ja, genau.

Elke Volkerts Das meint doch im Grunde dasselbe.

Elke Volkerts In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, hört die Hauptfigur Hauke Haien ...

Hauke Haien Ach ja?

Hauke Haien Wer ich?

Elke Volkerts Natürlich! Distanz!

Elke Volkerts Ja, du. 8


Hauke Haien Wenn in einer Pandemie die Menschen um sich und andere zu schützen zu Hause bleiben, also eine ­Distanz pflegen, dann ist das ein Vorgang, DER EINE NÄHE ERZEUGT, wo grad keine sein darf. Also eindeutig positiv. Wenn in einer Pandemie Menschen behaupten, es gäbe keine Pandemie und sich in Gruppen zusammentun, wo keine Gruppen sein dürfen, dann ist das, auch wenn es so aussieht, KEIN MOMENT DER NÄHE. Also eindeutig ­negativ. Also ist das nicht das dasselbe. Nicht mal das Gleiche. Es gibt viele Gründe ängstlich zu sein, aber ich bin sicher keiner davon.

Elke Volkerts Die Beziehung von Angst und Verdrängung, sollte überdacht und ausgetauscht werden. Hauke Haien Aber was tritt dann an ihre Stelle? Elke Volkerts Die Verknüpfung von Angst und Nähe zum Beispiel? Dazu gehört, dass es ok ist zu sagen, dass mensch Angst hat. Hauke Haien Ich habe Angst.

Elke Volkerts Ich frage mich …

Elke Volkerts Ja, genau! Und damit bist du nicht allein, Hauke Haien. Du bist nicht allein.

Hauke Haien Was denn?

Hauke Haien In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, hat die Hauptfigur Hauke Haien, also ich, niemanden, der ihn bei seiner Idee, einen neuen Deich zu bauen, unterstützt.

Elke Volkerts … warum, als Hauke Haien … Hauke Haien Wer ich?

Elke Volkerts Die Erzählungen über Einzelgänger*innen sind längst aus der Mode gekommen, Hauke Haien. Aber mit denen zu verkehren, die mit dir …

Elke Volkerts Ja du. Die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, einen neuen Deich bauen will, die anderen im Dorf nicht begeistert sind von dieser Idee und diese abwehren.

Hauke Haien Ich weiß schon, worauf du hinaus willst. Peergroup … Es scheint, als ob ihnen an einem Träumer nichts gelegen sei.

Hauke Haien Du meinst, sie haben Angst vor ihm? Du meinst, sie haben Angst vor mir? Ich bin doch erst 12.

Elke Volkerts Ja, genau! Außerdem hast du noch mich. Man mag wohl fragen, was mitunter ganz fremde Menschen aneinander bindet, Hauke Haien …

Elke Volkerts Vielleicht haben sie Angst davor, dass das Neue also Monoplastik besser sein könnte als das Alte also Mikroplastik?

Hauke Haien Elke Volkerts …

Hauke Haien Die Jungen, also wir, besser als die Alten, meinst du?

Elke Volkerts Vielleicht …

Elke Volkerts Angst, weil eine Veränderung natürlich auch eine Verschlechterung bedeuten könnte?

Beide … sie waren geborene Rechnende.

Hauke Haien Deshalb verdrängen wir lieber das Problem.

Hauke Haien Ja, genau. Was wir brauchen, ist ein neues System. Ein neues Programm. Programmieren wir uns um.

Elke Volkerts Ja, genau! Hauke Haien Verdrängung, halten wir das fest, ist nichts, was dieser Tage als besondere Leistung des menschlichen Hirns herausgestellt werden sollte. 9


4 Hauke Haien Kurze Umbaupause, sind gleich wieder für euch da.

Elke Volkerts … glaubst.

Elke Volkerts Hummelflug!

Hauke Haien Es gibt allerlei Dinge die verwirren können. Rest ­davon Heirat war doch schon immer ein konservatives, zugleich aber eher abstraktes Konstrukt und wird doch heute vornehmlich nur noch wegen wirtschaftlicher Vorteile eingegangen.

