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Bewegung und Sport im Wandel der Zeit

Von Tobias Ziegler

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Begriffe wie Spikeball, Stand-Up-Paddling, Racketlon, HIIT-Training, Aerial Yoga und Hyrox prägten nicht zuletzt die vergangenen Sommermonate. Teilweise sind die vor allem als Trendsportarten für FitnessAllrounder bekannten Bewegungsformen in der Gesellschaft schon seit einigen Jahren weit verbreitet und anerkannt. Auch Inlineskaten oder Snowboarden galten vor vielen Jahren als aufkommender Trend. Heute sind diese zwei Sportarten fest in der Sportlandschaft etabliert und werden sogar als Weltmeisterschaft und olympische Disziplin ausgetragen. Dem Begriff „Trend“ haftet immer auch eine Vergänglichkeit an. Dabei zeigt ein Blick in die Geschichte des Sports viele Beispiele von Bewegungs- und Wettkampfformen, die in verschiedenen Epochen ausgeübt, im Laufe der Zeit aber wieder verworfen wurden. So sieht man das ehemalig olympische Tauziehen oder die in Deutschland sehr erfolgreich ausgeübte Sportart Faustball nur noch vergleichsweise selten.

Auch die Motivation, verschiedene Sportarten auszuüben, wandelte sich stark über die Epochen. In der Antike und im Mittelalter bis hin zum Beginn des 19. Jahrhunderts lag der Fokus – nicht ausschließlich, aber stark – auf einer Vorbereitung für kriegerische Auseinandersetzungen, bei denen es wichtig war, körperlich leistungsfähig und wehrtüchtig zu sein. Dies spiegelt sich in sehr verbreiteten Sportarten wie Faustkampf, Ringkampf, Reiten, Fechten, Bogenschießen und Lanzenwurf. Viele von ihnen zählen zu den ersten und immer noch aktuellen olympischen Disziplinen. Nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich im europäischen Raum eine rasante und bis heute andauernde Entwicklung des Rehabilitationssports in der Sekundärprävention beobachten, die sich weiter zu etablierten und gut studierten primärpräventiven Angeboten entwickelt hat – bis hin zum aktuellen Verständnis des Gesundheitssports im Sinne der Salutogenese. In der heutigen Gesellschaft wird Sport kaum dazu ausgeübt, um im Ernstfall das Land verteidigen zu können. Vielmehr sind Motive wie Wohlbefinden, körperliche Gesundheit, Belastbarkeit (Kraft/Ausdauer), Ausgleich und Spaß die primären

Gründe körperlich aktiv zu sein. Selten gab es in der Geschichte ein solch breites und vielfältiges Angebot an Bewegungsformen – das zuweilen Sportanfänger:innen leicht überfordern kann – mit einer zeitgleichen Entwicklung zu immer mehr Bewegungsmangel in Alltag und Beruf. Aktuell untersuchen viele Studien den Einfluss der Corona-Pandemie auf Sport und Bewegung. Eine der Haupterkenntnisse ist die Veränderung der Art des ausgeübten Sports sowie der Motive für Sport und Bewegung der Studienteilnehmenden in den vergangenen zwei Jahren: Mannschaftssport und Schwimmen haben an Häufigkeit abgenommen, Individualsport und Bewegung sind nicht mehr an einen Sportverein oder Betrieb gebunden, dagegen haben Bewegungsprogramme unter Zuhilfenahme digitaler Medien deutlich zugenommen (Pietsch et al., 2022). Die Gründe dafür liegen vor allem in Schließungen von Sportvereinen und Sportstätten sowie am Verbot, während der Lockdown-Zeiten mit anderen

