MIN DÎT Miraz Bezar
DIE KINDER VON DIYARBAKIR
DEUTSCHE DREHBÜCHER
Herausgegeben von Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön für die Deutsche Filmakademie
Über Miraz Bezar MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR ist Miraz Bezars Spielfilm-Debut. Miraz Bezar wurde 1971 in Ankara / Türkei geboren. Nach dem Militärputsch 1980 wanderte er mit seiner Familie nach Deutschland aus. Hier studierte er Kulturwissenschaften und arbeitete gleichzeitig als Schauspieler bei Off-Theater-Produktionen. Er studierte Regie an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. 2009 MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR 2000 „Freiwild“ (Kurzfilm) 1997 „Fern“ (Kurzfilm) 1995 „Berivan“ (Kurzfilm) Über die Deutsche Filmakademie Die Deutsche Filmakademie e.V. wurde am 8. September 2003 in Berlin gegründet und hat inzwischen über 1000 Mitglieder aus allen künstlerischen Sparten des deutschen Films. Ziel der Filmakademie ist es, für die deutsche Kinolandschaft ein Forum zu schaffen, auf dem relevante Fragen diskutiert werden können, und die Aufmerksamkeit für den deutschen Film und seine Macher zu steigern. Mit Projekten wie „24 – Das Wissensportal der Deutschen Filmakademie“ fördert sie die filmspezifische Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich. Eine wichtige, wenn auch keineswegs primäre Aufgabe der Akademie ist seit 2005 die Wahl der Preisträger für den DEUTSCHEN FILMPREIS in sechzehn Kategorien und die LOLA-Galaverleihung selbst, auf der diese Preise verliehen werden. Gestützt auf das Votum der besten Fachleute hat der Deutsche Filmpreis die Bedeutung erhalten, die einer nationalen Auszeichnung zukommen sollte. 2011 waren außer MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR noch ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND von Nesrin und Yasemin Samdereli und VINCENT WILL MEER von Florian David Fitz für das „Beste Drehbuch“ nominiert.
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MIN DÎT DIE KINDER VON DIYARBAKIR
Ein Drehbuch von
Miraz Bezar Übersetzt von Tuncay Kulaoglu Nominiert für den Deutschen Filmpreis
DEUTSCHE DREHBÜCHER Jahrgang 2011
Herausgegeben von Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön für die Deutsche Filmakademie
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Deutsche Filmakademie e.V. (Hrsg.) MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR Ein Drehbuch von Miraz Bezar Berlin: Pro BUSINESS 2010 ISBN 978-3-86805-895-6 1. Auflage 2011 © Miraz Bezar, alle Rechte vorbehalten Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors Produktion und Herstellung: Pro BUSINESS GmbH Schwedenstraße 14, 13357 Berlin Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier Printed in Germany www.book-on-demand.de Gestaltung/Satz: e27 Brauns, Gackstatter, Quintus GbR Herstellungsleitung: Deutsche Filmakademie
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Vorwort
Am Anfang ist bekanntlich das Wort. So auch im Kino. Bevor sich eine Armada von Spezialisten anschickt, einen Film zu realisieren, muss sich ein Autor diesen Film erst einmal ausdenken, Satz für Satz, Szene für Szene. Das ist ein einsamer, aber hoch spannender Prozess. In einem „Making of“ allenfalls eine Einstellung von vier Sekunden, von außen gesehen im buchstäblichen Sinne unscheinbar. Dabei ist diese Arbeit elementar. Ohne sie könnten alle anderen gar nicht erst auspacken. Das Drehbuch ist jenes Medium, womit Regisseure begeistert, Produzenten überzeugt, Schauspieler gewonnen, Finanziers belagert, Kameraleute inspiriert und Teammitglieder geworben werden. Im Grunde besteht jeder Text in unserer Sprache aus unzähligen Kombinationen von knapp mehr als dreißig schwarzen Zeichen auf weißem Papier. Abstrakt gesehen ist es die Imagination und Kunst des Drehbuchautors, sie in einem Text so zu arrangieren, dass so etwas Komplexes wie ein vollständiger Film im Kopf der Leser