13 minute read

Person und Personalität im Neuen Testament

Next Article
Gesunde Ernährung

Gesunde Ernährung

Aspekte zu einer biblischen Persönlichkeitstheorie Teil I Zur Diskussion von Winfried Hahn

Zur Diskussion: Hier werden Beiträge veröffentlicht, die nicht in allen Punkten der Meinung des Redaktionsteams entsprechen müssen.

Advertisement

Vorbemerkungen

• Wenn das Neue Testament von einem Transformationsprozess1 in Form einer neuen Schöpfung spricht und eine neue Identität in Christus nahelegt, ergibt sich daraus im Rahmen der Theoriebildung der Christlich-integrativen Psychotherapie die Notwendigkeit, Aspekte für eine Persönlichkeitstheorie zu entwickeln, die diesen Transformationsprozess im Zusammenhang mit anerkannten Persönlichkeitstheorien beschreiben und nachvollziehbar machen. Dass hierbei im Bereich der psychotherapeutischen Schulen und Neurobiologie keine einheitlichen Vorstellungen und Begrifflichkeiten von „Ich“, „Ich-Zuständen“, „IchAnteilen“ und dem „Selbst“ bestehen, soll uns trotz dieser „Ich-Vielfalt“ nicht davon abhalten – ohne den Anspruch einer in sich geschlossenen theologisch begründeten Ich-Psychologie zu erheben –, unsererseits Modelle zu entwickeln, mit denen wir die im Neuen Testament beschriebenen spirituellen Prozesse anhand bestehender Persönlichkeitstheorien reflektieren bzw. beschreiben können. Dieser Reflektionsprozess soll bezüglich der Anwendung psychotherapeutischer Methoden aus theologischer Sicht Chancen und Grenzen aufzeigen.

Der Begriff „Person“ hatte in verschiedenen Epochen unterschiedliche Bedeutung und war und ist mit unterschiedlichen Vorstellungen verbunden. Vor allem diese Fragestellung ist besonders interessant: Was ist eine Person, was macht sie aus, was bestimmt ihren Willen, ihr Denken? Gibt es überhaupt etwas für eine Persönlichkeit Charakteristisches, so etwas wie einen Persönlichkeitskern oder besteht die Persönlichkeit bzw. Identität aus willkürlich zusammengewürfelten und irgendwie miteinander verbundenen

Facetten aus Fragmenten von Prägungen, Erziehung, Erlebnissen, Erinnerungen, eine Mischung aus Sozialisation und dem Einfluss von Genen?

Was macht uns aus, was bestimmt uns, wer sind wir, wer bist du, wer bin ich? Gibt es mich als Person mit Sinn und Ziel oder nur als eine Ansammlung von Reiz-ReaktionsMustern? Also, wer oder was bin ich oder sind wir? Fragen, die sich die Menschen seit Jahrtausenden gestellt haben und immer noch stellen, Fragen, die für die Entwicklung einer christlichen Anthropologie von entscheidender Bedeutung sind. Wie sieht die Bibel im Alten Testament den Menschen, wie im Neuen und welche Vorstellung von Persönlichkeit vermittelt sie?