Beide 2 Minuten Umbaupause, Hummelflug! Elke Volkerts Am Grab des verstorbenen Deichgrafen, Tede ­Volkerts, stand der Oberdeichgraf im ­Gespräche mit dem Pastor und dem Deichgevollmächtigten darüber, woher man den neuen Deichgrafen nehmen solle. Der Pastor fragte, weshalb man nicht den ins Amt nehme, der es tatsächlich in den letzten Jahren geführt hatte und wies mit dem Finger auf Hauke Haien. Er sei kaum vierundzwanzig, ­bemerkte der Gevollmächtigte, aber der Pastor hatte recht, was in den letzten Jahren Gutes für Deiche und Siele und dergleichen vom Deichgrafenamt in Vorschlag gekommen war, das war von ihm, Hauke Haien, er …

Elke Volkerts Ja, genau! Es liegt doch auf der Hand, dass ich mehr habe als du. Hauke Haien Das heißt aber nicht, dass du besser für mich sorgen kannst, als ich für dich. Elke Volkerts Ich hätte nicht gedacht, dass du es so schlimm ­finden würdest dir vorzustellen, von mir versorgt zu werden. Diese patriarchalen Strukturen zu entsorgen, ich dachte auch dafür stehen wir hier! Hauke Haien Ich dachte um alle veralteten Konzepte zu entsorgen stehen wir hier. Auch das Konzept der Ehe. Oder das Konzept der Klassen und des Aufstiegs.

Hauke Haien Also ich? Elke Volkerts Ja, genau. Du, also er, wäre der Mann, um in das Amt seines alten Herrn einzurücken, aber dir, also ihm fehle »Klei unter den Füßen«. Da trat Elke ­Volkerts plötzlich zu den Oberbeamten. Wenn ich groß bin, heirate ich ihn.

Elke Volkerts Nach dem Tod des Deichgrafen heiratet Hauke ­Haien / Die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« …

Hauke Haien Wen?

Hauke Haien Wer, ich?

Elke Volkerts Dich.

Elke Volkerts Jetzt guck nicht so entgeistert!

Elke Volkerts Ja, du. Von Theodor Storm, dessen Tochter Elke ­Volkerts, also mich, und mein – also ihr Erbe ist plötzlich deins – also seins. Ohne mein – also ihr Erbe kannst du – also er nicht Deichgraf werden, also auch nicht Deiche bauen. Das Amt des Deichgrafen erbt man, oder man hat genug Geld, am besten aber beides.

Hauke Haien AHHHH!

Hauke Haien Ja, genau. Das ist doch ein Problem.

Elke Volkerts Entschuldige, ich wusste nicht, dass du an Geister …

Elke Volkerts Ich sage auch nicht, dass das gut ist, Hauke Haien, ich sage nur, dass du trotzdem meine Hilfe annehmen solltest, um das zu werden, was du sein willst, Was machst du da?

Hauke Haien Mich?

Hauke Haien AHHHH!

10


Hauke Haien Ich wollte es nur kurz anprobieren.

Elke Volkerts Dass du doch romantisch bist?

Elke Volkerts um dann das zu ändern was du ändern willst.

Hauke Haien Warum denn nicht?

Hauke Haien Ich hasse es, abhängig zu sein.

Elke Volkerts Und am liebsten nur mit Wind und Wasser und mit den Bildern der Einsamkeit verkehrend, zu einem langen, hageren Burschen aufwächst.

Elke Volkerts Abhängigkeiten kann man vermeiden, muss man aber nicht. Ich sorge mich um dich.

Hauke Haien Ich bevorzuge die Romantik, die nicht verklärt sein muss.

Hauke Haien Nein, du bist erst zwölf, du solltest dir keine Sorgen machen. Du solltest dir keine Sorgen über Versorgen machen. Glaubst du wirklich, ich werd nicht für mich sorgen können?

