Nachhaltige Stadtplanung

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Nach – haltige Stadt – planung Konzepte für nachhaltige Quartiere


Impressum

Herausgeber Helmut Bott, Gregor C. Grassl

Autoren Helmut Bott (HB), Gregor C. Grassl (GCG) Stephan Anders (SA)

Koautoren Martin Altmann (MA), Jürgen Baumüller (JBA), Julia Böttge (JBÖ), Sigrid Busch (SB), Dominic Church (DC), Thorsten Erl (TE), Manal El-Shahat (MES), ­Johannes Gantner (JG), Tilman Harlander (THA), ­Gerhard Hauber (GH), Thomas Haun (TH), Dietrich Henckel (DH), Olaf Hildebrandt (OH), Jürgen Lau­ kemper (JL), Rolf Messerschmidt (RM), Peter Mösle (PM), Christopher Vagn Philipsen (CVP), Waltraud ­Pustal (WP), Christina Sager (CS), Mario Schneider (MS), Antonella Sgobba (ASG), Guido Spars (GS), Stefan Siedentop (STS), Antje Stokman (AS), Bastian Wittstock (BW), Andreas von Zadow (AVZ)

Mitarbeiter Alexander Sailer, Isabelle Willnauer

Redaktion Redaktion und Lektorat: Cornelia Hellstern (­Projekt­leitung), Sandra Leitte, Yvonne Bruderrek, ­Andrea Kohl-Kastner, Jana Rackwitz Redaktionelle Mitarbeit: Carola Jacob-Ritz, Florian Köhler, Kai Meyer, Eva Schönbrunner, Theresa Steinel, Lisa Wenz

Bibliografische Information der Deutschen National­ bibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

DETAIL − Institut für internationale Architektur-­ Dokumentation GmbH & Co. KG www.detail.de © 2013, erste Auflage ISBN: 978-3-95553-193-5 (Print) ISBN: 978-3-95553-194-2 (E-Book) ISBN: 978-3-95553-195-9 (Bundle)

Die Abschnitte »Wohlbefinden und gesundes Raumklima« (S. 171 – 172) und »Energie- und ressourcenschonendes Gebäudedesign« (S. 172  – 175) sind der Publikation »Green Building. Leitfaden für nachhaltiges Bauen« von Michael Bauer, Peter Mösle, Michael Schwarz (Berlin 2013) entnommen. Mit freundlicher Genehmigung von Springer Science + Business Media

Die CO2-Emissionen dieser Publikation, die bei der Produktion des Papieres, beim Drucken, Binden und den Transporten anfielen, wurden über die Klimainitiative des Bundesverbandes Druck und Medien e. V. durch first climate-Zertifikate zu 100 % ausgeglichen.

Zeichnungen: Ralph Donhauser Herstellung/DTP: Simone Soesters Umschlag und Gestaltungskonzept: Maria Fischer und Christoph Kienzle, Rose Pistola GmbH Reproduktion: Repro Ludwig Prepress & Multimedia GmbH, Zell am See (A) Druck und Bindung: Aumüller Druck, Regensburg Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die ­dadurch begründeten Rechte, i­nsbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der ­Entnahme von Abbildungen und Tabellen oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetz­lichen Bestimmungen des Urheberrechts­ gesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen un­­terliegen den Strafbestim­mungen des Urheberrechts.

Die für dieses Buch verwendeten FSC-zertifizierten ­Papiere werden aus Fasern hergestellt, die nach­ weislich aus umwelt- und s­ ozialverträglicher Herkunft stammen.


Inhalt

Vorwort Herausgeber  6 Vorwort Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadt­entwicklung  9

4.4.6 Emissionen  176 4.5 Ökonomie  182 4.6 Integration und Synergien  194

Kapitel 1 — Einführung  10

Kapitel 5 — Umsetzungs­strategien  198

Erläuterung des Begriffs Nachhaltigkeit und seine ­Verwendung in der Stadt- und Quartiersplanung

Strategien zur Umsetzung der in den Handlungsfeldern aufgezeigten Lösungen im Ent­wicklungsprozess

1.1 Ziele und Motivation des Buchs  11 1.2 Nachhaltigkeit  13 1.3 Das Quartier  21 1.4 Mehrwert nachhaltiger ­Stadtquartiere

5.1 Akteure, Leitbilder und Instrumente  199 5.2 Kommunale Umsetzungsstrategien  206 5.3 Projektspezifische Umsetzungs­ strategien  211

Kapitel 2 — Heraus­forderungen

26

30

KAPITEL 6 — Werkzeuge  216

Problemstellungen in Bezug auf für die nachhaltige Quartiersplanung relevante Themenfelder

Überblick über Methoden und Werkzeuge für die ­Planung und Umsetzung von nachhaltigen Quartieren

2.1 Regional-, Stadt- und Quartiers­ entwicklung  30 2.2 Prozesse und Beteiligung  42 2.3 Mensch und Soziokultur  46 2.3.1  Soziales Gefüge  47 2.3.2  Lebensstile und ­Verhaltensweisen  52 2.4 Ökologie  56 2.4.1 Arten- und Biotopschutz  57 2.4.2 Stadtklima  59 2.4.3 Wasser- und Bodenschutz  62 2.4.4 Stoffströme  65 2.4.5 Mobilität und Verkehr  67 2.4.6 Energie  70 2.4.7 Emissionen  74 2.5 Ökonomie  78

6.1 Computerunterstützte Planungs­ werkzeuge  217 6.2 Simulation  222 6.3 Visualisierung  230 6.4 Zertifizierungs- und Bewertungs­ systeme  234 6.5 Werkzeuge zur Entscheidungs­ unterstützung  241

Kapitel 3 — Prinzipien  84 Darstellung übergeordneter Prinzipien, die bei der Planung berücksichtigt werden sollten

Kapitel 4 — Handlungsfelder  92 Konkrete Lösungsansätze für die Stadt- und Quartiersplanung hinsichtlich relevanter Themenfelder

4.1 Regional-, Stadt- und Quartiers­ planung  92 4.2 Prozesse und Beteiligung  102 4.3 Mensch und Soziokultur  112 4.3.1  Soziales Gefüge  113 4.3.2  Lebensstile und Verhaltensweisen  121 4.4 Ökologie  126 4.4.1 Freiräume und Stadtklima  127 4.4.2 Wasser und Boden  136 4.4.3 Stoffströme  144 4.4.4 Mobilität  151 4.4.5 Energie  162

Kapitel 7 — Projekte  244 Auswahl an nachhaltigen Quartieren weltweit mit ­spezifischen Schwerpunkten

Einführung  245 Potsdamer Platz  248 Carlsberg  252 Confluence  254 ecoQuartier  256 Bo01 – Western Harbour  260 Dockside Green  262 Neckarbogen  264 Hammarby Sjöstad  266 Möckernkiez  270 NEST – New Ethiopian Sustainable Town  272 GWL-Terrein  276 Barangaroo  278 Petrisberg  280 NDSM-Werft  282 Weitere Projekte  286

Anhang  Literaturverzeichnis  290 Autoren  298 Projektbearbeiter  300 Bildnachweis  300 Sachwortregister  303


Nachhaltige Stadtplanung


Nach – haltige Stadt – planung Konzepte für nachhaltige Quartiere


k a p ite l 1

Einf端hrung


1.1 — Ziele und Motivation des Buchs

1 .1

Ziele und Motivation des Buchs He l m ut Bott, Gregor C. Gra s s l

N

achhaltigkeit – der Begriff taucht inzwischen in so vielen Zusammenhängen auf, dass viele diesem Thema überdrüssig sind. Und nun also auch auf der Ebene der Stadt- und Quartiersplanung, wo doch seit der Weltklimakonferenz in Rio de Janeiro 1992 und durch die dort beschlossene »Agenda 21« ohnehin alle Prozesse über die große Politik gesteuert werden und ihre lokale Umsetzung bis in die kleinste Kommune geregelt ist. Vorschriften für Ausgleichsflächen, Energiegesetze, Umweltberichte, Flächennutzungspläne und die kommunale Planungs­ hoheit lassen Planern, Investoren und Nutzern in Deutschland keinen großen Spielraum mehr. Tatsächlich ist in der deutschen Stadt- und Quartiersplanung sehr vieles vorbildlich und (manches vielleicht zu) detailliert geregelt. Trotzdem muss kritisch hinterfragt werden, ob nicht die Grundprinzipien der Funktionstrennung – wie in der Baunutzungsverordnung (BauNVO) festgeschrieben – und andere Vorgaben aus früherer Zeit – z. B. in der Verkehrsplanung – auch weiterhin die Stadtentwicklung noch stärker prägen als die im Baugesetzbuch (BauGB) neu eingefügten Formulierungen zum Thema Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Doch was bedeutet Nachhaltigkeit in ihrer Komplexität für Stadtplanung und Städtebau? Das Buch betrachtet das Thema Nachhaltigkeit aus unterschiedlichen Perspektiven. Die Beiträge beleuchten städtebauliche Visionen, die weit über den heutigen Zustand vieler Städte hinausweisen müssen, wenn Nachhaltigkeit das formulierte Ziel ist, und gehen u. a. auch auf sozialpolitische Ziele und die Probleme von sozialer Integration oder Segregation ein. Ebenso kommen die Belange von Investoren zur Sprache, denn dies sind nicht nur Hedgefonds,

deren über den Globus verteiltes Kapital nach Anlage mit schnellem Profit sucht, oder Heuschrecken, die alles Verwertbare »fressen« und nach der Zerstörung weiterziehen. Investoren können auch Bauherrengemeinschaften, lokal gebundene Mittelständler, Genossenschaften und Wohnungsbauunternehmen mit langfris­ tigen Investitionszielen und lokaler Verantwortung sein. Des Weiteren beschäftigt sich das Buch mit einem unabhängigen deutschen Immobilienzertifikat für Stadtquartiere sowie dem Leitbild der europäischen Stadt als einem funktionsfähigen, sich in eigener Verantwortung verwaltenden Gemeinwesen, das seine Zukunft zum Wohle aller Mitbürger plant. Wie viel davon ist heute noch Realität? Wie viele Kommunen in Deutschland üben ihre Planungshoheit und Daseinsvorsorge wirklich noch umfassend von A wie Ankauf von Grundstücken zur Stadtentwicklung bis Z wie Zahlung von Handwerkerrechnungen aus? Auch die übergreifenden ökonomischen Effekte nachhaltigen Handelns werden diskutiert. Mit deren mittel- und langfristig positiven Auswirkungen auf die gesamte Volkswirtschaft lässt sich begründen, warum auch einzelne Maßnahmen, die bei kurzfristiger, nur sektoraler Betrachtung unrentabel erscheinen, sinnvoll sein können. Für Versäumnisse in der Stadt- und Quartiersentwicklung müssen alle Bürger früher oder später – wenn das nächste Hochwasser, die nächste Finanzkrise kommt oder ein schlecht geplantes Quartier nach einiger Zeit zum sozialen Brennpunkt wird – als Steuerzahler oder Versicherungsnehmer die Folgekosten tragen. Das Buch bringt Experten unterschiedlichster Fachgebiete und verschiedener politischer Haltungen zusammen, die sich alle einig sind, dass Nachhaltigkeit die Herausforderung unserer Generation ist, die große Herausforderung für die Zukunft der Menschheit überhaupt! Ziel der

11


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Kapitel 1 — Einführung

Häufigkeit Weg Grenzlinie Brennpunkt Bereich Merkzeichen über 75 % 50 – 75 % 25 – 50 % 12 – 25 %

Abb. 1

Abb. 1  Mental Map von ­Boston nach Kevin Lynch Abb. 2  Aufteilung in Teil­ gebiete mit ganz unterschiedlichen Charakteristika, HafenCity Hamburg (D) Abb. 3  Luftbild der Altstadt von Lübeck (D)

terungen nach einem Gesamtkonzept errichtet sind. In diesen Fällen weist das Quartier interne Ähnlichkeiten auf. Diese unterscheiden sich möglicherweise von den umliegenden Gebieten (nach Lynch »Bereiche«), was beim Betreten bzw. bei der Einfahrt erlebbar ist. Es wäre also möglich, eine Grenzlinie zu ziehen, die auch physisch sehr stark ausgeprägt sein kann (z. B. Bahndamm, Fluss oder Kanal, extrem stark befahrene, breite Straße). Quartiere entstehen aber auch ohne klare Grenzen in einem kontinuierlichen Straßenraster wie etwa in vielen amerikanischen Städten, wo sie sich an Versorgungszentren oder an Straßen mit einer hohen Dichte von Versorgungseinrichtungen ­orientieren. In diesen Fällen sind Quartiersgrenzen manchmal wenig ausgeprägt und von einem Quartier zum anderen findet ein fließender Übergang statt (Abb. 1). Der Stellenwert des Quartiers als Raum der alltäglichen Lebenswelt hat durch die Regionali­ sierung der Stadt und die wachsende berufliche Mobilität sowie die Globalisierung der Ökonomie einerseits an Bedeutung verloren. Andererseits haben selbst global operierende Firmen stets einen lokalen Bezug, mindestens durch die Mitarbeiter der Verwaltung, Forschung und Entwicklung, häufig gilt das ebenfalls für die Produktion. Globale Aktivitäten sind immer auch lokal verortet, selbst international orientierte Fachleute haben in der Regel ein »Basislager« an einem konkreten Ort und nicht im abstrakten Raum.

Quartier als Handlungsebene Im Baugesetzbuch (BauGB) wird der Begriff Quartier bei der Festlegung von Sanierungs- oder

­ ntwicklungsgebieten, Maßnahmen des StadtE umbaus oder der sozialen Stadt nicht benutzt. Hier ist le­diglich gefordert, dass die Gebiets­ grenzen für Sanierungen oder den Stadtumbau so festzulegen sind, dass sich die Maßnahmen »zweckmäßig durchführen« lassen. Das Städtebauförderungsprogramm »Stadtteile mit be­­ sonderem Entwicklungsbedarf – Soziale Stadt«, das der Bund und die Länder 1999 initiiert und 2012 weiterentwickelt haben, verbindet beispielsweise die unterschiedlichsten Maßnahmen der Sozialpolitik mit der städtebaulichen Entwicklung und bezieht sich auf räumliche Teilgebiete der Stadt. Die Interventionsebene für den nachhaltigen Stadtumbau bilden Gebiete, bei denen es sich schon aus verwaltungstechnischen Gründen so­­ wie aufgrund der Konzentration von Investitionen und der Bündelung von sozial-, bildungsund integrationspolitischen Maßnahmen um räumlich definierte Teilbereiche handelt. Bei Stadtumbaumaßnahmen werden im BauGB neben sozialen und ökonomischen Zielsetzungen nachhaltige städtebauliche Strukturen und Klimaschutz gefordert. In § 171a Abs. 3 sind die Ziele von Stadtumbaumaßnahmen aufgelistet: »Stadtumbaumaßnahmen dienen dem Wohl der Allgemeinheit. Sie sollen insbesondere dazu beitragen, dass 1.  die Siedlungsstruktur den Erfordernissen der Entwicklung von Bevölkerung und Wirtschaft sowie den allgemeinen Anforderungen an den Klimaschutz und die Klimaanpassung angepasst wird, 2.  die Wohn- und Arbeitsverhältnisse sowie die Umwelt verbessert werden, 3.  innerstädtische Bereiche gestärkt werden, 4.  nicht mehr bedarfsgerechte bauliche Anlagen einer neuen Nutzung zugeführt werden, 5.  einer anderen Nutzung nicht zuführbare bauliche Anlagen zurückgebaut werden,


23

1.3 — Das Quartier

Abb. 2

6.  brachliegende oder freigelegte Flächen einer nachhaltigen, insbesondere dem Klimaschutz und der Klimaanpassung dienenden oder einer mit diesen verträglichen Zwischennutzung zugeführt werden, 7.  innerstädtische Altbaubestände nachhaltig erhalten werden.« Quartiere als sozial-räumliche Einheiten sind eine geeignete Interventionsebene für solchermaßen integrierte Planungs- und Maßnahmenkonzepte des nachhaltigen Stadtumbau.4 In § 166 Abs. 2 heißt es in Bezug auf Entwicklungsmaßnahmen allerdings weiterhin: »Die Gemeinde hat die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass ein funktionsfähiger Bereich […] entsteht, der nach seinem wirtschaftlichen Gefüge und der Zusammensetzung seiner Bevölkerung den Zielen und Zwecken der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme entspricht und in dem eine ordnungsgemäße und zweckentsprechende Versorgung der Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen sichergestellt ist.« Diese funktionsfähigen Stadtoder Ortsteile werden im Kontext dieser Publikation als Quartiere bezeichnet. Gerade bei der Entwicklung neuer Stadtteile sind einzelne Entwicklungsabschnitte mit unterschiedlichen Charakteristiken gebräuchlich. So weisen größere neue Stadtteile wie München-Riem oder die HafenCity Hamburg in ihrem Entwurfskonzept (München) oder ihrer Realisierungsstrategie (Hamburg) eine Gliederung in Teilbereiche auf. Die HafenCity auf 157 ha mit geplanten 6000 Wohneinheiten sowie mehr als 45 000 Arbeitsplätzen besteht aus zehn Teilbereichen, hier Quartiere genannt, die jedoch sehr unterschiedliche Nutzungsmischungen und Zuschnitte aufweisen (Abb. 2). Inwieweit diese Teilbereiche schließlich einen Quartierscharakter in der komplexen, oben beschriebenen Bedeutung entfalten können, wird die zukünftige Entwicklung zeigen.

Historische ­Entwicklung Historisch betrachtet reichen die Vorstellung von der Vierteilung der Stadt und die daraus entstehenden ursprünglich vier Quartiere weit zurück. Das Achsenkreuz mit den vier Hauptrichtungen ist ein archaisches Symbol für die Stadt insgesamt, es stellt in vielen Hochkulturen die Grundlage der städtischen Ordnung dar und wird mit der Einbindung des Lebensraums der Stadtbewohner in die »kosmische Ordnung« verknüpft.5 Der Gliederung der Stadt in räumliche-soziale und verwaltungstechnische Unterabteilungen, z. B. in Phylen (Stämme), widmet schon Platon in seinem Werk »Politéia« (deutscher Titel »Der Staat«, um 370 v. Chr.) längere Abhandlungen, wobei er die Zahlen und Größenordnungen aus der Religion und aus arithmetischen Proportionsregeln ableitet. Als ideale Größe schlägt er die Zahl von 5040 Be­­ sitzeinheiten für einen Stadtstaat vor, die in zwölf Phylen gegliedert je 420 Groß­familien ergäben. Die römischen Gründungsstädte in den Kolonien waren unterschiedlich groß und in ihrer äußeren Form keineswegs alle identisch, folglich galt dies ebenfalls für ihre durch die Nord-Süd- und OstWest-Achsen – Cardo maximus und Decumanus maximus – entstehenden vier Quartiere. Auch in mittelalterlichen europäischen Städten war die Unterteilung in kleinere Einheiten üblich, z. B. in Pfarrbezirke, in Teile unterschiedlicher Funktionen (z. B. Gerberviertel), in historische Entwicklungsabschnitte (z. B. Köln oder Hildesheim) oder eine systematische Vierteilung mit einem zentralen Schnittpunkt (z. B. Lübeck, Abb. 3). Siena hatte eine Dreiteilung in »terzi«, weiter unterteilt in je fünf bis sechs »contrade«. Mit dem Stadtwachstum wurde die Viererteilung oft verlassen. So hatte die Großstadt Venedig

4  Franke 2011 5  Rykwert 1988

Abb. 3


k a p ite l 2

Heraus forderungen

2 .1

Regional -, Stadt - und Quartiers entwicklung He l m u t Bott, Ste fan Siedentop


31

2.1 — Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

G

roße Städte sind keine autark funktionsfähigen Systeme – sie importieren große Mengen an Ressourcen aus einem näheren und weiteren Umland und sind auf die Abführung und Entsorgung von gasförmigen, flüssigen und festen Abfallstoffen angewiesen. Städte stellen im globalen Stoffstromsystem die Netzknoten punkte der Produktion, Distribution und des Konsums materieller Güter dar. Obwohl sie nur etwa 2–3 % der Landfläche der Erde beanspruchen, sind städtische Siedlungen für drei Viertel des weltweiten Ressourcenverbrauchs und 80 % der Treibhausgasemissionen verantwortlich.1 Längst besteht in der internationalen Global-ChangeDebatte eine Übereinkunft dahingehend, dass die Urbanisierung – hier verstanden als ein Prozess der Bevölkerungskonzentration in Städten, verbunden mit der physischen Ausdehnung primär baulich genutzter Flächen – als einer der zentralen Faktoren des globalen Wandels der Umwelt anzusehen ist.2 Das Wachstum der Städte und die in ihnen heute praktizierten flächen-, energie- und materialzehrenden Lebensweisen basieren auf dem Prinzip der »angeeigneten Tragfähigkeit«.3 Die natürliche Tragfähigkeit eines Raums, unter der man eine der natürlichen Umwelt dauerhaft entnehmbare und eine in die natürliche Umwelt dauerhaft entlassbare Menge an Stoffen pro Flächen- und Zeiteinheit versteht und die somit begrenzt ist, wird durch die »Aneignung« von Tragfähigkeit ergänzt. Für die Entwicklung moderner Ökonomien war die Emanzipation von den begrenzenden Bedingungen lokaler und regionaler Ressourcenausstattungen essenziell, da erst dies ein arbeitsteilig organisiertes Wirtschaftssystem in überregionalen Maßstäben ermöglichte.4 Aus ökologischer Perspektive ist das Konsum­niveau einer Stadt,

das die natürliche Tragfähigkeit überschreitet, aber nur dann aufrechtzuerhalten, wenn es gelingt, die Ressourcen- und Entsorgungspotenziale anderer Räume dauerhaft in Anspruch zu nehmen. Nachhaltigkeit verlagert sich dann »von nachhaltigen Einzelsystemen, d. h. den ortsgebundenen (lokalen) natürlichen Ökosystemen auf regionale Systeme höherer Ordnung«.5 Die Urbanisierung beinhaltet damit ein Dilemma: Angesichts steigender Bevölkerungszahlen in den meisten Teilen der Welt (Abb. 1, S. 32), wachsender Wertschöpfung und zunehmendem Wohlstand ist die räumliche Ausdehnung der Siedlungsräume schiere Notwendigkeit. Dieses Wachstum vollzieht sich aber häufig auf Flächen, die für die Ver- und Entsorgung der Städte eine wichtige Bedeutung haben. Es sind nicht selten gute Agrarböden und Flächen mit wertvollen Umweltfunktionen (wie die Retention oder die bioklimatische Regulierung), auf denen sich die Siedlungsentwicklung vollzieht. Der Verlust biologisch aktiver Flächen im Umland der Städte steigert deren Abhängigkeit von exterritorialen Ressourcen und verfestigt ihre »ökologische Defizitwirtschaft«.6 Es wäre jedoch vollkommen verfehlt, urbane Systeme generell als »parasitäre« oder als per se nicht nachhaltige Systeme zu diskreditieren. Bei gegebenem Wohlstandsniveau können Städte aufgrund ihrer größen- und dichtebedingten Effizienzvorteile produktive und reproduktive Aktivitäten ressourcenschonender organisieren als ländliche Siedlungsformen.7 So weist Dodman8 darauf hin, dass der ökologische Fußabdruck Londons zwar 125-mal größer ist als die administrative Stadt­ fläche, dass aber der Pro-Kopf-Fußabdruck der Londoner Bevölkerung nur etwa 50 % des Durchschnittswerts Großbritanniens beträgt.9 Ähnliches kann für andere europäische oder nordamerikanische Großstädte und die jeweiligen Länder aufgezeigt werden, da in größeren Städten das Wohnen und die Mobilität ressourcensparender

1  Giradet 1996; OECD 2010; UN 2007 2  Seto/Sanchez-Rodríguez/ Fragkias 2010; Angel/ Sheppard/Civco 2005; ­McGranahan  /Marcotullio 2005 3  Rees 1992 4  Einig/Siedentop/Petzold 1998 5  Haber 1992 6  Rees 1992 7  z. B. OECD 2010 8  Dodman 2009 9  zum Konzept des ökologischen Fußabdrucks siehe WWF 2008


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Kapitel 2 — Heraus­f orderungen

unter 0 % 0 bis unter 0,5 % 0,5 bis unter 1,0 % 1,0 bis unter 1,5 % 1,5 bis unter 2,5 % 2,5 % und mehr keine Werte Abb. 1

10  OECD 2010; Naess 2006; Frank /Kavage/ Appleyard 2007 11  Crutzen 2002 12  United Nations 2010 13  UN Habitat 2008, S. 24f. 14  UN Habitat 2008 15  Forsyth 2012 16  Schneider/Woodcock 2008