Zur Geschichte des Personenbegriffs

Der Begriff „Person“ bedeutet, ausgehend von der griechischen Wortbedeutung, „Rolle“ oder „Maske“ 2 . Im griechischen Theater trugen die Schauspieler:innen Gesichtsmasken, die die Rolle, die sie spielten, symbolisierte. Anders als bei heutigen Schauspieler:innen versuchten sie nicht, das Individuelle der Figuren, die sie spielten, herauszuarbeiten. Es ging nicht um ein Individuum, das auf der Bühne oder in seinem Leben agiert und individuelle Züge trägt. Der Mensch in der Antike ist nicht Individuum mit individuellen Zügen, nein, er ist Maske, und durch ihn hindurch wirken andere Kräfte, denen er mitunter ausgeliefert ist. Götter führen ihre Intrigen gegeneinander, indem sie die Menschen als Figuren steuern und für ihre Ziele einsetzen. Etwas überspitzt ausgedrückt könnte man also sagen: In der Antike (ähnliches gilt für das Mittelalter und über die Reformation hinaus) stellte sich nicht die Frage: Wer bist Du? Sie lautete eher: Wer oder was reitet dich gerade? Welcher Gott, welche Kraft, welcher Geist wirkt gerade durch dich? Wer oder was steckt hinter deiner Maske? So wurde also eine Person nicht mit festen Grenzen wahrgenommen, vielmehr hatte man die Vorstellung, die Grenzen einer Person seien durchlässig.3 Auch im Alten wie im Neuen Testament entdecken wir, dass Personen keine festen Grenzen haben, sondern durchlässig sind, sowohl für positive wie für negative Kräfte und Einflüsse. So bemächtigt sich ein böser Geist des Königs Saul und bestimmt seine Handlungen4 . Aber auch Gott spricht durch seinen Geist zu den Menschen, z. B. durch die Propheten.

Im Neuen Testament lesen wir vor allem in den Evangelien immer wieder von Dämonen, die in Menschen wirken und von Jesus und seinen Jüngern ausgetrieben werden. Auch bei Johannes dem Täufer scheinen die Grenzen nicht starr, sondern durchlässig zu sein. War er Johannes oder war er Elia? Welche Identität hatte er?

Klaus Berger 5 (und vor ihm schon viele andere) unterscheidet hier zwischen der Identität einer Person, durch die aber gleichzeitig die Substanz einer anderen Person hindurch wirken kann6 . Er war Johannes, nicht Elia, aber ging in dessen Geist und in dessen Kraft einher. Er verkörperte zwei Identitäten, die sich jedoch gegenseitig nicht ausschlossen. Johannes der Täufer war durchaus eine eigenständige Person, aber in ihm wirkte die Substanz des Elia. Ausgehend von unserem modernen autonomen Persönlichkeitsbegriff, bei dem jedes Individuum feste Grenzen hat oder haben soll, sind diese Gedanken schwer nachvollziehbar.

Neutestamentliche ChristusIdentität als wirksames

Therapeutikum

Die Auseinandersetzung mit den neutestamentlichen Aussagen über Vater, Sohn und Heiligen Geist führte zu unserem modernen Persönlichkeitsbegriff. Wenn Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins.“ 7 und „Wer mich sieht, sieht den Vater“8 , wirft das Fragen auf, so dass diese und andere Aussagen schon die frühe Christenheit zwangen, sich intensive Gedanken darüber zu machen, was es eigentlich bedeutet, eine Person zu sein. Das Ergebnis vieler Beratungen war dann die Lehre von der Dreieinigkeit (tres personae, una substantia – drei Personen, ein Wesen). Die Vorstellung von drei wesensgleichen Personen, die aber dennoch eins sind, beflügelte das Nachdenken darüber, was eine Person eigentlich ausmacht und führte letztlich zu unserem modernen Verständnis von Identität und Individualität. Der Mensch ist nicht Maske, getrieben von fremden launischen Gottheiten oder anderen dämonischen Kräften, nein, er ist geliebtes Geschöpf Gottes. Nach dem Neuen Testament ist er nicht nur Geschöpf, sondern geliebtes Kind, Sohn und Erbe, ganz Person mit Identität und Individualität, aber eben auch erfüllt mit dem Heiligen Geist, dazu berufen, durchlässig zu sein für Gott und für Christus. Der Mensch, ganz Person, ganz individuell, dennoch nicht mit starren und festen Grenzen, ist dazu bestimmt, durchlässig zu sein und zwar exklusiv für Gott.