Elke Volkerts Du meinst aufgeklärt. Hauke Haien Ja, genau! Die aufgeklärt sein muss.

Elke Volkerts Ich könnte dafür sorgen, dass es dir besser geht.

Elke Volkerts Du bist so geist…

Hauke Haien Du könntest dafür sorgen, dass es IHR besser geht.

Hauke Haien AHHHHH!

Elke Volkerts Dafür sorgst du doch bald. The future belongs to those, who can hear it coming. Das ist von David Bowie. Du kennst doch David Bowie?

Elke Volkerts …reich! Entschuldigung, ich wollte dich nicht ­erschrecken.

Hauke Haien Jeder kennt David Bowie.

Hauke Haien Wolltest du doch!

Elke Volkerts Nein, Hauke Haien, den kennt fast keiner mehr in unserem Alter.

Elke Volkerts Aufgeklärte Romantik heißt bei dir, du möchtest ­unabhängig sein?

Hauke Haien Das 21. Jahrhundert ist weniger fortschrittlich als ich dachte.

Hauke Haien Nicht ungebunden. Nicht unangebunden. Nur nicht abhängig.

Elke Volkerts Apropos 21. Jahrhundert: Ist es im 21. Jahrhundert noch ok von einem Reiter auf einem Schimmel zu träumen?

Elke Volkerts Bindungen können beängstigend sein. Aber ich weiß es besser.

Hauke Haien Das ist ok. Romantikerin zu sein ist ok. Nur weil Romantik ein wenig aus der Mode gekommen ist, ist sie nicht schlecht.

Hauke Haien Was? Elke Volkerts Es ist einfach so, dass es ohne Beziehungen nicht geht. Abhängigkeit ist nicht per se ein schlechter Begriff. Abhängig sind wir ja zum Beispiel auch von ihr.

Elke Volkerts Dann gibst du es also zu? Hauke Haien Was?

Hauke Haien Von wem? 11


Elke Volkerts Der Welt! Der Luft! Es ist falsch zu denken, es wäre nicht so. Und wie in jeder menschlichen Beziehung, müssen sich auch in der Beziehung zwischen Mensch und Natur beide Parteien in gleichen Teilen gesehen und geschützt fühlen.

Elke Volkerts Ja, genau. Was wiederum die Antwort darauf sein könnte, warum so wenige den Aufstieg wagen. Glückwunsch. Hauke Haien Wozu?

Hauke Haien Worauf willst du hinaus?

Elke Volkerts Du bist jetzt unser Sprecher. Du hast jetzt eine ­Stimme. Du hast jetzt deine Stimme. Du hast jetzt unsere Stimme. Du bist jetzt unsere Stimme.

Elke Volkerts Wenn Aufstieg eben nicht bedeutet, das eigene Weltverständnis zu erweitern. Wenn mensch nur für sich und den eigenen Profit lebt, dann geht die Welt doch unter!

Hauke Haien Das klingt wie eine Sekte.

Hauke Haien Die Welt wird uns in jedem Fall überleben.

Elke Volkerts Na, egal! Glückwunsch.

Elke Volkerts Ich meine die Welt, wie wir sie kennen.

Hauke Haien Wozu?

Hauke Haien Ich dachte, deshalb stehen wir hier. Ich dachte die Welt, wie wir sie kennen, soll untergehen.

5

Elke Volkerts Touché.

Elke Volkerts In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm wird die Hauptfigur Hauke Haien …

Hauke Haien Aber wir kennen die Welt ja nicht mal. Kaum einer klettert zum Beispiel auf den Mount Everest.

Hauke Haien Wer, ich? Elke Volkerts Ja, du! Deichgraf, als er …

Elke Volkerts Wie kommst du denn jetzt auf den Mount Everest? Wie kommt er denn auf den Mount Everest?

Hauke Haien … also ich …

Hauke Haien Du hast doch mit Aufstieg angefangen!

Elke Volkerts … Elke Volkerts …

Elke Volkerts Natürlich! Wir stehen vor einem Haufen Müll, der ständig ansteigt.