Komparativer ­Kostenvorteil

Als komparativer Kostenvorteil wird in der Volkswirtschaftslehre eine Situation bezeichnet, in der eine Region ein Gut zu geringeren Kosten herstellen kann als die Konkurrenz in anderen Regionen. Im Zusammenhang hier verweisen komparative Kostenvorteile auf standortbedingte Kostenvorteile des suburbanen Raums, insbesondere bei ­flächenextensiven ­Branchen des produzierenden Gewerbes.

erfolgen kann als in suburbanen oder ländlichen Regionen. Neben größenbedingten Skaleneffekten (z. B. Effizienzvorteile bei der Energieversorgung mit Kraft-Wärme-Kopplung) ermöglichen die höhere bauliche Dichte und das höhere Maß an Nutzungsmischung in Städten vergleichsweise energiesparende Wohn- und Mobilitätsformen.10 Vor diesem Hintergrund muss es bei einem gegebenen Wohlstandsniveau das Ziel nachhaltiger Stadtentwicklung sein, die Effizienzvorteile von Städten konsequenter zu nutzen und das Ausmaß der ökologischen Defizitwirtschaft urbaner Systeme auf ein verantwortbares Maß zu beschränken. Metropolen und Städte sind somit keinesfalls als Hemmnisse einer nachhaltigen, menschlichen Entwicklung anzusehen, im Gegenteil, sie sind der entscheidende Lösungsbeitrag. Allerdings setzt dies ein radikales Umdenken in der Planung und Gestaltung von Städten voraus. Die nachhaltige Stadt der Zukunft ist nicht nur eine energietechnisch umgerüstete Stadt. Der Umbau von Städten mit dem Ziel, Dichte, Kompaktheit und Nutzungsmischung zu bewahren und zu fördern sowie wertvolle Freiräume zu schützen, muss als wichtiger Beitrag zur Nachhaltigkeit angesehen werden.  HB

Urbanisierung Die durch den Menschen verursachten physischen Veränderungen des Planeten sind inzwischen so immens, dass Wissenschaftler bereits vom »Anthropozän« als neuem Erdzeitalter sprechen, in dem menschliche Einflüsse die Erde prägen.11 Einer der wirkmächtigsten Prozesse ist dabei die Urbanisierung (Abb. 2). Auch wenn die Definition des »Städtischen« umstritten ist, die Mehrheit

der Weltbevölkerung wird in Zukunft in städtisch geprägten Siedlungsräumen leben.12 Ihren Antrieb findet die Urbanisierung in zwei eng miteinander verbunden Faktoren, dem natürlichen Wachstum der in Städten lebenden Bevölkerung und der Zuwanderung von Bevölkerung aus ländlichen Gebieten.13 In frühen Urbanisierungsstadien dominieren häufig einzelne Städte, nicht selten die Hauptstädte, was als Urban-Primacy-Phänomen bezeichnet wird.14 In diesen Städten konzentrieren sich die politischen und ökonomischen Steuerungsund Kontrollfunktionen eines Lands, sie sind die Kraftzentren der wirtschaftlichen Entwicklung und Zielgebiete von intrastaatlichen und internationalen Migrationsströmen. Dieses Phänomen dominiert die aktuellen Urbanisierungsprozesse in den Entwicklungs- und Schwellenländern. Nicht zuletzt aufgrund übermäßiger Agglomerationskosten in den Primärstädten haben sich in den stärker entwickelten Ländern hingegen meist mehrpolige Städtesysteme herausgebildet. Das physische Wachstum großer Städte findet weltweit in den suburbanen15 Gebieten statt, die meistens ein gegenüber dem städtischen Kern geringeres Maß an baulicher Verdichtung, eine diskontinuierliche, disperse Siedlungsform und eine geringere räumliche Mischung städtischer Funktionen aufweisen.16 Nicht nur in entwickelten Staaten, auch in Entwicklungs- und Schwellenländern ist ein Rand-Kern-Gefälle des demografischen und wirtschaftlichen Wachstums zu beobachten. Während für suburbane Gebiete hohe Wachstumsraten typisch sind, lässt sich für innerstädtische Gebiete eher eine stagnative oder schrumpfende Bevölkerung feststellen. Die Entstehung suburbaner Gebiete geht auf die komparativen Kostenvorteile dieser vorstädtischen Standorte zurück. Sowohl für private Haushalte als auch für Unternehmen sind sub­


33

2.1 —  Regional-, Stadt- und Quartiersentwicklung

Kernstadt Stadtregion insgesamt Dekonzentration

Dekonzentration

Konzentration

Bevölkerungsabnahme

Bevölkerungszunahme

Konzentration

Umland weiteres Umland (außerhalb der Stadtregion)

Urbanisierung

Suburbanisierung

Desuburbanisierung

Resuburbanisierung

Umland Kernstadt weiteres Umland Bevölkerungszunahme

Stagnation

Bevölkerungsabnahme

Abb. 1  jährliche Bevölkerungsentwicklung, Durchschnittswerte 2005 – 2010 (basierend auf Daten des Statistischen Bundesamts, 2012) Abb. 2 Phasenmodell der Stadtentwicklung (nach Schmitz-Veltin 2012, basierend auf van den Berg et al. 1982)

Abb. 2

urbane Standorte aufgrund geringerer Bodenpreise, besserer Flächenverfügbarkeit oder auch geringerer Umweltbelastungen attraktiv. Sub­ urbanes Wachstum wird aber nicht selten auch durch aktive staatliche Politiken, vor allem den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und staatliche Fiskalpolitiken, gefördert. Mit der Suburbanisierung entstand ein funktionaler Raum (Suburbia) mit spezifischen baulichen, ökonomischen und sozialen Eigenschaften.17 Durch die veränderte Siedlungsstruktur verändern sich auch die Mobilitäts- und Interaktionsmuster stadtregionaler Akteure. Es etablieren sich regio­ nalisierte Lebensweisen, womit gemeint ist, dass die Nutzung von Wohn-, Arbeits-, Konsumund Freizeitstätten in einem ausgedehnten stadtregionalen Handlungsraum den Lebensalltag der Menschen prägt. In zahlreichen Industriestaaten ließen sich in den 1970er- und 1980er-Jahren zudem sogenannte Deurbanisierungsprozesse feststellen (Counterurbanisierung), die als (relativer oder absoluter) Bedeutungsgewinn ländlicher Gebiete gegenüber den verdichteten Regionen verstanden werden.18 Danach waren ländlich-periphere Gebiete für standortungebundene Industrien wie auch für

private Haushalte zunehmend attraktiv. Das ­ubiquitär ausgebaute Verkehrssystem sowie als negativ bewertete Standorteigenschaften wie hohe Bodenpreise oder überalterte Infra­ struktursys­teme in den verdichteten Stadtregionen gelten als entscheidende Bedingungen für ein derartiges räumliches Übergreifen des Bevölkerungs- und Beschäftigungswachstum in ländliche Gebiete hinein. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Wachstumsschwerpunkt jedoch wieder in städtisch geprägte Gebiete zurückverlagert. Im Zuge des Bedeutungszuwachses von Wissen für die mo­­ derne Ökonomie gelten Metropolregionen mit internationaler Bedeutung als die wirtschaftlichen Taktgeber (Metropolisierung). In vielen westeuropäischen und nordamerikanischen Stadtregionen wurden zudem Anzeichen einer beginnenden Reurbanisierung beobachtet, die sich in einem erneuten Wachsen der Kern- und Innenstädte äußert.19 Die Renaissance der historischen Zentren vollzieht sich jedoch eingebettet in die Herausbildung polyzentrischer Stadtregionen, in denen sich komplexe Muster funktionsräumlicher Arbeitsteilungen innerhalb eines stadtregionalen Zentrensystems ausbilden. Suburbane Gemeinden

17  van den Berg et al. 1982; ­Champion 2001 18  Champion 2001 19  Herfert /Osterhage 2012; Siedentop 2008


k a p ite l 2

Heraus forderungen

2.4

Ă–kologie


57

2.4 — Ökologie

2 . 4 .1

Arten- und ­Biotopschutz G e rhard Haub er, Wal traud Pus tal

D

as hochkomplexe Thema Biodiversität kann vereinfacht als die »Vielfalt des Lebens auf der Erde« definiert werden.1 Dabei umfasst dieser Begriff Komponenten wie Gene, Arten, Populationen, ökologische Systeme, natürliche Lebensräume und berücksichtigt alle geografischen Maßstäbe von der lokalen bis hin zur globalen Ebene.2 Es handelt sich also um unsere wesentlichen Lebensgrundlagen. Diese zu schützen und nachhaltig zu erhalten ist überlebenswichtig. Auch wenn es mittlerweile Wirtschaftlichkeitsberechnungen gibt, die dies aus ökonomischer Sicht als sinnvoll nachweisen,3 sind ein Viertel aller Tierarten in der EU vom Aussterben bedroht. Nur 17 % der EU-rechtlich geschützten Lebensräume und Arten und 11 % der Ökosysteme befinden sich in einem guten Zustand; alle anderen sind gefährdet – hauptsächlich durch das Verhalten des Menschen (Abb. 1, S. 58).4

Biodiversität Im Bundesnaturschutzgesetz 2009 (BNatSchG) wurde die biologische Vielfalt als eigenständiger Punkt in § 1 Abs. 1 Nr. 1 aufgenommen. Dabei handelt es sich um die Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten einschließlich der innerartlichen Vielfalt sowie die Formen von Lebensgemeinschaften und Biotopen, die in engem Bezug zueinander stehen. Die langfristige Existenzsicherung einer Art ist nur möglich, wenn sowohl ein Minimum an genetisch differenzierten Populationen als auch das Gefüge zugehöriger Ökosysteme erhalten bleiben. Der Begriff der biologischen Vielfalt ist Bestandteil des 1992 auf der UN-Konferenz für Umwelt

und Entwicklung (UNCED) in Rio de Janeiro geschlossenen internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt, der Convention on Biological Diversity (CBD, Biodiversitäts-Abkommen), zum Schutz von Lebensräumen und Arten. Neben 191 weiteren Staaten ist auch die Bundesrepublik Deutschland Vertragspartei. Wesentliche Ziele der CBD sind: •• die Erhaltung der biologischen Vielfalt (der Ökosysteme, der Arten sowie der genetischen Vielfalt) •• die ökologische nachhaltige Nutzung ihrer Bestandteile •• die gerechte Aufteilung der aus der Nutzung der genetischen Ressourcen resultierenden Gewinne5 Grundsätzlich umfasst der Begriff der Biodiver­sität alle Lebewesen, neben den wild lebenden Orga­ nismen auch die in Gefangenschaft gehaltenen und die gezüch­teten. § 1 des BNatSchG beschränkt sich jedoch auf diejenigen, die Teil von Natur und Landschaft sind.6

Verdrängung Die neu ausgewiesene Siedlungs- und Verkehrsfläche betrug in Deutschland im Jahr 2010 täglich ca. 77 ha, dies entspricht etwa 108 Fußballfeldern.7 Diese Siedlungen, Straßen, Industriegebiete und Parkplätze zerstören z. B. Wanderungsrouten von Tieren oder verändern den Wasserhaushalt eines Gebiets. Auch die unter dem Aspekt der Flächeneinsparung positiv zu bewertende Nachverdichtung von Innenstädten und Siedlungen kann natürliches Schutzgut zerstören.8 Wesentliche Gefährdungsursachen der Biodiversität sind neben dem Flächenverbrauch für die Bebauung auch

1  Millennium Ecosystem Assessment 2005 2  Werner/Zahner 2009 3  Bateman 2012 4  Europäische Kommission 2011, Lebensversicherung und Naturkapital, S. 1 5  Schumacher/Fischer-­ Hüftle 2011, § 1, Randnummer 30, 35 6  Schumacher/Fischer-­ Hüftle, § 1 Rdnr. 39 7  UBA 2012, S. 60 8  z. B. LUBW 2013


58

Kapitel 2 — Herausforderungen

Indexwert (1970 = 1)

paleartischer Living Planet Index (LPI) 2 +6%

Palearktis

Nearktis

1

0 1970

1980

1990

2000

2008

Indopazifik

Indexwert (1970 = 1)

nearktischer LPI

Neotropis

Afrotropis

Indopazifik

2

-6% 1 Antarktis 0 1980

1990

2000

2008

-38%

1

2

1

-50 %

0

0 1970

1980

1990

2000

2008

indopazifischer LPI

neotropischer LPI Indexwert (1970= 1)

Indexwert (1970 = 1)

afrotropischer LPI 2

Indexwert (1970 = 1)

1970

2

1 -64 % 0

1970

1980

1990

2000

2008

1970

1980

1990

2000

2008

Abb. 1

Abb. 1  weltweite Entwicklung der Biodiversität

9  BNatSchG Rdnr. 6, S. 82f. 10  ebd. § 40 Rdnr. 2– 4 11  Diese sind unter www.bfn.de einzusehen. 12  BNatSchG § 1 Rdnr. 77f.

Weitere Informationen

•  Sukopp, Herbert; Wittig, Rüdiger (Hrsg.): ­Stadtökologie. Stuttgart 1998 •  Werner, Peter; Zahner, Rudolf: Biologische ­Vielfalt und Städte. BfN-Skripten 245, 2009 •  www.cbd.int: Originaltext des CBD-Abkommens von 1992 und aktuelle Informationen der UN •  www.biodiv.de: deutscher Verein mit ­aktuellen und übersichtlichen Informationen rund um das Thema Artenvielfalt •  uknea.unep-wcmc.org: Eco System Assessment

schädliche Stoffeinträge (Luftschadstoffe, Überdüngung, Pflanzenschutzmittel, Arzneimittelrückstände in Böden und Gewässern etc.), die immense Probleme und an anderer Stelle Kosten (z. B. Trinkwasseraufbereitung) verursachen. Auch die Gefährdung durch Neobiota, (gebietsfremde und invasive Arten) nimmt zu,9 was häufig zum Aussterben endemischer und zur Verdrängung heimischer Arten, zum Einschleppen von Krankheitserregern oder zur Zerstörung bestimmter Biotoptypen führt.10 Zur Bestimmung des Gefährdungsgrads dienen z. B. sogenannte Rote Listen für alle Artengruppen auf nationaler und internationaler Ebene.11 Da nicht alle Bestandteile der Biodiversität in gleichem Maße gefährdet sind, müssen an Art und Umfang der Gefährdung angepasste Schutzstrategien entwickelt werden.

Schutzstrategien Langfristiges Überleben von Arten ist nur möglich, wenn einerseits ausreichende Habitat­ größen und -qualitäten zur Verfügung stehen

und andererseits ausreichende Möglichkeiten für Wanderungen, Austausch und Ausbreitung gewährleistet sind. Mit dem Austausch ­zwischen Populationen werden die genetische Verarmung und in deren Folge das drohende ­Aussterben verhindert. Vor dem Hintergrund des Klimawandels erlangen der Erhalt der genetischen Vielfalt und damit die Verbesserung der Anpassungsmöglichkeiten von Arten besondere Relevanz.12 Die Schutzstrategien für Lebensgemeinschaften und Biotope als Teil der biologischen Vielfalt erstrecken sich sowohl über die Naturlandschaft als auch über die Kulturlandschaft und umfassen somit ebenfalls die besiedelten Bereiche oder Stadtlandschaften. Je reicher diese Landschaften an Strukturen sind, desto höher ist der Artenreichtum. Der Schutz spezieller, besonders bedrohter oder streng geschützter Lebensräume und Arten und der Umgang mit ihnen im Rahmen der Stadtplanung hilft in der Regel auch anderen Arten und ist deshalb ein Mittel der Wahl, um erfolgreich Artenschutz zu betreiben. Geregelt ist dies im BNatSchG in Kapitel 4 Abschnitt 2, »Netz Natura 2000« sowie in Kapitel 5 Abschnitt 3 »Besonderer Artenschutz«.


59

2.4 — Ökologie

2.4.2

Stadtklima Jü r gen B aumül ler

S

eit die Menschen begonnen haben, sesshaft zu werden und Städte zu bauen, gibt es das Phänomen des Stadtklimas. Jede Stadt schafft sich aufgrund ihrer örtlichen Lage ein eigenes Klima, das sich zum Teil erheblich von den Klimabedingungen der Region unterscheidet. Die Unterschiede hängen von vielen Faktoren ab, insbesondere von der Größe und Dichte der Stadt. Städte haben ein zum Umland verändertes Klima, das sich im Wesentlichen gegenüber der freien Landschaft durch die unterschiedliche Energiebilanz und die Verminderung der Windgeschwindigkeit, also der Durchlüftung, ergibt. Gewöhnlich ist es in Städten windstiller, wärmer, trockener und schmutziger. Sämtliche meteorologischen Parameter einschließlich der Luftzusammensetzung sind in einem Stadtgebiet im Vergleich zur umgebenden Landschaft verändert. Das Stadtklima ist jedoch prinzipiell kein Schönwetterphänomen, wenngleich bei autochthonen (durch lokale Einflüsse geprägten) Wetterlagen die Unterschiede zum Umland besonders deutlich werden können. Die verschmutzte Stadtatmosphäre einer Großstadt schwächt die einfallende Sonnenstrahlung ab, insbesondere im UV-Bereich, die Windgeschwindigkeit wird reduziert, die Anzahl der Windstillen steigt, die relative Luftfeuchtigkeit ist geringer und die Temperaturen sind höher (Abb. 2, S. 60). Besonders große Temperaturunterschiede treten in klaren Nächten auf. Für Millionenstädte kann der maximale Temperaturunterschied in der ­Minimumtemperatur der Nacht gegenüber dem Umland über 10 °C betragen. Man spricht deshalb auch von der »Wärmeinsel Stadt«. Eine der größten Veränderungen in einer Stadtatmosphäre ist die Anreicherung der Luft mit Schadstoffen aller Art, die bei ungünstigen Wetterlagen zu gesundheitsschädlichen Konzentrationen führen kann.

Hohe Schadstoffkonzentrationen treten bevorzugt im Winter auf (»London Smog«), wenn bei hohem Schadstoffanfall durch Heizung, Industrie und Verkehr eine austauscharme Wetterlage vorherrscht, oder im Sommer bei hohen Tempe­ raturen und starker Sonneneinstrahlung durch Autoabgase (»Los Angeles Smog«). Ein nicht zu vernachlässigender Faktor in Städten ist die anthropogene Wärmeerzeugung, die ebenfalls zu einer zusätzlichen Erwärmung speziell auch im Winter während der Heizperiode führt. Abhängig von der Stadtgröße, der Lage und der Jahreszeit muss man mit ca. 10 – 70 W/m2 rechnen.1

Globale ­Herausforderung Derzeit leben über 50 % der Menschen in Städten, bis 2050 werden es 70 % sein.2 Bei dann ca. 9 Milliarden Menschen auf der Erde sind dies 6,3 Milli­ arden in Städten. Ferner nimmt die Anzahl der Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern ständig zu. Mit der Stadtgröße wachsen dort auch die Probleme hinsichtlich Luftverschmutzung und Überwärmung (Abb. 3, S. 61). Diese Entwicklung geschieht vor dem Hintergrund eines Klimawandels mit deutlich ansteigenden Temperaturen, die global gesehen bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 5 °C in der Jahresmitteltemperatur betragen können.3 Schon heute ist die Erwärmung innerhalb der letzten 100 Jahre mit ca. 0,9 °C deutlich messbar. Vor diesem Hintergrund ist es notwendig, die Emissio­nen der Treibhausgasemissionen zu reduzieren und die An­­passung an den Klimawandel in den Städten und Regionen zu planen. Welche Probleme auf uns zu­­kommen, zeigen die Auswirkungen des Hitze­sommers 2003 in Europa.

1  Kuttler 2010 2  UN 2008 3  IPPC 2007


88

Kapitel 3 — Prinzipien

beugen. Damit kann auch ein wichtiger Beitrag dazu geleis­tet werden, die soziale und funktionale Mischung zu v­ erbessern und die Stadt lebendiger und attraktiver für verschiedene Bevölkerungs­ gruppen zu gestalten.

Bestand nutzen

Abb. 5

Abb. 6

Der größte Teil der Städte in Europa ist bereits gebaut. Die jährliche Neubauquote in Deutsch­ land beispielsweise schwankt zwischen 1 und 2 %, gemessen am derzeitigen Bestand. Durch den aktuellen Wandel von der Industrie- zur Wis­ sensgesellschaft werden große innerstädtische Gewerbe- und Industrieareale frei, die ein enor­ mes städtebauliches Entwicklungspotenzial bie­ ten, das es für die nachhaltige Transformation unserer Städte zu nutzen gilt. Deshalb ist es notwendig, sich verstärkt mit dem Bestand auseinanderzusetzen. Dazu zählen zum einen bestehende Gebäude und Straßen, aber auch vorhandene identitätsstiftende Materialien, Pflan­ zen oder Tiere bis hin zu ab­s­trakten Elementen wie (Zwischen-)Nutzungen oder Namen (Abb. 5). Gebaute Beispiele wie die HafenCity in Hamburg oder das GWL-Terrein in Amsterdam (siehe S. 276f.) zeigen, dass neben der Tatsache, dass sich Res­ sourcen beim Bau einsparen lassen, der Bestand eine wichtige Funktion hinsichtlich der identitäts­ stiftenden Funktion eines Orts für seiner Nutzer übernehmen kann. Der Blick in die einheitlich gestalteten Großwohnsiedlungen der 1970erJahre zeigt deutlich, wie wichtig identitätsstiftende Elemente bei der Quartiersentwicklung sind. Des Weiteren bieten bestehende Gebäude die Möglichkeit, vorhandene Potenziale zu stärken und z.B. Musiker, Künstler oder Vereine in das Quartier zu integrieren. Diese Personengruppen und Institutionen sind wichtig für die urbane Viel­ falt, können sich jedoch meist einen Neubau nicht leisten. Die Nutzung des Bestands ist daher bei der Planung von nachhaltigen Stadtquartieren ein wichtiger Aspekt.

Mischung Die zentralen Aspekte in der Diskussion um eine nachhaltige Stadtentwicklung sind die Themen Dichte und Nutzungsmischung. War es ursprüng­ Abb. 7

lich eines der Grundprinzipien der europäischen Stadt, dass Wohnen und Arbeiten oder unter­ schiedliche soziale Schichten eine enge räumliche Beziehung zueinander hatten und in Symbiose miteinander standen (Abb. 6), so änderte sich das Bild unserer Städte im Zuge der Industrialisie­ rung und dem daraus resultierenden Leitbild der Funktionstrennung, das der Congrès Internatio­ nal d’Architecture Moderne (CIAM) 1933 in der Charta von Athen formulierte, dramatisch. Die industrielle Produktion wurde immer mehr von den am Ort natürlich zur Verfügung stehenden Ressourcen entkoppelt und besetzte riesige Flä­ chen am Rand der Stadt, zu denen die Arbeiter nun täglich pendeln mussten. Die Massenmoto­ risierung seit den 1950er-Jahren bewirkte dann zunächst die Suburbanisierung des Wohnens, schließlich auch der Dienstleistungen und des Einzelhandels (Shoppingcenter und Fachmärkte). Die Folgen sind überfüllte Straßen, hohe Emis­ sionen und ein gigantischer Flächenverbrauch während der letzten Jahrzehnte. Seit einiger Zeit ist ein entgegengesetzter Trend zu erkennen. Unterstützt durch die fortschreitende Deindustrialisierung Europas und die damit ver­ bundene Möglichkeit, monofunktional genutzte Flächen wie ehemalige Fabrikgelände, Güter­ bahnhöfe oder Frachthäfen wieder für andere Nutzungen zu öffnen, wird verstärkt versucht, gemischte Quartiere zu entwickeln, die eine Viel­ fältigkeit aufweisen können. Anders als bei reinen Industrie-, Büro- oder Wohngebieten wird hier der öffentliche Raum viele Stunden am Tag fre­ quentiert. Dies verbessert das Sicherheitsgefühl der Nutzer, was wiederum zu einer höheren Attrak­ tivität des Quartiers beiträgt. Auch bildet eine gemischt genutzte städtebauliche Struktur die Grundlage für die Stadt der kurzen Wege. Kurze Strecken zwischen Wohnen, Arbeiten und Freizeit lassen sich bequem zu Fuß, mit dem Fahrrad oder den öffentlichen Verkehrsmitteln zurücklegen. Neben der Reduzierung des motorisierten Indi­ vidualverkehrs (MIV) und den damit verbundenen Lärm- und Staubemissionen erhöht sich dadurch wiederum die Attraktivität des öffentlichen Raums und es stehen mehr Flächen für Fuß- und Rad­ verkehr zur Verfügung. Sicher können Wohnung und Arbeitsplatz auch in Zukunft häufig in grö­ ßeren Entfernungen voneinander liegen. Eine Mischnutzung des Stadtgebiets erzeugt jedoch durch die Ein- und Auspendler einen symmetri­ schen Ziel- und Quellverkehr und sorgt für die Mehrfachnutzung von Parkierungsanlagen. Reine Arbeits- und Wohnquartiere hingegen bewirken eine schlechte Ressourcenausnutzung des öffent­


89

Kapitel 3 — Prinzipien

Abb. 8

lichen Personennahverkehrs (ÖPNV), da morgens und abends die einseitige Überlastung jeweils in einer Richtung stattfindet und die doppelte Zahl von Parkplätzen – am Wohn- und am Arbeitsort – vorgehalten werden muss. Nicht zuletzt bieten gemischt genutzte Strukturen die bessere An­­ passung an sich ändernde Rahmenbedingungen (siehe Resilienz, S. 91) und sind somit langfristig stabil und attraktiv für Eigentümer, Nutzer und Investoren. Allerdings bergen sie ein höheres Konfliktpotenzial als monofunktionale Gebiete, wenn beispielsweise ein Supermarkt im Erdge­ schoss eines Gebäudes morgens früh mit Waren beliefert wird und sich dadurch die Bewohner der darüberliegenden Wohnungen gestört fühlen oder wenn lärmende Gäste in gastronomischen Betrie­ ben ein und aus gehen. Es gilt somit, intelligente Konzepte zu entwickeln, um die Anforderungen der verschiedenen Nutzungen zu berücksichti­ gen und Konfliktpotenziale auf ein Minimum zu re­duzieren. Quartiere wie das Loretto-Areal in Tübingen (Abb. 7) und Vauban-Viertel in Freiburg zeigen, dass dies möglich ist. Sie verdeutlichen auch, wie wichtig soziale Diversität für das Leben im Quartier ist. So treffen sich im öffentlichen Raum Menschen aus ganz unterschiedlichen so­­ zialen Schichten, aus verschiedenen Berufsgrup­ pen, in unterschiedlichen sozialen Situationen und können miteinander ins Gespräch kommen und neue soziale Netzwerke knüpfen. Dieses Mit­ einander fördert das gegenseitige Verständnis, beugt Segregation vor und bildet die Grundlage für eine intakte Gesellschaft.

