LE CORBUSIER

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Roberto Gargiani Anna Rosellini

BÊton Brut und der Unbeschreibliche Raum (1940 --1965): Oberflächenmaterialien und die Psychophysiologie des Sehens


Impressum Autoren: Prof. Dr. Roberto Gargiani, Dr. Anna Rosellini Grafische Gestaltung: Paola Ranzini Pallavicini / Studio Pagina, Mailand

Deutsche Ausgabe: © 2014, erste Auflage DETAIL − Institut für internationale Architektur-Dokumentation GmbH & Co. KG www.detail.de

Lithografie: Atelier Zed, Préverenges ISBN: 978-3-95553-182-9 Übersetzung der englischen Ausgabe: Jörn Frenzel, Dipl.-Ing. Architekt Lektorat: Dr. Katinka Johanning

Der Verlag dankt der École polytechnique fédérale de Lausanne und der HeidelbergCement AG für die finanzielle Unterstützung.

Cover: Heinz Hiltbrunner DTP: Roswitha Siegler Druck: fgb freiburger graphische betriebe GmbH & Co. KG, Freiburg

Titel der englischen Originalausgabe: Le Corbusier: Béton Brut and Ineffable Space 1940 –1965 – Surface Materials and Psychophysiology of Vision © 2011 Presses polytechniques et universitaires romandes / EPFL Press, Lausanne Alle Rechte vorbehalten

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http: //dnb.d-nb.de

Zum Inhalt Béton Brut und der Unbeschreibliche Raum: zwei von Le Corbusier nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Konzepte, die von einem intensiven Dialog zwischen den Materialien und der künstlerischen Vision seiner Arbeit erzählen. Der béton brut, erfunden als Le Corbusiers eigene Handschrift im Umgang mit Sichtbeton, wird aus verschiedenen Perspektiven betrachtet: seine Herstellung mit einer sorgfältigen Auswahl seiner Bestandteile, seine Texturierung durch eine raffinierte Schalungsmontage und seine Oberflächenbehandlung mit speziellen Farbtypen. Im Kontext von Le Corbusiers architektonischen Werken wie auch jenen der bildenden Kunst erklären die Autoren den Unbeschreiblichen Raum mit allen seinen Formen und Bedeutungen – vom Einsatz von Wandteppichen und Farbe zur Raumgestaltung bis zur Verwendung der Fotografie, mit deren Hilfe verborgene Potenziale von Architektur und Malerei ergründet werden. Der Ursprung des Raums in Le Corbusiers Werk, die Qualität der Baumaterialien und Fragen der Optik, der künstlerischen Vision und der Psychophysiologie der Wahrnehmung werden untersucht in Bezug auf zeitgenössische Kunstströmungen wie die Automatismen von Breton, die Art brut von Dubuffet, die Musique concrète von Varèse, Kleins Untersuchungen zu monochromer Malerei, Pop-Art und das Konzept des Transfers. Die Publikation eröffnet eine neue Sicht auf die späten, fundamentalen Werke Le Corbusiers.


Die Publikation ist in Zusammenarbeit mit der Fondation Le Corbusier, Paris, entstanden. Die Autoren und der Verlag danken der Fondation Le Corbusier für ihre Unterstützung und die Genehmigung, sämtliche Fotos, Zeichnungen und Dokumente zu verwenden. Für alle Arbeiten von Le Corbusier gilt: ©2014 FLC, VG Bild-Kunst, Bonn.


Inhalt

Kapitel 1. Die Entdeckung des Béton Brut mit Malfaçons: die Baustelle der Unité d’Habitation in Marseille 3 18 36 45 48 54

Terrain artificiel und Vision der Landschaft Korngröße der Betonmischung und Schalungsmuster Die sculptures moulées des Modulors Verkleidungspaneele aus verdichtetem Beton Matroïl – Farbigkeit auf Beton Die Erfindung der Ästhetik des béton brut

Kapitel 2. Akrobatentraining: ein Provokateur neuer Formen 63 67 89 94 105 108 114 116 121 126 132 144

Die Synthese der plastischen Künste und des Unbeschreiblichen Raums Plastische Akustik: die Skulpturen in Zusammenarbeit mit Savina Sandguss mit Nivola und Glasskulpturen für Murano Wandmalerei, muralnomad und emaillierte Metallpaneele Landschaften im Herzen von Saint-Dié und New York Die Farbtöne der Fabrik Claude et Duval Die Farbigkeit bei der Restaurierung des pan de verre der Cité de Refuge New World of Space, Fotografie und die Analyse der künstlerischen Form Der Entwurf für ein Labor der Synthese der großen Künste Die Kapelle von Ronchamp: »Prägung« des Raums Die Konstruktion der surfaces gauches Das Fotografieren des Unbeschreiblichen Raums

Kapitel 3. Die Unités d’Habitation in Rezé-lès-Nantes, Berlin und Briey-en-Forêt 149 156 158 170 175 179 180 183 184 191

Die Unité d’Habitation in Rezé-lès-Nantes – eine molekulare Einheit Die Beru-Wände oder: Betonschalung Entwurf der Schalung und der sculptures moulées Claustra und Verkleidungspaneele Die quatrième mur Die Restaurierung von Wandbereichen mit Verkleidungspaneelen Die Unité d’Habitation in Berlin: die Ästhetik der brises-soleil Glatte Verkleidungspaneele: die Schönheit des Kontrasts in Gefahr Schalung aus Faserplatten und sculptures moulées mit Inschriften Die Unité d’Habitation in Briey-en-Forêt: technische Fortschritte bei der Schalung des béton brut


Kapitel 4. Chandigarh – die kosmische Vision

Kapitel 7. Ton- und Bildprojektionen und Automatismen

197 209

429 432 440 446

217 226 230 239 248 256 260 266 270 277 289 297 299 304 313 318 340

Die Stadt und das Kapitol Blickschutz und optische Täuschung: künstliche Hügel, Baumreihen, reflektierende Wasserbecken Das Grille climatique: Prinzipien einer biologischen Ordnung Bio-Ästhetik und Arborisation Der Justizpalast – ein Monument kühlender Räume Béton brut aus Holz- und Stahlschalung sowie Spritzbeton Roher Stein und Latexfarben Wandteppiche: Wandbilder für die Raumakustik Das Sekretariat – die Verwaltungsmaschine Die Fassadentextur – eine Metapher für Funktionäre und Minister Unregelmäßigkeiten in der Stahlschalung Das Parlament – Hymne der Menschheit Von der akustischen Textur des béton brut zu himmlischen Stimmungen Der Stützenwald Mängel der Metallschalung Das Parlamentstor und die Offene Hand Die Silhouette des Gouverneurspalasts Die Zeichen des Kapitols Das Stadtzentrum

Kapitel 5. Die Épiderme brutal aus Stampflehm, Ziegel und Holz 345 354 361 368 373 379 389 390

Stampflehm, Beton mit Bruchstein, Sichtmauerwerk Der Entwurf eines Dorfs mit einfachen Häusern in Chandigarh Das Haus Sarabhai in Ahmedabad: Stahlbetonunterzüge befreien den Grundriss Die Häuser Jaoul in Neuilly-sur-Seine: Stahlbetonträger befreien die Fassadenöffnungen Kontrollierte Konstruktionsautomatismen: Ziegel mit groben Fugen und béton brut Die Musées à Croissance Illimitée in Ahmedabad und Chandigarh Eine Spielart der sculptures moulées Die hölzerne Cabanon

456 459 464 469 475 479 483 487

Kapitel 8. Auf dem Weg zu einer Nouvelle stéréotomie 491

570 575

Von texturique zu opus moderne bis opus optimum: die Wahrhaftigkeit der Materialien Das Kloster La Tourette – Transfer-Formen Der pan de verre ondulatoire Eine »Schachtel« für religiöse Zwecke Wände aus geschaltem Beton mit Spritzbetonverkleidung Die Gestaltung der Fußböden Die Maison du Brésil in Paris: souvenirs von Landschaften und Untersuchungen zu glattem Beton Das Carpenter Center for the Visual Arts in Cambridge, Massachusetts: die Hände und der Kopf Béton brut ohne künstlerische Maserungen Glatter béton brut: das Nationalmuseum für westliche Kunst in Tokio Die Halle und das fotografische Wandbild Stereotomie und Härte des béton brut Das opus Modulor des béton brut: die Unité d’Habitation in Firminy Transfer von Querschnitten: die Kirche Saint-Pierre und die Maison des Jeunes et de la Culture Positive und negative Skulpturen in sorgfältig gearbeitetem béton brut Raumkonturen Bauen, ohne zu bauen: das Krankenhaus von Venedig

580 585 589

Personenregister Abbildungsnachweis Autorenviten

495 503 509 516 521 523 527 532 544 547 550 553

Kapitel 6. Machines à habiter in tropischem Klima

560

397 401

563

407 412 417 422

Die Villa Curutchet oder das Spektakel der Landschaft Die Villa Shodhan: die Auflösung des puristischen Baukörpers von Garches Schalung in horizontalen Schichten Das Gebäude der Mill Owners’ Association: perspektivische Sichtraster und textile Metaphern Indische Perfektion am béton brut Die visuelle Atmosphäre und die Würde des Steins der Fußböden und Wände

Eine Wunderkammer für spontanes Theater Kinetischer Illusionismus im Stil Vasarelys Automatische Zeichnungen: auf den Spuren Bretons Der Transfer von Werken und fotografische Vergrößerungen Die zweite Tapetenkollektion für Salubra: Op- und Pop-Art-Muster Jeux électroniques auf dem Dach der Unité d’Habitation in Marseille Der Philips-Pavillon – der Raum der Musique concrète und künstlerischer Projektionen Konstruktion der Regelflächen Das Poème électronique: Kunst im elektronischen Zeitalter Das Laboratoire Électronique de Décision Scientifique und Livres-Ronds Der Entwurf für das Elektronische Rechenzentrum Olivetti in Rho Restaurierung und Transformation der Villa Savoye


Die Plattform und das Flachdach bilden zwei terrains artificiels (Künstliche Gelände). Wie bereits beim Pavillon Suisse wird die Plattform zu einem konstruktiven Organismus in Sichtbeton mit einem detaillierten Layout großer Hohlräume speziell für die Leitungen, Rohre und Kabel der physischen Haustechnikanlagen. »[...] in Palladios Häusern gibt es keine Rohre«, sagt Le Corbusier 1947, als sein Atelier an den Leitungsführungen für die Hausanlagentechnik der Unité d’Habitation arbeitet.25 Die schwebende Plattform auf Pilotis, durchzogen von Organen, nimmt die Funktion an, welche die »angehobene Scheibe« in den Villes Pilotis hatte; nicht zufällig wird sie als sol artificiel oder terrain artificiel bezeichnet.26 In der Unité d’Habitation beweisen die Pilotis ihr Potenzial für die Vision der Landschaft, indem sie einen »überdachten Gang« möglich machen.27 Die Tatsache, dass die Pilotis – wie bereits in den Werken der 1920er-Jahre – in erster Linie eine visuelle Rolle spielen, wird sowohl durch bestimmte Skizzen Le Corbusiers, in denen er das Profil der Berge jenseits des Vordachs darstellt (»um die bewundernswerte Aussicht auf die Berge zu erhalten« 28), als auch durch Drehbücher bestimmter Kurzfilme, die in der Unité gedreht werden sollten, bestätigt. Nach einem Vergleich der Pilotis mit »griechischen Säulen« werden in einem dieser Skripte Aufnahmen gefordert, die zeigen sollen, wie »unverbaut das Gelände und vor allem das Blickfeld sind.« »Das Gebäude darf nicht zu einer ›Mauer‹ für das Auge werden«, lautet der Kommentar.29 Auch anderswo leiten visuelle Überlegungen jedes wesentliche Detail der Unité d’Habitation. Sogar die Anordnung der Verglasungen im Eingangspavillon, der unterhalb der Plattform eingeschoben ist, wird »auf Augenhöhe« so berechnet, »dass sie ein großes Blickfeld erlauben, damit man die Pilotis sehen kann.« 30 Das terrain artificiel entwickelt sich über die Projektphasen weiter. Zuerst ist es ein »Besuchskorridor« 31 über dem ersten Geschoss, unterstützt vom Traggerüst 25 Le Corbusier: Une Unité d’Habitation de grandeur conforme. In: L’Unité d’Habitation à Marseille. In: L’Homme et l’architecture, a. a. O., (S. 5 – 9), S. 6 26 Siehe Zeichnung vom 3. April 1951, FLC, 26468, und [o.V.]: »Unité d’Habitation (services Communs) dite ›Unité d’Habitation Le Corbusier‹«, o. J., FLC, O2.19.18. Vgl. auch das Manuskript FLC, O2.8.83 – 87 und André Wogenscky, Brief an die