Hauke Haien … also dich …

Hauke Haien Ja, genau! Anders gefragt. Warum klettert mensch auf den Mount Everest?

Elke Volkerts … heiratet. Hauke Haien Kann ich jetzt mal den Schleier haben?

Elke Volkerts Damit mensch merkt, wie klein mensch ist.

Elke Volkerts Er war bestimmt, und gleichzeitig nicht bestimmt. Er war bestimmt, ein Muster zu durchbrechen, dass nur der Deichgraf werden kann, der Geld hat oder Macht.

Hauke Haien Aber nicht zu klein. Mensch muss sich nur ins ­Verhältnis setzen. Du überblickst etwas, das größer ist als du. Also müssen deine Ideen doch auch größer werden. Über verschiedene Denkstarren hinaus.

12


Hauke Haien Oh, da ist n Euro.

Hauke Haien Ich hab nur zufällig nach oben geschaut.

Elke Volkerts Das reicht nicht.

Elke Volkerts Ich weiß nicht, ob du es weißt, dass er / sie / es uns keine Antwort geben wird.

Hauke Haien Hauke Haien hat das Muster nicht durchbrochen, Elke Volkerts! Er ist es allerhöchstens umgangen. Wenn es uns um das Programmieren neuer Muster geht, warum hast du dich dann nicht zur Klassensprecherin aufstellen lassen?

Hauke Haien Aber warum? Elke Volkerts Weil er jetzt plötzlich annimmt, dass er Gott ist. Weil er zu einer geologischen Kraft geworden ist, Wüsten erschaffen, Gletscher zerstören und Ökosysteme terrorisieren kann!

Elke Volkerts Guck in den Spiegel. Wer das Amt ausführen kann, hat es.

Hauke Haien Winter. Dann kann ich ja jetzt nach Hause gehen.

Hauke Haien Der steht mir nicht. Aber genau das ist doch die ­Abhängigkeit, Elke Volkers, von der ich vorhin ­gesprochen habe! Weil du die Tochter des Direktors bist, werde ich jetzt Klassensprecher?

6 Elke Volkerts Die, die eine Wahl haben, sollten an die denken, denen man keine Wahl lässt.

Elke Volkerts Einem rechten Manne wird auch die Frau wohl ­helfen dürfen! Hauke Haien! Du bist die Stimme derer, die oft ungehört bleiben. Der Fels in der ­Brandung.

Hauke Haien Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, hört in diesem Augenblicke Ole Peters Knarrstimme dicht vor ­seinen Ohren:

BEIDE Naturvergleich! Elke Volkerts Du interessierst dich wirklich.

Elke Volkerts Die Nummer ist vielleicht ein bisschen groß für dich.

Hauke Haien Das nennt man dann wohl Schicksal. Ich ergebe mich.

Hauke Haien Klassensprecher ist die Position von Ole Peters.

Elke Volkerts Jetzt glaubst du plötzlich an das Schicksal, Hauke Haien. Ich dachte, darüber wären wir längst hinaus.

Elke Volkerts Was?

Hauke Haien Wie soll ich denn nicht daran glauben, Elke Volkerts. Du bist in einer Flut gestorben, das nennt man Schicksalsschlag. Das Schicksal hat ­zugeschlagen.

Hauke Haien Kurzer Einschub: Ole Peters ist erstens der g ­ rößte Konkurrent von Hauke Haien, weil er erstens auch auf Elke Volkers steht, zweitens hat er mehr Geld, drittens hat er mehr Land. Eigentlich wäre er für die Position des Deichgrafen vorgesehen ­gewesen. Schmeiß den Eimer bitte weg.

Elke Volkerts Kein Grund, plötzlich abergläubisch zu werden. Hauke Haien Warum?

Elke Volkerts Nur weil sein Vater der stellvertretende Direktor ist, macht ihn das noch lange nicht zum perfekten Kandidaten für das Amt des Deichgrafen.