Dichte Dichte ist die Voraussetzung für einen sparsamen Umgang mit Ressourcen. Dabei kann unter Dichte

zum einen die bauliche Dichte und zum anderen die Nutzungsdichte verstanden werden. Beispiels­ weise lässt sich durch die Flexibilität von Stadt­ räumen und Gebäuden deren Nutzungsdichte bei gleichbleibender baulicher Dichte erhöhen. Beispiel hierfür ist die Teilung eines Arbeits­ platz mit mehreren Personen (Desksharing), die Inanspruchnahme von Schul- und Universitäts­ räumen in den Abendstunden und Ferien durch Vereine. Die Unternehmen und Vereine müssten dann keine eigenen Veranstaltungsräume bauen und die zusätzlichen Einnahmen aus der Unter­ vermietung ließen sich beispielsweise für die energetische Sanierung der Gebäude verwenden. Das würde Emissionen reduzieren und die Um­­ welt schonen. Am Beispiel des Prinzips Desksha­ ring zeigt sich heute schon, dass sich bis zu 20 % der Flächen und damit auch Kosten für Heizung, ­Lüftung und die Arbeitsplatzausstattung ein­ sparenlassen2 – und dies ohne einen Euro zu­­ sätzlich zu investieren. Eine weitere Möglichkeit für eine erhöhte Nutzungsdichte ist die temporäre Umnutzung einer Verkehrsfläche als Fußgän­ gerzone, Markt, Spielplatz oder Freilichttheater (Shared Space). Neben der Nutzungsdichte ist auch die bauliche Dichte entscheidend dafür, ein Quartier effizient betreiben zu können (Abb. 8). Auf einem Grund­ stück kann im Vergleich ein Zweifamilienhaus nie die gleiche Nutzungsdichte erreichen wie ein 50-stöckiges Hochhaus. Dichte ist die Voraus­ setzung für eine Versorgung der Quartiere mit Nah- oder Fernwärme (Abb. 9 und 10, S. 90) und für die Anbindung an das öffentliche Nahver­ kehrsnetz, denn für eine neue Haltestelle im ÖPNV ist eine bestimmte kritische Masse an po­­ tenziellen neuen Passagieren erforderlich. Ein weiterer Vorteil baulicher Dichte ist die Erreich­ barkeit und Auslastung bestehender sozialer Infrastrukturen wie Schulen oder Kindergärten. Die effiziente Verwendung vorhandener Ressour­

Abb. 5 Werksschwimmbad, ehemalige Kokerei Zollverein, Essen (D) 2001, Dirk Paschke, Daniel Milohnic Abb. 6  belebter Stadtplatz Amagertorv, Kopenhagen (DK) 2012 Abb. 7  Wohnen und Arbeiten eng zusammen, LorettoAreal, Tübingen (D) Abb. 8  Stadtquartier am Wasser, Borneo-Sporenburg, Amsterdam (NL) 2005

2  Zinser/Boch 2007, S. 123


106

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Beteiligung der Öffentlichkeit

Vorbereitung, Auslobung

städtebaulicher Wettbewerb

Jury

Preiskrönung, Weiterbearbeitung

Perspektivenwerkstatt, öffentliche Ideenentwicklung

Planer, Experten

integrierte Vision, Bebauungsplan

Umsetzung in Bebauungsplan

Wettbewerbsverfahren

Ausschreibung, Vorbereitung, Teambriefing

Architektur-/ Freiraumwettbewerb

konsensorientierte kooperative Planung Abb. 5

Verfahren zur Konzeptfindung

4  DGNB 2012 5  BMVBS 2013, RPW 6  ebd.

In allen Planungsphasen sind Verfahren zur ­Konzeptfindung wichtig, wobei die Auswahl des städtebaulich-funktionalen Quartierskonzepts besondere Bedeutung hat. Deshalb sollte dieses über konkurrierende und kooperierende Pla­ nungsverfahren entwickelt werden, um auch alternative Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzei­ gen und lokales Wissen einbinden zu können, damit über ein schrittweises Vorgehen eine ­Konzeptoptimierung gerade auch bezüglich der Nachhaltigkeitsaspekte möglich ist.4 Insbesondere für den Umgang mit der system­ immanenten Komplexität von Nachhaltigkeit und bei vielschichtigen Aufgaben bieten mehrstufige Verfahren, z. B. mit Kolloquien und Zwischen­ präsentationen, oder teilöffentliche Werkstatt­ verfahren gute Möglichkeiten, lokales Wissen auch zu Nachhaltigkeitsthemen vertieft einzube­ ziehen. Dabei ist es ebenso möglich, Bürger und Interessenvertreter aktiv in ein laufendes Verfah­ ren einzubinden. Mehrstufige Verfahren erlauben es zudem, neue Erkenntnisse und Bedürfnisse auch nach Beginn des Verfahrens einzubringen und zu berücksichtigen. Für nachhaltige Projekte ist neben der Mehr­ stufigkeit entscheidend, dass das Verfahren inter­

disziplinäres Arbeiten unterstützt. Dies bedeutet für konkurrierende Verfahren wie Wettbewerbe, Mehrfachbeauftragungen und Investoren­ auswahlverfahren, dass bereits in der Auslobung Nachhaltigkeitsaspekte und -kriterien zu veran­ kern sind und für die Bearbeitung der Planungs­ aufgabe eine Kooperation von Stadtplanern z. B. mit Landschaftsplanern, Verkehrsplanern und Energieexperten in Arbeitsgemeinschaften ver­ langt wird. Fachkonzepte müssen bereits in der Vorprüfung der eingegangenen Arbeiten durch entsprechende Fachplaner, die dann in der Preis­ gerichtssitzung als Sachverständige oder besser noch als stimmberechtigte Jurymitglieder vertre­ ten sein sollten, intensiv geprüft werden. Nur so bekommen die Nachhaltigkeitsaspekte bei der Entscheidungsfindung auch das notwendige Gewicht. Nach der Jurysitzung mit Wahl des Wett­ bewerbssiegers ist es von großer Bedeutung, das gesamte Planungsteam inklusive der beteiligten Fachplaner für die Umsetzung der im Verfahren entwickelten Konzepte zu beauftragen. Dies sollte bereits im Auslobungstext sichergestellt werden.5 In bestimmten Fällen, wenn der Auslober eine Aufgabe oder seine Ziele zu diesem Zeitpunkt noch nicht eindeutig definieren kann, z. B. bei städtebaulichen Projekten, ist es auch denkbar, ein formalisiertes kooperatives Verfahren zu ­wählen. Besonderes Kennzeichen ist die schritt­ weise Annäherung an Aufgabe und Ziele in einem Meinungsaustausch zwischen den Beteiligten, z. B. in Planungswerkstätten. Dabei müssen alle Teilnehmer auf dem gleichen Informationsstand gehalten werden.6 Im Hinblick auf Nachhaltigkeit haben kooperative Planungen verschiedene Vorteile. Sie lassen sich beispielsweise mit einer aktiven und intensiven Bürgerbeteiligung auf Städtebauebene verbinden. Durch den kreativen Diskurs entsteht ein Mehr an sozialen und ökologischen Ideen, gleichzeitig können die Veranstaltungen auch als Vermark­


107

4.2 — Prozesse und Beteiligung

3 – 6 Monate Vorbereitung und Analyse

1 Woche öffentliche Veranstaltungen

1 Monat Ergebnisbericht

3 – 9 Monate Masterplanung

Wettbewerbe und Realisierung

UK = Unterstützerkreis UK

UK

UK

UK

UK

UK

UK Projekt

öffentliche Perspektivenwerkstatt

Einarbeitung, Aktivierung

Vision und Präsentation

Detaillierung des Masterplans

Bericht

Ausstellung

Projekt

Projekt SP

SP

SP

SP

SP

SP

SP = Steuerungsgruppe Stadtplanung Abb. 6

tungsbeitrag sowie zur Öffentlichkeitsarbeit und frühen Gewinnung von Interessenten ge­­ nutzt werden. Die vor der Entscheidung zu einem ­solchen kooperativen Verfahren manchmal in­­ frage gestellte Gewährleistung von Vielfalt und ­Qualität lässt sich durch die Beteiligung von ­unterschiedlichen Fachplanern, verbunden mit der Integration von Stadtverwaltung, Bürgern, Interessenvertretern, Experten und Lokalpolitik sicherstellen. Im Zusammenhang mit der Entwicklung nach­ haltiger Stadtquartiere sind Verfahren, deren explizite Zielsetzung die Konsensfindung ist, besonders geeignet. Dieser Ansatz ist gerade für die qualitätsvolle Umsetzung von Planungen inte­ ressant, da durch das konsensorientierte Verfah­ ren mit seiner Annährung an Aufgaben und Ziele Streitpunkte infolge einer zugespitzten Diskussion konkurrierender Konzepte vermieden werden. Besonders zielführend können solche Verfahren aber auch zur Überwindung von bereits existie­ renden Planungskonflikten sein, z. B. durch den Einsatz offener Planungswerkstätten mit koope­ rierenden oder konkurrierenden Planungsteams. Einen hochinteressanten Ansatz stellen spezielle interdisziplinäre Workshops wie Charrettes dar. Darunter versteht man einen intensiven und oft mehrere Tage dauernden Entwurfsworkshop, der auf einen Präsentationstermin hinarbeitet. Mit dieser Methode lassen sich Planungsteams, Inte­ ressensvertreter, Auftraggeber, Städte etc. durch ständige Abstimmungen und Zwischenpräsen­ tationen einbeziehen. Die Kombination von Ein­ zel- und Teamarbeit ermöglicht eine gute inter­ disziplinäre Kooperation und durch Arbeiten vor Ort eine intensive Auseinandersetzung mit dem Gebiet und den lokalen Gegebenheiten (Abb. 6). Zur Erkundung des Handlungsspielraums mittels alternativer Entwürfe ist ein Planen mit verschie­ denen Szenarien wichtig.7 Dadurch erweitert sich die Bandbreite möglicher Lösungen. In einem

weiteren Schritt können dann die mit den ver­ schiedenen Vorschlägen verbundenen Qualitäten untersucht und diskutiert werden. Dabei besteht das Ziel darin, umfassende Szenarien mit unter­ schiedlichen Fachplanungskonzepten und Nach­ haltigkeitsansätzen zu entwickeln und nicht nur Varianten der Bebauungsstruktur8 oder eines Planungssektors wie z. B. eine alternative Zufahrt im Verkehrsbereich. Zu Beginn sollten breit ange­ legte Szenarien zur Entwicklung des Grundkon­ zepts geschaffen werden. Anschließend lassen sich darauf aufbauend detaillierte und konkrete Szenarien wie z. B. Bebauungsstrukturen im Zu­­ sammenhang mit Energieversorgungsvarianten oder Integrationsmöglichkeiten von Regenwas­ sermanagement im öffentlichen Raum aufzeigen. All diese Planungsansätze sollten immer auch mit der Partizipationsstrategie verbunden werden, da solche Szenarien die Diskussionen zur Quar­ tiersentwicklungen gewinnbringend befruchten können. Entscheidend für alle Verfahren nachhaltiger Planung ist, dass die entwickelten Konzepte nicht den Endpunkt einer Planung darstellen, sondern entwicklungsoffen sind, d. h. sie sollen flexibel an neue Erkenntnisse und Bedürfnisse anpassbar sein und so für nachfolgende Entwicklungsschritte ausreichend Spielraum bieten.

Partizipation und Bürgerbeteiligung Die besondere Herausforderung bei professio­ nellen Verfahren zu einer nachhaltigen Quartiers­ gestaltung – egal ob als Stadterweiterung auf der »grünen Wiese« oder als Konversion auf vormals

Abb. 5 Gegenüberstellung Wettbewerbsverfahren zu konsensorientierte/koopera­ tive Planung Abb. 6  typischer Planungs­ ablauf mit öffentlicher Pers­ pektivenwerkstatt

7  Albers 1996 8  Müller-Ibold 1997


k a p ite l 4

Handlungsfelder

4 .3

Mensch und Soziokultur


113

4.3 — Mensch und Soziokultur

4 .3.1

Soziales Gefüge Ti l m an Harlander

S

tädte, Wohnungswirtschaft und engagierte Bürger haben im Sinne einer sozial nachhaltigen Quartiersplanung eine Vielzahl an Strategien, Projekten und Einzelmaßnahmen entwickelt, um auf die Herausforderungen des demografischen Wandels, die wachsenden Integrationsaufgaben und die Gefährdungen des sozialen Zusammenhalts zu reagieren. Grundsätzlich geht es darum, die ­städtischen Quartiere als Wohn- und Arbeitsort, Lebens- und Begegnungsraum für alle Bevölkerungsgruppen lebenswert, attraktiv und sicher zu gestalten und an die sich ändernden Bedürfnisse anzupassen. Einheitliche Strategien und Patentrezepte kann es dabei schon angesichts der Vielfalt unterschiedlicher Quartierstypen nicht geben: Gründerzeitliche Innenstadtquartiere, Kleinsiedlungen am Stadtrand, Großsiedlungen der 1960erund 70er-Jahre, Einfamilienhausgebiete oder auch seit den 1990er-Jahren errichtete Stadtquartiere weisen ganz unterschiedliche Stärken und Schwächen und daraus folgenden Interventionsbedarf auf. Nicht zuletzt muss die Gestaltung des Sozial­ raums Quartier in eine übergreifende, integrierte und partizipativ gestaltete Stadt(teil)entwicklungsplanung eingebunden sein,1 in der soziale, ökologische, wirtschaftliche und städtebaulicharchitektonische Aspekte zu einem ganzheitlichen Handlungskonzept zusammengeführt werden.

Nutzungs­ mischung Was charakterisiert ein sozial nachhaltiges Stadtquartier? Die Antwort hierauf fällt seit der »Leit-

bildrenaissance der europäischen Stadt«2 gänzlich anders aus als im Siedlungsbau und den städtebaulichen Konzepten des Funktionalismus der Moderne. Grundsätzlich gilt heute – zumindest in Gesetzestexten, Programmen, Memoranden und Weißbüchern – die an der Tradition der europäischen Stadt orientierte dichte, kompakte Stadtstruktur der kurzen Wege mit kleinteiliger funktionaler und sozialer Mischung als tragfähiges und zeitgemäßes Modell.3 In städtebaulicher Hinsicht steht dies im Gegensatz zu den fließenden Räumen und dem Zeilenbau der Moderne und ist, im Rückgriff auf den Parzellenstädtebau der vormodernen Stadt, vielmehr dessen möglichst kleinräumiger multifunktionaler Blockrandbebauung in einem netzförmigen Straßensystem ver­bunden.4 In Abkehr von den Monokulturen der Moderne sollen Wohnungen, Arbeitsstätten und Dienstleistungseinrichtungen wieder enger verflochten werden, der öffentliche Straßenraum durch die Öffnung der Erdgeschosszonen eine nachhaltige urbane Belebung erfahren und damit zugleich der (Arbeits-)Pendelverkehr eine deutliche Reduzierung erfahren. In der Praxis sind die bisherigen Ergebnisse eher ernüchternd. Blieb schon bei neuen Stadterweiterungen das Ziel der kleinräumigen Nutzungsmischung meist ein frommer Planerwunsch,5 so zeigte sich auch beim Stadtumbau im Bestand, dass die Realisierungschancen einer kleinteiligen Verflechtung von Arbeiten und Wohnen hier zwar höher liegen, aber doch in vielen Fällen mit der Maßstabslogik großer (internationaler) Investoren konfligieren. Auch die anhaltenden Konzentrations- und Flächenerweiterungsprozesse im städtischen Einzelhandel erweisen sich als schwer zu überwindende Hürde.6 Spielhallen, Wettbüros, Ramschläden und Call-Shops, die stattdessen in die kleinteiligen Ladenflächen drängen, wirken dagegen dem Ziel urbaner, kleinteiliger Nutzungsmischung entgegen.

1  BMVBS 2012, 5 Jahre Leipzig Charta, S. 17 2  Jessen 2004, S. 92 3  BMVBS 2011, S. 23 4  Feldtkeller 2012 5  Jessen 2004, S. 99 6  Mayer-Dukart 2010, S. 75f.


116

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Abb. 2

Ebenso wichtig wie die Planung der Freiräume ist der komplementäre Ausbau der Gemeinschaftseinrichtungen auf Quartiersebene. Auch hier haben sich Trägerschaften, Akteurskonstellationen, bauliche Formen, inhaltliche Ausrichtung und Größe enorm ausdifferenziert und vielfältige Bezeichnungen etabliert: Nachbarschaftszentrum, Bürgerhaus, Stadtteiltreff, Mehrgenerationenhaus, Haus der Kulturen und Generationen, Nachbarschaftsbörse, Bewohnertreff, Haus der Familie und Community Center.18 In erfolgreichen Projekten wie dem genossenschaftlichen Wohnprojekt »Wagnis 1« in München entwickelten sich beispielsweise ein Café und ein Nachbarschaftstreff zu einem sozialen Bezugspunkt für das gesamte Quartier.

Soziale Mischung

18  BMVBS /BBSR 2010 19  Harlander / Kuhn /  Wüstenrot Stiftung 2012 20  Magistrat der Stadt Frankfurt am Main 2010, S. 9 21  BBR 2011, S. 5

In der baulichen Praxis der meisten Städte überwiegt bei der Entwicklung neuer urbaner Wohnformen gegenwärtig die Konzentration auf gehobene und hochpreisige Wohnungsmarktsegmente (Abb. 6, S. 119). Die damit einhergehende soziale Verengung der Adressaten auf vermögendere urbane Schichten und internationale Investoren wird allerdings zunehmend kritisch gesehen. Es wächst die Sorge über die zu beobachtenden forcierten Entmischungstendenzen und ein Aus­ einanderdriften der Stadtgesellschaften, das den überkommenen sozialen Zusammenhalt in Deutschland infrage zu stellen beginnt. Und so ist das Thema der sozialen Mischung wieder zu einem zentralen Topos geworden.19 Das Ziel einer sozialen Mischung, das auch das Baugesetzbuch (BauGB § 1) und Wohnraumförderungsgesetz (WoFG § 6 ) mit der Absicht der »Schaffung und

Erhaltung sozial stabiler Bewohnerstrukturen« fordern, trifft auf einen breiten Konsens bei Kommunalpolitikern wie innerhalb der Wohnungswirtschaft. Die Zielakzeptanz lässt sich noch weiter erhöhen, wenn in einer modernen Inte­ grations- und Diversitätspolitik auf kommunaler Ebene unter »Mischung« nicht (mehr) die Ein­ ebnung und Nivellierung kultureller und ethnischer Unterschiede verstanden werden, sondern gerade umgekehrt eine Balance von Integration und Diversität, von geteilter Gemeinsamkeit und individueller Vielfalt angestrebt wird.20 Dabei gilt es, auch die Grenzen jeder Mischungspolitik im Auge zu behalten, wie die von mehreren Schweizer Bundesämtern herausgegebene Studie »Soziale Mischung und Quartierentwicklung: Anspruch versus Machbarkeit« aus dem Jahr 2011 unterstreicht. Die Sorge um Teilhabe, um Wahlmöglichkeiten auf dem Wohnungsmarkt, um das soziale Profil eines Gemeinwesens und um soziale Mischung ist laut dieser Studie in einer demokratischen Gesellschaft ein Muss. Auf der anderen Seite gelte es aber auch »anzuerkennen, dass ein sozial durchmischtes Quartier keine Lösungen für Armut, Ausgrenzung und Diskriminierung bietet und damit auch nicht die negativen Begleiterscheinungen sozio-ökonomisch segregierter Quartiere zu beseitigen vermag«.21 Mischung im Wohnen ist nur dann möglich, wenn nach Größe, Ausstattung und vor allem nach Preis geeigneter Wohnraum für alle Bevölkerungs­ gruppen zur Verfügung steht. Vielleicht liegt die größte Hypothek für eine nachhaltige Mischungspolitik auf Quartiersebene in dem unaufhaltsamen Abschmelzen des früheren Sozialwohnungsbestands, das durch die gegenwärtigen Neubauraten im geförderten Wohnungsbau in keiner Weise kompensiert wird. Die vor allem in den Großstädten kumulierenden Probleme auf den unteren Wohnungsteilmärkten


117

4.3 — Mensch und Soziokultur

Abb. 3

haben dazu geführt, dass mehr und mehr Kommunen, zum Teil mithilfe kommunaler Woh­ nungsgesellschaften, inzwischen auf diesem Feld neue, eigene Aktivitäten entwickeln. München als Stadt mit den höchsten Immobilienpreisen und größtem Nachfragedruck auf dem Wohnungsmarkt ist zugleich die Stadt, die konsequent im Rahmen ihrer 1994 vom Stadtrat erstmals be­­ schlossenen Politik »Sozialgerechter Bodennutzung« (SoBoN) immer dann, wenn neues Baurecht geschaffen wird, die Umsetzung einer Förderquote von 30 %, bei städtischen Grundstücken sogar von 50 %, für den preisgünstigen, geförderten Miet- und Eigentumswohnungsbau fordert und umsetzt. Inzwischen haben auch zahlreiche andere Städte wie Hamburg, Stuttgart, Aachen, Heidelberg, Regensburg oder Nürnberg ähnliche, in Höhe und Ausgestaltung variierende Förderquoten eingeführt. Was den Bestand betrifft, so steht die Debatte um geeignete Instrumente zur Begrenzung sozial unerwünschter Entmischungs- und Verdrän­ gungsprozesse der gegenwärtig vor allem in den Wachstumszentren zu beobachtenden Gentri­ fizierung noch weitgehend am Anfang. Luxus­ sanierungen und Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen können kaum verhindert werden. Ein Umwandlungsverbot hat, wie der Münchner Oberbürgermeister Christian Ude mehrfach beklagte,22 der Landesgesetzgeber bislang nicht bereitgestellt und auch der Einsatz von Erhaltungssatzungen (BauGB § 172) kann die angesprochenen Prozesse nur bremsen, aber nicht dauerhaft verhindern.23 Nun stellt sich die Frage, auf welcher städtebaulichen Maßstabsebene und in welcher städtebauli­ chen Körnung sich Mischung als am sinnvollsten, am wirkungsvollsten erwiesen hat und in welchem Verhältnis (Quartier, Block, Haus) dabei sozial und ethnisch heterogene und homogene Struk-

turen zueinander stehen sollen. Eine klassische, viel zitierte Antwort gibt darauf der amerikanische Sozialforscher Herbert J. Gans in einem bereits 1961 erstmals publizierten Aufsatz: Grundsätzlich seien beide, homogene und heterogene Strukturen, per se weder als gut oder schlecht zu qualifizieren. Lediglich ihre extremen Formen seien gleichermaßen unerwünscht. Im Ergebnis postuliert er ein im konkreten Fall auszubalancierendes Ideal, in dem ausreichende Homogenität gegeben sein sollte, um Konflikte zu verhindern und um positive Beziehungen mit den Nachbarn aufzubauen, und in dem zugleich genügend Hetero­ genität bestehen müsse, um auch einer gewissen Vielfalt Raum zu geben.24 In der Praxis führte das zu der wiederholt geäußerten Empfehlung, das unmittelbare Umfeld der Wohnung bzw. den Wohnblock eher homogen, größere Einheiten wie das Quartier aber nach Möglichkeit heterogen zu halten.25 Gemeinden und Wohnungsbaugesellschaften experimentieren in der Frage sozialer Mischung auf Haus-, Block- oder Quartiersebene bis heute mit unterschiedlichsten Projekten. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass Mischung in der Regel umso mehr Fingerspitzengefühl, Einsatz und vor allem Bereitschaft zur aktiven Beteiligung der Bewohner aufseiten der Projektentwickler erfordert, je feinkörniger und kleinteiliger sie konzipiert ist.26

Programm ­»Soziale Stadt« Einen komplexen Ansatz zur Aufwertung von Problemquartieren in Großsiedlungen und In­­ nenstadtrandlagen verfolgt das 1999 aufgelegte

Abb. 2  Pflegeheim und ­Diakonie, Düsseldorf (D) 2009, Baumschlager Eberle Abb. 3  sozialer Mietwohnungsbau als Neuinterpretation des vorherigen Zeilenbaus, Buchheimer Weg, Köln (D) 2012, ASTOC Architects and Planners

22  Süddeutsche Zeitung vom 07.12.2012 23  Reiß-Schmidt 2012, S. 415 24  Gans 1974, S. 197 25  Spiegel 1983, S. 88 26  Harlander/Kuhn / Wüstenrot Stiftung 2012, S. 402f.


k a p ite l 4

Handlungsfelder

4.4

Ă–kologie


127

4.4 — Ökologie

4.4.1

Freiräume und Stadtklima Ste p han Anders, Gerhard Hauber, Walt raud Pus tal

D

ie Gestalt einer Stadt definiert sich wesentlich durch ihre räumlichen Strukturen, die sich aus den landschaftlichmorphologischen Bedin­ gungen sowie den Bau- und Infrastrukturen ergeben. Die Vernetzung und Gestaltung multifunktionaler grüner Freiräume spielt dabei eine entscheidende Rolle. In Zukunft wird es notwendig sein, Freiräume noch viel konsequenter zu schützen und als lebensnotwendige Elemente urbanen Lebens zu entwickeln und zu erweitern – und sie nicht nur wie bisher häufig auf »Rest­ flächen« zwischen der Bebauung zu reduzieren. Denn den Freiflächen kommt eine entscheidende Funktion bei den Strategien zur Klimaanpassung unserer Städte zu (gegen Starkregen, Überhitzung etc.), sie sind essenziell für die Artenvielfalt und deren Weiterentwicklung im urbanen Umfeld. Als attraktive Frei- und Bewegungsräume für alle Generationen müssen weitere Freiflächen ge­­ schaffen bzw. die bestehenden ausgebaut werden.

