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Das Ende des billigen Lebens
by de’ignis
Von PD Dr. med. Herbert Scheiblich
Der Artikel beschäftigt sich mit dem bedeutsamen Thema der Nachhaltigkeit und ist in zwei große Abschnitte gegliedert. Zunächst wird Nachhaltigkeit im gesellschaftlichen Kontext untersucht, darauf folgt eine Betrachtung der persönlichen individuellen Ebene.
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Allgemeine Vorbemerkung
Die überall beobachtbare Verwendung des Wortes Nachhaltigkeit suggeriert, dass durch sie eine Bewältigung der Klimakatastrophe und anderer gesellschaftliche Krisen möglich wäre.
Die Definition von Nachhaltigkeit ist banal, denn bei jeder Entscheidung kommt es zu bleibenden Effekten bzw. Konsequenzen. Diese sind sowohl negativer wie auch positiver Natur. Die heute vorherrschende Begrenzung des Konzept der Nachhaltigkeit auf positive Effekte gaukelt eine falsche Sicherheit vor. Daher ist es sinnvoller, auf bekannte Einordnungshilfen wie die KostenNutzen-Analyse oder das simple Abwägen von Vor- und Nachteilen zurückzugreifen. Mit diesen Schemata kann man einfacher und ehrlicher arbeiten. Voraussetzung ist die Überschaubarkeit aller möglicher zu erwartender positiver oder negativer Effekte. Dies ist jedoch bei komplexen Systemen wie dem Klima oder der menschlichen Gesellschaft trotz größter Sorgfalt nicht realistisch.
Nachhaltigkeit im gesellschaftlichen Kontext
Die heutige Gesellschaft steht vor der Frage, ob sie so weitermachen könne wie bisher oder ob sie am Ende sei. In beidem steckt Wahrheit: Um überhaupt weitermachen zu können, muss sich etwas ändern.
Die aktuelle historische Lage macht allen klar, dass wir nicht mehr genau so weitermachen können wie bisher:
• Die Klimakrise wird verdeutlicht durch Artensterben, die Vermüllung der Weltmeere, den Rückgang der Fischbestände, die zunehmende Knappheit bestimmter Rohstoffe, die weltweite Bodenerosion, die Zunahme klimatischer Extremzustände und viele andere mehr. Wir verwüsten die Erde und bedrohen unser Wohlergehen, vor allem das unserer Kinder und Enkel.
• Die derzeitige wirtschaftliche Organisation unserer Gesellschaft mit ihrer Mentalität der Ausbeutung von Mensch und Erde und der gleichzeitigen Nutzung der Erde als Müllkippe schafft Probleme, die so gewaltig sind, dass nur noch ein Hin- und Herschieben von Ressourcen möglich ist. Unsere heutige Lebensweise, die ständig mit einem Mehr an Produktion und Konsum pro Zeiteinheit sowie Geldzuwachs einhergeht, bringt Menschen in Zwänge, die eine individuelle Lebensgestaltung unmöglich machen. Endlose To-do-Listen, Fristen einhalten, Entscheidungen fällen – all das unter dem Motto, Spaß im Leben zu haben.
• Die aktuelle historische Entwicklung mit dem Rückfall in barbarische Kommunikationsmechanismen wie Krieg offenbart unsere Selbstüberschätzung. Wir dachten, dass wir bestimmte aggressive und böse Anteile unserer Natur überwunden und bessere Konfliktlösungen wie Wandel durch Handel entwickelt hätten. Aktuell leben wir in einer Umbruchsituation, im Kampf zwischen demokratischen Gesellschaften mit ihren Wohlfühlthemen und autokratischen Systemen, die eine ganz andere Auffassung von Menschenrechten haben. Der Kampf ökonomischer Interessen und Konkurrenz der Werte geht in eine offene Eskalation mit Gewaltandrohung über.
Auf der anderen Seite steht der Glaube, mit all diesen Problemen durch eine Kombination von politischen, administrativen und maßnahmentechnischen Innovationen besser umgehen zu können. Dahinter steckt die
Fantasie, dass eine Umstellung unseres individuellen Lebensstils und eine Abkehr von einer Wirtschafts- und Gesellschaftsform, die auf ständiges Wachstum programmiert ist, nicht erforderlich sei. Man meint, die Umstellung auf umweltverträgliche Technologien werde unseren wirtschaftlichen Wohlstand nicht nur sichern, sondern auch weiter steigern. Grün, bio und Nachhaltigkeit sind die ideologischen Schlagworte dieser Grundhaltung.