entsteht. Und selbst wenn Autor und Regisseur ein und dieselbe Person sind, so entspricht die Vorstellung des Films, die er sich aufgrund seines eigenen Drehbuchs macht, niemals dem fertigen Film. Schon gar nicht eins zu eins. Jede Inszenierung entwickelt ihre eigene Dynamik. Und die Improvisation von Schauspielern, der Input eines Teams, die musikalische Interpretation des Komponisten und das Rhythmusgefühl des Cutters verfeinern den Film auf dem Weg seiner Herstellung. Drehbücher zu schreiben, ist eine eigene Kunst. Das Skript ist eine Herausforderung an die Fantasie der Leser. Wie beim Theaterstück. Wer erinnert sich nicht an die Schullektüre der Bühnenklassiker, die einem manchmal recht mühsam erschien? Diese vielen Dialoge mit ein paar kargen Regieanweisungen („tritt auf… tritt ab…“). Aber erst diese Lektüre ermöglicht, zwischen dem Text und seiner Inszenierung zu unterscheiden. Und man versteht, dass ein und dasselbe Stück auf unzählige Weisen realisiert werden kann. Das gilt für das Drehbuch nicht. Abgesehen von wenigen Remakes, erblickt der aus dem Drehbuch entstandene Film nur einmal und endgültig das Licht der Leinwand. Der Regisseur und sein Team hauchen den schwarzen Zeichen auf dem Papier Leben ein. Das Drehbuch ist nichts ohne den Regisseur und sein Team. Doch ohne ein gutes Drehbuch ist auch die ganze Kunst von Regie und allen Gewerken vergebens. Unsere Reihe „Deutsche Drehbücher“ soll die Arbeit herausragender Dreh-
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buchautoren, deren Bücher für den DEUTSCHEN FILMPREIS nominiert wurden, dem Publikum vorstellen. Nun kann sich jeder Filmfreund davon überzeugen, dass ein Drehbuch kein abgeschriebener Film ist. Denn von welchem Film hätte der Autor denn abschreiben sollen? Vielleicht kennen Sie den fertigen Film bereits und lassen sich jetzt überraschen, wie anders doch das zugrunde liegende Drehbuch war. Oder Sie kennen den Film noch nicht und wollen erst einmal das Drehbuch lesen, um zu erfahren, wie der Film im Kopf seines Autors aussah. Oder Sie lesen nur dieses Drehbuch und inszenieren in Ihrem Kopf Ihr ganz persönliches Meisterwerk… Fred Breinersdorfer und Dorothee Schön
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01 BUS – INNEN – TAG Wir sind in einem überfüllten öffentlichen Bus, der im Stadtzentrum von Diyarbakır in einem Verkehrsstau steckt. SEVDA (31) sitzt mit ihren drei Kindern, GÜLISTAN (13), FIRAT (10) und DILOVAN (drei Monate) auf dem hintersten Sitz. Dilovan liegt in den Armen ihrer Mutter, Fırat sitzt im Schoß von Gülistan. Fırat kann kaum die Augen offen halten, weil er müde ist. Ein ohrenbetäubendes Gehupe ist zu hören. Der Verkehr in beide Richtungen ist verstopft.
02 AUTO – INNEN – TAG In einem Auto, das in entgegengesetzter Richtung neben dem Bus steht, sitzt auf dem Rücksitz ein Junge (BORA, 12) und schaut gelangweilt aus dem Fenster. Dabei fällt sein Blick auf Gülistan, die in dem Bus daneben sitzt und genauso gelangweilt aus dem Fenster schaut. Gülistan bemerkt ihn. Bora schaut sie lächelnd an. Gülistan ist verlegen und schaut weg. Doch nach einer Weile dreht sie ihren Kopf langsam wieder zum Fenster. Bora schaut sie immer noch an. Gülistan weiß zuerst nicht, was sie machen soll und schaut ihn auch an. Plötzlich drückt Bora seinen Mund gegen die Fensterscheibe und bläst seine Wangen auf. Dabei sieht er wie ein Frosch aus. Gülistan lächelt und fängt an, so gut sie kann, zu schielen. Bora lacht darüber. In diesem Moment drückt sein VATER (43) auf die Hupe. NURI Du Vollidiot!! Fahr doch weiter!! Bora wirft einen kurzen Blick auf seinen Vater, wendet sich aber gleich wieder zu Gülistan, verzieht dabei sein Gesicht und versucht, wie ein Monster auszusehen. In diesem Moment setzt sich der Bus in Bewegung. Bora hört auf, Grimassen zu ziehen und schaut Gülistan an. Kurz bevor Gülistan aus seinem Blickfeld verschwindet, winkt er ihr zu. Gülistan lächelt.