Maßstabsebene Region Regionalplanung der Zukunft Die Regionalplanung ist das zwischen überge­ ordneter Landesebene und kommunaler Ebene vermittelnde Planungsinstrument. Ihre Aufgabe ist es – oft in langwierigen Prozessen, Verhandlungen und Abstimmungen –, auf der Basis von hochspezialisierten Gutachten die Grundlagen der räumlichen Entwicklung eines Gebiets als

Wirtschaftsraum, Erholungslandschaft und Na­­ turraum für die nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte festzulegen. Grundlegende Anforderung ist dabei immer die Abschätzung der Folgen der menschlichen Eingriffe in die natürlichen Gegebenheiten und die Abwägung dieser Auswirkungen gegen die städtebaulichen Nutzungsanforderungen. Dabei war bisher der Wert von Arten und Bio­ topen von eher allgemeinerer gesellschaftlicher Bedeutung und nur schwer präzise zu formulieren. Der 2011 von der britischen Regierung vorgelegte Bericht »National Ecosystem Assessment« (NEA) zeigt nun eine neue Herangehensweise auf.1 Im NEA wird versucht, Ökosysteme und deren Entwicklungsprozesse in monetäre Werte zu übersetzen. Nur so lässt sich eine Vergleichbarkeit von Bewirtschaftungsszenarien herstellen. Die Ergebnisse sind eindeutig: So zeigt eine vergleichende Studie, dass eine konventionell betriebene, im Wesentlichen auf das Einkommen der Bauern bezogene Landwirtschaft gegenüber einer nachhaltigen, auch den Biotop- und Artenschutz berücksichtigenden Bewirtschaftung gesamtwirtschaftlich betrachtet gravierende Unterschiede aufweist. Die erste Variante kostet langfristig sehr viel mehr Geld, als sie einbringt und hinterlässt zudem eine geschädigte Umwelt. Dagegen sorgt die nachhaltige Bewirtschaftung für eine monetär positive Bilanz und erhält langfristig das bewirtschaftete Gebiet für die Gesellschaft. Als einfaches Beispiel sei hier der reduzierte Eintrag von Dünger, Pestiziden und Sedimenten (Erosion) in Flüsse aufgrund einer naturnahen Bewirtschaftung genannt. Das bedeutet einen geringeren Aufwand und damit verbunden weniger Kosten für die Aufbereitung dieses Wassers zu Trink­ wasser.2 Die Regionalplanung der Zukunft wird diese Art der Herangehensweise weiterent­ wickeln und das Kosten-Nutzen-Verhältnis einzelner Entscheidungen unter diesem veränderten Blickwinkel neu ermitteln müssen. Dabei

1  Watson 2011 2  National Ecosystem Assessment 2011


132

Abb. 9 Rückstrahlvermögen (Albedowert) verschiedener Oberflächen Abb. 10  Platanenkubus im Rahmen der Landesgarten­ schau 2012, Nagold (D), ­Ferdinand Ludwig/IGMA der Universität Stuttgart, Daniel Schönle Abb. 11  begrünte Lärm­ schutzwand, Frankfurt am Main (D) 2013 Abb. 12 menschlicher ­Organismus als thermischer ­Wirkungskomplex (KlimaMichel-Modell) Abb. 13  Sonnensegel in der Fußgängerzone »Calle ­Sierpes«, Sevilla (E) Abb. 14  Wasservernebler im Außenraum, Hiroshima (J)

10  vgl. Frentzen 2006

Rückstrahlvermögen (Albedo) [%]

Kapitel 4 — Handlungsfelder

100 90 80 70 60 50

frischer Schnee

weißer Anstrich

alter Schnee trockener Sand

40 Eis 30 20

Wände

Wüste

roter, brauner, grüner Anstrich

Dächer Wiesen

10 Wasser

Wald

Straßen

0 Abb. 9

Stimmung, viele wanderten ab. Um diesen Missstand zu beheben, beschloss der Bürgermeister, an einer Felswand in 1100 m Höhe 14 lenkbare Spiegel zu installieren, um das Sonnenlicht in das Dorf zu lenken. Mittlerweile wird der Ansatz auch in anderen lichtarmen Dörfern diskutiert.10 Was die einen zu wenig haben, haben die anderen zu viel. So versucht man in der traditionellen arabischen Architektur durch enge Straßenräume, Gebäudestaffelung oder Lichtsegel so wenig direktes Sonnenlicht wie möglich in den Außenraum zu lassen, um der extremen Aufheizung vorzu­ beugen. Die beiden Extrembeispiele zeigen deutlich, dass je nach Standort des Quartiers spezifische Strategien für den Umgang mit der Sonneneinstrahlung entwickelt werden müssen. Dabei sei angemerkt, dass im Zuge der Klimaerwärmung und der damit verbundenen Zunahme von extremen Wettersituationen auch in gemäßigten Klima­ zonen zukünftig verstärkt über temporäre Maßnahmen zur Reduzierung der Hitzebelastung wie Sonnensegel, Begrünung, Luftbefeuchtung oder Wasserelemente nachgedacht werden muss (Klimaanpassung).

bung auf (Heat-Island-Effekt). Nicht ohne Grund werden die Häuser in Griechenland traditionell weiß gestrichen. Jedoch ist der Albedowert einer Oberfläche nicht immer gleichzusetzen mit dem Beitrag zum Heat-Island-Effekt. So haben Grünflächen zwar ein geringes Rückstrahlvermögen und absorbieren somit einen Großteil der eintreffenden Solarstrahlung, jedoch wird die eintreffende Energie im Photosynthese-Prozess umgewandelt und trägt deshalb nicht zur Aufheizung bei. Gleichzeitig haben Grünflächen, aber auch versickerungsfähige Oberflächen wie Rasengittersteine oder wassergebundene Decken durch die Verdunstung des gespeicherten Wassers eine Art Pufferfunktion für das Mikroklima. Dabei müssen Grünflächen nicht immer nur auf die Horizontale beschränkt sein, sondern können durchaus auch, wie bei einer Fassadenbegrünung oder einem Baum, als vertikale Begrünung eingesetzt werden (Abb. 10 und 11). Für die nachhaltige Planung von Quartieren ist es wichtig, Materialien nicht nur im Hinblick auf ihre gestalterische Qualität, Be­­ ständigkeit und Kosten auszuwählen, sondern auch deren Auswirkungen auf das Mikroklima zu berücksichtigen.

Oberflächen

Thermischer Komfort und Wohlbefinden

Abb. 10

Neben der Intensität der direkten Solarstrahlung haben auch die verwendeten Oberflächen einen wesentlichen Einfluss auf den Wärmeeintrag in der Stadt. Im Gegensatz zu Schnee, Sand oder hellen Farben absorbieren Wasser, Dächer und Straßen einen Großteil der eintreffenden Sonnenstrahlen und weisen damit ein geringes Rückstrahlvermögen (Albedowert) auf (Abb. 9). Je geringer der Albedowert ist, desto mehr Solarstrahlung wird von den Oberflächen absorbiert und desto mehr heizen sie sich und ihre UmgeAbb. 11

Stadt

Die Lufttemperatur für sich allein betrachtet lässt noch keine Aussage über den thermischen Komfort im Außenraum zu. Dieser wird durch eine Vielzahl unterschiedlicher Faktoren wie der direkten Sonnenstrahlung, der Windgeschwindigkeit, der Luftfeuchte oder auch der Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen bestimmt. So macht es beispielsweise einen großen Unterschied, ob man sich bei 35 °C in der direkten Sonne oder im Schatten aufhält. Für den Wärmehaushalt des


133

4.4 — Ökologie

D A

EKM

B

R QRE QL E QH

R EKM

M

E QSW

E

R

M Gesamtenergieumsatz QH turbulenter Fluss fühlbarer Wärme Gesamtenergieumsatz turbulenter Fluss latenter Wärme QM SW turbulenter Fluß fühlbarer Wärme QQL H turbulenter Fluss latenter Wärme durch turbulenter Fluß latenter Wärme QSW ­Wasserdampfdiffusion turbulenter Fluß latenter Wärme durch Q über Atmung (fühlbar und latent) QREL Wärmefluss Wasserdampfdiffusion

Wärmefluß über Atmung (fühlbar und latent) QRE Komponenten der Strahlungsbilanz Q der Strahlungsbilanz Q I Komponenten direkte Sonnenstrahlung Sonnenstrahlung D I diffusedirekte Sonnenstrahlung D diffuse Sonnenstrahlung (kurzwellig) R R Reflexstrahlung Reflexstrahlung (kurzwellig) A A Wärmestrahlung der Atmosphäre Wärmestrahlung der Atmosphäre der Umgebungsoberflächen E E Wärmestrahlung Wärmestrahlung der Umgebungsoberflächen Wärmestrahlung des Menschen des Menschen EEKM Wärmestrahlung KM

Abb. 12

Menschen kann dies bei Windstille soviel wie ein Lufttemperaturunterschied von 15 °C bedeuten,11 was klimatologisch etwa der Temperaturamplitude im Tagesverlauf an einem Tag ohne Bewölkung entspricht. Zur quantitativen Beschreibung der komplexen Bedingungen des menschlichen Wärmehaushalts dient ein Wärmebilanzmodell, das sogenannte Klima-Michel-Modell nach VDI 3787 (Abb. 12),12 aus dem sich interessante Schlussfolgerungen ableiten lassen. So hängt die gefühlte Temperatur (preceived temperatur – PT) u. a. von der Windgeschwindigkeit und der Luftfeuchte ab, die den Wärmefluss vom Körper zur Umgebung beeinflussen. Führen selbst geringe Windgeschwindigkeiten (z. B. durch Ventilatoren) im Sommer zu einer ausreichenden Verdunstung und einem damit verbundenen angenehmen, kühlenden Effekt, verstärkt Wind im Winter die eisigen Temperaturen, wodurch sich 0 °C wie -15 °C anfühlen können. Simulationen zu Windgeschwindigkeiten in Bodennähe zeigen, dass diese in einzelnen Bereichen stark voneinander abweichen können. Dies sollte bei der Planung und Nutzung berücksichtigt werden. Verschattende Elemente wie enge Straßenzüge und Sonnensegel (Abb. 13) oder die Berücksichtigung der lokalen Windgeschwindigkeiten stellen eine Möglichkeit dar, die gefühlte Temperatur zu beeinflussen. Eine weitere Möglichkeit ist die Veränderung der Luftfeuchte. So tragen Grün- und Wasserflächen durch Verdunstung auf ganz natürliche Art und Weise dazu bei, die gefühlte Temperatur zu senken. Solarbetriebene Sprühnebelanalgen für Außenbereiche erzielen ähnliche Effekte (Abb. 14) und werden in manchen Ländern teilweise auch schon im öffentlichen Straßenraum eingesetzt. Insbesondere im Hinblick auf die Klimaanpassung von bestehenden Stadtstrukturen stellen sie eine interessante Lösung dar.  SA

Abb. 13

Einfluss von Freiräumen auf das Mikroklima Wesentliche Klimaveränderungen wie ansteigende Durchschnittstemperaturen und veränderte Niederschlagsverteilungen werden unsere Städte und das Leben ihrer Bewohner nachhaltig beeinflussen und verändern. Als Folgen können häufigere und längere Hitzeperioden im Sommer sowie weniger, aber heftigere Regenereignisse auftreten. Die Auswirkungen sind dramatisch, lokale und regionale Überflutungen aufgrund von überforderten Kanalsystemen werden zunehmen. Außerdem ist mit einem deutlichen Anstieg von klimabedingten Gesundheitsproblemen zu rechnen. Dem können Grün- und Freiräume positiv ent­ gegenwirken. Sie sind eines der wesentlichen Elemente, um die Klimaanpassung in Städten überhaupt zu ermöglichen. Sie senken (Spitzen-) Temperaturen im Sommer, filtern die Luft und reduzieren dadurch Luftverschmutzungen, sie sind in der Lage, Regenwasser zu klären, gereinigt ins Grundwasser abzugeben oder temporär einzustauen und damit Kanal- wie auch Flusssysteme zu entlasten. Pflanzen helfen, die vorhandenen Probleme zu erkennen und zu bewerten. So reagieren z. B. manche Pflanzengruppen auf erhöhte städtische Temperatureinflüsse, andere auf Luft­ verschmutzung bzw. auf bestimmte Bestandteile der v ­ erschmutzten Luft. Zur Bioindikation von Luftverschmutzung in Städten werden in standardisierten Untersuchungsverfahren z. B. Flechten eingesetzt, da sie sehr weit verbreitet und umfassend untersucht sind. So lassen sich sogar über Jahrzehnte Veränderungen in der Zusammensetzung der Luftbelastung dokumentieren.13 Allerdings gestaltet sich der Komplex Vegetation – Klima – Lufthygiene als nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick scheint. So können Bäume

Abb. 14

11  Jendritzky/Nübler 1981; Jendritzky/Sievers 1987 12  Helbig et al. 1999, S. 136f. 13  z. B. Stadt Reutlingen, 1979, 1984, 1989, 1994, 2000, 2010


160

Kapitel 4 — Handlungsfelder

zentrale Umschlaghalle Spedition 1

Spedition 1

Spedition 2

Spedition 2 Spedition 3

Spedition 3

a

b

Abb. 13

18  Deutsche Post AG 2010

Abb. 13  Prinzip der City Logistik a  ohne zentrale Umschlaghalle b  mit zentraler Umschlag­ halle Abb. 14  Vision für die Re­­ gion Boston/Washington im Jahr 2030, Höweler + Yoon Architecture (1. Preis Audi Future Award 2012)

bestellungen reagiert und gleichzeitig Tausende von Kilometern bei der Zustellung von Paketen eingespart, was auch eine Vermeidung von meh­ reren Tonnen von CO2 bedeutet.18 Regelungen mit festgeschriebenen Lieferzeiten können zu erheblichen Entlastungen zu den übri­ gen Zeiten führen. So würden beispielsweise Fuß­ gängerzonen in den hochfrequentierten Tages­ zeiten frei von Fahrzeugen bleiben. Nachteilig ist bei solchen Regelungen jedoch, dass sich der Verkehr meistens auf die sehr frühen Morgen­ stunden konzentriert, was bei vorhandener Wohn­ bebauung wiederum störende Lärmauswirkungen haben kann. Einer Studie der Deutschen Post zufolge könnte die Nachtlieferung mit leiseren Elektrofahrzeugen das Problem der Staus und der unerwünschten Lkw-Anlieferung in innenstädtischen Quartieren lösen. Dabei wären allerdings die sozialen Aus­ wirkungen der Nachtarbeit zu berücksichtigen.

Steuerliche und rechtliche Mittel Es gibt verschiedene steuerliche, rechtliche oder finanzielle Regelungen, mit denen sich Einfluss auf das Verhalten der Verkehrsteilnehmer nehmen lässt. Bei einzelnen Verkehrsmittel kann das durch steuerliche Anreize (Bonussysteme), Mehrkosten (Malus­systeme) etc. geschehen. Eine Verteuerung der Pkw-Nutzung beispielsweise durch eine er­­ höhte Mineralölsteuer kann sowohl dazu führen, dass sich die gefahrenen Strecken reduzieren, als auch dazu, dass der Umstieg auf Elektromobilität leichter fällt. Auf der anderen Seite bewirken z. B. Subventionierungen des öffentlichen Nahverkehrs

eine erhöhte Nachfrage. Die Differenzen müssen jedoch für die Betroffenen deutlich spürbar sein. Zudem lassen sich durch die Einführung z. B. einer Citymaut – je nach Modell – einzelne Verkehrs­ teilnehmer von der Fahrt in die Innenstadt mit dem Pkw abhalten bzw. sich die Fahrten bei ge­­ staffelten Modellen zeitlich verschieben. Solche ­Maßnahmen beziehen sich jedoch sehr oft auf den Gesamtverkehr bzw. einen gesamten Stadt­ bereich, nicht auf einzelne Quartiere. Zu berück­ sichtigen ist bei derartigen Maßnahmen, dass sie auch soziale Auswirkungen haben können. Eine starke Verteuerung z. B. des Pkw-Verkehrs führt dazu, dass die Nutzung der unterschiedli­ chen Verkehrsmittel stark vom sozialen Stand abhängt. Hier überschneiden sich stadtplaneri­ sche mit sozialpolitischen Fragestellungen. Glei­ ches gilt auch für die künstliche Verteuerung von Parkraum. Eine Maßnahme, die weniger soziale Auswirkun­ gen hat, ist die direkte Einflussnahme auf die Fahrt mit dem Fahrzeug. Die Wahl des Verkehrsmittels hängt von Kriterien wie der Bequemlichkeit, aber auch von der Fahrdauer ab. Stadtplanerisch bereits umgesetzt wurden Beschleunigungsspuren für den Busverkehr bzw. auch völlig separate, abge­ trennte Busspuren. Weitere Möglichkeiten sind die Bevorrechtigung des Linienverkehrs im Be­reich von Signalanlagen, eine Reduzierung der erlaubten Höchstgeschwindigkeiten sowie die Einführung von Pförtnerampeln, die den Zufluss in Gebiete regeln. Geschwindigkeitsbegrenzungen auf den Hauptverkehrsstraßen führen jedoch häufig dazu, dass auf Wege durch Wohngebiete ausgewichen wird, da diese dann zeitlich kürzer sind. Starke Beschränkungen können aber auch den Ausschluss ganzer Zweige oder Berufsgrup­ pen aus den Städten zur Folge haben, die auf Fahrzeuge angewiesen sind. Eine wesentliche Optimierung des Mobilitätsauf­


161

4.4 — Ökologie

Abb. 14

kommens lässt sich durch eine hohe Vernetzung der einzelnen Verkehrsmittel erreichen. Mithilfe von Apps für Smartphones ist es inzwischen mög­ lich, die schnellsten und besten Routen sowohl auf Grundlage der Kosten als auch der Reisezeit zu ermitteln. Gleichzeitig kann bei einigen Anbie­ tern der anfallende Fahrpreis für die Nutzung kos­ tenpflichtiger Angebote gesamtheitlich abgebucht werden, es sind keine unterschiedlichen Zahlungs­ systeme mehr notwendig. Das macht ein beque­ mes Umsteigen von einem Verkehrsmittel auf das andere möglich. In diese Kette müssen alle Ver­ kehrsmittel einbezogen werden – vom Parkplatz für das eigene Fahrzeug über öffentliche Nahver­ kehrsmittel bis hin zu Leihfahrzeugen etc. Die Wahl des Verkehrsmittels erfolgt dann nur noch nach den derzeitigen individuellen Bedürfnissen. Ansätze hierzu gibt es bereits. So entstanden bei­ spielsweise in Kooperation mit Automobilherstel­ lern erste Apps für Smartphones, mit dem Ziel, die Suche nach der besten Mobilitätslösung zu ermöglichen und gleichzeitig allgemeine Infor­ mationen über die Stadt bereitzustellen.19  JL

Visionen für die Stadt der Zukunft Trotz zahlreicher Lösungsansätze ist die Zu­­ kunft der Mobilität noch offen. Verschiedene Forschungsinstitute arbeiten intensiv daran, ­mögliche Szenarien für die Entwicklung der Mo­­ bilität zu definieren. Die Zukunft der Mobilität zu gestalten, ist ein Thema, das Automobilhersteller und Stadtplaner gleichermaßen betrifft. Um eine Diskussion über die Mobilität und die Stadt der Zukunft anzuregen,

entstehen Kooperationen wie die 2010 von der Audi AG ins Leben gerufene »Audi Urban Future Initiative«. Im Rahmen des Projekts werden Wett­ bewerbe, Workshops sowie weitere Initiativen veranstaltet, zu denen Architekten, Stadtplaner und Soziologen eingeladen sind. Zudem wird der »Audi Urban Future Award« vergeben.20 Die im Rahmen dieser Initiative entwickelten Visionen lassen neue Formen der Interaktion zwischen Auto und Stadt entstehen, bei denen die digitale Technologie eine erhebliche und wachsende Rolle einnimmt (Abb. 14). Ähnliche Ziele verfolgt das BMW Guggenheim Lab. Innerhalb von sechs Jahren möchte der Auto­ mobilhersteller einige Megacities weltweit unter­ suchen und in kontinuierlichen Dialog mit der Bevölkerung treten. Interdisziplinäre Teams beschäftigen sich im Rahmen der Initiative mit aktuellen Themen des urbanen Lebens, um neue Ideen zu erforschen und innovative Denkansätze zu fördern.21 Ist die moderne Mobilität mit Attributen wie schneller, öfter, weiter, mehr, bequemer, billiger und sicherer zu beschreiben,22 so wird die urbane Mobilität der Zukunft vernetzer, multimodaler, intelligenter, sauberer, leiser, raumsparender, sicherer und sozialer sein. Bei all den unterschied­ lichen Visionen wird jedoch deutlich, dass nicht zuletzt aufgrund der sich immer schneller ändern­ den Anforderungen eine Anpassung der Verkehrs­ infrastruktur erforderlich ist. Dies bedarf auch einer flexibleren Infrastrukturplanung, die Struk­ turen schafft, die nicht für die Ewigkeit »asphal­ tiert« sind, sondern sich mit vertretbaren Kosten an aktuelle Bedürfnisse und Anforderungen anpassen lassen. Dabei muss die Entwicklung von effizienteren und attraktiveren Mobilitätsschnitt­ stellen (Mobility Hubs) gefördert werden, um die erfolgreiche Vernetzung unterschiedlicher Mobi­ litätslösungen zu gewährleisten.  AS

19  www.moovel.de; www.mycityway.com 20  www.audi-urban-future-­ initiative.com 21  www.bmwguggenheimlab.org 22  Merki 2008, S. 76

Weitere ­Informationen

•  Albers, Markus: »Eines für alle«. In: Brand Eins 03/2011 •  Adler, Michael: Generation Mietwagen. Die neue Lust an einer anderen Mobilität. München 2011 •  Brake, Matthias: Mobilität im regenerativen Z ­ eitalter. Was bewegt uns nach dem Öl? Hannover 2009 •  Canzler, Weert; Knie, Andreas: Einfach aufladen. Mit Elektromobilität in eine saubere Zukunft. ­München 2011 •  Schindler, Jörg; Held, Martin; Würdemann, Gerd: Postfossile Mobilität. Wegweiser für die Zeit nach dem Peak Oil. Bad Homburg 2009 •  Schneider, Manuel: Post-Oil City. Die Stadt von morgen. politische ökologie H. 124. München 2011 •  Sperling, Daniel, Gordon, Deborah: Two Billion Cars: Driving Toward Sustainability. Oxford 2010 •  Yay, Mehmet: Elektromobilität. Theoretische Grundlagen, Herausforderungen sowie Chancen und Risiken der Elektromobilität, diskutiert an den Umsetzungsmöglichkeiten in die Praxis. Frankfurt/M. 2012 •  Zierer, Maria Heide; Zierer, Klaus: Zur Zukunft der Mobilität. Eine multiperspektivische Analyse des Verkehrs zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Wiesbaden 2010


162

Kapitel 4 — Handlungsfelder

4 . 4 .5

Energie Gregor C . Gras s l, Olaf Hildebrandt, Peter Mös le, Christopher Vagn Philipsen

1  BMU 2010 2  Sachs 1993

Basisszenario 2010 A

Im Jahr 2009 beauftragte das Bundesumwelt­ ministerium (BMU) eine Studie zu »Langfristsze­ narien und Strategien für den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland bei Berücksichtigung der Entwicklung in Europa und global«. Ein erster Bericht wurde 2009 veröffentlicht (»Leit­ szenario 2009«), ein weiterer Zwischenbericht 2011 (»Leitstudie 2010«). Ziel des Forschungs­ projekts sind Szenarien, die aufzeigen, wie die im Energiekonzept der deutschen Bundesregierung beschlossenen energie- und klimapolitischen Ziele durch eine deutliche Effizienzsteigerung und einen kontinuierlichen Ausbau der erneuerbaren Energien (EE)erreicht bzw. übertroffen werden können. In der »Leitstudie 2010« wurden unter der Annahme gleicher Anstrengungen zur Effizienzsteigerung drei Basisszenarien erstellt: •  Basisszenario 2010 A: keine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke, die bisherigen Rest­ laufzeiten werden eingehalten. Der Anteil der E ­ lektromobilität an der Verkehrsleistung des ­Individualverkehrs steigt bis 2050 auf 33 %. •  Basisszenario 2010 B: Annahmen zu den Restlaufzeiten wie in Szenario A. Der Anteil der Elektro­ mobilität an der Verkehrsleistung des Individual­ ver­kehrs steigt bis 2050 auf 66 %, Deckung des höheren Strombedarfs durch EE-Strom. •  Basisszenario 2010 C: Laufzeitverlängerung der Kernenergie gemäß des Beschlusses der Bundesregierung vom 28.9.2010 von durchschnittlich 12 Jahren. Alle anderen Annahmen, insbesondere der EE-Zubau, entsprechen den Werten des Basisszenarios 2010 A.