Um wirklich nachhaltig zu sein, brauchen wir jedoch eine andere Kultur des Konsums, der Abfallwirtschaft und der Organisation unserer Wirtschaft:
• Eine Reduktion der Konkurrenz, die alle Lebensbereiche der Menschen zunehmend deformiert.
• Eine Umkehr der Beschleunigung. Wir müssen Abstand dazu gewinnen, möglichst viel aus diesem Leben herausholen zu wollen, weil keine Hoffnung auf ewiges Leben besteht. Möglichst viele Glückserwartungen in das Leben hineinzupressen, indem wir uns in ein Hamsterrad begeben. Das Ideal unserer Gesellschaft nach Authentizität und Selbstbestimmung wird durch diese beiden Mechanismen zur Qual und Last.
Es ist daher erforderlich, dass wir unsere Denkfehler aufgeben:
• hoher Lebensstandard versus Umweltverträglichkeit
• Geld falsch ver(sch)wenden versus soziale Gleichheit
• Energieverschwendung versus ökologische Energiegewinnung
Sie greifen zu kurz und sind nicht umfassend. Diese Zwickmühle ist Folge der gefallenen Schöpfung, in der jedes menschliche Verhalten automatisch positive und negative Effekte hat. Sie beruht auf der Entfremdung des Menschen von Gott, von sich selbst, der Realität und dem Anderen.
Es gibt verschiedene christliche Denkansätze, um mit diesem Dilemma umzugehen:
• Die Strategie, darauf zu hoffen, dass der Herr bald komme und daher die oben beschriebenen Schwierigkeiten nur ein Zeichen und damit verbunden eine Vorbereitung auf die Wiederkunft Christi seien. Luther antwortet auf die Frage, was er tun würde, wenn er wüsste, dass morgen Jesus wiederkäme: einen Baum pflanzen, ein Buch schreiben und einen Sohn zeugen (eigene Wiedergabe des Autors).
• Die Strategie, die Schöpfung zu erhalten und zu pflegen. Dabei kommt es auf jeden einzelnen an und darauf, wie er mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten umgeht:
• Das Leben einfacher gestalten,
• zufrieden zu sein mit weniger und
• Konsumgüter anschaffen, die zwar teurer aber nachhaltiger sind.
Solche Vorgehensweisen setzen ein allgemeingültiges gleiches Verhalten voraus und benötigen Zeit, aber vor allem die Bereitschaft, den Lebensstandard zu senken. Es gab in früheren Zeiten bereits Versuche, durch die Nivellierung des Einzelnen in einer sozialistischen Gesellschaft ein irdisches Paradies zu schaffen. Diese schöne Hoffnung einer gerechten ökologischen und damit nachhaltigen Gesellschaft im Sozialismus ist an der Eigenheit der gefallenen Schöpfung und der Entfremdung des Menschen zu sich selbst gescheitert. Die Entfremdung zu Gott, zu den anderen und zur Realität ist durch äußere Maßnahmen nicht zu überwinden, sondern nur durch Aufhebung der Selbstentfremdung.
Die „Erhalte-die-Schöpfung-Strategie“ ist illusorisch und gescheitert. Der Erde ist es gleichgültig, ob Menschen auf ihr leben oder nicht. Sie kommt ohne uns besser aus. Es ist daher nicht das Ziel, das Klima zu retten oder die Gesellschaft zu ändern, sondern es ist an der Zeit, dass wir uns als Einzelne ändern.
Gutes Leben und psychische Gesundheit
Die Pandemie der letzten drei Jahre hat neben den seit mehreren Jahrzehnten mehr oder weniger bekannten Krisen und Problemen die Gesellschaft und den Einzelnen zusätzlich belastet.
Zu Beginn der Pandemie gab es eine große Unsicherheit, da keine ausreichenden wissenschaftlichen Daten vorlagen. Dies führte zu Angst aber auch zu der offenen Frage: Was ist die richtige Reaktion auf diese Herausforderung? Die Folge war das nahezu komplette Herunterfahren des öffentlichen und privaten Lebens.
Viele Menschen erlebten dadurch soziale Isolation und bekamen das Gefühl, der Staat greife ungebührlich in ihre Grundrechte ein. Es wurden weniger soziale Kontakte verordnet: kein Besuch der Gastronomie und kultureller Einrichtungen. Auch das Lieblingsverhalten der Menschen, der Konsum, war betroffen. Es war nur noch erlaubt, in bestimmten Geschäften unmittelbar notwendige Produkte zu kaufen.