So kann Paulus sagen9 : „[…] nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ 10 Ist damit der Mensch in seiner Identität und Individualität ausgelöscht? Nein, denn er sagt ja im nächsten Vers ausdrücklich: „Was ich jetzt im Fleische lebe, lebe ich im Glauben …“ Das Ich wird durch das „Nicht-mehr-Ich“ nicht ausgelöscht. Anders ausgedrückt könnten wir hier vielleicht von unterschiedlichen Ich-Anteilen oder Ich-Instanzen sprechen. Auch hier sehen wir ein Ineinandergreifen anscheinend mehrerer Personen (oder Persönlichkeitsanteile?), ohne dass die persönliche Identität des Menschen ausgelöscht würde.

Das bedeutet, wir sind eigenständige Personen und Individuen, gleichzeitig können und sollen wir jedoch offen sein für das Wirken von Christus in uns. In Johannes wirkte die Substanz des Elia, in Christus wirkte Gott und der Heilige Geist, in uns wirkt Christus nicht im Sinne einer Christussubstanz, sondern einer tiefen innigen persönlichen Beziehung. Es ist eine interessante Tatsache, dass in den Briefen des Paulus keine Rede mehr davon ist, Dämonen auszutreiben. Ausgehend vom antiken und auch vom neutestamentlichen Personenbegriff ist festzuhalten: Im christusgläubigen Menschen wohnt Christus. Er verdrängt nicht die Individualität des Menschen, aber im Menschen entwickelt sich die Christus-Identität. Bei diesem Veränderungsprozess geschieht eine Verwandlung, so dass verletzte, aber auch unvollkommene Seiten des Menschen prozesshaft geheilt und geheiligt werden. Der Mensch, der mit Christus unterwegs ist, geht einen Weg, auf dem seine dunklen Seiten heller, seine verletzten Seiten heiler, seine unvollkommenen Seiten heiliger werden. Auf diesem Weg verliert der Mensch nicht seine Identität, vielmehr ist es ein faszinierendes Geheimnis, seine persönliche

Berufung, Sinn, Ziel und damit Individualität gerade in Christus zu finden. Es ist ein Paradoxon: Je mehr Christus in einem Menschen wirkt und an Gestalt gewinnt, desto mehr wird der Mensch zu sich selbst mit seiner unverwechselbaren Identität. Dies ist das Geheimnis, von dem Paulus spricht: „[…] Christus in euch […]“11. Deshalb geht es seit der Auferstehung Jesu und der Ausgießung des Heiligen Geistes nicht mehr in erster Linie um das Bekämpfen des Bösen, sondern darum, dem Auferstehungsleben des Christus in uns Raum zu geben. Er ist der letzte Adam, der lebendig macht12 und uns von den Folgen der Fehler des ersten Adam befreit. Weil die Finsternis besiegt ist, kämpfen wir nicht in erster Linie gegen die Dunkelheit, sondern wir geben dem Licht der Erlösung in uns Raum. So verliert das Dunkle, das Böse, das Fremde in uns seinen Schrecken und die Entfremdung, die seit dem Sündenfall die Menschen entstellt, weicht der Wiederherstellung unserer Gottebenbildlichkeit in Christus. Nicht Maske oder leere Hülle, sondern individuelle Person nach Gottes Plan in Jesus Christus. Deshalb tritt auch bei Paulus die Macht des Bösen in den Hintergrund, weil sie völlig besiegt ist13 und wird ersetzt durch die siegreiche Innewohnung Christi. Es geht also in erster Linie nicht um Exorzismus, sondern um Autonomiegewinn! Nicht Kampf gegen das Fremde, Böse, Numinose in uns, sondern Verwandlung in eine von Hoffnung und Licht geprägte Christus-Identität, nicht Verdrängung des Negativen, Schmerzhaften und Dunklen in uns, sondern Verarbeitung, Reifung und damit Überwindung von Ohnmachtserfahrungen jeglicher Art, durch eine hoffnungsgebende Christus-Identität. Richtig verstandene Christus-Identität bewirkt Autonomie und Handlungsfähigkeit gegenüber Ohnmacht, Passivität und Angst. Die in der Kirchengeschichte immer wieder auftauchende Betonung der Macht Satans und der Finsternis und der damit verbundenen Angst erscheint gegenüber der neutestamentlichen Christus-Identität und der damit verbundenen Auferstehungskraft im Glaubenden unangebracht und überzogen. Deshalb spricht Johannes vom siegreichen Glauben14 .