E

nergieeffizienz ist die zentrale Klimaschutzstrategie: Ziel muss es sein, mit deutlich weniger Energieeinsatz die Lebensqua­ lität zu verbessern. Die ener­ getische Effizienzstrategie baut auf drei Säulen, den drei »E« auf: •• Energieeinsparung, um den Nutzenergiebe­ darf bei gleicher (oder sogar höherer) Dienst­ leistung zu reduzieren •• Effizienzverbesserung, um die Umwandlungs­ verluste zwischen End- und Nutzenergie zu reduzieren •• erneuerbare Energien, die als wesentliche Primärenergieträger eingesetzt werden

Für das Erreichen der Klimaschutzziele ist das Zusammenwirken aller drei Säulen entscheidend. Im Zeitraum 2010–2050 könnte eine Minderung der CO2-Emissionen in Deutschland von insge­ samt 596 Millionen t CO2 pro Jahr (Basisszenario 2010 A) erreicht werden. Zwei Strategien ragen dabei in ihrer Bedeutung heraus: zum einen der Ausbau der erneuerbaren Energien in der Strom­ versorgung, zum anderen die Energieeinsparung und Steigerung der Energieeffizienz im Wärme­ bereich. Ein weiteres wichtiges Segment stellt die Effizienzsteigerung im Stromsektor dar (Abb. 1). Damit wären bereits 75 % der Gesamtminderung erbracht.1 Bei allen Bemühungen um die Effizienz sind zwei Aspekte für einen nachhaltigen Lösungsansatz zu beachten: die Resilienz von Systemen sowie die Suffizienz. Unter Resilienz versteht man die Fähig­ keit eines Ökosystems, angesichts von Störungen wieder in den ursprünglichen Zustand zurück­ zukehren. In die Bewertung der Nachhaltigkeit muss also die langfristige, ökologisch verträgliche Nutzung von natürlichen Ressourcen einfließen. Das bedeutet, dass auch die Begrenztheit der

Ressource Biomasse als Energiepotenzial aner­ kannt wird. Bei der Nutzung von Biomasse geht es auch um die maßvolle Einbindung in die Landund Forstwirtschaft, denn der Nahrungsmittel­ anbau hat Vorrang vor dem Energiepflanzenan­ bau. Zum anderen sollten ebenfalls Lebens- und Konsumgewohnheiten sowie Wachstumszwänge infrage gestellt werden. Suffizienz wird in der Nachhaltigkeitsdiskussion im Sinne einer Ent­ schleunigung, eines Konsumverzichts und einer Lebensstiländerung verstanden. Das dafür nötige Umdenken ist in der Regel schwieriger als die Adaptionen neuer Technologien, aber, »die ›Effi­ zienzrevolution‹ bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer ›Suffizienzrevolution‹ begleitet wird«.2 Ein aktuelles Beispiel in der Architektur und Stadtplanung ist das zunehmend zu beobach­ tende Festhalten an tradierten Mustern der Ent­ wurfs- und Planungskultur und der teilweise daraus resultierende Widerstand gegen wirksame Effizienzstrategien wie Dämmung und Lüftungs­ anlagen. Dabei liegt gerade in der Verknüpfung der Themen Energieeffizienz und Architektur bzw. Baukultur eine gemeinsame Planungs- und Gestaltungsaufgabe. Und so ist auch die Umset­ zung der Energiewende nicht nur eine technische und ordnungsrechtliche Angelegenheit, sondern muss unbedingt mit den Menschen vor Ort, vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene angegangen und umgesetzt werden. Ziel der energetischen Effizienzstrategie ist es, dass für den gleichen Nutzen weniger Energie eingesetzt wird. Das Bevölkerungswachstum, verbunden mit den steigenden Lebensstandards führt dazu, dass unsere linear ausgerichteten Wirtschaftssysteme – Herstellung, Nutzung, Ab­­ fall – im Hinblick auf die Materialversorgung an ihre Grenzen stoßen. Somit wird nicht die Ener­ gieversorgung mittel- bis langfristig die Mensch­ heit vor Probleme stellen, sondern die Folgen einer zunehmenden Rohstoffverknappung. Die


163

4.4 — Ökologie

Ausbau der Erneuerbare Energien (EE) in der Stromversorgung Steigerung der Energieeffizienz (EEF) im Wärmebereich Effizienzsteigerung im Stromsektor weitere Effizienzsteigerungen im Verkehrssektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Wärmesektor Ausbau der Erneuerbaren Energien im Verkehrssektor 0

50

100

150

200 250 300 CO2-Minderungspotenziale 2010 – 2050 [Mio. t/a]

0

50

100

150

200 250 300 verbleibende CO2-Emissionen [Mio. t/a]

Stromerzeugung Verkehr Wärmeerzeugung

Abb. 1

einzige nachhaltige Lösung hierfür ist die Wie­ der- und Umnutzbarkeit der Materialien in bio­ logischen und technischen Kreisläufen,3 was jedoch bedeutet, dass unser Wirtschaftssystem komplett verändert und neu ausgerichtet werden muss – weg vom linearen, hin zu einem zirkularen System. In diesem gibt es keinen Abfall mehr, sondern nur noch Wertstoffe, die wiederum als Grundlage für die Herstellung des gleichen oder eines anderen Produkts dienen. Im zirkularen Wirtschaftssystem, angetrieben von erneuerbaren Energien, lässt sich für weit mehr Menschen auf unserem Planeten ein ausreichender Lebens­ standard erreichen, als dies heute überhaupt ­vorstellbar ist.  OH, GCG, PM

Energie­ gewinnung Der Planet Erde besitzt nur eine begrenzte Bio­ kapazität zum Abbau von Schadstoffen und zur Regenerierung von Ressourcen.4 Seit den 1990erJahren übersteigen die globalen Verbräuche die verfügbare Biokapazität. Um die Erde wieder in ein ökologisches Gleichgewicht zu bringen, muss der ökologische Fußabdruck (siehe Herausforde­ rung Mensch und Soziokultur, S. 52) global ge­­ senkt werden. Entscheidend hierfür ist der Ausbau der erneuerbaren Energieressourcen. Kohle, Öl und Gas waren die bestimmenden Roh­ stoffe für die Energieerzeugung der Vergangenheit und sind es auch noch in der Gegenwart. Die Tur­ bulenzen auf dem Energiemarkt in den letzten Jahren sowie die zu erwartende Verknappung dieser Ressourcen zeigen, dass auch aufgrund wirtschaftlicher Aspekte eine größere Unabhän­ gigkeit von den traditionellen Energieträgern für

heutige Städte und Industrieprozesse erforderlich ist. Regenerative Energieressourcen teilen sich in zwei Bereiche auf: natürliche Energiequellen und nachwachsende Rohstoffe. Natürliche Energie­ quellen sind überall vorhanden und unterscheiden sich in ihrer Leistungsfähigkeit und Menge je nach Region: Sonne, Wind, Erdwärme, Wasser, Außen­ luft. Nachwachsende Rohstoffe sind Biomasse, also pflanzliche und tierische Stoffe, die während ihres Wachstums genauso viel treibhausgefähr­ dendes CO2 der Atmosphäre entziehen, wie sie später bei der Verbrennung und Energieerzeugung emittieren. Die Atmosphäre wird durch diese Form der energetischen Nutzung nicht weiter mit CO2 angereichert, sodass keine Verstärkung des Treibhauseffekts entsteht. Lediglich die Energie, die zur Herstellung und zum Transport der Stoffe zur Verbrennungsanlage benötigt wird, geht als nicht nachwachsender Primärenergieanteil in die Gesamtenergiebilanz ein. Die nachwachsen­ den Ressourcen sind meist lokal vorhandene Stoffe wie Holz (Holzhackschnitzel, Pellets), Ener­ giepflanzen (Getreidepflanzen, Futtergräser) und Biogas, sodass der energie­intensive Transport gering gehalten wird und sich die Abhängigkeit von den Importrohstoffen Öl und Gas verringern lässt. Den Vorteilen der regenerativen Energieressour­ cen – keine bis geringe Belastung der Umwelt sowie meist geringere Energiekosten (Abb. 3, S. 165) – stehen jedoch auch Nachteile gegenüber. Geringere und schwankende Leistungen erfordern meist große Flächen für die Energiegewinnung und -speicherung und führen damit zu höheren Investitionskosten. Nur wenige nachwachsende Energieträger können bei der Leistungsfähigkeit pro Einheit mit den fossilen Energieträgern mithalten. Um dennoch eine effiziente und wirtschaftliche Nutzung von regenerativen Energiequellen zu gewährleisten, ist es erforderlich, das Gebäudekonzept darauf

Abb. 1  Beitrag einzelner Segmente der Energieversorgung in Deutschland zur CO2-Minderung zwischen 2010 und 2050 (Basissze­ nario 2010 A) und damit verbleibende Restemissionen im Jahr 2050 nach Sektoren

3  Braungart/McDonough 2002 4  WWF 2008


k a p ite l 4

Handlungsfelder

4 .5

Ă–konomie Ma r t i n Al tmann, Gregor C. Gras s l, Guido Spars


4.5 — Ökonomie

D

er ökonomische Handlungsbedarf im Rahmen von Stadtplanungs- und Quartiersentwicklungsprojekten ist groß, nicht zuletzt stehen diese wegen der meist schlechten finanziellen Lage der Kommunen sehr unter Druck. In diesem Kapitel werden Wege aufgezeigt, wie Projekte wirtschaftlich optimiert werden können. Dabei ist es nicht unbedingt notwendig, die Herstellungskosten und damit oft auch die Qualität einer Entwicklung zu senken. Die Weichenstellung beginnt bereits vor dem eigentlichen Quartiers­ projekt durch lokale, volkswirtschaftlich wichtige Entscheidungen. Der Standortwettbewerb um die besten Unternehmen und Leistungsträger kann nur mit einem attraktiven Umfeld gewonnen werden. Um überhaupt Projekte realisieren zu können, sind strategische Ansätze wie ein kommunales Flächenmanagement notwendig. Beim Thema Wirtschaftlichkeit geht es neben Finanzen vor allem um Effektivität und Effizienz, um Wertstabilität und natürlich auch Gewinn. Mit welchen Strategien und Berechnungsmethoden ein Projekt für alle Beteiligten und über den gesamten Lebenszyklus erfolgreich und gewinnbringend geplant werden kann, wird im Folgenden erläutert.

Stadt- und Regionalökonomie Städte und Regionen stehen in einem landes­ weiten, Metropolen sogar in einem europaweiten oder globalen Wettbewerb um die Ansiedlung von Menschen und Unternehmen. Hierbei zeichnet sich ab, dass Unternehmen ihre Standortentschei-

dung immer häufiger auch von der Attraktivität der Städte für die gesuchten hochqualifizierten Mitarbeiter abhängig machen. In Zeiten stei­ genden Fachkräftemangels wird diese Tendenz sicherlich noch zunehmen. Die Anforderungen an moderne Wohn- und Arbeitsorte können somit aus den Bedürfnissen dieser Fachkräfte abgeleitet werden, die sich neben dem entsprechenden ­Freizeit- und Erholungswert der Stadt, Kultur­ angeboten und der städtebaulichen Qualität auch einen ausdifferenzierten Wohnungsmarkt mit einem angemessenen Preis-Leistungs-Verhältnis sowie eine entsprechende soziale Infrastruktur, z. B. gute Kinderbetreuungsangebote und Schulen, wünschen. Nachhaltige Quartiersentwicklung kann schon aus dieser Perspektive ein guter An­­ satzpunkt sein, die Wettbewerbsfähigkeit der Stadt bzw. der Region zu verbessern. Ziel ist es, zeitnah ansprechende und zukunftsfähige Quartiere zu planen und umzusetzen, die die zentralen Wünsche und Wohnbedürfnisse der Menschen aufgreifen und die Stärken der Stadt weiter ausbauen. Strategische Stadtentwicklungsplanung ermöglicht es, Ziele der städtischen Weiterentwicklung herauszuarbeiten und einen sinnvollen Umgang mit unvermeidbaren Flächenkonkurrenzen ­zwischen unterschiedlichen Flächennutzungs­ ansprüchen zu finden. Die Quartiersentwick­ lungsplanung sollte in übergeordnete Planungen eingebunden sein. Dazu gehören integrierte Stadtentwicklungskonzepte, Handlungskonzepte für die Stadt insgesamt oder für bestimmte Stadtteile sowie wohnungswirtschaftliche Konzepte. Ein voraus­schauendes kommunales Flächen- bzw. Bau­landmanagement ermöglicht eine nachvollziehbare Entwicklungsstrategie und unterstützt die Ansprache des Markts mit Blick auf Investoren. Zentrale Leitgedanken der Quartiersplanung sind, welche Rolle das neue Quartier für die Gesamtstadt übernehmen soll, wie das Quartier in Konkurrenz zu anderen Standorten in der Stadt steht

183


188

Kapitel 4 — Handlungsfelder

Verteilungspolitik

Gerechtigkeit

Nutzen

Ethik

Prozesskostenrechnung

Sunset-Legislation

Utilitarismus

Sensitivitätsanalyse

Zero-Base-Budgeting

Nutzwertanalyse

Unternehmensplanung

Kosten-Nutzen-Analyse

Budgetierung

Wohlfahrtsökonomie

KostenWirksamkeitsAnalyse

externer Effekt

Neue Politische Ökonomie Arbeitsmarkttheorien Produktionsfaktoren Kosten

Allokation

Marktversagen

Monetarismus

Abb. 3

Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen für Quartiere Belastbare Zahlen zur Wirtschaftlichkeit eines Quartiers erhält man erst bei der Projektrealisierung selbst, also wenn gebaut, verkauft und vermietet wird. Alle Projektbeteiligten messen die Aussagen der wirtschaftlich Verantwortlichen für eine Quartiersentwicklung an der konkret erreichten Rendite, dem Verkaufspreis oder der tatsächlichen Miethöhe. Übergeordnete Wirtschaftlichkeitsfaktoren wie ein attraktives Umfeld können zwar den Investor, Käufer oder Mieter zu gewissen Zugeständnissen in seinen wirtschaftlichen Überlegungen bewegen, unter dem Strich zählt jedoch immer die Höhe der Einnahmen. Aus diesem Grund werden Wirtschaftlichkeitsberechnungen für neue Quartiere auch rückwärts gerechnet. Das bedeutet, der Kaufpreis für ein Baugrundstück ergibt sich aus der Untersuchung, was der Markt, also mögliche Investoren, Käufer oder Mieter bereit sind, für das geplante Quartiersgrundstück zu zahlen. Die eigentlichen Kosten wie der Ausgangswert für ein Grundstück plus

alle weiteren Kosten für die Stadtplanung und die Herstellung der Erschließung, bestimmen folglich nicht den Verkaufspreis, sondern nur den Gewinn oder Verlust. Hierfür werden eine Marktund Standortanalyse sowie Stärken-SchwächenChancen-Risiken-Analysen, sogenannte SWOTAnalysen, erarbeitet (Abb. 4). Sie geben Antworten, welche Miet- und Kaufpreise erreicht werden können, welche Risiken zu erwarten sind und ob es überhaupt ein wirtschaftliches Interesse am Markt gibt. Dies wiederum bildet die Grundlage aller weiteren Berechnungen für die konkrete Quartiersentwicklung. In solchen Machbarkeitsstudien werden auch die tatsächlichen Projektentwicklungskosten berechnet und den zu erwartenden Verkaufserlösen oder Mieteinnahmen gegenübergestellt. Ist das Ergebnis negativ und es entstehen mehr Kosten als am Markt wieder durch Verkauf oder Vermietung erlöst werden können, bedeutet dies meist das Projektende. Machbarkeitsstudien können aber auch zu we­­ sentlich differenzierteren Ergebnissen führen, wie z. B. dass in einem Projekt mehr Wohnungen und weniger Büroflächen vorzusehen sind oder dass der geplante Quartierspark etwas kleiner ausfallen muss. Auch die Empfehlung zur Qualitätssteigerung, um eine finanziell besser ausgestattete Zielgruppe zu erreichen, oder längere


189

4.5 — Ökonomie

Methoden der Wirtschaftlichkeitsberechnung Die Immobilienökonomie unterscheidet im Bereich der Flächenentwicklung zwischen folgenden wesentlichen Wirtschaftlichkeitsuntersuchungsmethoden: Kosten-Nutzen-Analyse Bei der Gegenüberstellung der Kosten und des Nutzens einer Maßnahme wird im einfachen Fall der Nutzen mit der Einnahme z. B. aus Mieten oder Verkauf gleichgesetzt. Im privatwirtschaftlichen Sektor spricht man hier auch von einfachen statischen Wirtschaftlichkeitsberechnungen. Der Gewinn stellt die Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben dar.

Komplexere Modelle versuchen auch indirekte Einnahmen oder Kosteneinsparungen abzubilden, die nicht direkt im Kaufpreis Niederschlag finden. Die Kosten-Nutzen-Analyse als vergleichende Bewertung von Objekten oder Handlungsalternativen beruht auf den Prinzipien der Wohlfahrtsökonomie und wird vor allem in öffentlichen Haushalten (z. B. bei Infrastrukturprojekten wie einer U-Bahn) angewendet (Abb. 3).

Discounted-Cash-Flow-Methode (DCF) DCF ist eine etablierte Methode, um langfristige Entwicklungen, meist über einen Zeitraum von 10 bis 30 Jahren, in ihrer Wirtschaftlichkeit abzubilden. Mit zwei Entwicklungskurven für Kosten und Einnahmen zeigt sie den Mittelfluss in einem Projekt. Der Schnittpunkt der beiden Kurven ist der sogenannte Break-Even-Point (BEP), also der Zeitpunkt des Return on Investment (ROI), von dem an die Entwicklung positiv ist, sprich die Einnahmen die Ausgaben übersteigen und somit Gewinne erwirtschaftet werden. Durch die Barwertmethode wird die lange zeitliche Entwicklung und der dabei entstehende Wertverlust durch Inflation berücksichtigt. Eigentliches Ergebnis ist die Kurve des Cash-Flows (Abb. 5, S. 190). Diese Methode ohne Betriebskosten als reine Einnahmen/Ausgaben-Kalkulation ist einer Lebenszykluskostenberechnung sehr fern. Als dynamische Langzeitbetrachtung kann eine DCFBewertung jedoch mit gewissem Aufwand auch zu einer umfassenden Lebenszykluskostenberechnung erweitert werden. Zudem berücksichtigt sie in der Projektentwicklung deutlich mehr Belange als die in der Immobilienbranche

Wirtschaft

Chancen

Projektentwickler-Kalkulation (PE) Diese statische Berechnung über einen festgelegten Entwicklungszeitraum von meist nicht mehr als zwei bis drei Jahren bildet alle Wirtschaftlichkeitsfaktoren aus Sicht eines Projektentwicklers inklusive Finanzierungskosten für einen bestimmten Zeitraum ab, d. h. es wird nicht berücksichtigt, wie das Geld im Projekt fließt und wann die Einnahmen aus Verkäufen und die Ausgaben für Planer und Unternehmen anfallen. Es werden vielmehr die gesamten Baunebenkosten (Grunderwerb, Steuern, Planung, Finanzierung, Vermarktung etc.), die Herstellungskosten (Gebäude, Infrastruktur etc.), die Einnahmen (im Wesentlichen aus Verkauf und Vermietung) und teilweise auch die Betriebskosten für einen be schränkten Zeitraum berechnet. Das Verhältnis des Ertrags zum eingesetzten Kapital ist die Rendite des Projekts.

Risiken

Vermarktungszeiträume können Untersuchungsergebnisse sein. Die Belange müssen auf jeden Fall frühzeitig in die Planung einfließen. Genau wie bei einer Umweltprüfung sind auch Wirtschaftlichkeitsprüfungen durchzuführen und die notwendigen Maßnahmen im Städtebau umzusetzen. Wirtschaftlichkeitsberechnungen in ihren unterschiedlichen Formen dienen darüber hinaus auch der Projektsteuerung in allen weiteren Projektphasen. Die konkreten Zahlen ermöglichen eine detaillierte Kontrolle der Kosten während der gesamten Entwicklung und verhindern somit überraschende Kostenverschiebungen oder Projektverluste. Die Methode der Lebenszyklusberechnung mit ihrer langfristigen Bewertung hat den Vorteil, dass die Interessen vieler Beteiligter (Nutzer, Kommunen, Investoren) abgebildet werden. Da der Lebenszyklus gerade im Stadtquartiersbereich oft über 100 Jahre umfassen kann, sind mit diesem weiten Zukunftsblick sehr große Unsicherheiten verbunden. Daher werden Lebenszykluskosten meist standardisiert und grob vereinfacht auf maximal 50 Jahre berechnet. Ziel der Lebenszyklusberechnung ist die wirtschaftliche Darstellung von gebauter Qualität, indem neben den Baukosten auch die Kosten für den Betrieb und den Rückbau miteinbezogen werden. Folglich ist das wirtschaftliche Handeln nicht mehr auf die reine Baukostenoptimierung beschränkt. So können sich im Quartier beispielsweise in den Herstellungskosten teure Infrastrukturmaßnahmen wie ein zentrales Regenwassermanagementsystem oder ein Nahwärmenetz über die Einsparungen im Betrieb rechnen.