Construction Moderne Française, 5. Februar 1948, FLC, O1.1.200 27 [O.V.]: »Unité d’Habitation (services Communs) dite ›Unité d’Habitation Le Corbusier‹«, o. J., FLC, O2.19.18; vgl. auch das Manuskript FLC, O2.8.83 – 87 28 Le Corbusier: Skizzenbuch D17. In: Le Corbusier Sketchbooks. Band 2, 1950 –1954, a. a. O., Nr. 288, o. J. [August 1950]. Siehe auch ebd., Nr. 289

29 Lévy, Edmond: »Decoupage technique d’un avant-projet de court-metrage sur ›La Cité Radieuse de Marseille. (Le Corbusier)‹«, 26. Februar 1950, FLC, B3.10.195–205. »[...] man sieht die Sonne unter dem Haus passieren, sieht die Straßenkreuzung, sieht die Kiefern vor dem Hintergrund des Meeres, auf den Bergen auf der anderen Seite«, sagt Le Corbusier (Le Corbusier, aufgezeichnetes Interview, Transkription, FLC,

U3.11.394). Die Pilotis der Unité d’Habitation werden mit ägyptischen und dorischen Säulen verglichen in: Janin, Danielle: La maison radieuse…. In: L’Homme et l’architecture, a. a. O., (S. 68–73), S. 68, 69, 71 30 Le Corbusier: Skizzenbuch E19. In: Le Corbusier Sketchbooks. Band 2, 1950 –1954, a. a. O., Nr. 412, o. J. [1951] 31 Siehe Zeichnung vom 10. Mai 1946, FLC, 26314


25–27, 29–30. Unité d’Habitation, Boulevard Michelet 280, Marseille, 1945–52 25. »Plan général de la terrasse avec étude de dallage et façade ouest«, 31. Mai 1949, mit nachträglichen Änderungen (FLC, 25241A)

28. Le Corbusier, Notizen zu »espace indicible«, 19. Dezember 1954, Detail (FLC, B3.7.30)

29. Modell des Dachs, aufgenommen vor dem Hintergrund der Fenster des Ateliers Le Corbusier (FLC, L1.2.37) 30. Fotografie des Dachmodells vor einer Fotografie der Landschaft von Marseille entlang des Boulevard Michelet (FLC, L1.12.38) 31. Terrassenbrüstung des Apartments von Le Corbusier in der Rue Nungesser-etColi, Paris (FLC, L2.10.117)

der Pilotis und Balken. Dann werden die Balken von einer konstruktiven Hülle umgeben, wodurch ein etwa 2 m hoher Zwischenraum für die Haustechnikrohre entsteht. Runde Sonderaussparungen in den Trägern erlauben es, Leitungen durch die Träger zu führen, machen es aber auch für Techniker möglich, hindurchzugehen.32 Dieser Zwischenraum wird zu einem Teil des Haustechnikkreislaufs, der das gesamte Volumen der Unité d’Habitation durchzieht: Zusammen mit dem Zwischenraum unter dem Dach und den verschiedenen vertikalen, in die Trennwände der Wohnungszellen integrierten Rohren für Zu- und Abluft stellt er die Heizung und Be- und Entlüftung der Wohnungen sicher.33 Der Kreislauf wird in den beiden großen Lüftungsschornsteinen auf dem Dach zusammengeführt.34 Der Dachgarten der Cinq points d’une nouvelle architecture ist zu diesem Zeitpunkt zu einem weiteren terrain artificiel geworden, auf dem eine bildliche Komposition von Pavillons (Kindergarten, Sporthalle, Solarium) und funktionalen Organen (Aufzugsturm, Lüftungsschornsteine, Projektionswand) platziert werden kann, vor dem Hintergrund eines durch die Attikabrüstungen zugeschnittenen Landschaftsbildes von Meer, Bergen und Himmel – »eine wahre Akropolis, die sich einer homerischen Landschaft öffnet«, wie Le Corbusier schreibt.35 Schon allein das Foto des Dachmodells vor einem fotografischen Landschaftspanorama ist vielsagend.36 Die hohen Brüstungen, acroteria genannt,37 sind ein wesentlicher Bestandteil der künstlerisch-bildlichen Komposition der Landschaftsvision: Sie trennen die Silhouetten von Bergen und Himmel ab, wie die Hecken des Dachgartens des BeisteguiPenthauses. Sogar die Dehnungsfugen der Brüstungen werden zu Sehschlitzen vergrößert.38 Später wird Le Corbusier eine vergleichbare Lösung in den Monumenten des Kapitols für Chandigarh einsetzen. Eine ähnliche Fläche dieser Art – hier als wirkliche Projektionswand eingesetzt – nutzt er später als Projektionsfläche für Filmvorführungen und Theateraufführungen. Am Kopfende einer Treppe mit einer Bühne platziert, dient sie dazu, den Blick (Richtung Stadt) zu kontrollieren: »Der Raum war

32 Die Entwicklung des Systems der schwebenden Plattform wird in einem Dokument vom April 1948 wie folgt wiedergegeben: »Das Künstliche Gelände wurde zu einem Tunnel für die Durchführung der Rohre, die 0,20 m-Platte wurde in zwei 0,10 m-Platten aufgeteilt und die untergeordnete als verlorene Mosaikschalung vorgesehen. Dies verursachte einen erheblichen Zeitverlust, brachte aber auch eine doppelte Schalung für den gleichen Betonkubus mit vierfacher Rahmung, dort wo der Beton dies besonders notwendig machte. Und letztlich einen Verlust von mindestens

20 % des Holzes, weil die Bretter auf die gleiche Breite und Länge zugeschnitten werden müssen« (Unité d’Habitation Le Corbusier, 5. April 1948, FLC, O1.3.61–70). 33 Für die Luftleitungen wählt Le Corbusier das Véga-Modell in grün (André Wogenscky, Brief an Etablissements NEU, 19. Mai 1950, FLC, G3.15.563). 34 Zum Schema der Lüftungsleitungen siehe Zeichnung FLC, 26829 35 Le Corbusier, »Note à l’attention de M. Tenudji«, 2. August 1952, FLC, B3.10.221–23; vgl. auch Atelier de Bâtisseurs Le Corbusier:

L’Unité d’Habitation de Marseille, a. a. O., S. 5. »[...] das Dach ist eine Akropolis«, sagt Le Corbusier (Le Corbusier, Brief an seine Mutter, 12. Dezember 1951, FLC, R2.2.52). Siehe Zeichnung vom 13. März 1950, FLC, 25612 36 Vgl. Atelier de Bâtisseurs Le Corbusier: L’Unité d’Habitation de Marseille, a. a. O., S. 40, Abb. 57 37 Siehe Zeichnung vom 13. März 1950, FLC, 25612 38 Siehe Skizzen in Le Corbusiers Skizzenbuch D17. In: Le Corbusier Sketchbooks. Band 2, 1950 –1954, a. a. O., Nr. 276, 17. August 1950

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Die Entdeckung des Béton Brut mit Malfaçons

26–27. Le Corbusier, Studie des Profils der Dehnungsfuge der Attika, 17. August 1950 (FLC, Skizzenbuch D17, Nr. 276), und Ansicht, Fotografie 2009


58–62. Unité d’Habitation, Boulevard Michelet 280, Marseille, 1945–52 58. Zweiter Sektor (8.16) der Plattform nach Abnahme der Schalung, Fotografie vom 19. August 1948 (FLC, L1.13.112) 59. Detail des Randbalkens mit Spuren der in Querrichtung unter der Bewehrung vor dem Betonieren angebrachten Abstandshalter, Fotografie 2009

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97 Ende Juni wird die Wirksamkeit von Metallschalung für die Herstellung der Stützen entlang der Fassade diskutiert – angesichts der Möglichkeit, dass sie sich nach 40-maligem Gebrauch verformen könnte; auf der Baustelle werden Proben durchgeführt (Le Corbusier, Brief an

Im August ist die Schalung des Sektors 0.8 bereits abgenommen, während der Bau des Tragskeletts der ersten zwei Ebenen über dem Sektor 8.16 beginnt.97 Bei einem Baustellenbesuch am 27. August untersucht Wogenscky Mängel im Beton und entdeckt von den Arbeitern angewandte Reparatur-Methoden, die weder er noch die ATBAT-Techniker für geeignet halten. » [...] Nach einem Defekt in der Schalung«, schreibt er, »und einem darauf folgenden Austritt des Betons hat sich ein Loch an der Basis der Säule 9.0 im Erdgeschoss gebildet. Dieses Loch muss richtig ausgeschabt und mit sehr zementhaltigem Beton repariert werden. Es versteht sich, dass diese Reparatur in Anwesenheit von Herrn Mamoli und einem Vertreter von Herrn Bodiansky geschehen muss. Bei dieser Gelegenheit möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ich den Eindruck habe, dass die Arbeiter – wenn sie selbst einen Fehler wie diesen während dem Entfernen der Schalung entdecken – die Reparatur durch Füllen des Lochs mit Mörtel selbst vornehmen. Dies muss absolut verboten werden, denn wir wissen nicht, welche Folgen solche Reparaturen in der Zukunft haben können. Ich bestehe darauf, dass Sie sicherstellen, dass solche Reparaturen im Einvernehmen mit Herrn Mamoli und einem Vertreter von Herrn Bodiansky vorzunehmen sind.« 98 Prüfungen zeigen, dass »dem Anschein nach« die Ausführung des Betons der Plattform im Sektor 0.8 schlechter ist als die im Sektor 8.16, der als erstes gebaut wurde. Somit ist die Frage der Reparatur von Mängeln, die nach Abnahme der Schalung auftreten, bereits in dieser frühen Phase der Konstruktion dringlich und entscheidend. » [...] Sie haben bemerkt«, schreibt Wogenscky an Cesare Bodotti, »dass zahlreiche Betonreparaturen sehr deutlich sichtbar sind, während dies bei Block 8.16 nicht der Fall ist. Besonders möchte ich auf die Reparaturen an den geneigten Scheiben, welche die Decke unter den Konsolen bilden, die Korrekturen an den Längsträgern, den Pilotis etc. hinweisen. Des Weiteren gibt es Mängel bei der Geradheit von zwei Balkonen an der Ost- und Westfassade, welche Sie leicht sehen können, wenn Sie in einer Linie mit dem Giebel an der Nordseite stehen. Die Schalung des nördlichen Trägers wurde sehr schlecht entfernt. Wir stimmen mit Herrn Mione überein, dass Sie versuchen sollen, die Pilotis zu überarbeiten, und erst wenn wir beide mit den Ergebnissen völlig einverstanden sind – und nicht davor –, werden wir gemeinsam

den Délégué Départemental, Ministère de la Reconstruction et de l’Urbanisme, 30. Juni 1948, FLC, O2.10.121). Die Metallschalung für die Stützen an der Fassade ist laut ATBATTechnikern notwendig, um unregelmäßiges Gießen zu vermeiden, was die Montage der vor-

gefertigten Teile der pans de verre unmöglich machen würde (vgl. André Wogenscky, Brief an Construction Moderne Française, 15. April 1949, FLC, O3.11.265–266; und Guy Rottier, Brief an Cesare Bodotti, 4. Mai 1949, FLC, O3.11.291). Rottier kommuniziert das von