Hierzu ein Beispiel

Eine Frau mittleren Alters kam zu einem mir bekannten Pastor und bat um seelsorgerliche Begleitung. Ihr Problem bestand darin, dass sie sich nachts von unsichtbaren Persönlichkeiten, die sie Dämonen nannte, belästigt fühlte. Sie nahm Berührungen an intimen Stellen ihres Körpers wahr, die sie als sehr unangenehm empfand. Sie war schon bei vielen anderen Seelsorgern, die mit Befreiungsdienst versuchten, die vermeintlich dämonischen Einflüsse zu lösen. Alle diese Versuche waren jedoch nicht zielführend und ihre Erwartung an den Pastor, der für sie die Bedeutung eines neuen Hoffnungsträgers hatte, war, dass er mit seiner „Vollmacht“ diese exorzistischen Praktiken fortsetzen würde. Der theologisch geschulte, biblisch fundierte und seelsorgerlich erfahrene Pastor hatte jedoch nicht die Absicht, die erfolglose Serie dieser Praktiken fortzusetzen. Stattdessen hielt er eine Predigtreihe über Freiheit, Autonomie und die Wiederherstellung der Selbstkontrolle, die die völlige Entmachtung aller finsteren Mächte durch Christus nach Kolosser 2,12–15 verkündete. Er konnte beobachten, wie sein neues Gemeindemitglied diese Botschaft förmlich in sich aufnahm. Um jedoch ihrer Erwartung nach dem sogenannten Befreiungsdienst nicht nachkommen zu müssen, bot er ihr über längere Zeit keine seelsorgerlichen Gesprächstermine an. Von anderen Gemeindegliedern, mit denen sie über ihre Enttäuschung sprach, wurde er über ihre Unzufriedenheit diesbezüglich informiert. Also gab er ihr einen Gesprächstermin. Er fragte sie nach ihrer Enttäuschung aber auch nach den von ihr wahrgenommenen unsittlichen Berührungen durch dämonische Wesen. Sie antwortete, diese Symptome seien völlig verschwunden, weil ihr die Predigten von der Freiheit in Christus so ins Herz gefallen seien, dass sie ihre Angst verloren hätte, sich von diesem Zeitpunkt an in Christus geschützt fühlte und durch diese gestärkte Glaubenshaltung die Belästigungen aufhörten. Er erklärte ihr, es sei seine Absicht gewesen, sie nicht in neue Abhängigkeiten zu führen, sondern ihre Autonomie und Selbständigkeit durch eine mündige Glaubenshaltung zu fördern, was in diesem Fall erfolgreich war. Dies ist ein Beispiel für die große Effektivität einer Glaubenshaltung, die für sich in Anspruch nimmt, durch Christus befreit zu sein. Sie eine hochpotente Hilfe gegenüber numinosen, okkulten Ohnmachtserfahrungen. Dies unterstreicht sowohl für die Christlich-integrative Psychotherapie aber auch für Verkündigung und Seelsorge die Notwendigkeit einer glaubensstärkenden, autonomiefördernden und damit nicht defizitorientierten Haltung. Diese Erkenntnis ist in der therapeutischen und seelsorgerlichen Praxis von großer Bedeutung.

Der Mensch, der mit Christus unterwegs ist, geht einen Weg, auf dem seine dunklen Seiten heller, seine verletzten Seiten heiler, seine unvollkommenen Seiten heiliger werden.