Bildung KommunalDemo- Umwelt verbund grafie Migration

Schwächen Abb. 4

Abb. 3 Übersicht möglicher komplexer Zusammenhänge bei einer Kosten­Nutzen­ Analyse Abb. 4 Ergebnisse einer SWOT­Analyse am Beispiel der nachhaltigen integrierten kommunalen Entwicklungs­ strategie (NIKE) für Aalen (D)

Stärken


k a p ite l 5

Umsetzungs strategien


5.1 — Akteure, Leitbilder und Instrumente

5.1

Akteure, Leitbilder und Instrumente Ste p han Anders, Helmut Bott, Dominic C hurch, Gre gor C. Grass l, Rol f Mess ers chmidt

U

m eine nachhaltige Quar­ tiersentwicklung zu realisie­ ren, ist es notwendig, Stra­ tegien zu formulieren, die dazu geeignet sind, das Zu­­ sammenspiel aller beteilig­ ten Akteure mit Blick auf das Ge­­meinwohl zu beeinflus­ sen. Zur Umsetzung dieser Strategien können verschiedene Instrumente zum Einsatz kommen, um die gesetzten Nachhaltigkeitsziele von der Planung bis zur Ausführung und Nutzung einzu­ halten. Dabei stellen sich den Akteuren in der Verwaltung und Politik auf kommunaler Ebene zahlreiche Herausforderungen. Beispiele wie Heidelberg und Ludwigsburg veranschaulichen Anwendungen solcher Strategien in der Praxis.

Akteure der Quartiersentwicklung Die Stadtentwicklung ist in Deutschland Aufgabe der Städte und Gemeinden, Grundlage sind die Gesetze des Bundes und der Länder. Die Städte und Gemeinden sind zwar staatlich verfasste Gebietskörperschaften, aber die Akteure in der Stadt bestehen aus vielfältigen privaten und öffent­ lichen Einheiten und Institutionen, aus Individuen und Interessengruppen, aus Firmen und Organi­ sationen mit unterschiedlichsten Ausrichtungen und Gewichtungen (Abb. 1, S. 200). Die öffentliche Hand kann die Stadt nicht allein »bereitstellen« und »betreiben«, die physische Gestalt der Stadt, ihre Gebäude, technischen Infrastrukturen und Freiräume entstehen vielmehr in einem komple­ xen Wechselspiel privater und öffentlicher Akti­ onen, Reaktionen und Interventionen. Dabei

haben die demokratisch legitimierten Institutio­ nen der Stadt die Aufgabe, die Stadtentwicklung im Sinne der komplexen Zielsetzungen der Nach­ haltigkeit zu beeinflussen. Die Aufgaben der Stadtentwicklung entsprechen hierbei den Prinzipien der Spieltheorie: Sie werden beherrscht durch interdependente Entscheidungs­ situationen, in denen sich das Verhalten aller Beteiligter gegenseitig beeinflusst. Die Entwicklung neuer Stadtquartiere findet dem­ nach immer in einem Spannungsfeld gesamt­ gesellschaftlicher Verhältnisse statt. Man hat es hier also nicht mit einem rein wirtschaftlichen, technischen oder administrativen Ablauf zu tun, sondern mit einer kontinuierlichen Auseinan­ dersetzung mit unterschiedlichen Interessen und Belangen, die nach § 1 des Baugesetzbuchs (BauGB) zu ermitteln und gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen sind. Die Interessen und Belange der involvierten Spie­ ler – oder Akteure – lassen sich den an der Quar­ tiersentwicklung beteiligten und von ihr betrof­ fenen Gruppen zuordnen. Diese können grob in drei Kategorien eingeteilt werden: •• Staatliche Akteure: Innerhalb der staatlichen Akteure lassen sich zwei Untergruppen unter­ scheiden. Zum einen sind dies politische Ent­ scheidungsträger, die in der Demokratie durch den Wahlvorgang legitimiert werden und die delegierte Macht des Volkes ausüben sollen. Zum anderen zählen dazu auch Vertreter der Verwaltung, deren Aufgabe es ist, die durch die politischen Entscheidungsträger vorge­ gebenen Strategien und Maßnahmen effektiv umzusetzen. •• Zivilgesellschaftliche Akteure: Dazu gehören sowohl Einzelpersonen, beispielsweise Bür­ ger oder Anwohner, sowie auch Zusammen­ schlüsse von Einzelpersonen in Interessens­ gruppen, z. B. Bürgerinitiativen, Vereine oder Glaubensgemeinschaften.

199


212

Kapitel 5 — Umsetzungs­s trategien

Abb. 1

Abb. 1 Magellan-Terrassen, HafenCity Hamburg (D) Abb. 2  im Rahmen einer PPP errichtete Schule, HafenCity Hamburg (D) 2009, Spengler · Wiescholek Architekten

1  CABE 2004 2  www.moeckernkiez.de/ genossenschaft

Das Modell der Projektentwicklung allein durch private Träger ist im angelsächsischen Raum weit­ verbreitet. Dabei stellt ein Projektentwickler neben der Bebauung meist auch die gesamte Infrastruk­ tur bereit und vermarktet diese zusammen mit den Gebäuden. Im besten Fall eignet sich das Modell dazu, ein koordiniertes Gesamtkonzept einheitlich umzusetzen. Allerdings birgt es auch große Risiken, beispielsweise wenn ein einziger Entwickler die Gewähr für die gesamte Projekt­ finanzierung trägt, der dann über ein entsprechen­ des Durchhaltevermögen bei möglichen Konjunk­ turschwankungen verfügen muss. Da die Interessen und Zielsetzungen privater Unternehmen darin bestehen, ihren Eigentümern eine möglichst hohe Rendite zu sichern, kann es leicht zu Zielkonflikten mit der öffentlichen Hand kommen, deren Pflicht es ist, dem Gemeinwohl Rechnung zu tragen. Das kann sich beispielsweise darin bemerkbar machen, dass die Bereitstellung öffentlicher Einrichtungen wie Schulen, Kinder­ gärten, Spielplätze etc. sich der Wirtschaftlichkeit des Projekts unterordnen muss und diese deshalb erst nach der Wohnbebauung enstehen oder bei deren Realisierung qualitative Abstriche gemacht werden, um die Profitabilität des gesamten Vor­ habens zu wahren. Die britische Commission for Architecture and the Built Environment (CABE) hat die qualitativen Probleme in der Entwicklung neuer Quartiere durch private Projektentwickler eingehend studiert und dokumentiert.1 Eine weitere Möglichkeit besteht darin, ein Quar­ tier durch den genossenschaftlichen Zusam­ menschluss von Einzelpersonen zu entwickeln. Eine Genossenschaft ähnelt von der rechtlichen Form her einem wirtschaftlichen Verein, dessen Ge­­schäftsbetrieb daraufhin orientiert ist, die Belange seiner Mitglieder – beispielsweise Wohn­ raum – zu befriedigen. Wohnungsbaugenos­ senschaften sind in Deutschland, der Schweiz und Österreich weitverbreitet. Aber das Modell

lässt sich auch auf die Quartiersebene über­ tragen. Ein aktuelles Beispiel dafür ist die Ini­ tiative Möckernkiez in Berlin, die ein 3 ha gro­ ßes ehemaliges Eisenbahnareal mit insgesamt 450 Wohnungen bebauen will (siehe S. 270f.). Dabei übernimmt die Genossenschaft »die Auf­ gabe, das Baufeld Möckernkiez zu beplanen, zu bebauen und schließlich die Wohnungen, Gewer­ beeinheiten und das Gelände zu verwalten und zu bewirtschaften. Sinn und Zweck ist laut Satzung die Förderung ihrer Mitglieder vorrangig durch eine gute, sichere und sozial verantwortbare Woh­ nungsversorgung. Insbesondere fördert die Genos­ senschaft gemeinschaftliches, ökologisches, barrierefreies, Generationen verbindendes, inter­ kulturelles und selbst bestimmtes Wohnen in dauerhaft gesicherten Verhältnissen.«2 Zu den Vorteilen einer genossenschaftlich organisier­ ten Quartiersentwicklung gehört, dass der Woh­ nungsbestand im Besitz der Genossenschaft bleibt und daher auf lange Sicht deren gemeinnützigen Zielen dienen kann. Als weiteres Modell für die Quartiersentwicklung lässt sich die Bildung von Baugruppen anführen, wie sie insbesondere in Freiburg und Tübingen – allerdings in etwas unterschiedlicher Ausprägung – praktiziert wird. In Freiburg entstand der Ansatz zur Entwicklung eines neuen Stadtteils auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne aus der Beset­ zung eines leerstehenden Kasernengebäudes und der Gründung des Vereins »Forum Vauban« im Jahr 1994. Dieser setzte sich für eine erweiterte Bürgerbeteiligung ein, mit der dann die Entwick­ lung des Quartiers nach ökologischen Gesichts­ punkten als Ziel formuliert werden konnte. Ein großer Teil der Wohnungen wurde von Baugrup­ pen ent­wickelt. Dazu finden sich mehrere bau­ willige Parteien zusammen, um gemeinsam die Planung und den Bau eines Mehrfamilienhauses zu finanzieren, das anschließend in konventio­ nelles Teileigentum übergeht.


213

5.3 — Projektspezifische U ­ msetzungsstrategien

In Tübingen wurde das Modell der Baugruppe von der Stadt gefördert, indem die Stadt 1991 ein ehemaliges Kasernenareal, das als Franzö­ sisches Viertel bekannte Quartier, kaufte und dort durch das Stadtplanungsamt die Bildung von Baugruppen intensiv betreute. Dabei erlaubte der Bebauungsplan eine für Deutschland unüb­ liche gestalterische Freiheit, beispielsweise bei den Traufhöhen der Gebäude, die dazu beitrug, das Viertel für Bauwillige besonders attraktiv zu machen. Die Stadt hat das dort angewendete Modell seither weiterentwickelt und im Mühlen­ viertel und in der Alten Weberei eingesetzt. Ziel des in Freiburg und Tübingen entwickelten Baugruppenmodells ist die stärkere Einbindung zukünftiger Anwohner in die Entwicklung des Stadtquartiers, wovon man sich auch ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl und eine bessere Identitätsstiftung im Quartier erhofft. Für die Übertragbarkeit des im Vauban-Viertel und im Französischen Viertel umgesetzten Modells auf die Stadt als Ganzes oder auf andere Städte stellt sich die Frage, inwiefern der Erfolg der Her­ angehensweise mit der Bevölkerungsstruktur vor Ort verbunden ist. In Tübingen wurde dieser Zusammenhang in einer Studie der Sozialwissenschaftlerin Katharina Manderscheid erörtert.3 Sie führte eine demogra­ fische Analyse der Bevölkerung des Französischen Viertels im Vergleich zur Anwohnerstruktur in der angrenzenden Stuttgarter Straße durch. Dabei stellte sie fest, dass das Französische Viertel im Vergleich zu umgebenden Wohngebieten durch einen höheren Anteil einkommensstarker Paare mit Kindern und einem relativ hohen akademi­ schen Bildungsgrad geprägt war. Des Weiteren untersuchte sie die Integration der Anwohner in soziale Netzwerke im Quartier und in der Stadt als Ganzes sowie die Intensität der Beteiligung an Prozessen der Stadtentwicklung. Manderscheid kam zusammenfassend zu dem Ergebnis, dass sich die vorwiegend akademisch gebildeten, finanziell abgesicherten Bewohner des Französischen Viertels »ihr Wohnquartier of­­f ensichtlich häufiger zu ›Räumen‹ in sozialer und materieller Hinsicht konstituieren können und damit über eine stärkere Identifikation mit diesem Quartier verfügen«.4 Damit spricht sie die Frage an, inwieweit die vom Stadtplanungsamt begleitete Quartiersentwicklung durch Baugrup­ pen letztendlich zwar zu einem Quartier mit einer hohen Wohnqualität geführt hat, dieser Weg aber vor allem für einkommensstärkere Bürger mit hohem Bildungsstand besondere Vorteile bietet. Durchaus kontrovers zu beurteilen ist, ob sich der

planerische Aufwand des Stadtplanungsamts rechtfertigen lässt, wenn davon (wie oft auch bei konventionelleren Herangehensweisen) vor allem wirtschaftlich und sozial bessergestellte Bürger profitieren. Besonders bemerkbar macht sich die­ ser Effekt, wenn die Eigentümer die Wohnungen, die sie mit großer Unterstützung des kommunalen Planungsamts erwerben konnten, auf dem freien Markt gewinnbringend verkaufen und damit einen erheblichen finanziellen Vorteil eintragen. Es zeigt sich, dass das Ziel, erschwinglichen Wohnraum zu schaffen, durch die Baugruppe nur einmalig realisierbar ist und danach wiederum die Markt­ mechanismen zum Tragen kommen.

3  Manderscheid 2004 ebd., S. 289 4  5  Blanc-Brude  /Goldsmith/ Valila 2007 6  Timmins 2009

Public Private Partnerships Auch unter der Abkürzung ÖPP (Öffentlich-Private Partnerschaften) bekannt, bieten Public Private Partnerships (PPP) staatlichen Auftraggebern die Möglichkeit, Maßnahmen oder Leistungen durch private Unternehmen finanzieren und bereitstel­ len zu lassen. Für viele Projekte gilt dabei, dass die privaten Unternehmen nicht nur den Bau finanzieren, sondern auch den Betrieb über­ nehmen und die staatlichen Auftraggeber das Gebäude über einen vertraglich festgelegten Zeit­ raum (meist 20–30 Jahre) mieten oder pachten. Für öffentliche Auftraggeber bietet dieses Modell den Reiz, zunächst auch ohne entsprechende Investitionen über eine Einrichtung verfügen zu können bzw. keine Mittel für eine konventionelle Errichtung und Finanzierung bereitstellen oder zusätzliche Schulden aufnehmen zu müssen. Das macht PPP für öffentliche Auftraggeber mit begrenzten Mitteln und/oder für Auftraggeber, die keine Kredite aufnehmen wollen oder können, besonders attraktiv. Zwischen 1992 und 2007 wurden EU-weit mehr als 1000 PPP mit einem Gesamtwert von über 2 Billionen Euro abgeschlossen.5 Dabei entstanden bis 2006 ca. 75 % aller PPP in Großbritannien, bis 2007 betrug das Gesamtvolumen der durch PPP finanzierten öffentlichen Projekte dort ca. 100 Milliarden Euro. Für Krankenhäuser, Schulen und die Erneuerung der Londoner U-Bahn ver­ pflichtete sich der Staat damit zu künftigen Zah­ lungen in Höhe von ca. 318 Milliarden Euro.6 Auch in Deutschland formulierte das Bundesmi­ nisterium für Finanzen (BMF) im Dezember 2007 Abb. 2


k a p ite l 6

Werkzeuge


217

6.1 — Computerunterstützte Planungswerkzeuge

6.1

Computerunterstützte Planungswerkzeuge Ma r t in Al tmann, Ste p han Anders

V

on den zahlreichen zur Verfügung stehenden computerunterstützten Planungswerkzeugen sind einige in diesem Kapitel näher vorgestellt. Grundsätzlich unterscheiden sich die Werkzeuge nach ihrem Einsatzzweck, also den Funktionen und der Planungsebene, für die sie entwickelt wurden (Abb. 1, S.218). Die für Simulation, Visualisierung und Entscheidungsunterstützung notwendigen Werkzeuge sind ab S. 222 beschrieben, zunächst stehen diejenigen für die Planung und Ausführung im Fokus.

Computer-aided design (CAD) Der Begriff CAD bezeichnet das Entwerfen und Zeichnen mittels EDV.1 CAD hat sich in nahezu allen Architektur- und Planungsbüros etabliert und ist nicht mehr aus dem Arbeitsalltag wegzudenken. Für die Stadtplanung bietet CAD verschiedene fachspezifische Erweiterungsmöglichkeiten, z. B. zur Umsetzung der Planzeichenverordnung, der automatischen Legendenerstellung, der Flächenauswertung und zur Berechnung städtebaulicher Kennwerte wie GRZ, GFZ oder BMZ.2 Das traditionelle parallele Zeichnen von Grundrissen, Schnitten und Ansichten weicht mehr und mehr der dreidimensionalen Modellierung. Änderungen am 3D-Modell werden automatisch in Grundriss, Schnitt und Ansicht umgesetzt. Auch bieten heutige CAD-Programme diverse Schnittstellen, die Teamarbeit und einen Export der Zeichnungsdaten in Programme für Kosten, Termine und Tragwerksplanung ermöglichen.

Bewertung für die Quartiersplanung: Reine CAD-Programme haben einen entscheiden­ den Nachteil – die Zeichnungen und dazugehörige Berechnungen, Beschreibungen und Kosten sind für sich isoliert und stehen nicht in direktem Zusammenhang. Jede kleine Änderung muss somit mühsam in allen Dokumenten nachgeführt werden. Dies wiederum macht die Planung aufwendig, teuer und anfällig für Fehler.

Building Information Modelling (BIM) Building Information Modelling (BIM, deutsch: Gebäudedatenmodellierung) ist eine Ergänzung zu CAD. Beim BIM sind neben der Geometrie alle verfügbaren Informationen zu einem Gebäude wie Kosten, Emissionen, Lieferzeiten und Ausschreibungstexte für jedes Bauteil zentral in einem Modell gespeichert. Die Informationen können von allen Planungsbeteiligten zu jeder Zeit abgerufen werden und sind stets aktuell (Abb. 2, S. 218). Die Änderung eines Parameters oder eines Bauteils hat somit direkte Auswirkungen auf Mengen, Kosten und Termine. Gleichzeitig hat die BIM-Technologie das Potenzial, zukünftig parametrische 3D-Modelle hinsichtlich Kosten, Emissionen und thermischen Komforts automatisch zu optimieren. Tools/Software: Nahezu alle CAD-Anbieter haben den Vorteil der BIM-Technologie erkannt und bieten dafür passende Lösungen an. Einige BIM-Anwendungen sind so konzipiert, dass sie mit Zusatzapplika­

1  Bucerius et al. 2005, Bd. 2, S. 530 2  Pflüger 2000, S. 41


234

Kapitel 6 — Werkzeuge

6. 4

Zertifizierungs- und Bewertungssysteme Ste p han Anders

I

n Zeiten knapper öffentlicher Kassen erstreckt sich die Forderung nach einer quantifizierten Wirkungsmessung über immer mehr gesellschaftliche Bereiche und hat nun etwas verspätet auch das Bauwesen erreicht.1 So gibt es auf Ebene der Gebäude, aber auch auf gesamtstäd­ tischer Ebene weltweit eine Vielzahl unterschiedlicher Zertifizierungssysteme mit spezifischen Schwerpunkten. Dieses Kapitel wid­ met sich insbesondere den aktuellen Entwick­ lungen rund um das Thema Zertifizierung von Stadtquartieren, für die es bisher nur wenige anwendbare Systeme gibt. 1  Pahl-Weber et al. 2009, S. 12 2  Infante-Barona 2002, S. 91 3  Fuhrich 2004 4  Economist Intelligence Unit 2011 5  Bundesgeschäftsstelle des European Energy Award 2011 6  Stulz 2010 7  CASBEE 2012 8  Bauriedl et al. 2008, S. 179

Gesamtstädtische Bewertungssysteme Für Städte und Kommunen wurden in den ver­ gangenen Jahren von nationalen, internationalen, staatlichen und nicht staatlichen Organisationen verschiedene Indikatorensysteme zur Operatio­ nalisierung von Nachhaltigkeit entwickelt.2 Als Orientierungshilfe für die kommunale Praxis soll z. B. ein Indikatorenkatalog dienen, der im Rah­ men des ExWoSt-Forschungsfelds »Städte der Zukunft« zur Erfolgskontrolle nachhaltiger Stadt­ entwicklung erstellt wurde (Abb. 2).3 Parallel zu diesen städtischen und kommunalen Entwicklungen wächst auch das Interesse der Industrie an nachhaltigen Städten und deren Bewertung. So wurde im Auftrag der Siemens AG der »German Green City Index« entwickelt, der an einer Auswahl deutscher Großstädte angewen­ det wurde.4 Allerdings geht es Unternehmen wie

Siemens, IBM oder der Telekom primär darum, sich als Marktführer im jeweiligen Technolo­ giebereich zu etablieren und ihre Produkte und Dienstleistungen wie Verkehrsleitsysteme, Ener­ giemanagementsysteme und Smart-Grid-Tech­ nologien (intelligente Stromnetze) an Städte und Kommunen zu verkaufen. Neben der reinen Bewertung nachhaltiger Stadt­ entwicklung gibt es auch Initiativen, diese zu zertifizieren, z. B. den European Energy Award,5 der an Städte oder Gemeinden vergeben wird, die besondere Anstrengungen im Bereich Energieund Klimaschutz vorweisen können. Internationale Entwicklungen wie das schwei­ zerische Modell der 2000-Watt-Gesellschaft6 oder das in Japan entwickelte Zertifizierungssys­ tem »CASBEE for Cities«7 zeigen die wachsende Bedeutung von Indikatoren im Wettbewerb der Städte.8 Jedoch ist allen Zertifizierungs- und Bewertungs­ systemen für die Gesamtstadt gemein, dass sie aufgrund der Komplexität lediglich mit sehr gro­ ben und allgemein zugänglichen Daten (z. B. von statistischen Ämtern) arbeiten und sich somit nur schwer auf die planungsrelevante Ebene des Quar­ tiers übertragen lassen.

Bewertungssysteme für Stadtquartiere Auf Ebene des Quartiers ist die Anzahl an unter­ schiedlichen Zertifizierungssystemen im Vergleich zu den Gebäudesystemen derzeit noch überschau­ bar. Die vorhandenen Systeme wie beispielsweise die Zertifizierungen LEED for Neighborhood


235

6.4 — Zertifizierungs- und Bewertungssysteme

One Planet Communities [GB, 2008, 6] BREEAM Communities [GB, 2009+12, 7] DGNB-NSQ [D, 2011/ 2012, 20] TÜV Siedlung [D, 2007, 10]

LEED-ND [USA, CN, 2009, 122]

CASBEE-UD [JPN, 2007]

SMEO-Quartiere [CH, 2011, 18]

Estidama Community [UAE, 2010, 6] BCA Green Mark for Districts [SG, 2009] GreenStar Communities [AUS, 2012, 1]

Abb. 1

Ziele

Standardindikatoren

Zusatzindikatoren

haushälterisches Bodenmanagement

1. Siedlungs- und Verkehrsfläche

uwachs von Siedlungsflächen innen:außen 13. Z

2. Intensität der Flächennutzung

14. Baulandmobilisierung im Bestand

3. Schutzflächen   4. Wiedernutzung von Brachen stadtverträgliche Mobilitätssteuerung

5. gefahrene Kilometer von Bus und Bahn

15. G esamtlänge des Fahrradwegenetzes

6. Pkw-Dichte

16. P kw-Nutzung in der Stadt (Modal-Split) 17. Ö PNV-erschlossener Siedlungsbereich 18. Verkehrssicherheit (Verkehrsopfer)

vorsorgender Umweltschutz

7. Restmüll

19. CO2-Ausstoß

8. Trinkwasserverbrauch

20. Energieverbrauch

sozialverantwortliche ­Wohnungsversorgung

9. Fortzüge ins Umland

21. Grundversorgung

10. Wohngeld

22. Wohnungseinbrüche

11. Arbeitslosenquote

23. Flächenbedarf von Arbeitsplätzen

12. Pendlersumme

24. lokale Wirtschaftsstruktur

standortsichernde ­Wirtschaftsförderung

Abb. 1  Verteilung von Zerti­ fizierungssystemen für Stadtquartiere (Blau sind Länder mit zertifizierten Quartieren. Angabe Ursprungssystem, Version, Anzahl der zertifizierten Projekte, Stand 07/2013) Abb. 2  Übersicht der Indi­ katoren aus dem ExWoSt-­ Forschungsfeld »Städte der Zukunft«

Abb. 2

Development (LEED-ND)9, One Planet Commu­ nities oder BREEAM Communities, 10 finden hauptsächlich aus dem angloamerikanischen Raum kommend Eingang in den deutschen Markt (Abb. 1)11. In Deutschland selbst gibt es das vom TÜV Rhein­ land für die THS Wohnen entwickelte System »Lebensqualität in Siedlungen«12 und das Sys­ tem der Deutschen Gesellschaft für N ­ achhaltiges Bauen (DGNB) »Neubau Stadt­quartiere«,13 das im nächsten Abschnitt näher beschrieben wird. Jedoch verfügt man auch in anderen Teilen der Welt über Zertifizierungssysteme für Stadt­ quartiere mit ganz unterschiedlichen Ansätzen in der Entwicklung bzw. in der Anwendung,14 auf S. 236/237 sind diese tabellarisch zusam­ mengestellt. Gemessen an der Anzahl ausgezeichneter Quar­

tiere, ist das seit 2009 bestehende US-ameri­ kanische Zertifizierungssystem LEED-ND mit 122 Projekten weltweit gesehen derzeit Markt­ führer, wobei seit der Pilotphase im Jahr 2007 nur 21 weitere Quartiere (vor-)zertifiziert wurden. An zweiter Stelle steht das erst seit 2012 als Markt­ version etablierte Zertifizierungssystem der DGNB »Neubau Stadtquartiere« mit 20 Quartieren. Das 2009 eingeführte BREEAM-Communities-System aus Großbritannien belegt mit sieben (vor-)zer­ tifizierten Quartieren den dritten Rang. Diese drei Systeme sind als einzige auch international anwendbar. Fertiggestellte und bewertete Quar­ tiere gibt es derzeit nur beim DGNB System. Bemerkenswerterweise kann das seit 2006 und damit am längsten bestehende System CASBEE for Urban Development aus Japan bisher nur ein zertifiziertes Quartier aufweisen.