Bodiansky ausgesprochene Verbot der Verwendung von Holzschalung für die Fassadenstützen (ebd.). 98 André Wogenscky, Brief an Cesare Bodotti, 27. August 1948, FLC, O1.1.261–263


60. Vierter Sektor der Plattform, 24.32, die Pilotis sind noch eingeschalt. Fotografie, vermutlich vom 15. November 1948 (FLC, L1.13.81) 61. Ansicht der drei Sektoren der Unité d’Habitation im Bau: im Hintergrund der erste Sektor 0.8 bis zum fünften Geschoss; der zweite Sektor 8.16 ist bis zum sechsten Geschoss fertiggestellt; im dritten Sektor 16.24 ist die Schalung fertiggestellt worden. Fotografie vom 15. November 1948 (FLC, L1.13.116) 62. Ansicht zweier Sektoren der Unité d’Habitation im Bau: im Hintergrund der vierte Sektor 24.32, auf dem Niveau der Plattform; im dritten Sektor ist die Schalung fertiggestellt worden. Fotografie vom 15. November 1948 (FLC, L1.13.115)

entscheiden, wie Sie mit dem Träger des nördlichen Giebels weiter verfahren werden. [...] Der Beton scheint mir von einfachen Arbeitern gegossen worden zu sein und nicht von Männern, die wissen, wie man Beton gießt.« 99 Nach den schadhaften Arbeiten am Beton des Sektors 0.8 bildet Bodiansky einige Arbeiter der Baufirma aus und zeigt ihnen, wie aufgetretene Hohlräume in den Pilotis abzudecken und aus der Betonoberfläche der Plattform herausragende Bewehrungen zu schützen sind. Es wird auch entschieden, angesichts der vielen Mängel alle betreffenden Flächen zu sandstrahlen, sobald die notwendigen Reparaturen ausgeführt wurden.100 99

Ebd. Vgl. Vladimir Bodiansky, Brief an André Wogenscky, 27. November 1950, FLC, O3.10.532– 535. Rottier rät zum Reinigen der Schalung vor dem Gießen mit Druckluft (vgl. Guy Rottier, Brief an Construction Moderne 100

Française, 13. November 1948, FLC, O3.11.193).

Die Entdeckung des Béton Brut mit Malfaçons

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231. Emailliertes Blechregal, ca. 1958, Pavillon Suisse, Cité Universitaire, Paris, Fotografie 2006 232. Tabernakel, 1958, Wallfahrtskapelle Notre-Dame-du-Haut, Hügel von Bourlémont, Ronchamp, Fotografie 2009 233–234. Paneel aus emailliertem Blech, »tétratique«, im Haus von Jørn Utzon, entworfen 1959 (FLC, R3.5.257), und Zeichnung von 1963 (FLC, ohne Klassifikation)

tétratique.172 Wie für die Wandteppiche gibt Le Corbusier die besondere Qualität der Emaillearbeit und ihre verschiedenen Beziehungen zur Wand im Vergleich mit der traditionellen Malerei vor: »Die Emaille-Platten müssen nicht wie Gemälde gerahmt sein! Die Unterkonstruktion muss es ihnen ermöglichen, vor der Wand zu hängen (ca. 7 cm.). [...] Sie könnten ein Aluminiumprofil benutzen und es in seinem natürlichen Zustand belassen.«173 1962 bittet Sakakura Le Corbusier, die Stahlbetonwand der Lobby des Rathauses von Kure mit »einer Zeichnung, die aus verschiedenfarbigen Tafeln aus Ihrer in Frankreich selbst hergestellten Emaille komponiert ist«, zu versehen.174

172

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Siehe Le Corbusier, Ordner mit Skizzen und Notizen an Jørn Utzon, o. J., FLC, R3.5.257 173 Le Corbusier, Brief an Jørn Utzon, 7. Dezember 1959, FLC, R3.5.258. Siehe Le Corbusier, Skizzenordner,

1. November 1959, FLC, C1.14.50. Zu der Installation der Arbeit im Haus von Utzon siehe Fotodokumentation des Ateliers Le Corbusier vom 13. November 1963 (FLC, Dossier »Lithographies, tapisseries, emaux…«, ohne Klassifikation).

174

Junzô Sakakura, Notizen auf der Rückseite des Baustellenfotos seines Rathauses, o. J. (eingegangen im Atelier Le Corbusier am 5. Februar 1962), FLC, »Documentation générale, boîte 5, pochette H«, FLC, S2.4.1


Landschaften im Herzen von Saint-Dié und New York

235. Plan für den Wiederaufbau von Saint-Dié mit rot, orange und gelb hervorgehobenen schnellen und langsamen Verkehrsrouten und Fußgängerwegen, 1945–46 (Le Corbusier. Œuvre complète 1938–46, Zürich 1946)

Akrobatentraining: ein Provokateur neuer Formen

Praktische Forschungen zur Bildhauerei führt Le Corbusier gerade dann durch, als sein Atelier nicht nur mit dem Projekt für die Unité d’Habitation in Marseille beschäftigt ist, sondern auch mit der Gestaltung neuer, symbolischer Zentren für moderne öffentliche Institutionen, wie zum Beispiel in der durch Bomben im November 1944 zerstörten Stadt Saint-Dié oder an der United Nations Plaza in New York, dem späteren Hauptquartier der UN. Bürotürme, Blöcke für Wohnzellen oder Hotels, große Bauvolumen für Vortragssäle, Museen und Lagerhallen werden zu plastischen Figuren – mit jeweils eigenen Formen (die in einigen Fällen bereits seit den 1930er-Jahren entwickelt worden waren). Sie werden manchmal gemeinsam auf einer Fläche so angeordnet, als ob diese ein »Tisch« wäre oder ein Kaminsims, auf dem die Objekte wie in einem Stillleben arrangiert werden. Das künstlerische Auge Le Corbusiers bewegt sich über diese Flächen. Es führt seine Hand, wenn er Sequenzen perspektivischer Skizzen zeichnet, so wie er früher in Stemolaks Atelier Modelle analysiert hatte, indem er um sie herumlief. Um die Dinge zu gestalten, bewegt er sich wie ein Bildhauer. Dabei benutzt er keine Spiegel, wie Gaudí, da er die richtige Anordnung von mehreren Volumen im Raum zu beachten hat, ebenso die sich ständig verändernden Silhouetten von Landschaften, von der Naturlandschaft um Saint-Dié bis zur Stadtlandschaft von New York. Ob für eine Skulptur oder eine Stadthalle: Die entscheidende Frage ist für ihn an diesem Punkt jene des espace indicible, der sich in den visuellen Phänomenen der Silhouetten und Objekte wiederfindet. Oder noch klarer ausgedrückt: Die entscheidende Frage ist für ihn jene der acoustique visuelle bzw. der acoustique plastique. Als er 1945 auf Betreiben von Jean-Jacques Duval und der Association des Sinistrés zum Berater der Gemeinde Saint-Dié für die Wiederaufbauplanungen ernannt wird, stellt er sich vor, einen Gebäudekomplex im zerstörten Herzen der Stadt zu errichten, der von einem offenen Platz und dem Turm des Verwaltungszentrums 105 dominiert wird, welcher mit seinem diamantförmigen Grundriss hoch und »geschwollen« ist und die Distanz und die Silhouette der Berge »aushalten« kann: so als ob ein einzelnes Gebäude für sich allein den Sockel und die Skulptur verkörpern könnte – den Hügel der Akropolis und gleichzeitig den Parthenon –, um die Ebenheit des Geländes, in dem es steht, zu überwinden. Eine Reihe von parallel im


269–272. Pavillon der Synthese der Künste, Porte Maillot, Paris, 1949–51. Erster Entwurf 269. »Plan d’ensemble«, 28. Dezember 1949 (FLC, 18168) 270. Ausführungsskizze (FLC, J1.5.12) 271. Zeichnung des Eingangs (FLC, 18227E)

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Auf den Skizzen zeigt er oft seine in den Räumen installierten Skulpturen – einschließlich der mit Savina angefertigten wie Ozon, den Athlète oder das Totem – aber gedacht in einem größeren Maßstab.250 Er stellt sich Wandbilder, künstlerische Verglasungen, an der Decke zu befestigende Dekorationen, Vitrinen mit objets à réaction poétique, fotografische Wandbilder seiner architektonischen Werke und Veröffentlichungen, Dioramen mit dunkelblauem Hintergrund und Skulpturen aus Stuck und papier maché, installierte Heimszenarien mit Esstischen und Geschirr, Flaschen oder Gläsern in scheinbarer Unordnung, als Werke der Malerei behandelte Drehtüren, Wandfarbeffekte mit Keramik und farbigem Saint-Gobain-Glas sowie große, teilweise von Glas-Mosaik bedeckte Freiluftmonumente vor. In diesen Studien beschäftigt er sich auch mit echten skulpturalen Wänden: Varianten der Claustra mit geschwungenen Figuren oder »perforierte Skulpturen«,251 die Vorboten der monumentalen Wand der Kapelle in Ronchamp sind. In einem Vermerk vom Oktober 1949, der auch als Reaktion auf radikale zeitgenössische künstlerische Phänomene geschrieben ist,252 bestätigt Le Corbusier die entscheidende Rolle der Wandsegmente beim Bau dieses modernen Raums, den der Pavillon beispielhaft darstellen soll: »Die Zeit ist gekommen, damit aufzuhören, Ästhetiker hervorzubringen, und damit zu beginnen, Menschen durch Wände und architektonischen Raum zu formen.« 253 Dies war auch das Programm des Pavillons von Mies van der Rohe in Barcelona, dessen Bild in den von Le Corbusier entwickelten Plänen auftaucht. In der ersten Lösung bedient sich Le Corbusier des von Robert Le Ricolais erfundenen Procédé Aplex – einer netzartigen, hölzernen Struktur –,254 um ein Dachsystem auf stählernen, konischen Stützen zu schaffen, das mithilfe von Stahlseilen gehalten wird (er will die Anzahl und Form der Stützen reduzieren, um zu vermeiden, dass sie »den Raum verstellen«255). Der Besucher durchquert den Garten und betritt zunächst einen Raum, den unterschiedlich gekrümmte Wände aus Saint-Gobain-Glas begrenzen.256 Diese Wände, die durch »akustische Resonanz« mit der Natur geformt sind, 250

Le Corbusier sendet Kopien der Zeichnungen an Savina (vgl. Savina Archive, Tréguier; Kopien FLC, ohne Klassifikation). 251 Zur Definition siehe Zeichnung mit Notizen von Le Corbusier vom 2. November 1950, FLC, 18166. Zum Wandentwurf siehe FLC, J1.5.35

252 Vgl. Kiesler, Friedrich: Manifeste du corréalisme. In: L’Architecture d’aujourd’hui, Sonderausgabe 1949, S. 81–104 253 Le Corbusier, Notizen, 13. Oktober 1949, FLC, J1.5.271 254 Siehe Zeichnung FLC, 31764 255 Le Corbusier, Brief an André

Wogenscky, 13. Februar 1950, FLC, J1.5.7. Wogenscky kontaktiert Le Ricolais und Prouvé (vgl. André Wogensky, »Note à l’attention de M. Le Corbusier«, 15. März 1950, FLC, J1.5.82). Zur ersten Version siehe auch Zeichnungen vom Februar 1950, FLC, J1.5.11–36 und FLC, J1.5.252


272. Ausführungsskizze mit Wänden für Wanddekorationen von Victor Vasarely und Jean Dewasne (FLC, J1.5.11) 273–275. Pavillon der Synthese der Künste, Porte Maillot, Paris, 1949 –51. Zweiter Entwurf 273. Ausführungsskizze, 2. November 1950 (FLC, 18166)