Ich und Selbst – ein Erklärungsmodell für die neue Identität in Christus

Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf das Modell von G. H. Mead und seine „Theorie des Selbst“ richten15 . Gerade mit Blick auf die christliche Anthropologie und die Fragestellung, wie das Ich und die ChristusIdentität zusammenwirken, ist seine Theorie vom Ich und vom Selbst äußerst anregend. Hierbei handelt es sich um ein gedankliches Modell. Mithilfe dieses säkularen Persönlichkeitsmodells soll die Transformation vom „Alten Menschen“ zur „Neuen Schöpfung“ in Christus durch Gnade und Glauben und damit in seine Christus-Identität nachvollziehbar gemacht werden. Mead geht davon aus, dass das Ich des Menschen sich vom Selbst unterscheidet. Das Selbst entsteht dadurch, dass das Ich wahrnimmt, wie die Umwelt oder die Mitmenschen reagieren16 . Das Ich konstituiert das Selbst aufgrund der Reaktion der Mitmenschen auf die Person17. Das Selbst ist also davon abhängig, wie die Mitmenschen auf die eigene Person reagieren. Anders ausgedrückt: die Umgebung und die Mitmenschen erzeugen eine Art Selbst; vielleicht könnte man auch sagen, sie erzeugen eine Wahrnehmung über sich selbst. Diese Selbstwahrnehmung ist abhängig von unseren Mitmenschen. Je nachdem, mit wem wir zusammen sind, haben wir eine unterschiedliche Selbstwahrnehmung. Ein Erzieher fühlt sich kompetent gegenüber Kindern. Geht der Erzieher zum Arzt, fühlt er sich weniger kompetent, vielleicht sogar verunsichert. Je nachdem wie unsere Umwelt uns sieht, konstituiert das Ich das Selbst (bzw. unsere Selbstwahrnehmung und damit unser Selbstbild). Übertragen wir dies nun auf die Problematik von persönlicher Identität und Christus-Identität, so entsteht daraus ein interessantes Modell. Gott spricht uns in Christus zu, dass wir seine Kinder sind, aber nicht nur Kinder, sondern auch Erben mit Vollmacht und Autorität. Dies wird uns von außen durch die Bibel und von innen durch den heiligen Geist bzw. dem innewohnenden Christus zugesprochen. Die Botschaft lautet: Du bist nicht ohnmächtig und ausgeliefert, sondern geschützt. Wenn das Ich aus dieser Botschaft durch den Glauben ein entsprechend kompetentes Selbst(-bild) erzeugt, dann handelt es sich dabei um eine gesunde ChristusIdentität. Das Selbst unterliegt also einer ständigen Wandlung und Veränderung, je nachdem aus welchem Blickwinkel das Ich es konstituiert. Man könnte also die Christus-Identität des Neuen Testaments mit „einem von den Aussagen des Wortes Gottes erzeugten Selbst“ beschreiben. Dieses am Wort Gottes orientierte Selbst ersetzt das frühere Selbst, das auch durch negative Erfahrungen seine Prägung erfuhr. Wenn also Paulus in Galater 2,20 vom „Nichtmehr-Ich“ bei gleichzeitiger Beibehaltung eines anderen „Ich“ schreibt, („[…] nicht mehr ich lebe […] was ich jetzt im Fleisch lebe“) könnte das Modell Meads vom Ich und vom Selbst eine Erklärungshilfe sein. Dann könnte man das neue Ich in Christus dem neuen Selbst zuordnen, das durch den Zuspruch Gottes entsteht. Das Ich konstituiert ein neues Selbst durch die Zusagen Gottes. Dieses neue Selbst lebt jetzt im Vertrauen auf Gott („ […] was ich jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Vertrauen auf […] Gott […]).