9  U.S. Green Building Council 2009 10  Desai 2010; BRE Global 2008 11  Pahl-Weber et al. 2009, S. 8 12  THS 2007 13  DGNB 2012 14  Anders 2012

ExWoSt

Mit dem Forschungsprogramm »Experimenteller Wohnungs- und Städtebau« (ExWoSt) fördert der Bund innovative Planungen und Maßnahmen zu wichtigen städtebau- und wohnungspolitischen Themen.


k a p ite l 7

Projekte


Kapitel 7 —  Projekte

D

ie vorangegangenen Kapitel stellen die Herausforderungen, Prinzipien und Handlungsfelder für eine nachhaltige Stadt- und Quartiersplanung dar. Je nach Standort und spezifischen Ausgangsbedingungen gilt es, individuelle Konzepte zu entwickeln, die ökologische, ökonomische und soziale Kriterien berücksich­ tigen und untereinander abwägen. Dabei kann ein Quartier im ländlichen Raum im Regelfall z. B. nicht die gleiche Qualität der Verkehrsanbindung oder der Versorgung mit sozialer Infrastruktur bieten wie ein innerstädtisches Viertel in einer Großstadt. Dafür verfügt das Quartier im ländlichen Raum über andere Potenziale, wie z. B. die Bereitstellung großzügiger Grün- und Freiflächen für die Bewohner, was sich u. a. positiv auf das Mikroklima und die Artenvielfalt auswirkt. Es kann also nicht das nachhaltige Quartier schlechthin geben. Aus diesem Grund wurden für die Dokumentationen in diesem Kapitel be­­ wusst ganz unterschiedliche Quartiere ausgewählt – solche, die nach dem Top-Down-Prinzip entstanden sind wie das Projekt Dockside Green im kanadischen Victoria und solche, die nach dem Bottom-Up-Prinzip entwickelt wurden wie die NDSM-Werft in Amsterdam; von extrem verdichteten Quartieren wie dem Potsdamer Platz in Berlin über Bauvorhaben im ländlichen Raum wie dem ecoQuartier in Pfaffen­hofen bis hin zu Lowtech-Ansätzen wie bei dem Projekt New Ethiopian Sustainable Town (NEST) in Äthiopien. Insgesamt werden 14 Projekte vorgestellt, von denen jedes auf ganz unterschiedliche Art und Weise als nachhaltig einzustufen ist. Die Auswahl geht dabei auf eine umfassende Untersuchung von 140 nachhaltigen Modell­quartieren zurück, die im Rahmen des Seminars »Nachhaltige Quartiersplanung – Projekte, Strategien, Handlungansätze« im Wintersemester 2012/2013 am Städte­ bau-Institut der Universität Stuttgart durchgeführt

wurde. Nähere Informationen zu einer Auswahl der Modellvorhaben, die im Rahmen des Seminars behandelt wurden, sind in der Zusammenstellung auf  S. 286ff. zu finden. Die betrachteten Projekte zeigen auf der einen Seite, dass bereits heute innovative und nach­ haltige Quartiersentwicklungen möglich sind. Auf der anderen Seite ist klar zu erkennen, dass die meisten Vorhaben sich nur auf einen Teil der Nachhaltigkeit konzentrieren und kaum eine ­Entwicklung wirklich umfassend und ganzheitlich nachhaltig ist, wie es unserem Verständnis von Nachhaltigkeit entsprechen würde. Bei der Darstellung der 14 Projekte wird der Fokus folglich bewusst nur auf die Teilaspekte gelegt, die im jeweiligen Projekt gut umgesetzt wurden, wohlwissend das viele weitere Aspekte wichtig für den Erfolg des Quartiers sind. Für jedes Projekt gibt ein Netzdiagramm Überblick über die Stärken und Schwächen des jeweiligen Quartiers bietet. Dieses orientiert sich an den Themen des Kapitels »Handlungsfelder«, die für die Netz­diagramme qualitativ bewertet wurden (1 = durchschnittlich, 2 = überdurchschnittlich, 3 = Best Practice). In der nachfolgenden Tabelle (S. 247) sind die sieben wichtigsten Rahmenbedingungen einer Stadtquartiersentwicklung aufgeführt, die sich maßgeblich auf die inhaltliche Ausrichtung, die Planungs- und Entwicklungsstrategie sowie den Bauablauf auswirken. Die zu jeder Kategorie aufgeführten Aspekte sind aus der gängigen Literatur abgeleitet und wurden für einen internationalen Vergleich sinnvoll weiterentwickelt. Die hier dargestellten Quartiere sollen Anregungen geben, wie sich die umfassenden Aspekte der Nachhaltigkeit in konkreten Bauvorhaben unter den jeweiligen individuellen Rahmenbedingungen berücksichtigen lassen. Ziel der Dokumentationen soll es sein, eine ganzheitliche Heran­ gehensweise an eine Aufgabenstellung aufzu­ zeigen, die Planer entsprechend in ihre Projekte einfließen lassen können.

245


246

im Projektteil (S. 248 – 285) dokumentierte Quartiere weitere Projekte (S. 286 – 289) Abb. 1 Lage der a ­ naly­sierten Quartiere


247

Petrisberg

NDSM-Werft

Barangaroo

GWL-Terrein

NEST – New Ethiopian ­Sustainable Town

Möckernkiez

Hammarby Sjöstad

Neckarbogen

Dockside Green

Bo01 – Western ­Harbour

ecoQuartier

Confluence

Carlsberg

Potsdamer Platz

Kapitel 7 —  Projekte

Klimazone Tropen

Subtropen

gemäßigt

Stadttyp nach Einwohnern Dorf, ländlicher Raum (< 20 000 Einwohner)

Kleinstadt-Raum (20 000 – 49 999 Einwohner)

Mittelstadt (50 000 – 499 999 Einwohner) Großstadt (500 000 – 9 999 999 Einwohner)

‡ ‡

‡ ‡

Lage im Stadtgefüge außerhalb als Solitär eigenständig

außerhalb als Satellit mit Anschluss Randlage

Innenlage

Zentrumslage

‡ ‡

vorherige Flächennutzung Naturfläche (inkl. Wald)

landwirtschaftliche Fläche

Flächenbrache (Abbauflächen, ­Lagerfläche, ­Verkehrsflächen etc.) Stadtbrachen (bereits mit ­Gebäudebestand)

Entwicklungsflächen im Bestand (genutzte ­Stadtflächen mit hohem Siedlungsdruck)

‡ ‡

‡ ‡

‡ ‡

Bestandsnutzung Neubau

Neubau mit Bestandselementen

Bestandsanteil

Sanierungsgebiet mit einzelnen ­Neubauten

Nutzungsmischung Wohnen

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Gewerbe

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Freizeit/Sondernutzung

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¥

Projektgröße Quartier Stadtteil

‡ ‡

neue Stadt ‡ Hauptnutzung

‡ ‡

‡  ¥ Nebennutzung


256

Kapitel 7 —  Projekte

Pfa f f e n h o f e n a n d e r I lm , DE U T S C HLAND

ecoQuartier Pfaffenhofen Kenndaten Art des Projekts

Stadt-Umland-Projekt mit Wohnen, Arbeiten, Landwirtschaft

zentrale Straße

Ludwig-Hirschberger-Allee

Größe

21,7 ha Bruttobauland, davon 5,0 ha Wohnen, 3,2 ha Gewerbegebiet, ca. 2,7 ha Dorfgebiet

Bruttogeschossfläche (BGF)

ca. 63 000 m2 (Gesamtgebiet)

Geschossflächenzahl (GFZ)

ca. 0,65 Wohnen, ca. 0,85 Gewerbe (Schätzwerte)

Nutzer

ca. 180 Wohneinheiten, ca. 20 Gewerbeeinheiten, Kindergarten

Projektbeteiligte

Joachim Eble Architektur (Stadtplanung/Gesamtkonzept, Teile Architektur), Atelier Dreiseitl (Freiraumplanung, Wasserkreislaufkonzept), Areal – Gesellschaft für nachhaltige Wasserwirtschaft mbH (Terra Preta-Konzeption und Stoffstrommanagement), Ingenieurbüro Spieth (Erschließung), Vermessungsbüro Sigmund (Bebauungsplan), Norbert Einödshofer (Grünordnungsplanung), Tibor Kleinschmidt (baubiologische Beratung und Teile Architektur), ecoQuartier GmbH & Co. KG, Norbert Behr Architekt (Grundstücks­besitzer, Projektentwicklung, Erschließungsträgerschaft)

Ökonomie

Bauzeit

Baubeginn Erschließung 2012, geplante Fertigstellung 2014 www.ecoquartier.de

Kramerbräuhof

3 2

Solardorf

Freiraum, Stadtklima

Wasser, Boden

Energie

Mobilität

ökologisches Gewerbegebiet

Taldorf

Prozesse, Soziokultur

1

Emissionen

Webseite

Bergdorf

Städtebau

Stoffflüsse


257

ecoQuartier Pfaffenhofen

Energiezentrale

soziale Mitte

Taldorf

Solardorf

Bergdorf

Abb. linke Seite: städtebaulicher Entwurf Abb. diese Seite: links Energiekonzept: Wohngebiet mit Nahwärmenetz und Solaranlagen rechts oben Luftbildsimulation; rechts unten Simulation des Solar- und Bergdorfs mit Wasserlandschaft

Gebiet mit Anschlussverpflichtung an Nahwärmenetz Gebäude des Solardorfs mit Verpflichtung zur Errichtung einer Photovoltaikanlage auf dem Dach

Das privatwirtschaftlich initiierte Stadt-UmlandProjekt »ecoQuartier Pfaffenhofen« hat sich als Ziel gesetzt, eine nachhaltige Stadtentwicklung mit hohen Anforderungen an den Klima- und Ressourcenschutz zu verwirklichen. Die Planer wollen einen wichtigen Beitrag zur zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung der nördlich von München im Hopfenanbaugebiet Hallertau gelegenen Stadt Pfaffenhofen leisten sowie neue Wohnformen und nachhaltige Lebensstile fördern. Ausgehend vom Kramerbräuhof, einem ökologischen Landbaubetrieb im Quartier mit seinen umfangreichen Aktivitäten in Forschung und Biomasseproduktion, wuchs die Idee, Flächen für Wohnen und Arbeiten in einem zusammenhängenden Areal zu entwickeln. Dadurch sollen Synergieeffekte aus dem Verbund von Landwirtschaft und ökologischen Wohn- und Gewerbeflächen entstehen. Innovative Ver- und Entsorgungskonzepte und ökologische Bauweisen zielen darauf, das Projekt zu einem Demonstrationsvorhaben nachhaltiger Entwicklung des ländlichen Raums zu machen. Da alle Flächen im Besitz des Projektentwicklers sind, lassen sich die angestrebten, über die Fest-

setzungen des öffentlichen Planungs- und Baurechts weit hinausgehenden Gestaltungs- und Nachhaltigkeitsmaßnahmen auf Quartiers- und Gebäudeebene umsetzen.

fokus ländlicher raum Ziel des Projekts ist es, die besonderen lokalen Potenziale zu nutzen und zu einem ganzheitlichen Nachhaltigkeitskonzept zu verbinden. Das Areal wurde ausgehend vom bestehenden Kramerbräuhof in ein Dorf-, ein Gewerbe- und ein Wohngebiet mit Tal-, Solar- und Bergdorf eingeteilt. Der städtebauliche Entwurf leitet sich dabei stark von der Topografie des Areals ab und wird gemeinsam mit den Fach- sowie Gebäudeplanern in einem integrativen Planungsprozess konzipiert. Die differenzierten Wohntypologien werden mit Bauträgern, Einzelbauherren und Baugruppen erarbeitet. Auch die Entwicklung der Quartierseinrichtungen wie beispielsweise ein Gemeinschaftshaus oder ein Zeltplatz erfolgt in einem partizipatorischen Prozess mit den Quartiersbewohnern.

Ein Kindergarten ist derzeit bereits in Bau. Im Gewerbegebiet soll durch eine gesteuerte Vermarktung und gezielte Suche ökologisch nachhaltiges Gewerbe seinen Platz finden. Ziel ist es, Firmen mit ökologischer Kompetenz in Verbindung mit Informations-, Schulungs- und Weiterbildungseinrichtungen sowie einem Hotel anzusiedeln, ein Kompetenzzentrum für nachhaltiges Planen und Bauen soll hinzukommen. Das ambitionierte Energiekonzept strebt eine hohe CO2-Einsparung an und sieht eine Heizwärme- und Warmwasserversorgung ausschließlich mit regenerativen Energieträgern vor. Dazu wird der überwiegende Teil der Wohngebäude an ein Nahwärmenetz angeschlossen, das nach der Startphase von einem Biomasse-BHKW gespeist werden soll. Der Betrieb ist wärmegeführt angelegt, d. h. die Geräteleistung wird durch die nachgefragte Wärmemenge geregelt. Gleichzeitig soll im Quartier aber auch Strom erzeugt werden. Für einen späteren Zeitpunkt ist geplant, die Abwärme der Pyrolyseanlage, die zur Gewinnung der Holzkohle in einem thermochemischen Prozess als Teil einer Terra-Preta-Anlage dient (siehe S. 259), ergänzend einzubinden. Die


258

zentrale Wasserversorgung (Trinkwasser)

Kapitel 7 — Projekte

private Haushalte, gewerbliche Betriebe Regenwasser (Dach und Oberflächenabfluss)

Retentionslandschaft Verdunstung

Notüberlauf (10-jähriges Regenereignis)

Versickerung Grauwasser

Pflanzenkläranlage biologische Reinigung

Desinfektion UV-Bestrahlung

Verdunstung

Steuerung Notüberlauf

UV

Versickerung Brauchwasser

Brauchwasserspeicher gereinigtes Schwarzwasser

Schwarzwasser Kanalanschluss als Standard

Nutzung und evtl. Verkauf der Terra-Preta (schwarzen Erde) Terra-Preta-Anlage als optionaler Zusatzbaustein Terra-Preta-Anlage

3

1

2

Regenwasserableitung Retensionsbereich mit Versickerung (wechselfeucht) Dauerstaufläche Bereiche mit Kiesrigole als unterirdische Pufferspeicher für Regenwasser

Energieerzeugung der nicht angeschlossenen Einzelhäuser muss mit Holzpelletöfen oder Wärmepumpen ebenfalls regenerativ erfolgen, andere Heizsysteme mit fossilen Energieträgern lässt das Energiekonzept nicht zu. Ergänzend zur Stromerzeugung im BHKW ist vorgesehen, im Teilgebiet Solardorf die Dachflächen aller Gebäude mit Photovoltaikanlagen auszustatten, um einen entscheidenden Anteil der Stromversorgung des Quartiers mit regenerativen Energien zu decken. Des Weiteren setzen die Planer einen gegenüber den gesetzlichen Vorgaben höheren Gebäudeenergiestandard an. Bei Wohngebäuden ist ein maximaler Primärenergiebedarf von 70 kWh/m2a und ein spezifischer Transmissionswärmeverlust, der mindestens 15 % unter den in der ENEV 2009 erlaubten Werten liegt, verbindlich festgelegt. Darüber hinaus ist geplant, einen Großteil der Gebäude mit einem nochmals höheren Energiestandard sowie einige Gebäude im Passivhausstandard zu errichten – analog den Förderbedingungen der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) für die Effizienzhausstandards 55 und 40. Neben dem Energieverbrauch in der Nutzungsphase berücksichtigt das Konzept auch den Primärenergie-

inhalt und den Ressourcenschutz zur Herstellung der Infrastruktur und der Gebäude. So sollen CO2optimierte und lebenszyklusorientierte Bauweisen wie beispielsweise aus Brettstapel-Massivholz und andere biogene Konstruktionsarten zum Einsatz kommen. Hierzu wurde ein projektinterner Katalog erarbeitet, der ökologische Materialien und Anlagen als rechtliche Grundlage für alle Baubeteiligten verbindlich definiert, um baubiologisch hochwertige, gesunde und behagliche Gebäude zu gewährleisten. Geplant ist auch, die Freiräume des Quartiers naturnah zu entwickeln und die Versiegelung des Bodens möglichst gering zu halten. Die Gestaltung und Bepflanzung sowie der Übergang in die freie Landschaft orientieren sich an der landwirtschaftlichen Kulturlandschaft. Am Quartiersrand ist ein UrbanGardening-Konzept als Teil eines Baugruppenprojekts in der Entwicklung, das Gemeinschaftsgärten z. B. mit Gemüseanbau, Gewächshäusern und Obstbäumen sowie einen Streichelzoo aufnehmen kann. Die Gebäudeausrichtung, Platzbildungen und Erlebnispfade sind nach geomantischen Gutachten konzipiert. So entsteht eine natürliche Erlebniswelt mit

1 Pflanzenkläranlage 2 Brauchwasserspeicher 3 Terra-Preta-Anlage (optional) Grauwassersystem Brauchwasserversorgungssystem

unterschiedlichen Freiraumstrukturen und geringem Pflegeaufwand. Dynamisch gestaltete Übergänge zwischen öffentlichen, gemeinschaftlichen und privaten Freiflächen sollen die soziale Interaktion fördern. Die sichtbare oberflächige Integration des Siedlungswasserkonzepts macht den natürlichen Regenwasserkreislauf nachvollziehbar und verleiht dem Gebiet mit Wasserlandschaften Atmosphäre und Charakter. Mit diesem Projekt wird auch der am nördlichen Quartiersrand fließende Schindelhauser Bach renaturiert, gleichzeitig lassen sich Maßnahmen für den Hochwasserschutz durchführen. Die Freiraumgestaltung berücksichtigt die Belange des Naturschutzes und der Landschaftspflege, sodass mit integrierten Ausgleichsmaßnahmen Eingriffe in Natur und Landschaft innerhalb des Baugebiets kompensiert sind. Für eine hohe ökologische und gestalterische Qualität der Freiflächen wurde neben der Planung der öffentlichen und gemeinschaftlichen Freiräume auch ein verbindliches Außen- und Nebenanlagenkonzept erarbeitet. Im Bereich Wasser und Abwasser sollen durch ein innovatives Management des Gesamtwasserkreislaufs mit Regen- und Grauwassernutzung mindestens 50 %


259

ecoQuartier Pfaffenhofen

Nahrungsmittel

CO2

Terra-Preta Terra-Preta-Anlage

Energiepflanzen

Nutzpflanzen

Bodenfilter

Bodenfilter

Brauchwasserspeicher flüssig

Abwasser

fest Gärreste

Biogasanlage

Biokohle Wärme

Pyrolyseanlage

Siedlung

Bioabfälle, Gülle grob

Ackerbau

Grünschnitt

4 1 Abb. linke Seite: oben  integriertes Wasserkonzept: schematisierter Wasserkreislauf mit optio­ naler Terra-Preta-Anlage; unten links  Regenwassersystem; unten rechts  Grauund Brauchwassersystem Abb. diese Seite: oben  schematisierter Stoffkreislauf einer Terra-­ Preta-Anlage; unten  Biomassekreislauf mit TerraPreta-Anlage

Trinkwasser einspart werden. Ein weiteres Ziel ist, das Abwasser nicht in die Kanalisation einzuleiten, sondern getrennt als Grauwasser und Schwarzwas­ ser im Plangebiet zu behandeln. Der Wasserverbrauch beläuft sich zu mehr als der Hälfte nicht auf die Verwendung als Trink-, Bade- und Duschwasser, sondern z. B. als Gießwasser oder für die Toilettenspülung. Dieser Anteil lässt sich durch Brauchwasser substituieren. Deshalb wird der größte Teil des anfal­ lenden Grauwassers in einer Pflanzenkläranlage gereinigt, mit UV-Bestrahlung desinfiziert und ge­­ meinsam mit dem anfallenden Regenwasser in den Brauchwasserkreislauf zurückgeführt. Das Schwarzwasser wird in der ersten Phase konventionell in die öffentliche Kanalisation geleitet. In einer späteren Ausbaustufe ist jedoch geplant, die Schwarzwasserbehandlung in einer Terra-Preta-Anlage ebenfalls im Quartier durchzuführen – eine Zukunftstechnologie, die das Gebiet nahezu abflussfrei machen könnte. Darüber hinaus soll eine energetische Verwertung des Abwassers und eine Rückführung der Nährstoffe in den Stoffkreislauf der Landwirtschaft erfolgen. Die Terra-Preta-Anlage, zentraler Bestandteil des Gesamtkonzepts, erzeugt aus den organischen Be­­

3

2

standteilen des Schwarz- und Grauwassers sowie den organischen Reststoffen der Haushalte und der Landwirtschaft eine sehr fruchtbare schwarze Erde. Diese kommt beispielsweise als Bodenaktivator oder organischer Dünger in den angrenzenden Landwirtschaftsflächen zum Einsatz. Die Behandlungsstufen sind so konzipiert, dass alle werthaltigen Inhaltsstoffe des Schmutzwassers z. B. zur Biomasseproduktion verwertet werden können. Diese Biomas­ ­se lässt sich wiederum unmittelbar für die TerraPreta-Herstellung verwenden. Eine interessante Option hinsichtlich eines Null-Emissions-Stoffstrommanagements ist die geplante Einbindung von Ge­­wächshäusern mit Nutzpflanzen, wodurch ein nachhaltiges Landnutzungssystem mit CO2-Speicherungspotenzial entsteht. Das genaue Betreibermodell für die Anlage ist bisher noch unklar. Weitere Maßnahmen wie ein ganzheitlicher, öko­ logischer Lebensmittelkreislauf, die Entwicklung eines Umweltbildungszentrums sowie im Bereich Verkehr ein Car­sharing-System runden den nachhaltigen Planungsansatz ab. Für den Betrieb der technischen Infrastruktur ist vorgesehen, eine oder mehrere Betreibergesellschaften zu gründen.

1 Terra-Preta-Anlage 2 Agroforstsystem mit Einbeziehung von Sträuchern und Bäumen in die Landwirtschaft 3 Biosupermarkt 4 Gärtnerladen Küchenabwurf mit Schwarzwasser Kompost und Grünschnitt aus Wohn- und Gewerbegebiet Reststoffe aus Landwirtschaft regionale Biomasse lokale Nahrungsmittelversorgung Bodenaktivator, organischer Dünger für Landwirtschaft Biomasse aus Agroforst

Die Umsetzung der genannten Maßnahmen er­­folgt mithilfe von Qualitätssicherungsinstrumenten wie einem Gebäudetypenkatalog, einer Planungsfibel sowie einer ökologischen und gestalterischen Qualitätsvereinbarung. Die Einhaltung dieser Vorgaben wird vom Projektplanungsteam unterstützend begleitet und dann mit dem sogenannten ecoQuartierGebäudepass zertifiziert. Mit einem integralen Planungsansatz ist es gelungen, einen individuellen Ansatz zur Quartiers­entwick­ lung speziell für diesen ländlichen Standort mit seinen lokalen und regionalen Potenzialen zu entwickeln. Dabei zeigt sich, wie sich mit innovativen Konzepten und deren Vernetzung über Synergien ein ganzheitlicher Nachhaltigkeitsansatz und eine gute Ökobilanz erzielen lässt. Darüber hinaus ist das Projekt auch ein Beispiel für die erfolgreiche Integra­ tion eines landwirtschaftlichen Betriebs wie den Kramerbräuhof, der eine tragende Rolle für die Verund Entsorgungsfunktion spielt, in ein Quartier mit ländlicher Umgebung. Und so profitieren von diesem Stadt-Umland-Konzept sowohl die Bewohner, die Gewerbetreibenden und auch der landwirtschaftliche Betrieb.