Auch die Arbeitswelt wurde neu organisiert, mit Home-Office oder totalem Berufsverbot. Einerseits wurde das von vielen als Wohltat wahrgenommen, andere sahen jedoch darin eine Belastung, besonders allein lebende Menschen oder Menschen in einer belastenden Partnerschaft. Es entwickelte sich ein chronisch toxischer Stress. Besonders Kinder litten darunter. Sie waren dem Homeschooling ausgesetzt, worauf weder Eltern, Lehrer noch Schüler entsprechend vorbereitet waren und wobei sie nur mangelnde Unterstützung erhielten. Die psychosozialen Defizite dieser Isolation sind in Abhängigkeit vom sozioökonomischen Status der Eltern sehr gravierend. Es kam zu einem Verlust von kulturellen Kompetenzen wie Lesen und damit zur Reduktion des IQ. Chancen zu einer nachhaltigen Weiterentwicklung des Schulsystems wurden vom Staat leider nicht aufgegriffen. Die Anzahl von Ängsten, Depressionen und sozialen
Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen stiegen gewaltig an und vertieften ihren chronischen Stress.
Die Pandemie führte bei vielen Menschen zu einem massiven finanziellen Verlust und obwohl es kompensatorische Zahlungen des Staates gab, konnten diese nicht in allen Bereichen die Verluste auffangen. Es kam einerseits zum Verlust von Arbeitsplätzen, andererseits zur Überbelastung in bestimmten Berufen.
Die Angst vor der Infektion und ihren Folgen mündete auch in Weltuntergangsfantasien, um das schwer Verstehbare einer Pandemie erklärbar zu machen.
Für die Betroffenen hatten die genannten Faktoren eine schädliche Wirkung auf die psychische und körperliche Gesundheit. Das Gehirn bewertete diese Stressfaktoren als Gefahr und aktivierte das körpereigene Stresssystem, so dass entsprechende Verhaltensreaktionen eingeleitet wurden. Körpereigene Stresssymptome sind im autonomen Nervensystem gesteuert, welches Adrenalin, Noradrenalin und andere Transmitter ausschüttet und in der Stressachse, welche Cortisol ausschüttet, reguliert. Der Mensch ist optimal auf diese Kampf-, Flucht-, oder Totstellreaktion vorbereitet. Es werden auch die Sinnesorgane, die internen Organe und die Muskulatur auf diesen Zustand hin aktiviert. Wird diese Stressreaktion nicht überwunden, stellt sich nicht wieder das alte Gleichgewicht her, in dem der Körper sich erholen kann, sondern es entwickelt sich eine überschießende und lang andauernde Stressreaktion.
Das gleiche Stressverhalten erlebt der Körper in bestimmten extremen Wetterzuständen. Der Körper ist allgemein auf die Messung von Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und elektrischen Ladungen der Umgebung eingestellt, um auf das Wetter optimal zu reagieren. Viele Menschen leiden unter Allergien oder Unverträglichkeiten, die dann chronische Erkrankungen aktivieren oder die Symptomatik verschlimmern. Zu kaltes Wetter führt zu Muskelverspannungen und infolgedessen zur Zunahme von Beschwerden der Lendenwirbelsäule. Zu hohe Temperaturen belasten das Herz-Kreislauf-System. Über den Flüssigkeitsverlust bei gleichzeitig mangelnder Flüssigkeitszufuhr kommt es dann zu einer Dehydration mit Kollaps, der zum Tod führen kann.
Das bisher vorherrschende Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft von Sicherheit und Zuverlässigkeit ist zusammengebrochen.
Das Zusammenspiel zwischen klimatischen Faktoren und den aktuellen historischen Umbruchsituationen führen bei Menschen zu tiefgreifenden veränderten kognitiven und emotionalen Erfahrungen sowie dem Verlust der Beherrschbarkeit und Kontrolle hinsichtlich der weiteren Entwicklung ihres Lebens. Neben Depressionen und Ängsten, Wut und Trauer entwickelt sich ein Gefühl der Ohnmacht. Dieses wiederum aktiviert das Stresssystem des Gehirns und des autonomen Nervensystems: Flucht-, Kampf- oder Totstellreflex.
Das bisher vorherrschende Gemeinschaftsgefühl in der Gesellschaft von Sicherheit und Zuverlässigkeit der sozialen Abläufe, Berechenbarkeit der Zukunft mit der Erwartung, dass es immer besser wird, ist zusammengebrochen. Die Folgen davon sind ein Nachlassen der Solidarität und die Entwicklung von aggressiven Verhaltensweisen in der Gesellschaft.
Der Einzelne kann sich nicht mehr am Kollektiv orientieren und wird mit seinen Problemen, Bewältigungsmechanismen und Coping-Strategien zunehmend überfordert. Dieser Vorgang mündet in einem Anstieg der psychosozialen Auffälligkeiten. Dies stellt eine negative Nachhaltigkeit dar. Wie ist damit umzugehen?