275. Zeichnung mit aufgeklebter Fotografie des Modells (FLC, 18154)

125

Akrobatentraining: ein Provokateur neuer Formen

274. Grundriss und Schnitt (Le Corbusier. Œuvre complète 1946–52, Zürich 1953)


302–306. Wallfahrtskapelle NotreDame-du-Haut, Hügel von Bourlémont, Ronchamp, 1950–55 302. »Elévation intérieure façade sud« (FLC, 7252) 303–304. Bau der Südwand (FLC, L3.2.37 und L3.3.57, 145)

136

ansieht: »Es ist eine dringende Angelegenheit zu entscheiden, ob eine Spitzbetonbeschichtung auf diesem Teil der Kapelle nötig ist oder nicht [...].« 300 Erst im September entschließt sich Le Corbusier endgültig während einer Baustelleninspektion dazu, das Dach in béton brut zu belassen, und verwirft hier die Idee der weißen gekalkten Verkleidung mit Spritzbeton.301 Die gleiche Entscheidung hatte er bereits im Juli für eine Reihe von Konoiden auf dem Dach des Justizpalasts von Chandigarh getroffen, das ursprünglich ebenfalls mit einer Verkleidung aus Spritzbeton geplant gewesen war.302 Hierin liegt ein grundlegender Beweis für Le Corbusiers Fähigkeit, sein kreatives Vorgehen an unvorhergesehene Ereignisse während der Entwurfs- oder der Ausführungsphase anzupassen und ihre formale Kraft so zu lenken, dass sie die ursprüngliche Vision des Gebäudes nicht gefährden. Bei dieser Veränderung der Materialien gewinnt der Lichtspalt zwischen den weißen Spritzbetonwänden und dem Sichtbetondach der Kapelle stark an Bedeutung. Erst nach der Entscheidung, die Oberfläche in béton brut zu belassen, kann das Dach der grauen Schale eines Fremdkörpers ähneln, der auf weißen, gewölbten Wänden ruht: 303 ein symbolisches schweres »Zelt« über Wänden aus den »Steinen der Ruine«.304

300

Vgl. André Maisonnier, Brief an Le Corbusier, 30. August 1954, FLC, B1.2.236 301 Vgl. ebd. und Skizzen des Dachs von Le Corbusier, mit den Anmerkungen »béton brut«, »als Beton belassen« (Zeichnung

vom 8. September 1954, FLC, 07524) Le Corbusier, Brief an Pierre Jeanneret, 5. Juli 1954, FLC, P1.20.102–103 303 Le Corbusier veröffentlichte später das Foto eines Krabben302

panzers gegenüber einem Foto des Kapellendachs. In: Le Corbusier: Ronchamp, a. a. O., S. 94 304 Ebd., S. 90


305. Bau der Südwand an der südöstlichen Ecke (FLC, L3.2.29) 306. Zeichnung der südöstlichen Ecke, 8. September 1954 (FLC, 7524D)

Akrobatentraining: ein Provokateur neuer Formen

Der Wandbereich über der Eingangstür der Südfassade ist aus béton brut mit einem rechtwinkligen Muster aus horizontalen und vertikalen Platten, welches ähnlich wie das eines großen Wandteppichs aussieht. Die dekorativste Schalungsanordnung entsteht für die béton-brut-Pyramiden in dem Becken am Fuß der Kapelle, welches mit Regenwasser gefüllt ist, das ein Wasserspeier in der Art eines der rüsselartigen Gebilde von Picasso dorthin führt (diese Form war bereits in den Zeichnungen der Ozon-Serie zu sehen). Der Wasserspeier, der das Wasser zunächst etwas ansteigen lässt, ist aus »Beton mit Schachbrettmuster«, wie Le Corbusier schreibt.305 Der Brunnen wird später am Fuß des Justizpalasts wiederholt werden. Die Kanzel mit Blick auf die Landschaft ist ebenfalls ein skulpturales Objekt aus béton brut mit liebevoll gestalteten Oberflächen. Auch hier arbeitet Le Corbusier mit durch Holz- 137 bretter erzeugten Mustern: »Beton von Platten geformt«.306 (Er lässt ein Foto von sich machen, wie er den béton brut mit seiner Hand berührt.307) Die Kanzel im Inneren ist ein weiteres skulpturales Objekt aus béton brut, basiert aber auf mittelalterlichen italienischen Werken: das Lesepult ist ein Buch aus vergoldetem Beton. Eine weitere béton-brut-Oberfläche ist die Tür zum Altar hin – eine große Platte aus geglättetem Beton, der mit einer Schalung aus Holzfaserplatten hergestellt ist. Auf ihnen sind wie bei der Unité d’Habitation in Marseille Jakobsmuscheln zur dekorativen Prägung angebracht, wobei diese in der Wallfahrtskapelle eine symbolische religiöse Bedeutung annehmen. Beton wird auch für den Boden eingesetzt, der ein Muster aus Linien erhält, die »durch den Modulor diktiert« werden.308 Diese auf Fugen anspielenden Linien sind aus »schwarzem Zement«.309 Innerhalb des Linienmusters werden vier große Streifen angelegt (ebenfalls aus schwarzem Zement), welche die Altäre der Kapellen mit dem Hauptaltar verbinden und sich so in einem mystischen Geflecht von Linien mit dem Raster des Modulors überlagern.310 Platten aus gelbem Vaurion-Stein vervollständigen den Bodenbelag und bilden dabei ideal geformte »Teppiche« innerhalb des Betongewebes (sie sind an den Eingängen, in den Kapellen und um den Altar herum angeordnet). Die zweite komplexe Struktur neben dem Dach ist die dicke Südwand, die von einem Stahlbetonskelett gebildet wird. Die Steifigkeit der Paneele aus »Streckmetall«, die das Skelett umschließen, ist Gegenstand von Diskussionen. Bei einem erneuten

305 Le Corbusier, Notizen zu »Note pour Maisonnier dicté par L-C le 5 juillet 1956«, FLC, Q1.6.151–153 306 Ebd. 307 Siehe Foto FLC, L4.4.86 308 [Le Corbusier]: La chapelle

de Ronchamp, a. a. O., S. 16 Société Nationale de Construction, »Chapelle de Ronchamp«, 24. November 1954, FLC, Q1.2.38–39 310 Siehe Zeichnung »Dallage«, FLC, 07169. Die Bänke haben 309

Füße aus Stahlbeton und hölzerne Sitzflächen (Letztere sind von Savina); sie stehen erhöht auf Holzblöcken.



385. Scuola Grande di San Marco, Venedig (FLC, L4.19.154)

Für die Modulor-Figur verwendet Le Corbusier nur dann einen Rahmen, wenn das Bild Teil der geometrischen Konstruktion des Modulors ist. Er führt damit eine Regel ein, die auch bei weiteren, späteren sculptures moulées befolgt werden wird. Die gesamte Gestaltung der sculptures moulées von Rezé-lès-Nantes wird zum Vorbild für die anderen Unités d’Habitation. Le Corbusier nimmt Bezug auf die sculptures moulées der Unité d’Habitation in Marseille und führt auch in Rezé-lès-Nantes Felder aus glattem béton brut neben den üblichen Oberflächen mit Schalungsabdrücken ein. Um diese glatten Oberflächen zu erhalten, von denen sich die geformten Skulpturen oder die Grafiken der Modulor-Stele abheben, setzt das Atelier Le Corbusier – nachdem zunächst perfekt »gehobelte Schalungsbretter« 54 vorgeschlagen wurden – normale, aber mit bewehrtem Gips beschichtete Bretter ein. Die Armierung erfolgt über einen eingelegten »Maschendraht« 55. Auf einigen Oberflächenbereichen der sculptures moulées finden sich Spuren der weißen Gipsmixtur. Auf anderen Baustellen wird Le Corbusier später Holzfaserplatten verwenden, um die gleiche glatte Oberfläche zu erhalten.

54

Siehe Zeichnung FLC, 02020 Siehe Zeichnung FLC, 01800 und FLC, 01676. Siehe auch Zeichnung »Tour façade EST. Coffrage des sculptures«, FLC, 55

01676. Zu den technischen Unterschieden zwischen den sculptures moulées von Marseille und jenen von Rezé-lèsNantes siehe: Le Corbusier,

diktierte Notizen für André Wogenscky, 8. November 1956, FLC, M3.13.628

382–384, 386–388. Unité d’Habitation, Boulevard Le Corbusier, Rezé-lès-Nantes, 1948–55

383–384. Ansicht und Detail, Fotografien 2009 386. Vegetationsdetail mit Blättern in der Wand der »sculptures moulées«, Fotografie 2009 387. »Feuilles et Modulor«, 13. Juli 1953 (FLC, 1785) 388. Detail des Baums in der Wand der »sculptures moulées«, Fotografie 2009

167

Die Unités d’Habitation in Rezé-lès-Nantes, Berlin und Briey-en-Forêt

382. »Tour façade Est, coffrage des sculptures«, 16. Juli 1953 (FLC, 1676)


198


453. Arbeitsskizzen für Gebäude mit geschwungenen Dächern, 24. März 1951 (FLC, Nivola Skizzenbuch I, FLC, W1.8.93, f. 157)

dabei die Seiten seines Skizzenbuchs mit Notizen und Zeichnungen (er beschäftigt sich auch mit Häusern unbekannter Architekten und Wohnprojekten von Varma).2 Er sucht nach dem Wesen des Bauens in Indien und findet es in der »verandah«, die er »den Schlüssel« nennt, weil »sie der Sonne genüge leistet«, und im »Diagonalbau«, weil er den Wind in die Häuser lässt.3 Er denkt darüber nach, die gerade für die Kapelle von Ronchamp entdeckten surfaces gauches (Freiformflächen) in »Schirme« zum Schutz vor Sonne und Regen umzuwandeln, die schließlich mit Spritzbeton in den Monumenten von Chandigarh ausgeführt werden: »Begreift alles als Spritzbeton auf Streckmetall [...], um schlank und großzügig zu bauen.« 4 Er sieht den Spritzbeton nun als eine Möglichkeit zur Mechanisierung der Baustelle, um den »Rhythmus« des Bauens zu beschleunigen und Handarbeit zu ersetzen.5 In seinen Notizen zu den surfaces gauches seiner Bauten in Chandigarh erwähnt er den Namen Gaudí.6 Die Hauptachsen der geplanten Stadt werden gegen Ende Februar und Anfang März 1951 unter Berücksichtigung der Studien festgelegt, die mit der Ville Radieuse begonnen und dann mit dem Plan für Bogotá weiterentwickelt worden waren. Die Verteilung der Funktionen, wie sie Albert Mayer (im sogenannten Mayer-Plan) formuliert hatte, bildet in jedem Fall das Grundlayout. Le Corbusier wandelt aber das »amerikanische System« der »Städte für Autos« des Mayer-Plans um, und sobald einmal die Nervenzentren der Stadt neu gestaltet sind, kann er feststellen, dass »der Kopf, der Bauch und das Herz der Stadt von uns geschaffen und organisch positioniert wurden.«7

2 Zu lokalen Bautechniken siehe zum Beispiel die Seite des Skizzenbuchs »Punjab Capital-Project, Simla« vom 25. Februar 1951, FLC, W1.5.22 3 Ebd., FLC, W1.5.33 4 Le Corbusier, Nivola Skizzenbuch I, FLC, W1.8.93, f. 157, 24. März 1951. Die Seite des Skizzenbuchs ist veröffentlicht in [Le Corbusier]: Chandigarh, la nouvelle capitale du Punjab. In: Boesiger, Willy (Hrsg.): Le Corbusier. Œuvre complète 1957–1965. Zürich 1965

454. Ausführungsplanung für die Wohnbereiche und das Kapitol, 7. März 1951 (FLC, Skizzenbuch »Punjab Capital-Project, Simla«, FLC, W1.5.49) 455. Albert Mayers Masterplan für Chandigarh, 1949–50 (Michael Raeburn, Victoria Wilson [Hrsg.], Le Corbusier, Architect of the Century, London 1987)

(1966), (S. 68–115), S. 69. Auf Le Corbusiers ersten Skizzen sind die komplexen Kurven der Unterstände vom Gebäudekörper losgelöst, der von Schirmen (»ecrans«) aus einer Anordnung von Claustra umgeben wird, welche »von Hand gefertigt werden sollen« (Le Corbusier, Nivola Skizzenbuch I, 24. März 1951, FLC, W1.8.94, f. 159). 5 Le Corbusier, Nivola Skizzenbuch I, FLC, W1.8.97, 165, 30, Oktober 1951 6 Le Corbusier, Nivola Skizzen-

buch I, f. 157, a. a. O. Siehe auch Le Corbusier, Nivola Skizzenbuch I, f. 159, a. a. O. 1960 assoziiert Le Corbusier die surfaces gauches – insbesondere das hyperbolische Paraboloid – mit Werken von Torroja (vgl. Le Corbusier: Skizzenbuch P59. In: de Franclieu, Françoise [Hrsg.]: Le Corbusier. Carnets. Band 4, 1957–1964. Paris / New York 1982, Nr. 496, o. J. [1960]). 7 Le Corbusier, Notizen auf der Zeichnung vom 17. März 1951, Stadtmuseum Chandigarh

199

Chandigarh – die kosmische Vision

450–452. Arbeitsskizzen zu lokalen Techniken und Konstruktionen, Februar– März 1951 (FLC, Skizzenbuch »Punjab Capital-Project, Simla«, FLC, W1.5.5, 22, 40)


498. Grille climatique, Anwendung auf Häuser von 110 m2, 1951–1952, Übersichtstabelle, 21. Januar 1952 (FLC, 5623)

220

soleil und Loggien in Bezug auf den jährlichen Sonnenverlauf; mechanische Eigenschaften von Außenwänden und Trennwänden zu Korridoren zur Belüftung und Temperatursteuerung; die Höhe von Brüstungen und Geschossen in Bezug auf den Anfall von Regen.74 Die grundlegenden Dokumente, welche die Studien von Xenakis, Samper, Missenard und Le Corbusier zusammenfassen, werden im Januar 1952 unter der Überschrift »Klimaraster des Ateliers Le Corbusier« angefertigt. Sie stellen eine systematische, umfassende grafische Übersicht mit einer Reihe von Zeichnungen architektonischer Lösungen dar. »Das Raster«, so steht im theoretischen Teil vom 31. Januar, »ist die reale Visualisierung, durch die wir die klimatischen Bedingungen eines (durch seine geografischen Koordinaten) bestimmten Orts beziffern, koordinieren und analysieren können, um architektonische Betrachtungen zu menschlichen, biologischen Lösungen zu führen. Die Frage ist, wie man extreme Klimata baulich regulieren oder sinnvoll korrigieren kann, um behagliche und komfortable Bedingungen zu gewährleisten.«75 Im Koordinatensystem des Grille climatique werden entlang der Abszisse drei Gruppen dargestellt: »Umweltbedingungen« (später »Klimadaten«); »Korrekturen für Komfort und Wohlbefinden« (später »vorzunehmende Korrekturen«); »architektonische Lösungen« (später »architektonische Verfahren«). Jede dieser Gruppen ist in die Monate des Jahres unterteilt. Die vier »wesentlichen Elemente« des Klimas (später »Faktoren«) sind entlang der Ordinate angeordnet: »Temperatur« (später »Lufttemperatur«); »hygrometrischer Luftzustand« (später »relative Luftfeuchtigkeit«); »Luftbewegungen (Winde oder Ströme)« (später »Wind«, unterteilt in: »Richtung«, »Geschwindigkeit« und »Temperatur«); »zu berücksichtigende thermische Strahlung der Objekte« (später »Strahlung«, unterteilt in: »solarthermische Strahlung«; »Sonnenlichtstrahlung«; »Abstrahlung der Wände«).76 Der vierte Faktor (»zu berücksichtigende thermi74 Siehe Zeichnung vom 18. Dezember 1951, FLC, 2642, und FLC 2854. Diese Studien bilden die Grundlage der Festlegung einer Büroeinheit von 13’ x 5” x 19’-9”: »optimale Ergebnisse für die Effizienz in Bezug auf Licht, Luft und Raum usw.« (Jeet Lal Malhotra, »Secretariat Building Chandigarh«,

o. J., FLC, A2.19.79 – 81) Atelier Le Corbusier, »Grille Climatique de l’Atelier Le Corbusier«, 31. Januar 1952, FLC, P2.1.3–8. Der Text erscheint in: Grille Climatique de l’AtelierLe Corbusier. In: Le Corbusier. Œuvre complète 1952–57, a. a. O., S. 108 76 Atelier Le Corbusier, »Grille 75

Climatique de l’Atelier Le Corbusier«, 31. Januar 1952, FLC, P2.1.3–8


Chandigarh – die kosmische Vision

sche Strahlung der Objekte«) beinhaltet direkt die baukonstruktiven Elemente, weil es hier um die »thermische Abstrahlung von Wänden, Dächern etc. ...« geht. In der Spalte mit den »architektonischen Lösungen« zeigt ein Stempel mit dem Buchstaben D (Abkürzung für »drawing) die Zeichnungsnummer mit der »angemessenen architektonischen Lösung« für die »Korrekturen biologischer Ordnung« an, die sich aus den Angaben in den anderen Spalten ergeben. Die theoretischen Grundlagen des Grille climatique bestätigen, dass Le Corbu- 221 sier von der Psychophysiologie der Wahrnehmung zur menschlichen Physiologie übergeht, die nun die Grundlage für seine Architektur »einer biologischen Ordnung« bilden soll. Jeder bauliche Eingriff gemäß diesem Raster beeinflusst die menschlichen Organe (die Augen im Fall der Sonnenstrahlung, die Lunge bei der Belüftung). Gerade die Forschung zum Grille climatique und der daraus resultierende Kontakt zu Missenard veranlassen Le Corbusier, die Entwicklung vom Fenster zum pan de verre mit den Auswirkungen von Licht auf die Netzhaut zu begründen. Und dennoch ist Le Corbusiers Vorgehensweise offenbar weiterhin von der Sehnsucht geleitet, Lösungen zu rechtfertigen, die er bereits als Ikonen des »Maschinenzeitalters« und seines Skeletts aus Stahlbeton gesehen hatte – darunter der pan de verre selbst: »Dieses Gebäude [...] muss aus Glas sein«, lautet a priori seine kategorische Aussage zum Sekretariat – jenseits jeder Logik des Grille climatique.77 »Die menschliche Netzhaut«, schreibt der ›Mann des Lichts‹,78 »verlangt in Ländern mit blendendem Licht (in den Tropen usw.) nach Vorrichtungen für die Reflexion des Lichts, d. h. die Lichtquelle (die Verglasung) sollte die Decke, den Boden, die linke Wand und die rechte Wand berühren, um das Licht dort zu reflektieren und für die Netzhaut ähnliche Bedingungen wie draußen zu schaffen. Die schlechteste Position eines Fensters ist für das Auge die Wandöffnung, die ›wie ein Kanonenschlag oder ein Schuss in der Nacht‹ stark blendet (Fenster mitten in der Wand und gegen das Licht = ein unerträglicher Kontrast für die Netzhaut).«79 77 Le Corbusier, Brief an Pierre Jeanneret, 15. Januar 1957, FLC, P1.10.116 78 Le Corbusier, Brief an das Office of the Senior Architect, 23. November 1956, FLC, P1.10.113 79 Le Corbusier, Brief an Prameshwari Lal Varma, 22. Mai 1956, FLC, P1.10.301–

315. Le Corbusier weigert sich auch, Vorhänge vor die brisessoleil zu hängen, weil die schlanken, hellen Seitenspalte zu Blendwirkungen der Fenster führen würden (Le Corbusier, Brief an Pierre Jeanneret, 15. Januar 1957, FLC, P1.10.116). Das Fenster mit einer Höhe vom Boden bis zur Deckenun-

terkante hält Le Corbusier für ideal für die Lüftung (wahrscheinlich seit seinem Aufenthalt im Hotel Formentor auf Mallorca in Räumen mit einer Höhe von etwa 2,20 m im Jahr 1932) (vgl. Le Corbusier, Brief an Maxwell Fry, Pierre Jeanneret, 19. Juni 1951, FLC, P1.20.22–23).


242 529–535. Justizpalast, Kapitol, Chandigarh, 1951–1955 529. Skizze zur Schalung der brisessoleil, November 1952 (FLC, Skizzenbuch F27, Nr. 879) 530. Pierre Jeanneret, Baustellenfotografien (FLC, L3.13.129, 38) 531. Pierre Jeanneret, Baustellenfotografien, u. a. mit Details zur Herstellung der mit Blech beschlagenen Holzschalung (FLC, L3.13.131)


532. Pierre Jeanneret, Fotografie der Kreisschablone zur Herstellung der halbzylindrischen Schalung der Pfeiler (FLC, L3.13.129, 40) 533. Pierre Jeanneret, Baustellenfotografien (FLC, L3.13.130, 48–49) 534. Pierre Jeanneret, Baustellenfotografie »entlang des Dachs während des Betoniervorgangs« (FLC, L3.13.129, 41) 535. Blick auf die Dachschalung (FLC, L3.11.20)

Chandigarh – die kosmische Vision

243


250

des Laubengangs hinter den brises-soleil. Wir bewegen uns nun aufwärts (die gesamte Rampe bis oben besteht aus hellem Stein). Wir sind nun im ersten Obergeschoss (wenn ich nicht irre, sind dies die Räume der Richter und die Angestelltenbüros über der Wandelhalle, der Gang hinter den brises-soleil): roter Stein. Wir steigen weiter nach oben und kommen zum Restaurant, den Büros und den Archiven. Ich bevorzuge das Restaurant zur Rampe hin mit hellem Stein, während die Büros und die Archive rot sein können, wie du willst. Wir steigen weiter nach oben und sind nun unter den Dachbögen. Hier kannst du nach Belieben wählen. Ich bevorzuge nach wie vor den hellen Stein. Im Hinblick auf die Kombination von roten und hellen Steinplatten überlasse ich es dir, wie auf deinen Skizzen angegeben, einige rote Platten zu integrieren, aber sparsam und nicht in symmetrischer Anordnung – im Gegenteil.«186 Der Justizpalast wird auch zu einer indischen Testbaustelle für die Anwendung von Farbtypen auf Beton. Wegen der Farben, die sowohl in Chandigarh als auch in Ahmedabad zum Einsatz kommen sollen, wendet sich Le Corbusier an Peintures Berger, um die Repräsentanz in Kalkutta mit den Matroïl-Farben der drei für die Unité d’Habitation in Marseille spezifizierten Serien auszustatten.187 Im Verlauf des Jahres 1954 stellt sich heraus, dass rechtliche und den Handel betreffende Schwierigkeiten den Import der Matroïl-Farben nach Indien verhindern werden.188 Dies ist der Fall trotz Le Corbusiers Sonderantrag an die indischen Behörden, in dem er betont, dass seine Architektur, die für den Einsatz »starker Farbkontraste entworfen ist«, diesen Farbtyp benötigt: »Die mit herkömmlichen Farben

186

Le Corbusier, Brief an Pierre Jeanneret, 4. Oktober 1954, FLC, P1.20.132–135 187 Le Corbusier, Brief an Charles Hary, 1. Juli 1953,

FLC, P2.17.233 188 Peintures Berger, Brief an Le Corbusier, 22. Februar 1954, FLC, P2.17.234


543–545. Justizpalast, Kapitol, Chandigarh, 1951–1955, Ansichten aller Oberflächen aus béton brut und Spritzbeton auf der Baustelle vor dem Auftragen der Farben (FLC, ohne Klassifikation)

Chandigarh – die kosmische Vision

251


Farbe kommt in den Büros zum Einsatz, um die Wahrnehmung der gleichmäßigen Spannweiten des Tragskeletts zu verändern – so wie sie auch in Pessac verwendet wurde, um den Anblick identischer benachbarter Gebäude zu modifizieren. Das Vorbild für die Farbgestaltung des Sekretariats ist die Fabrik Claude et Duval, bei der die von sichtbaren Unterzügen begrenzten Deckenfelder farbig waren. Deshalb schlägt Le Corbusier vor, die Deckenfelder in »brutalen Farben zu streichen«,260 Weiß, Schwarz, Grün, Gelb, Blau und Rot – alles »reine« Farben aus der Farbtonpalette der Nischen des Justizpalasts, die einzeln in den Deckenfeldern verwendet werden sollen, um auf jeder Etage »mehr Kontrast« zu erzeugen.261 Er skizziert eine Ansicht des Tragwerks mit blau, grün, gelb, rot und braun gestrichenen Deckenfeldern.