266

Kapitel 7 —  Projekte

S TO C K H O LM , S C H W E D E N

Hammarby Sjöstad Kenndaten Art des Projekts

nachhaltige Transformation eines ehemaligen Hafen- und Industriegebiets

zentrale Straße

Hammarby allé

Größe

160 ha gesamt, 130 ha für Bebauung vorgesehen

Bruttogeschossfläche (BGF)

ca. 1 200 000 m2

Geschossflächenzahl (GFZ)

ca. 0,9

Nutzer

24 000 Einwohner, 11 000 Wohneinheiten, 10 000 Arbeitsplätze bei Abschluss 2018 geplant

Projektbeteiligte

Stadtplanungsamt Stockholm in Kooperation mit White Architects, Nyréns Architect Firm und Erséus

Bauzeit

1999 – 2018

Webseite

www.hammarbysjostad.se

Städtebau

Ökonomie

3 2

Prozesse, Soziokultur

1

Emissionen

Freiraum, Stadtklima

Wasser, Boden

Energie

Mobilität

Stoffflüsse


267

Hammarby Sjöstad

Abb. linke Seite:  Masterplan Abb. diese Seite: oben  Luftbild von Hammarby oben rechts  Badeinsel und eine der zahlreichen Bootsanlegestellen; unten links  Wohnen am Wasser; unten rechts  Freizeitmöglichkeiten am Wasser

Hammarby Sjöstad (Hammarby Seestadt) liegt ca. 3 km vom Zentrum der schwedischen Hauptstadt Stockholm entfernt, die im Jahr 2010 die erste Umwelthauptstadt Europas war und seit 1990 den CO2-Ausstoß um 25 % reduziert hat.1 Im Zuge des starken Bevölkerungs- und Stadtwachstums wurde 1993 der Entschluss gefasst, das ehemalige Industrie- und Hafengebiet als Entwicklungs­fläche für ein gemischt genutztes Quartier auszuweisen. Seither ist Hammarby das größte Stadtentwicklungsprojekt Stock­holms und soll 2018 vollständig fertiggestellt sein. Das Quartier, das sich um den Hammarby See und ent­lang seiner Kanäle erstreckt, bietet in seinen einzelnen Vierteln auf 160 ha Fläche 11 000 Wohnungen für 24 000 Bewohner und 10 000 Arbeitsplätze sowie Kultur- und Bildungseinrichtungen an – auch ein Teil der Stadtverwaltung Stockholms ist hier angesiedelt. Alle Viertel sind durch Parkan­ lagen, Plätze sowie Fuß- und Fahrradwege mit­ einander verbunden. Um die eigene Identität zu bewahren, wurden Teile des Bestands erhalten und umgenutzt. So dient die ehemalige Fabrik Luma heute als Bürostandort und Bibliotheks­ gebäude. Die übergreifende Vision einer umwelt­

freundlichen Stadtplanung wurde bei jedem Vier­ tel mit spezifischen Zielen verbunden. Bei Neubau­ ten achtete man z. B. darauf, dass der Energieverbrauch unter dem gesetzlichen Standard bleibt. Je nach Lage und Anbindung der einzelnen Quar­ tiersteile wurde der Fokus der Nutzung auf Kultur, Arbeiten, Freizeit oder Wohnen gelegt. Neben der stadträumlichen Qualität sieht der Masterplan insbesondere die Integration von umweltfreundlichen Technologien vor, mit dem Ziel den ökologischen Fußabdruck im Vergleich zu anderen Stadtteilen in Stockholm um 50 % zu senken.2 Hervorzuheben ist die Vergabe der einzelnen Baufelder, die nicht wie üblich an den Höchst­bie­ tenden veräußert wurden, sondern an den­jenigen mit dem innovativsten Planungsansatz. Damit för­derte man gezielt Investoren, die im Quartier experimentelle und umweltfreundliche Technologien oder Konzepte umsetzen wollen. Der attraktiv gestaltete öffentliche Freiraum verbindet Straßen, Wege und Plätze sowie das nahgelegene Naturreservat Nackar miteinander, das Raum zum Joggen, Skifahren und Wandern, Langlaufen und Schwimmen bietet. Für jede Wohnung sind durchschnittlich 15 m2 öffentliche Grünfläche

1  Foletta 2011, S. 42 2  Sandelin 2008


268

Kapitel 7 —  Projekte

Energie Biobrennstoff Klärschlamm

Blockheizkraftwerk (BHKW) Fernwärme und Strom brennbarer Abfall

Biotreibstoff

Papier-, Glas-, Dosenmüll etc.

Recycling

Abfall

Biogas

Gebäude

neues Verpackungsmaterial

Erde

spezielle Entsorgung

Hammarby Heizwerk

Fernwärme, -kälte

umweltfreundl. Strom­produktion

organischer Abfall

Kompostier­ anlage

Felder

Sonnen-, ­Windenergie, Wasserkraftwerk

Trinkwasser Sondermüll, Elektroschrott Trinkwasser­ aufbereitungsanlage

öffentliche Busse und Pkws

Niederschlag Gebäude

Niederschlag versiegelte Flächen

Abwasser

aufbereitetes Abwasser

aufbereitetes Abwasser

Meer Meer

Biogas Klärwerk

Kanal

Hammarby See Sedimentierung

Wasser

Abb. diese Seite: oben  integriertes Energieund Stoffstrommodell von Energie, Abfall- und Wasser unten  Integration von Regenwasserversickerungsanlagen in das Freiraumkonzept – verschiedene Gestaltungen der Wasserkanäle Abb. rechte Seite: oben  unterirdisches Rohr­ leitungssystem für Müll rechts unten Müllsammelstellen an der Oberfläche ­ und Biogasleitungen

3  Foletta 2011, S. 43 4  Fränne 2007, S. 7 5  ebd., S. 24

eingeplant. Die be­­sondere Lage des Quartiers am Was­ser wird im Luma Park thematisiert. Hier läuft der Besucher über Holzstege durch hohes Schilf und kann sich an verschiedenen Aussichtsplattformen einen Überblick über den Park und die umliegende Bebauung verschaffen. Die Kanäle verfügen über 180 Bootsanlegestellen und dienen als Orte der Naherholung. Darüber hinaus fungieren sie auch als Puffer für Regen- und Sturmflut­ wasser, indem sie dieses langsam in den Hammarby See einleiten. Das Mobilitätskonzept des Viertels ist in vielerlei Hinsicht wegweisend und basiert auf einem ­dichten Fuß- und Radwegenetz, das an die um­­ gebenden Gebiete angeschlossen ist. Zusätzlich verbinden eine neue Straßenbahnstrecke und zwei neue Buslinien Hammarby Sjöstad mit an­­ deren Teilen der Stadt. Eine weitere öffentliche Verkehrsmöglichkeit stellt der Weg über das Wasser dar: Das ganze Jahr über bietet die Stadt einen Fährbetrieb an. Außerdem stehen den Bewohnern 46, mit Strom betriebene und mietbare ­Car­sharing-Fahrzeuge zur Verfügung, um auch Ziele außerhalb des ÖPNV-Netzwerks zu erreichen. Diese Maßnahmen haben einen wesent­

lichen Anteil daran, dass heute nur noch etwa 20 % der Bewohner auf den privaten Pkw zurückgreifen.3

Fokus Wasser, Stoffflüsse Hammarby Sjöstad verfügt über ein eigens entworfenes integrales Energie- und Stoffstrom­ modell, das im Quartier erprobt und stetig weiter­ entwickelt wird. Mittlerweile findet das Konzept auch in anderen Städten Anwendung. Kernidee ist, innerhalb des Quartiers einen natürlichen Kreislauf nachzuempfinden, bei dem es keinen Abfall gibt, sondern der Output eines Prozesses gleich dem Input eines anderen ist. So wird z. B. der brennbare Abfall mit einem Unterdruckleitungssystem zentral gesammelt und daraus in einem Blockheizkraftwerk Wärme und Strom für das Quartier generiert. Des Weiteren wird das bei der Abwasserklärung als Nebenprodukt gewonnene Biogas für den Betrieb der Busse und Pkws im Quartier sowie für die Wärme-, Kälte- und Stromerzeugung verwendet – unterstützt durch PV-Elemente und Solarkollektoren auf vielen


269

Hammarby Sjöstad

Müllsammelstationen in Gebäuden

Blockheizkraftwerk

öffentliche Müllsammelstationen Elektrizität Fernwärme

brennbare Abfälle

Dächern und an den Fassaden. Der bei der Biogas­ erzeugung als Nebenprodukt anfallende Klärschlamm wird getrocknet und als Dünger auf die Fel­der ausgebracht. Entsprechende oberirdische Sammelstellen für Papier-, Metall-, Glas- und Plas­tikmüll, über die diese Stoffe in das Leitungssystem gelangen, befinden sich an jedem Ge­­ bäudeblock. Die nicht brennbaren Bestandteile werden gesammelt und dem Recyclingkreislauf zugeführt. Gefährliche Abfälle wie Lacke oder Batterien müssen zentral gesammelt und fachgemäß entsorgt werden. Das Energie- und Stoffstrommodell sieht weiter vor, einen natürlichen Wasserkreislaufs im Quartier zu etablieren. Wasser, das den Haushalten zum Kochen, Trinken und Waschen zur Verfügung steht, kommt aus der Wasseraufbereitungsanlage, die der nahgelegene Mälaren-See speist. Grau- und Schwarzwasser wird die gespeicherte Wärme­energie entzogen und zur Unterstützung des Nah­wär­mesys­tems verwendet, bevor es in einer expe­ri­mentellen Kläranlage gesäubert und anschließend naturnah versickert wird. Auch das aus diesem Klärschlamm gewonnene Biogas findet in ca. 1000 Gaskochern sowie wiederum beim Betrieb der Fahrzeuge im Quartier Verwendung.4

unterirdisches Rohrsystem

Niederschlag, der auf versiegelte Flächen fällt, wird in offenen, in die Freiraumgestaltung integrierten Kanälen durch das Quartier in den Hammarby See geleitet. Ein Großteil der Dachflächen ist begrünt, was dazu beiträgt, dass Niederschläge aufgenommen und Hochwasser­spitzen gemildert werden können. Gleichzeitig verbessert die Niederschlagsverdunstung auf den begrün­ten Dachflächen das Mikroklima und bietet zusätzlichen Lebensraum für Tiere und Pflanzen. Das bei Stark­ regen von den Dächern abfließende Wasser wird in Zisternen gespeichert und zur Bewässerung der Gärten sowie zur Toilettenspülung verwendet. Neben der Regenwassernutzung sind in einzelnen Ge­­bäuden verschiedene Systeme zur Wiederauf­ bereitung von Grau- und Schwarzwasser eingesetzt, die dazu beitragen sollen, den Trinkwasserbedarf um 50 % gegenüber der gesamten Stadt Stockholm auf 100 l pro Person und Tag zu senken. Einen wesentlichen Anteil an einem nachhaltigen, ressourcenschonenden Quartier haben die Bewohner selbst und ihr Konsumverhalten. So erläutern Veranstaltungen im GlashusEtt, dem Umweltinformationszentrum des Viertels, den Be­­ wohnern das Konzept des Quartiers und machen sie mit einem nachhaltigen Lebensstil vertraut.

Weitere Informationen

•  Brick, Karolina: Report summary – Follow up of environmental impact in Hammarby Sjöstad: Sickla Udde, Sickla Kaj, Lugnet and Proppen, Grontmij AB, Stockholm 2008; http://www.hammarbysjostad.se/inenglish/pdf/Grontmij%20 Report%20eng.pdf •  Ceeney, Lynne: Sustainable Developments in Sweden: Lessons for Ecotowns (Br 507), 2010 •  Foletta, Nicole; Field, Simon: Europe’s Vibrant New Low Car(bon) Communities. 2011; www.itdp. org/documents/092611_ITDP_NED_Desktop_ Print.pdf •  Fränne, Lars: HammarbHammarby Sjöstad – a unique environmental project in ­Stockholm; Booklet, GlashusEtt. Stockholm 2007 www.hammarbysjostad.se •  GlashusEtt, Development Office: H ­ ammarby Sjöstad – a new city district with emphasis on water and echology; Alfaprint, ­Bumling AB, Stockholm 2011; http://www.hammarbysjostad.se/ inenglish/pdf/HS%20komb%20eng%20april%20 2011.pdf •  Vernay, Anne-Lorene et al.: Systems Integration: Condition for Success the Case of Hammarby Sjostad and Eva-Lanxmeer; ICONDA®Bibliographic, 2011. http://www.irbnet.de/daten/iconda/ CIB22082.pdf


272

Kapitel 7 — Projekte

A M H A R A- R E G I O N , ÄTH I O p I E N

NEST – New Ethiopian Sustainable Town Kenndaten Art des Projekts

Modell für eine nachhaltige Stadtentwicklung in der Dritten Welt

zentrale Straße

keine Angabe (neue Stadtplanung)

Größe

Gesamtstadt, Größe nicht definiert

Bruttogeschossfläche (BGF)

nicht definiert, je nach Entwicklungsprozess

Geschossflächenzahl (GFZ)

nicht definiert, je nach Entwicklungsprozess

Bewohner

20 000 (geplant)

Projektbeteiligte

NESTown Group: Franz Oswald, Peter Schenker, Benjamin Stähli, Fasil Giorghis (Projektleitung), in Zusammenarbeit mit Dieter Läpple, Monika Oswald, Zegeye Cherenet, Roland Walthert, Philippe Block, Marc Angelil, Dominik Langenbacher, Tibebu Daniel, Peter Schmid, Jean-Pierre Kuster

Baubeginn

2012 (Modellprojekt in BuraNest)

Webseite

www.nestown.org

Städtebau

Ökonomie

3 2

Prozesse, Soziokultur

1

Emissionen

Freiraum, Stadtklima

Wasser, Boden

Energie

Mobilität

Stoffflüsse


273

New Ethiopian Sustainable Town (NEST)

Energy

­Ecology

4 E

Education

Exchange

Abb. linke Seite:  Masterplan für BuraNest Abb. diese Seite: links  mögliche Entwicklungsstufen; rechts  die »4E« – ­Ecology, Energy, Exchange, Education – die übergeordneten Themen für die Stadtgestaltung und ihre räumliche ­Ausprägung im Stadtkern

Anders als bei europäischen Städten, die zum großen Teil langfristig nach Plänen angelegt sind, ist die Entwicklung in Asien, Afrika und Südame­ rika durch ein rasantes, meist unkontrolliertes Wachstum gekennzeichnet. In der Hoffnung auf ein besseres Leben ziehen die Menschen vom Land in die Städte, die sich dadurch innerhalb weniger Jahre flächenmäßig verdoppeln, ohne dass die entsprechende soziale und technische Infrastruktur Schritt halten könnte. Die Folgen sind Verkehrstaus, Müll, Luftverschmutzung, unkoordinierter Flächenverbrauch sowie soziale Probleme. Das Projekt NEST – als Abkürzung für »New Energy Sustainable Town« oder »New Ethiopian Sustainable Town« – setzt vor der Landflucht an und versucht eine nachhaltige Entwicklungs­ perspektive für kleine Städte im ländlichen Raum aufzuzeigen. Initiiert von einem Team um eine schweizerischäthiopische Architektengemeinschaft sieht das Projekt vor, eigenverantwortliche Kleinstädte in ländlichen Regionen Äthiopiens zu entwickeln,

die über die notwendige Infrastruktur (Schulen, Stadtbauhütte inklusive Wasser-, Energie-, Müll­ haushalt, Gemeinschaftsanlagen mit medizini­ scher Station, Verwaltung, Markt) verfügen und sich selbst mit Nahrungsmitteln, Energie und Wasser versorgen können. Die Bewohner leben selbstbestimmt und unabhängig von importierten Gütern. Das Modell basiert im Wesentlichen auf den vier Themen für die Stadtgestaltung, den »4E«: Ecology, Energy, Exchange, Education. Um das Vertrauen der Bewohner und deren Ver­ ständnis für die Entwicklung zu gewinnen, bil­ det die detaillierte Analyse der lokalen Lebens­ gewohnheiten, traditionellen Ressourcen und Formen im Alltag die Grundlage für das Modell. Rund 60 % der Einwohner in Äthopien sind An­­ alphabeten, vor allem ältere Menschen und Mäd­ chen. Handwerklich-technische Ausbildung und Hochschulabschlüsse sind selten und oft von schlechter Qualität. Deshalb liegt ein Konzept­ schwerpunkt auf der Ausbildung. Neben der kon­ ventionellen Schulbildung sollen durch den eigen­ händigen Bau der Stadt auch die handwerklichen

Fähigkeiten geübt und gleichzeitig der berufli­ che Stolz und die Zugehörigkeit zu einer neuen, moder­nen Gesellschaft gefestigt werden. Die Zusammenarbeit und Arbeitsteilung erfolgt auf genossenschaftlicher Grundlage. Dadurch wird schon in der Vorbereitungs- und Bauphase das Gemeinschaftsgefühl vermittelt und gestärkt, das später die Basis für die Nutzung und den genos­ senschaftlichen Betrieb der Kleinstadt bildet. Das Stadtmodell gliedert sich in drei Hauptbe­ reiche, den Stadtkern mit konzentrischen Ring­ straßen und radialen Verbindungen, die einzelnen Stadtviertel und das Stadtumland mit Land- und Forstwirtschaft. Um sich an Bedürfnisse und lokale Gegebenheiten anzupassen, können die Abmessungen und Proportionen bei allen Berei­ chen variiert werden. Ein Baum, der in der äthiopischen Kultur als hei­ lig gilt, bildet mit Terrasse und Pergola den zen­ tralen Platz des Stadtkerns. Um dieses Zentrum herum liegen die vier Kernareale, als Orte für die Realisierung der vier Gestaltungsthemen: das Areal für die Schule (education), Stadtbauhütte


274

Kapitel 7 —  Projekte

oben links  Prototyp II der ­ austruktur in Vorbereitung B für statische Tests oben rechts  Gründungsfeier der BuraNEST Close One Haus- und Wohnbaugenossenschaft im Februar 2013 unten links  Bau der Haus­ fundamente und einer Zis­ terne zu einer »Rain Water Unit« (RWU) unten rechts  Bau von ­Brückenköpfen über den Shene-Fluss

und Versorgung (energy), den Markt und Transport (exchange) sowie für die Gemeinschaftsanlage, unter anderem mit Kinderhort, medizinischer Station, Verwaltung und Kirche (ecology). Jedes Kernareal verkörpert damit eine der notwen­ digen Aktivitäten und Institutionen zum Bau einer Stadt. Von besonderer Bedeutung ist das Kernareal 1 (education) mit der Berufsschule sowie Kern 2 (energy), in dem an Gebäudeproto­ typen experimentiert wird. Die Bewohner sind als Kooperative organisiert, bauen ihre Häuser gemeinsam auf definierten Grundstücken und passen sie innerhalb der vor­ gegebenen zweigeschossigen Baustruktur an den eigenen Bedarf an. Mithilfe der gemeinsamen Dachfläche für maximal acht Hauseinheiten, einer sogenannten Rain Water Unit (RWU), wird das Regenwasser gesammelt und in Zisternen sowie in ein System von Überlaufrinnen geleitet. Der Masterplan weist die Flächen für Gemüse­ anbau, die Lage von Ställen, Geschäften, Werk­ stätten und Häuserreihen mit eigenen Gärten aus. Außerdem sind Areale für gemeinsame Akti­

vitäten, Sport und Spiele sowie Infrastruktur und Transport vorgesehen. Das Konzept sieht vor, für den Bau keine Materia­ lien zu verwenden, die importiert werden müssen, sondern nur Baustoffe aus dem lokalen Angebot. Dieser Ansatz setzt sich von der Tragstruktur, den Wänden und bis zum Innenausbau fort. Die Gebäudeteile bestehen aus einer Kombination lokal gewonnener Materialien wie Steinen, Rund­ hölzern, Gräsern, luftgetrockneten Lehmziegeln (Adobe) mit industriellen Abfällen wie Plastikfla­ schen, Blech­dosen, Kunststoffbehältern, Reifen oder Kabeln. Erste Anwendung findet das NEST-Modell in Bura am Tanasee, nördlich von Bahir Dar im Nordwes­ ten von Äthiopien. Die Gemeinde (Kebele) besteht aus einer Streusiedlung mit über 8000 Einwoh­ nern. BuraNEST ist ein »Real Life Experiment« mit dem Ziel, beispielhaft eine sich selbst versor­ gende und autonome Stadt in ökologischem und kulturellem Gleichgewicht zu schaffen. Ausgehend vom Stadtkern mit den wesentlichen Versorgungseinrichtungen sieht der Masterplan


275

New Ethiopian Sustainable Town (NEST)

oben  Skizzen zum BuraNEST Stadtplatz mit Baum unten links  Wasserkanal und Zisterne um die Terrasse des Stadtzentrums unten rechts  Weihe des Stadtbaums auf der Terrasse des Stadtzentrums: Ein Baum, gilt in der äthiopischen Kultur als heilig.

ein erweiterbares Flächenraster als Basis für eine nachhaltige selbstverwaltete Entwicklung der Sied­ lung auf räumlicher, ökonomischer und sozialer Ebene vor. Der Bau der technischen Infrastruktur (Land­wirt­ schaft, Wasserhaushalt, Baukonstruktion etc.) mit­hilfe der angelernten Bewohner und ange­ passter Tech­no­logien schafft Arbeitsplätze für die Stadtbewohner. Die erlernten Fähigkeiten sollen den Zugang zu neuen Märkten erleichtern. Die natür­lichen Ressourcen der Umgebung wiederum werden effizient für Landwirtschaft und Kon­struk­ tion genutzt. Das Projekt setzt hauptsächlich auf eine Mischung verschiedener Energiequellen. Außerdem ist ein Abfallmanagement vorgesehen, um Stoffkreisläufe zu schließen. Ein weiterer wesentlicher Aspekt ist der genos­ senschaftlich organisierte Bau der Häuser und der dazugehörigen Infrastruktur. So verpflichten sich die Bewohner beim Bau der benachbarten Gebäu­de mitzuhelfen, im Gegenzug werden sie auch beim Errichten ihres eigenen Hauses unter­ stützt. Dadurch soll die Entwicklung von Berufen

wie Tischler, Elektriker, Schreiner etc. gefördert werden. Diese Maßnahmen sollen BuraNEST zu einer nachhaltigen Modellstadt für andere Sied­ lungen und Städte in Äthiopien machen. Das Projekt zeigt jedoch auch, dass es für nach­ haltige Stadt­ent­wicklung nicht nur ein Modell geben kann. Zwar sind Themen wie Energie, Was­ ser, Mobilität, Umwelt, Soziales oder Ökonomie überall auf der Welt die gleichen, jedoch ist deren Ausprägung stark von der jeweiligen Situation abhängig. Die einfache Übertragung eines Pla­ nungsansatzes für eine nachhaltige Quartierent­ wicklung aus Europa nach Afrika (oder umge­ kehrt) wäre wahrscheinlich zum Scheitern verur­ teilt. Es bleibt daher abzuwarten, wie erfolgreich NEST in Afrika sein wird und ob weitere Projekte dem Prinzip folgen werden. Jedoch stellt der An­­ satz der selbstgebauten Stadt nach wenigen rele­ vanten Planungsregeln eine überzeugende, auf Nachhaltigkeit aus­gerichtete Alternative dar zu den nicht geplanten Slums der afrikanischen Me­­ gastädte mit ihren negativen Folgen für Mensch und Umwelt.

Weitere Informationen

•  Angélil, Marc; Hebel, Dirk (Hrsg.): Cities of Change. Addis Ababa. Basel/Boston/Berlin 2009 •  Arch+ 196/197: Post Oil City, 02/2010 •  Giorghis, Fasil: Challenges of new towns in Ethiopia. In: Construction Ahead 17, Addis Ababa 2009 •  Oswald, Franz: Der urbanisierte Globus. In: Die Stadt der Zukunft. ETH Globe 2, 06/2010, S. 14–19 •  Oswald, Franz: The Idea of a Town. In: Construction Ahead 20, Addis Ababa 2009 •  Oswald Franz: The Making of Urban Ethiopia. in: Construction Ahead 17, Addis Ababa 2009 •  Oswald, Franz; Schenker, Peter: NESTown: New Ethiopian Sustainable Town – A Real Life ­Experiment. In: ATDF Journal 7, 01-02/2010 •  Zegeye Cherenet; Helawi Sewnet (Hrsg.): Building Ethiopia. Addis Ababa EiABC 2012


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