Die aktuelle Frage ist daher: Wie gehe ich als Einzelner nachhaltig mit dieser Situation um?
Es bedarf einer Änderung und existenziellen Einstellung. Die Konzentration auf das individuelle Glück muss sich im Verhältnis des Menschen zu sich selbst verändern: keine Selbstoptimierung mehr, sondern Selbstregulation und Aktivierung der Selbstdistanzierung. Diese Fixierung auf augenblickliche Glücksmomente kann man am Beispiel der Sexualität gut verdeutlichen. Der Sexualpartner wird nicht nur als Mittel zur eigenen Befriedigung benutzt, sondern in seiner Einzigartigkeit wahrgenommen. Die Bedürfnisbefriedigung wird nicht direkt gesucht, sondern durch die Konzentration auf den anderen als befriedigend erlebt, und damit zu einer beglückenden Selbsterfahrung. Die
Preisgabe der Fixierung auf die erotische Glückserfahrung ist nicht eine Frage der Achtsamkeit, sondern der Aufmerksamkeit und dem Erlernen von Selbstbegrenzung und Selbstregulation.
Ein weiterer Weg ist das Beachten von Werten. Dieses Streben nach Verwirklichung von Werten wie Menschlichkeit, Sinnerfüllung und anderen steht im Widerspruch zur derzeitigen Lebens- und Wirtschaftsweise. Sie zwingt uns, unsere innere Haltung zu verändern und in eine andere Ebene der Kommunikation zu treten. Huber beschrieb drei Arten der menschlichen Kommunikation:
• Instrumentalkommunikation: man will etwas vom anderen.
• Manipulative Kommunikation: Diese Form der Kommunikation ist die häufigste Umgangsart untereinander und bedeutet, alles einzusetzen, um von den anderen etwas zu bekommen oder etwas durch sie zu erreichen. Daher passt die bisherige Lebensweise zu dieser Art der Kommunikation.
• Menschliche Kommunikation: Diese Kommunikationsform bedeutet den Einsatz für eine Sache oder Situation, ohne einen unmittelbaren Profit zu erhalten, unabhängig von eigenen Interessen und unabhängig von vorhandener Sympathie für das Gegenüber. Diese Art der Kommunikation setzt die Fähigkeit voraus, Distanz zu sich selbst zu nehmen. Dadurch entsteht eine Art von Selbsttranszendenz, die Jesus mit der Aufforderung zur Feindesliebe beschreibt. Dadurch wird die seit dem Sündenfall entstandene Entfremdung des Menschen zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen aufgehoben. Dies gelingt jedoch nur, wenn der Mensch aus einer anderen Quelle als aus sich selbst lebt. Dies ist aus christlicher Sicht Jesus und die Beziehung zu ihm.
Im Grunde versuchen wir immer, unser Leben zu erhalten und wir merken, dass wir es zunehmend verlieren. Dies ist eine negative Nachhaltigkeit des menschlichen Lebens, wie wir sie in allen Bereichen erleben. Wer aber sein Leben verliert um Jesu Willen, wird es erhalten. Dies ist eine positive Nachhaltigkeit der christlichen Existenzund Transzendenzerfahrung.
Das bedeutet: Wirkliche Nachhaltigkeit ist nur in der Aufhebung der Entfremdung zu Gott möglich. Sie ist in der Selbsttranszendenz zum anderen (Selbstdistanzierung), zu sich selber (Selbstregulation) sowie zur Realität (Selbstgenügsamkeit, Selbstzufriedenheit) zu erzielen.
Fazit
Wir benötigen Nachhaltigkeit, aber diese beginnt bei uns selbst. Wenn viele einzelne Nachhaltigkeitseffekte bei Individuen auftreten, ist das Ergebnis mehr als die Summe ihrer Teile und führt zur Nachhaltigkeit der Menschen im Umgang mit sich selbst und im Umgang mit der Schöpfung.
Diese Strategie Jesus ist aus meiner Sicht die richtige Vorgehensweise zur Bewältigung unserer Situation. Daraus resultierend entwickeln sich nicht die negativen Grundgefühle von Trauer, Angst, Wut, Scham und Ekel, sondern die positiven Grundgefühle von Freude und Faszination.
Man kann nur hoffen, dass wir diese Transformation und Konversion zustande bringen, ansonsten gehen wir auf noch schwierigere Zeiten zu.
Autor
PD Dr. med. Herbert Scheiblich ist Arzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychotherapie. Er ist in eigener Praxis tätig, zudem ist er Mitglied der de’ignis-Institutsleitung.