03 TEEHAUS – AUSSEN – TAG Sevda sitzt mit ihren Kindern in einem Teehaus, das sich in einem Park im Stadtviertel Koşuyolu befindet. Plötzlich ruft jemand nach Fırat und Gülistan. Es ist die Stimme von YEKBUN (25). Fırat und Gülistan stürzen sich auf sie und umarmen sie. Yekbun nimmt beide Kinder in ihre Arme und fängt an, auf der Stelle zu kreisen. Die Kinder schreien vor Freude. SEVDA Fırat, geh zu dem Mann in der Stube und bestell für uns alle Toast mit Käse
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und Tee. Gülistan, geh du auch mit. Sevda gibt Gülistan Geld und die Kinder rennen zur Teestube. Yekbun drückt Sevda lange an sich. Sevda sieht ein bisschen erschöpft aus. YEKBUN Was hast du? SEVDA Nichts. Nur ein bisschen müde. Yekbun holt ein kleines Glöckchen hervor und schüttelt es in Dilovans Richtung. SEVDA Und du? Du bist wie der Mond hinter den Wolken. Man sieht dich kaum... (Yekbun wendet ihren Blick von Sevda ab) Du passt doch auf dich auf, oder? YEKBUN Es gibt mehr als 100.000 Soldaten und Polizisten in dieser Stadt. Was soll mir schon passieren... SEVDA Das musst du nicht tun, Yekbun. YEKBUN Wenn ich es nicht tue und du es nicht tust, wer dann!? … Wie geht es meinem Schwager? SEVDA Er ist Tag und Nacht unterwegs. Kommt nachts und geht in der Früh wieder aus dem Haus. Er ist genauso wie du. „Wenn ich es nicht tue und du es nicht tust...“ YEKBUN Ich möchte euch um einen Gefallen bitten. Ein Freund… SEVDA Nein, Yekbun! YEKBUN Er bleibt nur eine Nacht, am nächsten Morgen ist er wieder weg. SEVDA
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Ich kann das nicht riskieren… YEKBUN Warum tun es dann andere…! SEVDA Ich entscheide aber nicht nur für mich allein. In diesem Moment kommen die Kinder mit den Toasts zurück. Der Aushilfsjunge serviert den Tee und geht weg. Gülistan und Fırat schnappen sich ihre Toasts und rennen zur Schaukel. YEKBUN Erinnerst du dich an Memo? Aus unserem Dorf. Alis Sohn. SEVDA Memo? Der mit dir auf der Grundschule war? Den die Lehrer immer verprügelten? Hast du wegen ihm gefragt?… YEKBUN Seit zwei Tagen ist er in Diyarbakır. Er versteckt sich. Jeden Tag in einer anderen Wohnung. Sevda nickt. SEVDA Ich muss aber mit Vedat reden… Morgen gebe ich dir Bescheid.
04 VOR DEM ZEITUNGSGEBÄUDE – INNEN – TAG VEDAT (33) steigt aus dem Wagen seines Kollegen ŞEHMUS (27) und nimmt seine Tasche vom Rücksitz. VEDAT Wo gehst du jetzt hin? ŞEHMUS Zur Stadtverwaltung, wegen dem Interview, dann nach Hause. VEDAT Wollten du und Salih das Interview nicht gemeinsam führen? ŞEHMUS
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Hast du es nicht gehört? Salih wurde gestern in Van verhaftet. Er ist frühestens in drei Tagen wieder hier. VEDAT Ist nicht wahr! (lächelt) Einzig das Polizeipräsidium von Van stand noch aus. Jetzt kennt er sie alle. Sie verabschieden sich. Vedat überquert die Straße in Richtung Zeitungsgebäude, bleibt aber plötzlich wieder stehen, dreht sich um und versucht, Şehmus’ Wagen wieder einzuholen. VEDAT Şehmus!!! Der Wagen bremst ab. VEDAT Mensch, ich vergesse dich immer zu fragen. Brauchst du den Wagen am Samstag? ŞEHMUS Warum? VEDAT In Batman ist die Hochzeit eines Freundes. Wir wollen hinfahren. ŞEHMUS Kein Problem, ich gehe morgen sowieso für ein paar Tage nach Nusaybin. Kannst ihn morgen Nachmittag abholen. VEDAT Danke.
05 ZEITUNGSGEBÄUDE – INNEN – TAG Vedat betritt das Zeitungsbüro und geht sofort in einen der hinteren Räume. Er stoppt eine vorbeilaufende KOLLEGIN und drückt ihr mehrere Fotos in die Hand. GÜLER Was ist das? VEDAT
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Fotos von den Ermordeten in Xane. Wähl zwei oder drei aus und schick sie bitte nach Istanbul an Deniz. Vedat betritt den hinteren Raum. Hier sitzen seine Kollegen vor vier bis fünf Computern. Vedat setzt sich sofort an einen Rechner und fängt an, die Schlagzeile zu schreiben: 4 Zivilisten in Xane ermordet. Täter erneut “unbekannt”!