Sportler:innen zu trainieren. Ein Großteil der zuvor sportlich aktiven Studienteilnehmenden berichtete darüber hinaus von einer Abnahme der körperlichen Aktivität in den letzten zwei Jahren. Im Gegensatz dazu zeigt Sallis et al. (2021), dass besonders körperliche Aktivität eine wichtige Rolle bei der Bewältigung der Pandemie spielen kann. Es wurde gezeigt, dass Patient:innen mit COVID-19, die im Allgemeinen inaktiv waren, ein höheres Risiko für Krankenhausaufenthalte, Einweisungen auf die Intensivstation und Tod aufwiesen. Zudem zeigte sich, dass Teilnehmende, die während der Pandemie ihre Bewegung reduzierten, von einer schlechteren Stimmung berichteten. Die Nachwirkungen der Pandemie und die gesellschaftliche „Sesshaftigkeit“ sind die gegenwärtig großen Herausforderungen eines nachhaltigen und körperlich aktiven Lebensstils. Dabei benötigt der Körper, das ganze System Körper und Geist, die Bewegung als Grundvoraussetzung für die Gesundheit mehr denn je. Vor vielen Jahren haben sich Menschen täglich viele Stunden und viele Kilometer bewegen müssen, um genügend Nahrung sowie Wasser, Brennmaterial und Lebensräume zu finden. Mit der „Sesshaftigkeit“ haben wir uns heute zur sitzenden Spezies entwickelt. Der Körper ist jedoch, biologisch betrachtet, noch immer auf Bewegung eingestellt. Und wie ein Motor nicht ohne Motor-Öl laufen kann, brauchen auch wir Menschen die Bewegung – um z. B. die Gelenk-Flüssigkeit zu erzeugen, um den Blutkreislauf in Schwung zu halten, den Sauerstoffgehalt im Blut zu erhöhen und vieles mehr. Damit dies gewährleistet ist, empfehlen die WHO und alle großen sportwissenschaftlichen Gesellschaften weltweit

• Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sollten sich pro Woche mindestens 150 Minuten moderat oder 75 Minuten intensiv bewegen, wobei beide Aktivitätsformen auch gemischt werden können.

• Moderate körperliche Aktivität umfasst Sport mit 50 bis 70 Prozent der maximalen Herzfrequenz, bei dem man sich noch unterhalten kann (zügig mit dem Hund spazieren gehen, mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren).

• Intensive körperliche Aktivität liegt im Bereich von 70 bis 85 Prozent der maximalen Herzfrequenz (z. B. Joggen, schnelles Radfahren). Eine Unterhaltung ist im Regelfall nicht mehr möglich.

• Die Länge der Sporteinheiten sollte mindestens zehn Minuten betragen.

• Muskelaufbautraining sollte an mindestens zwei Tagen pro Woche durchgeführt werden.

Laut Ergebnissen des bundesweiten repräsentativen Deutschen Gesundheits-Updates (GEDA-2014/2015-EHIS) erfüllen in der erwachsenen Allgemeinbevölkerung indessen nur 42,6 Prozent der Frauen und 48,0 Prozent der Männer die empfohlene Mindestaktivität von 150 Minuten moderater Aktivität pro Woche. Beim Muskelaufbautraining erreichen sogar nur 27,6 Prozent der erwachsenen Frauen bzw. 31,2 Prozent der Männer das Mindestmaß an körperlicher Aktivität (Finger et al., 2017). Nachhaltig gilt es, das Aktivitätsniveau und die körperliche Aktivität unter Berücksichtigung aller Lebensbereiche ausgewogen aufrechtzuerhalten. Dabei bezeichnet körperliche Aktivität „jede durch die Skelettmuskulatur ausgelöste Bewegung, die den Energieverbrauch über den Ruhezustand anhebt“ (Thiel et al. 2011). Dies schließt nicht nur sportliche Aktivitäten ein, sondern insbesondere auch Alltags- und Freizeitaktivitäten (z. B. Spazierengehen, Gartenarbeit, Haushaltsarbeit) wie auch berufliche Aktivitäten (z. B. Treppensteigen, Gehen, Heben und Transportieren von Gegenständen). Körperliche Aktivität sollte daher bei allen Anteilen des Lebens eine feste Rolle spielen.

Mehr Lebensqualität durch Bewegung – Biologische und psychologische Effekte von körperlicher Aktivität Vor allem in der Rehabilitation wurden in den vergangenen 20 Jahren große Anstrengungen unternommen, um die Effekte von körperlicher Aktivität besser verstehen zu können. Wo z. B. in der Kardiologie vor 30 Jahren noch wochenlange Bettruhe verordnet wurde, lernen Betroffene die oder den Physiotherapeut:in schon oft am ersten Tag nach der Behandlung kennen. Gleiches lässt sich in der Orthopädie beobachten, wo Bewegung schon sehr früh im

Rehabilitationsprozess einen festen Platz erhalten hat. Inzwischen lassen sich wertvolle Empfehlungen für viele medizinische Fachbereiche finden. Die positiven Effekte von körperlicher Aktivität auf Körper und Psyche werden zunehmend ein fester Bestandteil in der Medizin. Unterstützt wird dieser Prozess durch die systematische wissenschaftliche Erfassung möglicher Wirkmechanismen von körperlicher Aktivität. Der jüngste Bericht des Physical Activity Guidelines Advisory Committee (PAGAC, 2018) liefert starke Hinweise darauf, dass körperliche Aktivität das Risiko für die Entwicklung verschiedener kardiovaskulärer, metabolischer und neurologischer Erkrankungen und psychischer Störungen sowie bestimmter Krebsarten senkt. Neben zahlreichen Studien zum rehabilitativen Einfluss von körperlicher Aktivität bei erkrankten Menschen bezeugen frühe Meta-Analysen von Kelley et al. (2009), Gilllison et al. (2009) und Bize et al. (2007), die insgesamt 36 Studien (RCTs) mit gesunden Personen verglichen und auswerteten, einen signifikanten und von Krankheit unabhängigen positiven Einfluss von körperlicher Aktivität auf die Lebensqualität. Dies zeigt sich vor allem in den Dimensionen der physischen und psychischen Gesundheit sowie des allgemeinen Wohlbefindens.

Weltweit sind zahlreiche positive gesundheitliche Auswirkungen von körperlicher Aktivität gut dokumentiert. Eine Auswahl jener Bereiche, in denen diese Effekte dokumentiert werden konnten, zeigt die nachfolgende Übersicht.

Bereiche positiver biologischer Effekte

Orthopädisch: Muskelfunktion, Gelenkgesundheit, Knochendichte, allgemeine Beweglichkeit

Kardiovaskulär: Aerobe Kapazität, Atmung, Herzrate, Blutdruck

Stoffwechsel: Gewicht, Glukose Toleranz, Kortisol, Lipoproteine

Immunsystem: Infektionsrisiko, Mobilisierung weißer Blutkörperchen, Zahl der NK-Zellen

Hirnphysiologie: Zerebraler Blutfluss, hippokampales Volumen, Kapillarisierung

Bereiche positiver psychologischer Effekte

Einfluss auf depressive Symptome und Angst, Selbstkonzept, Stress-Management, Kontrollüberzeugung, mentales Befinden, kognitive Flexibilität, selektive Aufmerksamkeit, Gedächtnis, soziale Kontakte, soziale Kompetenzen, Beziehungsaufbau

Diese Aufzählung stellt nur eine kleine Übersicht der positiven Auswirkungen körperlicher Aktivität dar und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. So beschreibt das aktuelle Fachbuch Prävention und Therapie durch Sport (Band 2: Neurologie, Psychiatrie/Psychosomatik, Schmerzsyndrom) auf 600 Seiten den positiven Einfluss eines aktiven Lebensstils und gezielter therapeutischer Interventionen allein im Bereich psychologischer Effekte. Bewegung ist ein – meist kostenloses – Allzweckmittel gegen zahlreiche Krankheiten, das hinsichtlich seiner Wirksamkeit den Vergleich mit Medikamenten nicht scheuen muss. Gerade in einer „sesshaften“ Welt sollte Bewegung in allen Bereichen des Lebens und vor allem im Alltag eine feste Rolle spielen. Die großen Fortschritte der Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten erzeugten dabei keine neuen Effekte, sondern belegten und erklärten lediglich die positiven Effekte, die körperliche Aktivität seit Beginn der Menschheit besitzt. Um von den positiven Effekten profitieren zu können gilt es jedoch, dauerhaft und regelmäßig körperlich aktiv zu sein. Zum Einstieg spielt es dagegen hinsichtlich der oft überfordernden Bewegungsangebotsvielfalt eine zweitrangige Rolle, ob man nun antikes Ringen oder 80er-Jahre Aerobic ausübt oder Pokémons mit seinem Smartphone jagt. Nachhaltig ist hier die Frage, woran man Freude hat. Der Mensch ist zur Bewegung geschaffen und nicht primär das „wie“ ist die entscheidende Frage, sondern dass man etwas tut! Um langfristig motiviert zu bleiben und regelmäßig aktiv zu sein, haben das soziale Umfeld, die örtlichen Gegebenheiten und die infrastrukturellen Voraussetzungen eine hohe Relevanz. Dabei sind Bewegungsangebote auf dem Weg zur Arbeit oder wohnortsnahe Angebote empfehlenswert, um Barrieren zu minimieren. Viele Studien mit Senioren zeigen abschließend, dass es dabei kein „zu spät“ gibt, sondern dass der Mensch in jeder Lebensphase von körperlicher Aktivität profitieren kann.

Literatur

• Bize, R., Johnson, J. A., & Plotnikoff, R. C. (2007): Physical activity level and health-related quality of life in the general adult population: a systematic review. Preventive medicine. 45(6), S. 401–415.

• Beratender Ausschuss für Richtlinien für körperliche Aktivität (PAGAC) (2018): Wissenschaftlicher Bericht des Beratungsausschusses der Leitlinien für körperliche Aktivität 2018. Washington, DC: US-Gesundheitsministerium.

• Brand, R., Schlicht, W., Grossmann, K., & Duhnsen, R. (2006): Effects of a physical exercise intervention on employees’ perceptions of quality of life: a randomized controlled trial. Sozial-Und Präventivmedizin, 51(1). S. 14–23.

• Finger, J. D., Mensink, G. B. M., Lange, C., & Manz, K. (2017): Gesundheitsfördernde körperliche Aktivität in der Freizeit bei Erwachsenen in Deutschland. Zeitschrift für Gesundheitsüberwachung, 2 (1). S. 83–90.

• Gillison, F. B., Skevington, S. M., Sato, A., Standage, M., & Evangelidou, S. (2009): The effects of exercise interventions on quality of life in clinical and healthy populations; a meta-analysis. Social science & medicine, 68(9). S. 1700–1710.

• Kelley, G. A., Kelley, K. S., Hootman, J. M., & Jones, D. L. (2009): Exercise and health-related quality of life in older community-dwelling adults: a metaanalysis of randomized controlled trials. Journal of Applied Gerontology, 28(3). S. 369–394.

• Pietsch, S., Linder, S. & Jansen, P. (2022): Wellbeing and its relationship with sports and physical activity of students during the coronavirus pandemic. Ger J Exerc Sport Res 52. S. 50–57.

• Sallis, R., Rohm, Y. D., Tartof, S. Y., Sallis, J. F., Sall, J., Li, Q., Smith, G. N., & Cohen, D. A. (2021): Physical inactivity is associated with a higher risk for severe COVID-19 outcomes: a study in 48 440 adult patients. British Journal of Sports Medicine.

• Thiel, C., Vogt, L., Banzer, W. (2011): Bewegung – vielseitige Medizin, die wirkt: Dosierte körperliche Aktivität bei chronischen Erkrankungen steigert die Gesundheit und Lebensqualität. Forschung Frankfurt 29(2):12–19.

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