272

584–592. Sekretariat, Kapitol, Chandigarh, 1951–1958 584. Baustellenaufnahmen (FLC, L3.3.2, 121–22) 585. Fotografie aus dem Jahr 2009 586–587. Baustellenaufnahmen (FLC, L3.12.74, 269; FLC, ohne Klassifikation)

260

Le Corbusier, Brief an Willem Tak, 29. April 1957, FLC, P1.10.121

261 Jeet Lal Malhotra, Brief an den Chefingenieur, Capital Project, Chandigarh, 8. Januar

1958, FLC, P1.10.126


588–589. Rampe, Fotografien 2009 590. Baustellenaufnahmen von Le Corbusier und Maultieren auf einer Rampe (FLC, L3.12.77, 30–31) 591. Rampe, Fotografie 2009 592. Treppe, Fotografie 2009

Chandigarh – die kosmische Vision

273


991. Le Corbusiers Atelier, Rue Nungesser-et-Coli 24, Paris (FLC, L2.10.78)

aktion der am Bau beteiligten Handwerker und Baufirmen vollzieht. Somit ist es nur natürlich, dass Le Corbusier – auch nach der Entdeckung des künstlerischen Potenzials der nicht vorherzusehenden »mangelhaften Verarbeitung« von Marseille und nachdem er eine schriftliche Apologie über die Schönheit dieser unerwarteten Unvollkommenheit verfasst hat – ein zunehmendes Interesse an den künstlerischen Prozessen zeigt, die – von Breton bis Duchamp – unter der Überschrift der automatischen Phänomene zusammengefasst werden. Mitte der 1950er-Jahre versucht er, einige seiner künstlerischen Vorgehensweisen vor dem Hintergrund der Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst zu definieren. Um seine Ablehnung des durch Zufall generierten Kunstwerks zu illustrieren (in diesem Sinn ist es bezeichnend, dass er Pollock als einen »Jäger, der schießt, ohne zu zielen«, sieht),20 erfindet er eine Übung, die seinen Kombinationen von Mustern und optischen Illusionen aus den 1910er-Jahren ähnelt. Auf der Rückseite einer Speisekarte zeichnet er drei Streichhölzer – eines ganz und die anderen an ein oder zwei Punkten gebrochen – und kombiniert dann die drei Streichhölzer auf drei verschiedene Arten. Er will damit demonstrieren, dass »es die Art ihrer Anordnung ist, die eine enorme Vielfalt schafft.« Eine ähnliche, von Fragen der Wahrnehmung geleitete Übung war 1965 der Anstoß für eine Skulptur von Robert Morris in der Form gleicher, aber unterschiedlich angeordneter Balken. Le Corbusiers Schlussfolgerung ist, dass »man eine der drei Figuren auswählen, sich daher entscheiden, daher an etwas glauben und sich deshalb bekennen muss.«21 Die als Taureaux (Stiere) bezeichneten Figuren, von denen Savina einige in Skulpturen übersetzt, werden durch unbewusste, automatische Prozesse – »unterbewusste Akte«, wie er sie nennt – 22 generiert und könnten daher das Thema eines Kapitels von Dalí über die paranoid-kritische Methode sein.23 Der Minotaurus, das

434

20 Nivola, Costantino: Le Corbusier in New York. A Memoir by Costantino Nivola. In: Ingersoll, Richard (Hrsg.): Le Corbusier: Drawings from the Collection of Costantino Nivola. New York 1990, (S. 3– 6), S. 6. Zwischen 1949 und 1952 hielt

sich Le Corbusier bei Reisen wegen des UN-Hauptquartierprojekts in New York zuhause bei Nivola in East Hampton, Long Island, auf. Pollock, Kiesler und Sert verbrachten oft Wochenenden und Urlaube am selben Ort (ebenfalls Léger,

Dalí, Duchamp, Ernst, Breton). 21 Le Corbusier, Notizen, o. J., FLC, B3.7.136 22 Le Corbusier: Skizzenbuch R63. In: de Franclieu, Françoise (Hrsg.): Le Corbusier. Carnets. Band 4, 1957–1964. Paris / New York 1982, Nr. 690,

April 1961 23 Vgl. Dalí, Salvador: Le Mythe Tragique de l’Angélus de Millet. Paris 1963


992. Pablo Picasso, Stierschädel, 1943 (Musée Picasso, Paris) 993. Kombinationsübersicht dreier Streichhölzer (FLC, B3.7.136) 994. Le Corbusier am Strand (FLC, L4.3.26) 995. Ägyptische Skulptur, gezeichnet in Kairo, April 1952 (FLC, Skizzenbuch F25, Nr. 786) 996. Taureau I, 26.–27. April 1952 (FLC, 430) 997. Skizze eines Pylons des Portikus des Parlaments für das »livre sculptures« (FLC, E1.10.331)

monströse Wesen der griechischen Mythologie – halb Stier, halb Mensch –, dem Le Corbusiers Taureau verwandt ist, war zum Titel einer 1933 gegründeten surrealistischen Zeitschrift und zu einem Thema in Picassos Malerei geworden. Gerade in dieser Zeitschrift war ein Foto einer verlassenen Lokomotive erschienen, auf der eine spontane Vegetation wuchs – wie im Garten in der Rue Nungesser-et-Coli.24 Die Taureaux sind eine Montage von Objekten, ähnlich wie bei Picasso – von Kieselsteinen bis hin zu Wurzeln –, die (vor dem Hintergrund der Beziehung Le Corbusiers mit Yvonne) weibliche und tierische Körper darstellen und »ohne Pauken und Trompeten zum Leben erwacht sind und ohne dass ich davon wusste.« Ihr Anfangspunkt ist ein 1952 in Kairo gemaltes Bild: »Später sah ich, dass ein Stier darin enthalten war sowie vernünftige Gründe«.25 Die Idee kommt ihm wahrscheinlich beim Anblick einer ägyptischen Skulptur mit einem von zwei Armen gekrönten

Ton- und Bildprojektionen und Automatismen

435

24 Vgl. Péret, Benjamin: La nature dévore le progrès et le dépasse. In: Minotaure, IV, 1937, Nr. 10, S. 20 –21. Die Autoren danken Luca Ortelli für den Vorschlag, die in »Minotaure« veröffentlichte Lokomotive mit Le Corbusiers verwil-

dertem Garten zu vergleichen. 25 Le Corbusier, Brief an Joseph Savina, 20. August 1954, Savina Archive, Tréguier (Kopie FLC, F3.18.120). Zur Zeichnung des Taureau mit den Zügen Yvonnes (angefertigt in Kairo im April 1952) siehe Le

Corbusier: Skizzenbuch F25. In: de Franclieu, Françoise (Hrsg.): Le Corbusier Sketchbooks. Band 2, 1950 –1954. London 1981, Nr. 787–790, o. J. [1952]. Vgl. Jornod, Naïma; Jornod, Jean-Pierre: Le Corbusier (Charles Edouard Jeanne-

ret). Catalogue raisonné de l’œuvre peint. Mailand 2005, Band II, S. 872–941. Der Stier war Gegenstand der Skulptur Stierschädel (1943) von Picasso, hergestellt aus einem Fahrradsattel und -lenker.


1063–1064, 1066–1068. PhilipsPavillon, Weltausstellung 1958, Brüssel, 1956–1958 1063–1064. Arbeitsskizzen (FLC, Skizzenbuch K44, Nr. 706 und 709)

466

Erst am 28. September skizziert Le Corbusier die Form der Hülle, deren Geometrie sowohl in Grundriss als auch Schnitt fast spiegelbildlich ist. Die surfaces gauches mit unregelmäßiger Krümmung, die durch eine Vereinigung von »Kegel« und »Hyperboloid« entstehen, werden dabei in ihrer Form teilweise durch empirische Verlaufslinien der Schallreflexion korrigiert.151 Der Baukörper wird mit Paneelen gefertigt, die aus mit rauem Zementputz versehenen Streckmetallblechen bestehen,152 wie jene in bestimmten Studien zur Kapelle von Ronchamp. Die Paneele sind von einer Art Baustellengerüst abgehängt. Es hat Pfosten, die dem Himmel entgegenstreben – ein röhrenförmiger Panzer153 mit einem »Schutz-Dach«.154 Die Lösung einer Bewehrung, auf die – nach den Gesetzen der Akustik – die Gebäudehülle aufgebracht wird, war bereits im Entwurf für den Palast der Sowjets enthalten, während die Idee einer gerüstartigen Unterkonstruktion der Gebäudehülle von dem Entwurf für den Pavillon der Ausstellung Ideal Home in London aus dem Jahr 1938 stammt. Konstruktion und Gebäudehülle, Erstere mit Metallkabeln und Fachwerkträgern, Letztere mit Vorhängen, finden sich auch im Temps-Nouveaux-Pavillon (allerdings kann auch die Salle de Superstition – 1947 von Kiesler, basierend auf Ideen von Duchamp und Breton, für die Exposition Internationale du Surréalisme in der Galerie Aimé Maeght in Paris fertiggestellt – als ein Vorbild für die erste Version des Philips-Pavillons angesehen werden). Beim Entwurf des Philips-Pavillons bezieht sich Le Corbusier auf das Spektakel des Poème électronique, das die Besucher auf einer in Minuten berechneten Wegstrecke erleben sollen (zwei Minuten für das Betreten und Verlassen des Pavillons, acht für seine Durchquerung). Während dieser neuen Art der promenade bewegen sich die Besucher entlang einer gewundenen Route, die ein unmittelbares Wahrnehmen

151

Le Corbusier: Skizzenbuch K44. In: Le Corbusier. Carnets. Band 3, 1954 –1957, a. a. O., Nr. 706 –709, o. J. [1956]. Nach seinen eigenen Aussagen will Le Corbusier eine »Art Magen« mit einem Eingang und einem Ausgang schaffen (vgl. Le Corbusier: Notre travail, a. a. O., S. 24). Eine dem Magen ähn-

liche Figur erscheint in der Studie eines Stilllebens, die Le Corbusier in die Zeichnungsreihe zum espace indicible aufnimmt (siehe Zeichnung FLC, B5.7.308). 152 Le Corbusier: Skizzenbuch K44, a. a. O., Nr. 706 153 Ebd. 154 Xenakis: Genèse de

l’architecture du pavillon, a. a. O., S. 3. »[…] den Pavillon von einem Stahlrahmengerüst abhängen«, lautet Kalffs Zusammenfassung der »ersten Idee« von Le Corbusier (vgl. Louis C. Kalff, Brief an Le Corbusier, 29. November 1956, FLC, J2.19.99–100).


1066. Modell des Pavillons (FLC, ohne Klassifikation) 1067. Schematische Darstellung des Werkzeugs zur Herstellung von Regelflächen (Le Corbusier, Le Poème électronique, Paris 1958) 1068. Zeichnung der Kombination von Regelflächen des Pavillons (Le Corbusier, Le Poème électronique, Paris 1958)

des Ausgangs verhindert; sie fühlen sich wie in den Falten eines Vorhangs, eingetaucht in ein Spektakel aus Licht, Ton und Bildern, die dank hochentwickelter, neuartiger elektronischer Unterhaltungsgeräte für son et lumière synchron projiziert werden: gemäß Le Corbusiers verschiedenen Beschreibungen als »elektrische Kunst«,155 »›poème électronique‹ (Aufführung und Akustik)«,156 »Extravaganza« oder »jeu«. In den ersten Wochen des Oktober 1956 beteiligt sich das Atelier Le Corbusier an der Definition einer freitragenden Oberfläche, an der die Statik getestet werden kann und die sich für die Serienproduktion in der Werkstatt sowie die Montage vor Ort in ihre Einzelteile zerlegen lässt. Xenakis wird die Aufgabe zuteil, diese Art von Oberfläche zu entwickeln, auch aufgrund seiner Kenntnis der mathematischen Studien von Laffaille. Le Corbusier wendet sich wegen bibliografischer Angaben zur »dreidimensionalen Darstellung von mathematischen Funktionen« an den Direktor der Eidgenössischen Technischen Hochschule, an den Rektor der Universität Zürich und den Direktor des Palais de la Découverte von Paris, um einen »Formenkatalog« zur Verfügung zu haben, aus dem er auswählen kann.157 Die von ihnen angegebenen Texte sind: Funktionentafeln mit Formeln und Kurven,158 Anschauliche Geometrie159 und die Zeitschrift »Graphis Annual«.160 Unter den Inspirationsquellen für die surfaces gauches beginnen, neben den Gesetzen der Akustik, Cockpits und Tragflächen von Flugzeugen, Schiffssegel, Fischernetze oder Pflüge – also durch mathematische Funktionen erzeugte Figuren – eine entscheidende Rolle einzunehmen. Mit diesen Funktionen entwickeln Le Cor-

155

Le Corbusier, Brief an Edgar Varèse, 12. Juni 1956, FLC, G2.20.516 – 517 156 Le Corbusier, Brief an den Direktor der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, 15. Oktober 1956, FLC J2.19.393. Er schreibt auch von »›jeux électroniques‹, elektronisch, synchronisch« (Le Corbusier, Brief an Louis C. Kalff, 3. Juli 1956, FLC,

G1.10.8). Der Pavillon und das Poème électronique stellen das dar, was Le Corbusier selbst als »architektonische und audio-visuelle Kreation« bezeichnet (»Philips Poème Electronique«, o. J., FLC, J2.19.370 –392). 157 Le Corbusier, Text des Briefs an die drei Institutionen, 15. Oktober 1956, FLC J2.19.393

158

Jahnke, Eugen; Emde, Fritz: Funktionentafeln mit Formeln und Kurven. Leipzig 1909 (1923). Vgl. auch Bartel Leendert van der Waerden, Brief an Le Corbusier, 17. Oktober 1956, FLC, J2.19.395; und Rektor der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Zürich, Brief an Le Corbusier, 20. Oktober 1956, FLC, J2.19.396

467

Ton- und Bildprojektionen und Automatismen

1065. Fotografie von Fischernetzen (FLC, ohne Klassifikation)



1085. Fotografie (Marc Treib, Space calculated in seconds: The Philips Pavilion, Le Corbusier, Edgard Varèse, Princeton, New Jersey 1996)

1079 –1085. Philips-Pavillon, Weltausstellung 1958, Brüssel, 1956 –1958 1079 –1080. Herstellung der Verkleidungspaneele der Gebäudehülle (Revue Technique Philips, XX, 1958–1959) 1081–1083. Baustellenfotografien (Marc Treib, Space calculated in seconds: The Philips Pavilion, Le Corbusier, Edgard Varèse, Princeton, New Jersey 1996; FLC, L1.3.37)

Ton- und Bildprojektionen und Automatismen

1084. Ansicht der inneren Oberflächen vor der Verkleidung (Revue Technique Philips, XX, 1958–1959)

gebaut, auf dem die verschiedenen Paneele ihre jeweilige Form erhalten. Die geringe Höhe der Werkhalle macht es erforderlich, die Sektoren der Regelflächen mit dem Sand einen nach dem anderen zu formen. Die Plattengröße wird von ihrer Transportierbarkeit bei der Montage bestimmt (es sind unregelmäßige Rauten von etwa einem Quadratmeter). Sie müssen verstärkt werden, um ein Brechen während des Transports und der Montage zu vermeiden. Die Platten werden vorübergehend in den hölzernen Rahmen angebracht (die Fugen werden mit Mörtel verfüllt). Dank des Kabelsystems und einer speziellen Schraubenwinde von Strabed zur Vorspannung der Elemente bilden die Platten und die zylindrischen Rippen ein organisches Ganzes, dessen statisches Verhalten dem einer »aus einem Stück gegossenen« Konstruktion ähnelt, wie Duyster betont.177 Die Platten erhalten eine Reihe zufällig, wie eine »Wolke« angeordneter »Löcher für Licht und Lüftung«: »Jede systematische Ausrichtung ist so weit wie möglich zu vermeiden«, heißt es in den Anweisungen für die Baufirma.178 Die Geometrie der Paneele der Gebäudehülle spiegelt sich auch im Spiel der 473 verschieden geformten Bodenpaneele des Pavillons – ein opus incertum, das im Werk von Le Corbusier eher ungewöhnlich ist. Die Erfahrungen beim Bau der Regelflächen veranlassen Le Corbusier und seine Mitarbeiter, sich die konstruktiven Möglichkeiten jenseits von Stahlbeton und eher im Bereich von »leichten, flexiblen Materialien, chemischen Komponenten und Kunststoff« vorzustellen.179 Nicht zufällig rät Le Corbusier Xenakis, sich das Kunststoffdach des amerikanischen Pavillons auf der gleichen Ausstellung und die Automobile von Citroën (insbesondere deren »Dach aus Kunststoff«) anzusehen.180 Die Hülle des Pavillons wird mit einer Aluminium-Farbe lackiert,181 die Le Corbusier bereits in den ersten Skizzen auswählt, als die Farbe noch aus der Struktur resultiert, welche die Hülle bilden sollte (»Farbe: Metallpanzer«).182 Die »Formen« sollten »die Aluminium-Farbe zeigen«, wie in einem Dokument vom 29. Januar 1957 an die verschiedenen Baufirmen zu lesen ist.183 Mit dieser Farbe will Le Corbusier unterstreichen, dass der Pavillon »ein neues Instrument« für die jeux électroniques ist,184 ein elektronisches Gerät, welches – mehr noch als die Produkte von Philips selbst – das perfekte »Gehäuse« darstellt.185

177 Duyster: La construction du Pavillon en béton precontrait, a. a. O., S. 33 178 Iannis Xenakis, Brief an Hoite Cornelis Duyster, 3. Juni 1957, FLC, G1.15.8 179 Xenakis: Genèse de l’architecture du pavillon, a. a. O., S. 11 180 Le Corbusier, »Note à l’attention de Xenakis«, 29. Mai 1958, FLC, R3.9.12 181 Der isolierende Anstrich hat die Farbe von Aluminium (vgl. Kalff, »Le Pavillon Philips a

l’Exposition de Bruxelles en 1958«, a. a. O.). 182 Vgl. Le Corbusier: Skizzenbuch K44. In: Le Corbusier. Carnets. Band 3, 1954 –1957, a. a. O., Nr. 706, o. J. [1956] 183 Kalff, »Le Pavillon Philips a l’Exposition de Bruxelles en 1958«, a. a. O. 184 Le Corbusier, Notiz, o. J. [8. Mai 1958], FLC, J2.19.358. Die Definition des Pavillons als »instrument nouveau« wird durch den Begriff »un art nouveau« ersetzt.

185 Die Frage eines am besten passenden »Gehäuses« für ein Elektrogerät taucht im Zusammenhang mit den von Le Corbusier erworbenen Fernsehgeräten auf. 1957 entfernt er das Gehäuse, das die elektronischen Teile des Fernsehers verbirgt: »Ich hasse diese germanoamerikanischen Kisten, die Radios und Fernseher umschließen. Mein aktuelles Gerät ist nackt, die Vakuumröhren sind sichtbar […]« (Le Corbusier, Brief an Louis C. Kalff, 20. Juni

1957, FLC, E2.6.14 –15). Dann bittet er Kalff, ihm ein Modell von Philips zu senden: »Natürlich werde ich für das Gehäuse bezahlen, obwohl ich es beim Ladenverkäufer zurücklassen werde« (ebd.). Le Corbusier hatte bereits die Lösung des »Gehäuses« eines Fernsehers skizziert (siehe Skizzenblatt, FLC, A3.18.129– 132).


1159 –1164. Kloster Sainte-Marie-de-laTourette, Eveux-sur-Arbresle, 1953–1960 1159. Skizze der Öffnungen in der Wand hinter dem Altar, 1957 (FLC, Skizzenbuch L46, Nr. 819) 1160–1161. Zeichnungen der Kirche, 2. Mai 1955 (FLC, 1341) und 25. Juli 1957 (FLC, 1118)

512

sier hatte, nachdem er es 1911 in Neapel entdeckt hatte, fortwährend das quaderförmige Bossenwerk bewundert. Die Decke der Kirche soll mit direkt auf das Tragwerk gebrachtem Putz verkleidet werden; als Alternative sind wegen ihrer akustischen Eigenschaften Platten aus Asbestzement vorgesehen.61 Alle Oberflächen sollen »großkörnig« sein, um »im Fresko-Stil weiß gekalkt« zu werden.62 In dem im Februar 1956 diskutierten Entwurf wird das Tragwerk der Kirche zu einem komplexen Stahlbetonskelett, auch mit vorgefertigten und vorgespannten Teilen, das durch Betonblöcke geschlossen wird. Nur die gekrümmte Wand der Krypta wird in geschaltem Beton geplant,63 wie er schon in Rezé-lès-Nantes eingesetzt worden war. Die Wände der Kirche werden letztlich aus »geschaltem Beton« gebaut, mit einer Dicke von etwa 60 cm; die Zuschlagstoffe umfassen im Einklang mit der Bautradition von Lyon auch Hochofenschlacke.64 Dies sind die umfangreichsten bétonbrut-Oberflächen im Kloster. Dennoch ist die gegen März 1957 getroffene Entscheidung von Unsicherheit über die Oberflächenbehandlung begleitet, und das Atelier Le Corbusier erwägt noch die Möglichkeit, Tak wegen einer Behandlung des Innenraums mit einer »Akustik-Beschichtung« zu Rate zu ziehen.65 61 Siehe Skizzenblatt vom 22. Juni 1955, in: Xenakis: Musique de l’architecture, a. a. O., S. 92 62 Etablissements Jean Martin, »Devis Estimatif des travaux de Peinture à exécuter au Couvent

de la Tourette à Eveux-surArbresle«, 6. Februar 1956, FLC, K3.18.184–186 63 »Couvent de la Tourette à Eveux-sur-Arbresle. Etude Préliminaire. A. – Eglise«, 11. Februar 1956, FLC,

K3.4.151–162 Le Corbusier, Brief an Willem Tak, 24. September 1962, FLC, K3.10.40– 41 65 Fernand Gardien, »Objet: Couvent de la Tourette«, 23. März 1957, FLC, K3.7.274 64


1163–1164. Deckenpaneele der Kirche, Skizze (FLC, 30524D) und Ansicht, Fotografie 2009

Ab April sind Le Corbusiers Mitarbeiter mit dem Studium der Positionierung der Bretter und der Größe der Schalungspaneele beschäftigt; Ziel ist ein dekoratives Abdruckmuster, das auch innerhalb der Kirche sichtbar sein soll.66 Rechteckige Paneele mit einer Höhe von 1,4 m sind in horizontaler Anordnung vorgesehen, beim Betonieren strebt man eine homogene Oberfläche an: »Alle Nachbesserungen des Betons müssen orthogonal und ohne baguettes erfolgen.«67 Diese baguettes (also die Holzleisten, die beim Bau der Mauer verwendet werden, um perfekte horizontale Fugen zu erhalten) sind nur zwischen den großen Wandpaneelen der Sakristei und der Krypta vorgesehen. Bei Letzterer werden die Schalungsbretter vertikal angeordnet, um eine Krümmung der Wand zu erzeugen.68 Auch ein »kreuzförmiges baguette« wird eingeführt, vielleicht mit dem Ziel, eine religiöse Symbolik selbst in den konstruktiven Details einzuführen.69 Für das rechteckige Raumvolumen mit der Orgel studiert Le Corbusier eine Anordnung von Schalungspaneelen, mit der auf dem béton brut ein Motiv diagonaler Linien erscheinen soll, die vom Zentrum nach außen strahlen – vielleicht eine Metapher für Schallwellen.70 Nachdem er eine Verkleidung aus reinem Asbest der Marke Limpet im Sinn hatte –71 »Hellbeige, Sandstein-Farbton, natürlicher Farbton von Asbestfasern« –72 und nach dem Vorschlag einer »einheitlichen und nach dem Entfernen der Schalung unbehandelten Decke aus verlorener Schilf-Schalung für die Kassetten zwischen den

66 Siehe Zeichnungen vom Juli 1957, FLC, 1116 und FLC, 1118 67 Siehe Zeichnung vom Juli 1957, FLC, 1116 68 Ebd. 69 Ebd.

70 Siehe Zeichnungen vom 4. März 1957, FLC, 30515; vom 7. März 1957, FLC, 30511 und FLC, 30522 71 P. R. Baude von Amiante et ses Applications, Brief an Le Corbusier, 22. Januar 1958,

FLC, K3.4.201 P. R. Baude von Amiante et ses Applications, Brief an Le Corbusier, 17. Januar 1958, FLC, K3.4.205–206 72

513

Auf dem Weg zu einer Nouvelle stéréotomie

1162. Innenansicht der Kirche, Fotografie 2005


524 1192, 1194–1197. Maison du Brésil, mit Lúcio Costa, Cité Universitaire, Paris, 1952–1959 1192. Darstellung des Bodenbelags im Erdgeschoss, 17. Februar 1958 (FLC, 12630)

1193. Zeichnung der Küste bei Rio de Janeiro (Le Corbusier, François de Pierrefeu, La maison des hommes, Paris 1942)

Streifen unterschiedlich breiter, schwarzer Schieferplatten, die Räume mit der Eingangshalle und der Gebäudekörper mit den Studentenzimmern. Die gesamte Gestaltung beruht auf Kontrasten zwischen Baukörpern von unterschiedlicher materieller Beschaffenheit: dem schweren, großen Wohnriegel und dem weichen, niedrigen Baukörper der Räume mit der Halle (das Dach des Letzteren scheint sich in der Mitte unter dem Gewicht des anderen Baukörpers durchzubiegen). Die Blickachsen in der Halle – durch Freiräume und konvexe Formen von gebogenen Wänden und Verglasungen hindurch – und verschiedene Lichtquellen im Dach, einige davon eiförmig, nehmen eine Architektur vorweg, die auf kraftvollen illusionistischen Effekten beruht. Sie bewegt sich auf eine Überwindung der herkömmlichen Definition von Innen und Außen zu, und zwar auf eine andere Art als bei der Villa Curutchet, dem Gebäude der Mill Owners’ Association oder dem Forum des Parlaments von Chandigarh. Es ist, als ob das Spiel der Reflexionen mit Spiegeln oder Wasserbecken, das Le Corbusier immer bewundert und in vielen seiner Werke neu interpretiert hat, jetzt eine räumliche Konsistenz angenommen hat und den Plan Libre nun über seine Ursprungskriterien hinaus weiterentwickelt, in Richtung der Landschaften des Unbeschreiblichen Raums. Nicht zufällig wird dieses Ziel durch einen Transfer der Züge der tropischen Landschaft Brasiliens erreicht. Die Maison du Brésil gehört zu derjenigen Phase von Le Corbusiers Untersuchungen, in der er sich mit béton brut befasst, der in glatte und in dekorierte Bereiche unterteilt ist. Die ersten Leistungsbeschreibungen zur Herstellung der Schalung und des Betons der Plattform zeigen deutlich, dass bei den Portalrahmen ein glatter béton brut das Ziel ist. »Sie werden aus Stahlbeton hergestellt«, lesen wir zu diesen Portalen, »ihre Schalung soll aus extra harten Isorel-Platten bestehen, um eine glatte Oberfläche zu erhalten; das Betonieren und das Verdichten müssen so durchgeführt werden, dass eine kompakte und homogene Masse entsteht, in der absolut kein versehent-


1194. Modell (FLC, L2.6.2) 1195. Fotografie der Baustelle (FLC, L2.6.23) 1196–1197. Fotografien des Erdgeschosses (FLC, L2.7.86 und Fotografie 2010)

Auf dem Weg zu einer Nouvelle stéréotomie

525


1218 –1230. Carpenter Center for the Visual Arts, Harvard University, Quincy Street, Cambridge, Massachusetts, 1960– 1963. Fotografien und Zeichnungen von José Luis Sert mit Details des Prototyps, 1961 (FLC, L1.5.35, 37, 39–42, 44–50)

534


Auf dem Weg zu einer Nouvelle stĂŠrĂŠotomie

535


1256–1258. Nationalmuseum für westliche Kunst, 7–7 Ueno-koen, Taito-ku, Tokio, 1956–59 1256–1257. Fotos der Baustelle (FLC, L3.15.105, 102) 1258. Detail einer Fassadenplatte (FLC, F1.12.438)

tigung der Holzschalung ist so genau, dass beim Übergang von einem Abschnitt zum nächsten in den hohen, runden Säulenschäften eine horizontale Fuge eingeführt wird – vorgeschlagen von Sakakura (Maekawa hatte bereits eine ähnliche Lösung verwendet).201 »Die Fugen in der Schalung sehen nicht klar aus«, schreibt Sakakura. »Wir schlagen vor, einen kleinen Streifen zu machen, der die Linie markieren wird.«202 Auch an der Basis der Pilotis der Villa Savoye hatte Le Corbusier im Sichtputz eine ähnliche Nut eingesetzt,203 eine analoge Fuge war in der Metallschalung der Rundstützen der Cité de Refuge verwendet worden. 201

Siehe Kanagawa Prefectural Library and Auditorium, Yokohama, 1952– 54 (vgl. Reynolds, Jonathan M.: Maekawa Kunio and the emergence of Japanese modernist architecture. Los Angeles / London 2001, S. 169) 202 Junzô Sakakura, »Questionnaire sur ›Muto‹«, o. J., FLC, F1.12.439– 440. Ursprünglich plant Le Corbusier für einen béton brut lisse hohe, zylindri-

546

sche Stützen mit Stahlschalung: »Die Schalung der Stützen wird mit besonderer Sorgfalt ausgeführt und besteht aus 1,40 m hohen Halbzylindern aus Stahlblech, um so glatten Beton zu erzielen.« ([Atelier Le Corbusier], »Le Musée National des Beaux Arts de l’Occident. Description du musée«, 8. Juni 1957, FLC F1.12.220–243)


Die Fuge verwandelt die Verbindung zwischen verschiedenen Teilen der Schalung in ein dekoratives Element der Stütze. Dies entspricht der konstruktiven Logik der französischen Tradition, die auf die Stützen von de l’Orme zurückgeht und nach der die Logik des Ornaments dem kostruktiven Detail folgt. Das gleiche handwerkliche Können zeigt sich bei anderen Elementen des Museums, so bei den vorgefertigten, rechteckigen Fassadenpaneelen, die durch eine perfekte Betonung der Kiesstruktur ihrer Oberfläche hervorgehoben werden. Die Stahlbetonplatten, deren Maße auf dem Modulor basieren, werden »auf einem Rütteltisch« in Gussformen hergestellt und »wie die Steine einer Wand« montiert. »Im oberen Bereich des Gusses, also auf der zukünftigen Fassadenseite des Elements, werden wir einige kleine, helle Kieselsteine einstreuen, die während des letzten Verdichtungsvorgangs halb abgedeckt werden.«204 Le Corbusier bestimmt »die Größe und Dichte der Steine« der Paneele mit Fotografien von verschiedenen auf der Baustelle hergestellten Mustern.205

Die Halle und das fotografische Wandbild

203 Die Stützen des Schwimmbads des Sportkomplexes in Firminy, ausgeführt von Wogenscky, werden wie jene im Museum von Tokio mit zwei gekreuzten Schattenfugen versehen. 204 [Atelier Le Corbusier], »Le Musée National des Beaux Arts de l’Occident. Description du musée«, a. a. O. 205 Sakakura, »Questionnaire sur ›Muto‹«, a. a. O. Siehe Foto FLC, F1.12.438 206 Vgl. »à M. Le Corbusier. Les proportions du Torii et ses divers types«, 10. November 1955, FLC, F1.12.502 207 Vgl. [Le Corbusier], »Note pour Maisonnier dictée par L-C le 9 janvier 1956«, FLC,

F1.12.171. »Die Absicht ist es daher, die Grande Salle zu einer brillanten Demonstration der Errungenschaften des 19. Jahrhunderts im Bereich des Bauens zu machen, wie der großen Eisen- und Glaskonstruktionen, Staudämme und anderer Manifestation von Plastizität. Große fresques photographiques werden die Wände der Grande Salle des 19. Jahrhunderts zieren. An bestimmten Stellen werden farblich hervorgehobene Platten einige der wertvolleren Kunstwerke aus der Sammlung Matsukata aufnehmen (Tableaus und Skulpturen), die sich so in dem ihnen angemessenen Ambiente befinden« (»Note de Monsieur Le Corbusier relative

à la construction à Tokyo, du Musée National des Beaux-Arts de l’Occident«, 10. Juli 1956, FLC, F1.12.174 –179). Unter den Bildern führt er auch Fotografien der Werke von Haussmann in Paris, vom Verkehr in Städten und von Lokomotiven auf (vgl. Le Corbusier, Brief an den Konservator der Bibliothèque du Musée des Arts Décoratifs, 27. Januar 1959, FLC, F1.13.26). Vgl. auch Le Corbusier, Brief an Sakakura, 16. Februar 1959, FLC, G1.15.172 208 André Maisonnier, »Le Musée National des Beaux-Arts de l’Occident. Note descriptive«, 12. Juli 1956, FLC, F1.12.180 –183

Auf dem Weg zu einer Nouvelle stéréotomie

In der Mitte des Nationalmuseums für westliche Kunst, in der Halle oder Grande Salle, in die die Besucher eintreten, ragen zwei abstrakte zylindrische Säulen auf, welche die Sichtbetonbalken des Dachfensters stützen. Das Ganze bildet eine Struktur, die eine Metapher für das japanische Torii ist – das Tor der Shinto-Heiligtümer –, das aus zwei Säulen und horizontalen Balken besteht. Der Legende nach ist es auch das heilige Symbol für die Rückkehr von Amaterasu, der Göttin der Sonne (auch Le Corbusiers Torii ist lichtdurchflutet). Im November 1955, als er über das Museum in Tokio nachzudenken beginnt, erhält Le Corbusier eine Zeichnung mit den »ToriiProportionen und seinen verschiedenen Typen«.206 Diese Erfindung einer Struktur in Form eines Torii belegt die anhaltend starke symbolische Komponente in Le Corbusiers Architektur. 547 Die Sperrholzplatten zur Verkleidung der Wände der Grande Salle sollen als Untergrund für große Fotoabzüge bzw. ein fresque photographique (fotografisches Wandbild) mit Bildern der Jahre um 1800 dienen (von Metall-Konstruktionen und Keramik mit japanischem Einfluss bis zu Drucken von Rivière).207 Die Fotos sollen eine Einleitung und ein Hintergrund für die impressionistischen Kunstwerke aus der Sammlung von Kojiro Matsukata sein und »die Fantasie [der Besucher] anregen«.208 Le Corbusier untersucht verschiedene Möglichkeiten, die Bilder an den Wänden anzubringen, da er raffinierte Effekte erreichen möchte. Das direkte Aufdrucken der fotografischen Bilder auf Gipsplatten mit einer Schicht Fotoemulsion (derselben wie auf Fotopapier) hätte zu einer Überschneidung von Materialstruktur und Bildkör-


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