06 WOHNUNG / SCHLAFZIMMER – INNEN – ABEND Sevda ist mit den Kindern im Bett eingeschlafen. Alle drei in einem Bett. Sevda und Fırat liegen an einem Ende des Bettes, an dem anderen Ende Gülistan. Direkt neben dem Bett schläft Dilovan in einer Wiege. Auf einem Stuhl am Kopfende steht ein Kassettenrecorder. Im Kassettenrecorder läuft gerade eine Aufnahme mit Sevdas Stimme, die ein Märchen erzählt. Wir hören die letzten Sätze des Märchens. SEVDA (OFF VOM TAPE) So lief der Wolf tagelang auf der Suche nach einer Beute. Und eines Tages brach er an einem Felsen zusammen und starb vor Hunger. Und so konnten die Bauern wieder in Ruhe schlafen. Die Kassette spult ans Ende und stoppt. Plötzlich geht die Wohnungstür auf und man hört Geräusche. Das Licht geht an und fällt leicht auf Sevdas Gesicht. Sevda steht auf, deckt die Kinder zu und geht ins Wohnzimmer.
07 WOHNUNG / WOHNZIMMER – INNEN – NACHT Vedat hat seinen Pyjama angezogen und ist gerade dabei, sein Bett im Wohnzimmer zu machen. VEDAT Hab ich dich aufgeweckt? (Sevda nickt schlaftrunken.) Entschuldige. SEVDA Ein Glück, sonst bekomme ich dich ja nie zu sehen. Sevda lehnt ihren Kopf von hinten an Vedats Rücken. Nachdem sie eine Weile in dieser Stellung geblieben sind, dreht sich Vedat um, umarmt Sevda und küsst ihre Schulter. Erschöpft gehen beide ins Bett.
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VEDAT Wie geht’s Dilovan? Hat sie noch Fieber? SEVDA Das Fieber ist zurückgegangen, war wohl nur eine Erkältung. Appetit hat sie auch wieder. Deine Tochter kommt ganz nach dir; kaum ist sie an meiner Brust, lässt sie nicht mehr los. Beide kichern. VEDAT Şehmus gibt uns den Wagen am Samstag. SEVDA Oh, das ist schön. Die Kinder werden sich freuen… Ich hab heute Yekbun getroffen. Ein Junge aus unserem Dorf versteckt sich in Diyarbakır. Sie will wissen, ob er eine Nacht bei uns bleiben kann. VEDAT Und? SEVDA Ich sagte, ich muss dich fragen. VEDAT … Was willst du mich da fragen? SEVDA Ich weiß, dass du ja sagst. Aber… VEDAT Aber… Sie legt ihren Kopf auf seine Brust.
08 STADTVIERTEL BAĞLAR / NEBENSTRASSE – AUSSEN – ABEND Yekbun wartet vor dem Eingang eines Wohnhauses. Sie sieht ein bisschen beunruhigt aus. Sie raucht eine Zigarette. Ein Auto hält vor dem Haus. Vedat sitzt im
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Auto. Als Vedat aus dem Wagen steigen will, deutet Yekbun ihm an, dass er im Wagen bleiben soll. Yekbun drückt eine der Klingeln drei Mal hintereinander. Nach einigen Sekunden erscheint ein hochgewachsener junger Mann mit Bart an der Haustür. Das ist MEMO (25). Hinter ihm kommt ein Mann mittleren Alters. Der Mann umarmt Memo herzlich. Vedat beobachtet alles aus dem Wagen. Yekbun und der junge Mann steigen ein MEMO Ich bin Memo. VEDAT Vedat. YEKBUN Und ich Yekbun. Fahr los, Schwager!
09 WOHNUNG / WOHNZIMMER – INNEN – ABEND Im Wohnzimmer wird gerade der Esstisch abgeräumt. Sevda bringt die letzten verbleibenden Teller in die Küche. Der junge Mann sitzt auf dem Sofa und sieht nachdenklich zu Boden. Fırat sitzt direkt neben dem Besucher über seinem Schulbuch und lernt. Fırat wirft immer wieder Blicke zu dem jungen Mann, versucht sich aber, nichts anmerken zu lassen. Gülistan bringt ein Glas Wasser aus der Küche und nachdem sie es dem jungen Mann gegeben hat, setzt sie sich zu Fırat und vertieft sich ebenfalls in ihr Schulbuch. Fırat beugt sich zu Gülistan, zeigt auf eine Stelle im Buch und flüstert ihr etwas ins Ohr. GÜLISTAN Keine Ahnung… FIRAT (ZEIGT EINE ANDERE STELLE) Und die? GÜLISTAN (OHNE IN FIRATS HEFT ZU SCHAUEN) Firat, denk selber nach… Der Besucher, dem das auffällt, rückt näher. MEMO Welche Frage verstehst du nicht? Fırat dreht ihm sein Heft zu und zeigt auf die Frage.
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MEMO Lies mal vor. FIRAT (AUF TÜRKISCH) Für 360 Lira bekommt man drei Anzüge. Wie viel kostet ein Anzug? MEMO Du teilst also 360 durch was? FIRAT (DENKT NACH) Durch drei? MEMO Dann teil mal... Was kommt raus? FIRAT 120. MEMO Sehr gut. In diesem Moment kommt Sevda mit Dilovan im Arm herein und sieht, dass der junge Mann Fırat hilft. SEVDA Memo, hilf ihm nicht, er soll es selber lösen. MEMO Ich hab nichts verraten, er hat es selber gelöst. Fırat schaut den jungen Mann an, der ihm zuzwinkert.
10 WOHNUNG / WOHNZIMMER – INNEN – NACHT Gülistan und Fırat schlafen im selben Bett. Der junge Mann liegt neben ihnen auf einer Matratze am Boden. Gülistan wird von einem Geräusch wach. Sie richtet sich auf und sieht nach Fırat. Doch Fırat schläft. Dann schaut sie zu dem jungen Mann am Boden. Das Geräusch kommt von ihm. Er murmelt im Schlaf und knirscht mit den Zähnen. Die Decke hat er weggetreten. Gülistan steht auf und deckt ihn wieder zu.
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11 HAUSEINGANG – AUSSEN – TAG Yekbun wartet am Eingang. Memo kommt aus der Tür und beide steigen in den Wagen. In diesem Moment kommen Gülistan und Fırat zurück von der Schule. Als der Wagen sich in Bewegung setzt, haben die Kinder für einen Moment Blickkontakt mit Memo im Auto.
12 VOR DEM TEEHAUS – AUSSEN – TAG Vedat sitzt mit einem GEWERKSCHAFTER an einem Tisch. Auf dem Tisch sieht man einen kleinen Kassettenrecorder und ein Mikro. Wir sehen diese Szene aus einiger Entfernung. Nach einer Weile steht Vedat auf und schüttelt dem Interviewten und der ANDEREN PERSON, die mit ihm gekommen ist, die Hand. Die beiden Männer gehen und Vedat fängt an, seine Sachen einzupacken. Er legt ein bisschen Geld auf den Tisch und geht aus dem Cafe. Als er das Teehaus verlässt, holt er aus seiner Hosentasche eine Zigarette und versucht, sie anzuzünden. Doch das Feuerzeug zündet nicht. Er geht auf ZWEI PERSONEN zu, die mit dem Rücken zu ihm stehen. VEDAT Entschuldigung, haben Sie Feuer? Die beiden Männer schauen Vedat leicht irritiert an. (Einen der Männer erkennen wir evt. vom Anfang wieder; er saß im Wagen mit dem Jungen neben dem Bus.) Vedat ahmt mit seinem Finger ein Feuerzeug nach, so als würde er es einem Touristen erklären. VEDAT (AUF TÜRKISCH) Feuer, Feuer… NURI (AUF TÜRKISCH) Natürlich, bitte. Vedat zündet seine Zigarette an. VEDAT (AUF TÜRKISCH) Danke.
13 MARKT – AUSSEN – TAG Wir sind auf einem Markt in der Altstadt. Überall Menschen und Verkaufsstände. Sevda hat Dilovan an ihrer Brust festgebunden und macht mit Gülistan und 17
Fırat Einkäufe. Sowohl Gülistan als auch Fırat haben eine Einkaufstüte in der Hand. Fırat hat Schwierigkeiten, mit Gülistan und seiner Mutter Schritt zu halten, und scheint, ziemlich müde zu sein. Er bleibt für eine Sekunde stehen und versucht zu verschnaufen. Gülistan und Sevda laufen im selben Tempo weiter. Fırat sieht, wie sich die beiden langsam entfernen und nimmt die Tüte wieder in die Hand und versucht, sie einzuholen. Sevda dreht sich für einen Moment um und sieht, dass Fırat Schwierigkeiten hat mitzukommen. SEVDA Liebes, bist du müde geworden? Gülistan, warte hier mit Fırat, ich gehe schnell in den Laden da vorne und bin gleich zurück. Rührt euch nicht von der Stelle. Okay? Sevda verschwindet im Basar. Die Kinder warten in einer Ecke. Der Markt ist voll. Überall Verkäufer, die verschiedenste Waren, Obst und Gemüse anbieten. Von überall her hört man Stimmengewirr. Gülistans Blick fällt auf einen blinden alten OPA, der, in einer Ecke sitzend, Petersilie und grüne Zwiebeln verkauft. Ein KUNDE kommt zum blinden Opa. KUNDE Onkel, was kostet der Bund Petersilie? OPA 500. Der Kunde wählt drei Bünde aus und drückt dem Opa einen 10-Millionen-LiraSchein in die Hand. OPA Wie viele hast du genommen? KUNDE Drei. OPA Und wie viel Geld ist das? KUNDE 10 Millionen. OPA 10 Millionen? Wie soll ich das wechseln, Sohn?... Zelal! Zelal! Aber niemand taucht auf, die Zelal heißt.
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KUNDE Entschuldige Onkel, aber ich muss weiter. Der Kunde nimmt vom Opa das Geld zurück, legt die Petersilie zurück und geht weiter. Gülistan, die die Situation beobachtet hat, geht zum Opa. GÜLISTAN Opa, wen suchst du denn? OPA Meine Enkelin. Sie heißt Zelal. Sie müsste an der Ecke dort drüben sein. GÜLISTAN Dort ist niemand. OPA Keine Ahnung, sie wollte schnell wieder zurück. Gülistan schaut zuerst zum Opa, dann zu Fırat, der an der Ecke wartet. Gülistan läuft in die Richtung, in die der Opa gezeigt hat, und geht um die Ecke. Dann sieht sie ein kleines Mädchen, das am Ende einer kleinen Gasse neben einem Müllcontainer steht. Das Mädchen wühlt im Müll und nach einer Weile fischt es ein Stück Brot heraus. Plötzlich bemerkt das Mädchen, dass Gülistan es beobachtet. MÄDCHEN Was glotzt du?! Während das Mädchen weiter wühlt, starrt Gülistan es noch immer an. Das Mädchen schaut wieder hoch. MÄDCHEN Die Kuh starrt mich ja immer noch an!! Das Mädchen hebt einen Stein vom Boden und will ihn nach Gülistan werfen. GÜLISTAN Heißt du Zelal? MÄDCHEN Ja und. Was geht dich das an?! GÜLISTAN
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Dein Opa sucht dich. Zelal schaut verdutzt zu Gülistan und wirf den Stein zu Boden.
14 AUTO – AUSSEN – TAG Ein sonniger und heißer Tag. Vedat, Sevda (Dilovan auf ihrem Schoß), Gülistan und Fırat fahren mit dem Auto zu einer Dorfhochzeit. Gülistan und Fırat sitzen hinten. Gülistans Fenster ist offen. Mit ihrer Hand streichelt sie den Wind. Dann streckt sie ihren Kopf aus dem Fenster und lässt nun ihr Gesicht und ihre Haare vom Wind streicheln. Alle tragen ihre schönsten Kleider. Gülistan schließt ihre Augen und streckt ihr Gesicht der Sonne entgegen.
15 DORF / HOCHZEIT – AUSSEN – ABENDDÄMMERUNG / ABEND Wir sind bei einer heiteren Dorfhochzeit. Auf dem großen Dorfplatz tanzen die Menschen im Kreis. Der Platz ist überfüllt. Menschen schauen den Tanzenden zu, die Kinder rennen hin und her, der Beschützer des Tanzplatzes jagt die Kinder, die den Kreis stören, mit seinem Stock davon. Auf den Dächern der umliegenden Häuser sitzen Menschen und schauen der Hochzeit zu. Sevda und Gülistan sitzen auf ihrer mitgebrachten Decke und sehen zu Vedat, der neben dem Bräutigam tanzt. Gülistan sieht sich für einen Augenblick um und verschwindet dann in der Menge. Sie findet Fırat an einer Hauswand, wie er mit anderen Kindern Murmeln spielt. Die Braut wird vom Bräutigam in ihrem Haus abgeholt und zu einem geschmückten Wagen geführt. Das Brautpaar verlässt unter dem Gehupe der Autos die Hochzeit und das Dorf.
16 AM RAND EINER LANDSTRASSE / AUTO – AUSSEN – NACHT Drei Männer zwischen 30 und 45 warten am Rand einer einsamen Straße in einem weißen Renault. Einer sitzt hinten, zwei vorne. Der Mann hinten und der auf dem Beifahrersitz rauchen. Ihre Fenster sind offen. Die Männer vorne kennen wir bereits. Es sind die Männer, die Vedat neulich um Feuer gebeten hat. Es ist eine ruhige und heiße Nacht. So heiß, dass der Mann am Steuer mit einem Tuch den Schweiß von Nacken und Gesicht wischen muss. Der Mann hinten reicht dem Mann am Steuer einen kleinen Zettel. MANN AM STEUER / RAMAZAN Was ist das? MANN AUF DEM RÜCKSITZ / AHMET
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Lies doch! Der Mann am Steuer fängt an zu lesen. RAMAZAN Hast du das Mädchen angerufen? AHMET Mann, seit einer Woche rufe ich da nun an und niemand geht ran. Ich rufe da morgens an, ich rufe dort abends an, aber niemand geht ran. Ich werde noch wahnsinnig. Der dritte Mann (Nuri) lächelt, beobachtet aber weiter die Straße. RAMAZAN Nicht, dass einer der Kumpels sich einen Scherz erlaubt. AHMET Ich schwör’s dir, daran hab ich auch schon gedacht. Aber mittlerweile ist mir das egal. Ich bilde mir so viele Sachen ein, was ich alles mit der machen werde und so. Gestern habe ich halt noch mal angerufen. Rate mal, was passiert ist! RAMAZAN Sie ist rangegangen. AHMET Ja, Mann, jemand ist rangegangen. Aber wer?!! Ich sage „Hallo!“ Am anderen Ende ertönt plötzlich die quietschende Stimme einer alten Frau. Ich hab natürlich sofort aufgelegt. Der Mann am Steuer lacht laut. RAMAZAN Es war eine falsche Nummer, oder was? AHMET Woher soll ich das wissen? Ich hätte fast gekotzt. Die Alte hat meine ganzen Phantasien ruiniert. In diesem Moment hört man eine Funkstimme. FUNK „Sie haben den Kontrollpunkt passiert, wir sperren jetzt die Straße für den
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Verkehr …”
17 LANDSTRASSE / IM WAGEN – INNEN – NACHT Sevda, Vedat, Fırat und Gülistan sind auf der Rückfahrt von der Hochzeit. Dilovan liegt in den Armen ihrer Mutter und saugt mit geschlossenen Augen an ihrer Brust. Die Mutter dreht sich zu Gülistan und Fırat. Fırat hat seinen Kopf an Gülistans Schulter gelehnt und schläft. Gülistan schaut wieder aus dem Fenster. Die Mutter lächelt Gülistan an. Es ist spät in der Nacht und die Straße ist leer. Plötzlich erscheinen im Scheinwerferlicht eines Autos zwei Schatten. Vedat verringert das Tempo, fährt rechts ran und hält vor den Gestalten. Er dreht sich zu den Kindern. VEDAT Verkehrskontrolle, habt keine Angst. Der Polizist in Zivil (Nuri) nähert sich dem Wagen. POLIZIST NURI Ausweis und Fahrzeugpapiere… VEDAT (NACHDEM NURI DEN AUSWEIS KONTROLLIERT HAT) Der Wagen gehört einem Freund. Fırat, der hinten schläft, wacht langsam auf und blinzelt mit den Augen. Gülistan beobachtet irritiert die Situation. Die Mutter dreht sich nach hinten. SEVDA Seid still und tut, was sie sagen... Nuri schaut durch das hintere Fenster in den Wagen. Er schaut dabei Firat und Gülistan an, welche keinen Mucks von sich geben. VEDAT Wir kommen gerade von der Hochzeit eines Freundes. Nuri schaut kurz zu den anderen Männern und geht dabei zu den Vorderreifen. Er tritt einmal gegen die Reifen. NURI In den Reifen ist zu wenig Luft. So kannst du nicht weiterfahren. Vedat steigt aus dem Wagen und beugt sich zum Kontrollieren der Reifen nach
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unten. Gülistan schaut dabei aus dem Fenster zu. Nuri holt in diesem Moment seine Waffe raus und schießt Vedat in den Kopf. SEVDA Vedat!! In diesem Moment schießt Ramazan von der anderen Seite Sevda in den Kopf. Das Baby fängt zu schreien an. Die drei Männer steigen schnell in ihr Auto, drücken aufs Gas und verlassen den Tatort. Wir erfassen das zurückbleibende Motiv wie in einzelnen Still-Bildern. Wir sehen den am Vorderreifen liegenden Vedat, die nach vorne über das Baby gebeugte Mutter. Hinten hat sich Firat in eine Ecke verkrochen und schützt zitternd seinen Kopf. Gülistan sitzt auf der anderen Seite wie paralysiert und blickt in den Wagen. In ihrem Gesicht sehen wir das Blut ihrer Mutter. Es bleiben zwei Kinder und das Weinen eines Babys zurück... Abblende
18 DİYARBAKIR / STADTVIERTEL BAĞLAR – AUSSEN – TAG Straßenhändler mit ihren Karren, Sammeltaxis, Busse. Die Straßen sind voll, es herrscht große Geschäftigkeit und überall sind Kinder... Manche der Kinder kommen gerade aus der Schule, manche versuchen, Taschentücher an Autofahrer zu verkaufen. In einer dieser überfüllten Straßen ist auch Fırat zu sehen.
19 KRÄMERLADEN – AUSSEN / INNEN – TAG Fırat betritt einen Krämerladen und kauft Milch, Eier, Käse und Brot.
20 VOR DER SCHULE – AUSSEN – TAG Als Fırat an einer Schule vorbeiläuft, bleibt er stehen. Durch den Gitterzaun schaut er den Kindern zu, die im Schulhof spielen.
21 WOHNUNG – INNEN – TAG Wir sind in einer kleinen Wohnung. Die Frau des Hauses (SONGÜL, 27) putzt die Wohnung, während sie sich um ihr zweijähriges Kind kümmert, welches im Wohnzimmer auf dem Boden spielt. In diesem Moment klingelt es an der Woh-
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nungstür. Als die Frau die Tür aufmacht, sehen wir Gülistan. Sie hält Dilovan in einem Arm und eine Milchflasche in der anderen Hand. GÜLISTAN Frau Songül, ich hab versucht, Dilovan Milch zu geben. Sie will aber nicht trinken. SONGÜL Ach du Arme… Komm rein, meine Liebe. Frau Songül nimmt Dilovan in den Arm und sie gehen ins Wohnzimmer. SONGÜL Na, du Hübsche! Magst du nicht deine Milch trinken… (zu Gülistan) Schau Liebes, gib ihr zuerst deinen kleinen Finger, an dem sie saugen kann. Steck ihn aber nicht zu tief in den Mund und warte ein bisschen, bis sie von selber anfängt, daran zu saugen. Dann nimm den Finger raus und gib ihr die Milchflasche. Genau so... Okay? Tatsächlich saugt Dilovan zuerst am Finger und dann die Milch aus der Flasche. SONGÜL Je mehr sie trinkt, desto besser. GÜLISTAN Wird sie denn satt, wenn sie ein Teeglas voll getrunken hat? SONGÜL Lass sie trinken, so viel sie will. Sie macht sich schon bemerkbar, wenn sie satt ist.
22 WOHNUNG – INNEN – TAG Als Gülistan aus Songüls Wohnung zurückkommt, sieht sie Fırat vor ihrer eigenen Wohnungstür sitzen. GÜLISTAN Was hat es gekostet? FIRAT 10 Millionen.
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Gülistan öffnet die Tür und sie gehen rein.
23 WOHNUNG – INNEN – TAG Fırat stellt die Lebensmittel, die er gekauft hat, in den Kühlschrank und geht dann zu Gülistan und Dilovan. Dilovan trinkt immer noch aus der Milchflasche. Fırat holt das Glöckchen, das Yekbun mitgebracht hatte, und schwingt es vor Dilovans Augen hin und her. Gülistan lächelt. Dilovan verfolgt mit ihrem Blick das Glöckchen.
24 STRASSE / TELEFONZELLE – AUSSEN – TAG Yekbun wartet neben einer Telefonzelle. Das Telefon klingelt, sie nimmt den Hörer ab. YEKBUN Hier? Auf welcher Seite? Yekbun streckt den Kopf aus der Telefonzelle und sieht auf die gegenüberliegende Seite. Auf der anderen Straßenseite sehen wir einen Mann (KAMIL, 35) mit Handy. Der Mann hebt seine Hand leicht zum Gruß und geht zu einem parkenden Auto, das vor ihm steht. YEKBUN Okay, hab dich gesehen. Ich komme.
25 AUTO – INNEN – TAG KAMIL Mein Beileid, Yekbun. YEKBUN Danke. Kamil holt aus seiner Tasche die vorbereiteten Papiere und reicht sie ihr. KAMIL Hier die Adresse in Istanbul, wo du hin musst. Und das ist die Kontaktadresse in Schweden. Wenn es Probleme gibt, kannst du diese Nummer hier anrufen. Und das ist dein Flugticket.
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YEKBUN Nur eins? