der Spatz Nr. 4 / 2021

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Mehr als die Summe seiner Bäume Die Funktion des Waldes als Klimasenke und Hort der Artenvielfalt hat in den vergangenen Jahren stark gelitten. Experten raten zu weniger Holzeinschlag und mehr Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Waldsysteme. Waldbrände, Sturmschäden und drei Dürrejahre in Folge – dem deutschen Wald geht es derzeit schlechter als in den 80er Jahren, als das Schlagwort vom „Waldsterben“ umging. Hinzu kommen Schädlinge wie der Borkenkäfer, die bei gestressten Bäumen leichtes Spiel haben. Vier von fünf Bäumen seien geschädigt, heißt es im aktuellen Waldzustandsbericht. Der Kronenzustand der Wälder sei noch nie so schlecht gewesen; die Zahl abgestorbener Bäume so hoch wie seit 20 Jahren nicht mehr. Doch ein Wald, der krank ist, kann seine Funktion als Klimasenke und Hort der Artenvielfalt nur noch eingeschränkt erfüllen. Der deutsche Wald hat im Jahr 2016 rund 58 Millionen Tonnen CO2 absorbiert. Das sind etwa sieben Prozent des jährlichen Klimagas-Gesamtausstoßes. Zudem kühlt der Wald die Landschaft und speichert Wasser – zwei weitere für den Menschen unentbehrliche Dienstleistungen. Doch Wald ist weit mehr als die Summe seiner Bäume. Im Wald finden Specht, Fuchs und Hirsch Nahrung und Unterschlupf, im Schutz alter Baumriesen wachsen Büsche, Pilze und Flechten; der Boden ist belebt von einer Vielzahl an Kleinorganismen. Wald ist ein komplexes Ökosystem, das vom Zusammenspiel der darin agierenden Lebewesen und den daraus entstehenden Wechselwirkungen bestimmt wird. Insbesondere naturnahe Mischwälder sind Hotspots der Artenvielfalt. Die Landesfläche Deutschlands ist zu rund einem Drittel mit Wald bedeckt. Je nach Region dominieren dabei oft Nadelhölzer wie Fichten und Kiefern, aber auch Laubbäume wie Buchen und Eichen kommen häufig vor. Ein Großteil des Waldes dient als Produktionsstätte für den nachwachsenden Rohstoff Holz, dessen Beliebtheit zusehends wächst. Jahr für Jahr werden rund 70 Millionen Kubikmeter Holz geschlagen – für die Bauindustrie, zur Papierherstellung oder als Brennholz. Doch Wirtschaftswälder sind aufgeräumte Nutzflächen, in denen Totholz, unwegsames Dickicht oder vergreiste Baumriesen stören. Nur auf knapp drei Promille der deutschen Waldfläche wachsen Wälder, die der menschlichen Nutzung entzogen sind. Naturwaldreservate nennt man solche Schutzgebiete, in denen sich Wald noch aus eigener Kraft entwickeln darf. Schon im Dürrejahr 2018 hatten die Wälder merklich gelitten – ein Trend, der sich in den zwei darauffolgenden Jahren verstärkte. Sind Bäume bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gestresst, lassen sie zunächst nur die Blätter hängen. Dann wird das Laub braun; Äste verkahlen; die Krone wird zusehends schütter und stirbt schließlich ab. Zuletzt kommen Schädlinge und Krankheiten hinzu und geben dem geschwächten Baum den Rest. Der schlechte Waldzustand ist auch Folge der modernen Forstwirtschaft. Zur Holzernte werden Vollernter eingesetzt, tonnenschwere Maschinen, die, um den Druck auf den Boden zu minimieren, auf extrabreiten Reifen fahren. Auf Forstwegen, sogenannten Rückegassen, rollen sie tief in die Bestände, packen

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mit beweglichen Greifern die markierten Bäume und zersägen sie in Minutenschnelle. Das Netz der drei bis vier Meter breiten Rückegassen, das den Wald in kleine Parzellen zerschneidet, umfasst insgesamt 635.000 Kilometer. Da sie baumfrei sind und sich schnell erwärmen, stressen sie den Wald zusätzlich. Bundesagrarministerin Julia Klöckner schätzt die geschädigte Waldfläche auf 180.000 Hektar: „Der Wald stirbt in einigen Teilen“, sagte sie auf dem Waldgipfel im Herbst 2019. Vor allem Buchen und Fichten seien betroffen. Die Ministerin kündigte an, auf vier Jahre befristet insgesamt 800 Millionen Euro als Nothilfe bereitzustellen. Die geschädigte Waldfläche soll wieder aufgeforstet, das Schadholz, insbesondere das mit Borkenkäferbefall, möglichst schnell aus dem Wald geräumt werden. Großflächiges Ausräumen verschlimmere die prekäre Lage des Waldes nur noch mehr, warnt dagegen Pierre Ibisch von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde. „Geräumte Flächen erwärmen sich viel schneller und trocknen stärker aus“, argumentiert der Wald-Ökologe. In Zeiten des Klimawandels müsse das oberste Gebot jedoch lauten, die Wälder möglichst kühl zu halten. Das gelinge beispielsweise, indem Totholz liegen bleibe, erläutert Ibisch. Verrottendes Holz baue Humus auf, wodurch sich die Wasserspeicherfähigkeit des Bodens und damit auch das Selbstkühlungsvermögen des Waldes erhöhe: „Jedes Grad, um das die Temperatur sinkt, bremst die Verdunstung.“ Totholz: Ende und Neubeginn des Lebens Totholz, ein Sammelbegriff für abgestorbene Bäume, Sträucher und Teile davon, ist eigentlich gar nicht tot, sondern quicklebendig. Es ist Lebensgrundlage für Moose, Flechten, Pilze, Käfer, Ameisen, Wildbienen und Schmetterlinge. Viele Tier- und Pflanzenarten, die auf, im und vom Totholz leben, stehen auf der Roten Liste bedrohter Arten. Gemeinsam zersetzen sie über Jahre hinweg das Holz zu Humus, auf dem die nächste Pflanzengeneration erwächst. Damit steht Totholz im Kreislauf des Waldes sowohl für das Ende als auch für den Neubeginn des Lebens. „Je mehr Totholz im Wald liegt, desto größer ist seine Widerstandsfähigkeit gegen den Klimawandel“, sagt Ibisch. Gesunde Waldsysteme mit gemischter Altersstruktur, geschlossenem Kronendach und großer Artenvielfalt seien in der Lage, sich aus eigener Kraft zu regenerieren. Ein Baum erreicht, so man ihn lässt, ein Alter von 400 bis 500 Jahren. Nicht so im Wirtschaftswald. Dort werden Bäume jung und in schneller Folge gefällt; nur wenige sind älter als 150 Jahre. Doch Wälder mit hoher Einschlagsrate haben meist ein lückenhaftes Kronendach und erwärmen sich deshalb vergleichsweise schnell. Daran ändere auch großflächige Aufforstung nichts, stellt Ibisch fest. Stattdessen empfiehlt er, den Holzeinschlag zu reduzieren und die Waldgesundheit stärker zur fördern: „Die unbequeme Botschaft lautet: Selbstregeneration kostet Holz“, sagt der Waldökologe: „Aber wir sollten endlich damit aufhören, den Wald als bloßen Holzautomaten zu begreifen.“ HartmutNetz


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