Elke Volkerts Fragst du das sie / ihn / es da oben?

Hauke Haien Er konnte sich nicht beweisen. 13


Elke Volkerts Ole Peters ist nicht der richtige Kandidat.

Elke Volkerts Und jetzt dein Zauberspruch.

Hauke Haien Wieso?

Hauke Haien Es gibt auf Erden allerlei Dinge, die verwirren ­können. Aber ich bin weder ein Narr, noch ein Dummkopf. Ich sehe starr dem possenhaften ­Unwesen zu und sage mit fester Stimme: Du sollst mich nicht vertreiben!

Elke Volkerts Wieso? Wieso? Wieso? Weil er will, dass die Welt bleibt, wie sie ist. Weil er sich keine bessere, als diese Welt vorstellen kann. Und weil er selbst­gerecht ist, was nichts mit Gerechtigkeit, sondern mit Eitelkeit zu tun hat. Selbstgerecht, weil er bestimmte Privilegien hat, von denen er annimmt, sie stünden ihm zu, die dabei aber nichts anderes sind, als ­zufällig vererbte Umstände. Und er ist auch nicht der richtige Kandidat, weil er mit diesen Privilegien nichts anderes anzufangen weiß, als sie gegen ­andere, die diese Privilegien nicht haben, auszuspielen. Aber er wird früher oder später merken, dass die Vorherrschaft des weißen Mannes am Aufbrechen ist und ich gebe zu, dass ich eine diebische Freude dabei haben werde, wenn es soweit ist.

7 Hauke Haien Ich glaube die Angst ist noch nicht ganz weg, aber für den Moment ist es besser. Elke Volkerts Glückwunsch. Hauke Haien Die haben mich nur gewählt, weil du mich ­aufgestellt und für mich gestimmt hast. Weil du die Tochter des Direktors bist. Und alle reden nur darüber, dass ich deines Geldes wegen auf der Position bin …

Hauke Haien Ich find es nicht ok, dass du andere für ihren ­Umgang mit ihren Privilegien verurteilst, die sie sich, ebenso wie du, nicht selbst erarbeitet haben. Das ist doch auch total selbstgerecht.

Elke Volkerts Entsorge dieses Narrativ. Ich dachte auch wir wären im 21. Jahrhundert schon weiter.

Elke Volkerts Ja, genau! Aber ist das, was Ole Peters macht, etwa nicht Beziehungen nutzen?

Hauke Haien Der Haufen, den es zu entsorgen gilt, wird immer komplexer, Elke Volkerts.

Hauke Haien Ich sage es gerne nochmal: Er konnte sich nicht ­beweisen! Elke Volkerts Warum hast du dich nicht freiwillig aufstellen ­lassen?

Elke Volkerts Ja, genau. Mensch muss den multikomplexen ­Haufen vernünftig sortieren. Das Gute und das Schlechte voneinander trennen. Was hat sein Verfallsdatum erreicht, was kann noch verarbeitet werden.

Hauke Haien Auch das sag ich gerne nochmal: weil das die ­Position von–

Hauke Haien Das ist doch zum Verzweifeln! Das kostet Zeit, und die Zeit haben wir nicht.

Elke Volkerts Du weißt doch ganz genau, dass du der Richtige bist. Ich sage dir, warum du kneifen willst, Hauke Haien. Weil du Angst vor Zurückweisung und Niederlagen hast. Weg damit. »Weg!« Weg mit der Angst! Angst ist kein Motor! Hauke Haien, stell dich deiner Angst! Jetzt sag Ole Peters, dass er nicht der richtige ­Kandidat für das Amt des Deichgrafen ist.

Elke Volkerts Lass mich mal deinen Puls fühlen, Hauke Haien. Nur weil dein Stressempfinden steigt, ist das kein Grund zu den ältesten Mustern menschlicher Stressbewältigung zu greifen.

Hauke Haien Du bist nicht der richtige Kandidat für das Amt des Deichgrafen, Ole Peters!

Elke Volkerts Das ist ok, nach Hilfe fragen, ist ok. Das macht den Raum für Nähe auf.

Hauke Haien HILFE!

14


in Husum spielt, sterben Menschen in der Flut, weil die alten Deiche brechen. Sie haben nicht den richtigen Winkel und können deshalb dem Druck der Wassermassen nicht Stand halten.

Hauke Haien Ursprung des Wortes Macht, ist mögen, Elke V ­ olkerts. Wusstest du das? Aber niemand mag Hauke Haien, die Hauptfigur in der Erzählung »»Der Schimmelreiter«« von Theodor Storm. Er – also ich – hat dann zwar das Amt, aber die Autorität fehlt ihm – also mir.

Hauke Haien Es müsse gehen, dachte Hauke Haien, Also ich, die Hauptfigur, in der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, Als er

Elke Volkerts Autorität, ja.

Elke Volkerts Endlich!

Hauke Haien Das Amt ist aber nichts ohne …

Hauke Haien die Position des Deichgrafen hatte, es müsse gehen; und ging bis wo ein schmaler Streifen Weidelands die vor ihm liegende breite Landfläche ablöste, das lässt sich dämmen und zog mit der Hand eine weiche Linie in die Luft, als ob er dem Deich damit einen sanfteren Abfall geben wollte.

Elke Volkerts … Autorität Hauke Haien Ja, genau ohne diese psychologische Komponente. Elke Volkerts Autorität folgt aus einer Vielzahl von Handlungen, Hauke Haien. Warum also solltest du Autorität ­haben, bevor du überhaupt gehandelt hast?

8

Hauke Haien Apropos Handeln. Das erste, was dem Vater von Ole Peters einfällt zu sagen ist, als die Flut unsere Stadt überschwemmte: »Weil jetzt so ein Tag ist, ändert man nicht die Politik!«

Elke Volkerts Gute Frage. Weil es so ist? Die Antwort reicht dir nicht. Weil es so ist. Und deshalb bist du immer auf der Suche, deshalb hältst du immer Ausschau. Deshalb stehst du hier und stellst dich diesem Problem.

Elke Volkerts Dieses Bashing gegen den Vater von Ole Peters bringt niemandem etwas. Ich halte mich doch auch zurück mit meinem Einschub über alte weiße ­Männer und ihre Angst vor ihrer Abschaffung. Das muss aufhören, dieses Bashing und diese ­Bubbles und diese Arroganz. DIE SIND WIRKLICH EIN ­ABFALLPRODUKT.

Hauke Haien Und ich werde auch hier stehen bleiben, Elke Volkerts. Und wenn jemand sagt, ich solle ­lieber in die Schule gehen, sag ich, dort finde ich aber nicht die Antworten, die ich suche.

Hauke Haien Aber dass der Vater von Ole Peters sagt, DESHALB ÄNDERT MAN NICHT DIE POLITIK, ist doch ein Problem.

Hauke Haien Dass Mensch sich gut überlegen sollte, wie mensch seine Zeit verbringen will, und nicht, wie mensch die Zeit verlängert. Was willst du denn machen mit deiner krampfhaft verlängerten Zeit? Was bringt Zeit, wenn mensch sie dann nur totschlägt. Mensch muss sie nutzen.

Hauke Haien Warum muss das so sein, warum nicht anders?

Elke Volkerts Worauf willst du hinaus, Hauke Haien?

Elke Volkerts Wenn du sagst, dass der Vater von Ole Peters sagt, dass man wegen SOWAS die Politik nicht ändert, muss ich dich fragen: Änderst du sie denn?

Elke Volkerts Du fragst dich, warum denken wir nie vom Ende her?

Hauke Haien Den Worten Handlung folgen lassen.

Hauke Haien Ja, genau! War das Ende unserer Welt nicht schon immer da mit uns?

Elke Volkerts Ja, genau. In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, die siebzehnhundertirgendwas 15


Elke Volkerts Was weiß denn ich, ich bin erst 12. Das ist kein ­Alter, sagen alle, um über den Tod nachzudenken.

Tiefe und stürzt sich donnernd in das Meer. Hilfe, rufe ich. Aber meine Worte werden vom Sturm und Wellenbrausen überschrieen.

Hauke Haien Du bist nicht wie alle.

Elke Volkerts Als Hauke Haien Haien endlich Deichgraf war kam er eines Tages mit einem Pferd nach Hause. Es ist ausgemergelt und lässt sich von niemand anderem reiten, führen oder füttern als von Hauke Haien. Der Stallbursche von Hauke Haien erkennt in dem Pferd ein Gerippe, das sonst auf einer kleinen Sandbank im Meer liegt und erst beim Aufgehen des Mondes lebendig zu werden scheint, jedenfalls kriegt er große Augen, als er es jetzt leibhaftig bei seinem Herren sieht und das Gerippe auf der Sandbank verschwunden ist. Am Ende der Geschichte stirbt Hauke Haien samt Pferd in den Sturmfluten, reitet danach aber immer bei Unwetter am Deich. Er wird immer wieder gesehen. Immer wieder ist nachts das Gerippe verschwunden, während es tagsüber da liegt.

Elke Volkerts Gott sei Dank. Hauke Haien Du glaubst nicht an Gott. Elke Volkerts Das hab ich nie gesagt. Hauke Haien Du überrascht mich immer wieder. Elke Volkerts Wir können uns ein Ende vorstellen, weil wir jung sind. Wir haben etwas zu verlieren. Unser Leben hat gerade erst angefangen. Wir wollen, dass das endet, ja, wir wollen nicht, dass das – unser Leben – endet.

Hauke Haien Wann bist du denn zum Aberglauben konvertiert, Elke Volkerts?

Hauke Haien Ja, genau. Es ist ein Widerspruch, dass ihr endlos leben wollt, um euch dann ein Leben lang totzu­ stellen.

Elke Volkerts Es ist viel Aberglaube in der Geschichte des Schimmelreiters von Theodor Storm, aber ich trau dir zu, Hauke Haien, dass du schon selbst die Spreu vom Weizen wirst trennen können. Und das ist das Symbol der Apokalypse. Einer der apokalyptischen Reiter. Du aber glaubst doch jetzt nicht, dass das ein Zufall sein kann, Hauke Haien.

9 Hauke Haien Ich träum ihn manchmal.

Hauke Haien Ich aber glaube nicht, Elke Volkerts. Ich ziehe Wissen vor. Wissen ist Macht. Einschub: das ist nicht von mir – das ist von Francis Bacon. Und nicht wissen, macht NICHTS! Fiktive Katas­trophen sind nicht mein Ding. DAS HIER IST NICHT FIKTION.

Elke Volkerts Was? Hauke Haien Meinen Tod. In der Erzählung »Der Schimmelreiter« von Theodor Storm, steht die Hauptfigur ­Hauke ­Haien, also ich, plötzlich auf einem schmalen Weg, der grundlos ist, denn die Tage vorher war ­unermesslicher Regen gefallen. Von dem W ­ asser hinter dem Deich kommt immer ­ungeheurer ein dumpfes Tosen, als müsse es alles andere ­verschlingen. Dann setzt der Sturm plötzlich aus. Totenstille tritt an seine Stelle. Nur eine Sekunde lang, dann kommt er mit neuer Wucht zurück. Ich laufe den Deich hinauf und stoppe. Wo ist das Meer, frage ich mich, wo ist das Land? Wo das Ufer? Ich sehe nur Berge von Wasser, die dräuend gegen den nächtlichen Himmel steigen, mit weißen Kronen kommen sie daher, heulend. Es ist, als müssten jetzt die Nacht, der Tod und das Nichts hereinbrechen. Es weckt mich ein donnerartiges Rauschen zu meinen Füßen. Dann sinkt der Deich vor mir in die

Das hier ist ganz real. Den ganzen Abend zeigen wir auf DIESEN HAUFEN MÜLL und hangeln uns von Motiv zu Motiv an der Novelle von Theodor Storm entlang; der Rückgriff auf alte Konzepte hält wohl die ein oder andere Inspiration, niemals aber neue Lösungen für neue Probleme bereit. Wir sind doch konditioniert auf Machtworte, warum hört keiner dann, wenn die Natur ein Machtwort spricht? Elke Volkerts Wenn mensch das Wasser bis zum Hals steht, dann muss mensch eine Grenze ziehen. Dann muss mensch sagen, bis hierhin und nicht weiter, damit das Wasser da nicht drüber läuft. Bringt nicht das Fass zum Überlaufen! 16


Hauke Haien Dieser Kollaps drückt keine naturgesetzliche ­Notwendigkeit aus, sondern verweist auf unzureichende Maßnahmen von uns Menschen.

wie wir ohne Ausbeutung und Beherrschung zueinander treten können. Unser Gemeinwesen ist zerstört. Aber ich will nicht aufhören zu glauben, dass wir lernen können, uns aus einer Gemeinschaft heraus zu begreifen. Was einem geschieht, geschieht allen. NOW!

Elke Volkerts Ja, genau. Und NOW müsste doch hier nun endlich eine Lösung kommen, oder wenigstens eine Vision, Hauke Haien. Hauke Haien NOW müssen wir anfangen z. B. Windkrafträder so zu bauen, dass die nicht in 30 Jahren ihren Geist aufgeben, dass die nicht in 30 Jahren Auslaufmodelle und damit auch NUR WIEDER MÜLL SIND, der ausgelagert werden muss, der nicht in den natürlichen Kreislauf zurückgeführt werden kann. NOW müssen wir anfangen. Wenn sich Plastik erst nach 400 Jahren abbauen kann, ist das nicht innovativ. Anders gesagt, jedes Stück Plastik, was hergestellt wurde, existiert noch heute. Das ist nicht innovativ. Innovativ bedeutet, dass es einen gesellschaftlichen und sozialen Nutzen hat und die Umwelt nicht zerstört. Wenn Plastik 400 Jahre nicht abbaubar ist und in immer kleinere Teile zerfällt, die die Umwelt, also auch den Menschen, gefährdet, dann ist das etwas, was heute nicht mehr akzeptiert werden darf. Wenn Hauke Haien einen Deich bauen will, der länger als 40 Jahre hält, nämlich hundert Jahre, dann ist der Sinn dieser Unternehmung, die Gesellschaft zu stärken, es gefährdet den Menschen nicht, sondern im Gegenteil, es schützt ihn. Die ­Ambition, einen langlebigen Deich zu schaffen, ist nicht zu vergleichen mit der Langlebigkeit des Produkts Plastik. Innovativ im Sinne Hauke Haiens wäre, nicht mehr die Langlebigkeit eines Produktes zu definieren, sondern seine Nutzungszeit, auf nichts anderes ­wollte er mit seinem Deich hinaus. Inno­vativ im S ­ inne Hauke Haiens wäre, wenn Plastik nur noch ein Monoplastik wäre, also aus einem Material bestünde und nicht aus vielen verschiedenen ­chemischen Zusammensetzungen, damit es ganzheitlich recycelt werden kann. Innovativ im Sinne von Hauke Haien wäre, ein Plastik zu entwickeln, das nicht weniger schädlich, sondern gar nicht schädlich ist. Innovativ im Sinne Hauke Haiens wäre, dass Materialien von Anfang an so beschaffen sind, dass sie am Ende ihrer Nutzungszeit in den biologischen oder technischen Kreislauf zurück laufen können. Ich plädiere aber nicht nur für einen technischen oder wissenschaftlichen Fortschritt, sondern vor allem auch einen menschlichen. Diejenigen, die immer eine Wahl haben, müssen über alle Gemeinschaften hinweg – geschlechtliche ethnische, religiöse, usw. – zusammenkommen, um darüber aufzuklären,

17


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.