Psychosoziale Identität und Christus-Identität

Dies führt uns in Anlehnung an das biosozio-psycho-spirituelle Modell, wie wir es bei de’ ignis verwenden, zu einem weiteren Begriff, dem der Psychosozialen Identität. Unser Selbstbild, unsere Gefühlswelt und unser Bewusstsein sind davon geprägt, was wir durch unsere soziale Umwelt, wie z. B. Eltern, Erziehende, Lehrer:innen, Peergroup, Arbeitskolleg:innen und andere vermittelt und signalisiert bekommen haben. Aber auch unsere genetische Veranlagung spielt eine wichtige Rolle. Wir haben also eine psychosoziale Identität, in der auch biologische Komponenten mitwirken. Diese psychosoziale Identität wird durch eine spirituelle Erfahrung verwandelt in die neutestamentliche Christus-Identität. Das bedeutet, das „Nicht-mehr-Ich“ mit seinen Prägungen und Belastungen aus der Vergangenheit (psychosoziale Identität) wird verwandelt in das „Christus-Ich“ (Christus lebt in mir). Die Aufgabe der Christlich-integrativen Psychotherapie besteht darin, diesen Transformationsprozess zur Christus-Identität zu fördern, was mit einem psychischen Gesundungsprozess einhergeht.

Zusammenfassung

Gesunder Glaube und gesunde Spiritualität fördern eine reife und gesunde Persönlichkeitsentwicklung hin zur Mündigkeit und einem Lebensstil, der die Übernahme von Verantwortung für sich selbst und das Gemeinwohl beinhaltet. Diese ChristusIdentität verbunden mit einer Persönlichkeitsentwicklung hin zu Autonomie und moralischer Verantwortung18 , unterstützt durch den Heiligen Geist, schützt den Menschen vor der Fremdbestimmung und negativer transzendenter Beeinflussung. Dies beendet die durch den Sündenfall entstandene Entfremdung und gibt dem Menschen Heimat und Geborgenheit bei Gott. Daraus erwachsen Hoffnung, Handlungskompetenz und Selbstkontrolle sowie Sinn, Ziel und Berufung. Es ist die Wiederherstellung der Gebrochenheit des Menschen durch das Erlösungshandeln Christi. Damit ist die christliche Spiritualität, die in ihrer Charakteristik einmalig ist, hochwirksam bei der Neuorientierung und Verhaltensänderung. Es handelt sich um einen Prozess, der sich im Rahmen einer Entwicklung vollzieht, und effektiv für den seelischen Gesundungsprozess eines jeden Menschen ist. Neueste Forschungsergebnisse bestätigen dies als evidenzbasierten Befund in beeindruckender Weise.

Fußnoten

1 Paulus führt im Römerbrief (Kapitel 6) aus, dass wir mit Christus gekreuzigt, gestorben, begraben und mit ihm in ein neues Leben auferstanden sind, um jetzt durch Gnade und Glauben als neue Schöpfung die Freiheit zu haben, nach dem Willen Gottes leben zu können. Dabei spricht er vom alten Menschen (Römer 6,6) und der neuen Schöpfung in Christus (2. Kor. 5,17).

2 Rehfus, Wulff D. (Hrsg.) (2003): Handwörterbuch Philosophie. Vandenhoeck & Ruprecht. Siehe Artikel zum Stichwort „Person“ von Holm Bräuer.

3 Vgl. hierzu: Berger, Klaus (1991): Historische Psychologie des Neuen Testaments. Stuttgart: Kath. Bibelwerk. S. 45–63: Identität und Person.

4 1. Sam. 16,14 und 23

5 Berger, Klaus a.a.O.

6 Lukas 1,17

7 Johannes 10,30

8 Johannes 14,9

9 Galater 2,20 (Elberfelder Bibel, 2006)

10 Paulus spricht hier nicht nur von einem biographischen Ich, sondern von einem Ich als neuem Ich-Typus. Vgl. Theißen, Gerd (1993): Psychologische Aspekte paulinischer Theologie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 194–204.

11 Kolosser 1,27

12 1. Korinther 15,45

13 Kolosser 2,15

14 1. Johannes 5,4

15 Mead, G. H. (1934): Mind, Self and Society. University of Chicago Press.

16 Vgl. hierzu Pannenberg, Wolfhart (2011): Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 181 ff.

17 Da auch bei Mead die Unterscheidung von „Ich“ und „Selbst“ für viele Kritiker:innen nicht eindeutig bzw. schlüssig erscheint, greifen wir an dieser Stelle seine Theorie als Modellvorstellung auf, ohne uns auf seine Begrifflichkeit im Sinne einer Definition von Ich und Selbst („I“ and „Me“) festzulegen. Dass es ein „Ich“ im Sinne eines Kontinuums oder Persönlichkeitskern gibt, legt die Fähigkeit zur Selbstreflektion des Menschen nahe. Wären wir nur ein Produkt neuronaler Verknüpfungen, welche Instanz in uns hätte dann die Fähigkeit zur Selbstreflektion, Selbstdistanzierung und Selbstkritik? Vgl. hierzu: Storck, Timo (2021): Ich und Selbst. Stuttgart: Kohlhammer. S. 161.

18 Unberücksichtigt bleibt hierbei die Frage nach dem freien Willen aufgrund neurologischer Erkenntnisse. Das Libet-Experiment (Bereitschaftspotential für Motorik setzt 0,35 Sekunden früher ein als ein Bewusstsein über eine getroffene Entscheidung) wird durch Schultze-Kraft dadurch relativiert, dass erst nach 200 Millisekunden vor Ausführung ein „point of no return“ der Handlungsvorbereitung gegeben ist. Siehe hierzu: Storck, Timo (2021): Ich und Selbst. Stuttgart: Kohlhammer. S. 162.

Autor

Winfried Hahn ist Pastor und Pädagoge. Der Vater von zwei erwachsenen Kindern studierte Pädagogik, war Pastor in mehreren freikirchlichen Gemeinden und absolvierte eine Ausbildung zum christlichen Therapeuten. Heute leitet er das de’ignis-Wohnheim – Haus Tabor zur außerklinischen psychiatrischen Betreuung und ist Vorsitzender der de’ignis-Stiftung Polen. Er ist verantwortlich für den Fachbereich Theologie am de’ignis-Institut. Als Pastor im übergemeindlichen Dienst und Buchautor hält er Predigten, Vorträge und Seminare im In- und Ausland.

In der de’ignis-Fachklinik erhalten Menschen bei psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, wie zum Beispiel Depressionen, Ängsten, Zwängen und Burn-out, sowohl stationär als auch ambulant oder tagesklinisch eine individuell auf sie ausgerichtete Behandlung. Zusätzlich bietet sie Nachsorge- und Sonderprogramme mit einzelnen Sozialversicherungsträgern sowie verschiedene Präventionsangebote an. ↗ Ab Seite 55

Das de’ignis-Wohnheim nimmt Menschen mit psychischen Erkrankungen und Lebenskrisen auf, die vorübergehend oder langfristig nicht in der Lage sind, selbstständig zu leben. Es deckt die Bereiche des intensiven und teilstationären Heimbereichs, den Wohntrainingsbereich sowie den ambulanten Bereich ab. Dabei bietet es ein umfangreiches sozialtherapeutisches Programm an.

Das de’ignis -Institut bietet seit über 20 Jahren erfolgreich Fortbildung, Schulung, Supervision und Beratung für Erwachsene sowie Kinder und Jugendliche an, hierbei insbesondere die Fortbildung für Christlich-integrative Beratung und Therapie. Das Institut bildet eine Schnittstelle zwischen Medizin, Psychologie und Theologie. ↗ Ab Seite 57

Die de’ignis -Stiftung in Polen bietet bereits seit einigen Jahren Seelsorgekurse an und unterstützt den Aufbau eines Netzwerks von Seelsorge-Beratungsstellen. Des Weiteren erhalten Menschen mit psychischen Erkrankungen in der de’ignis-Beratungsstelle in Warschau ambulante Psychotherapie.

This article is from: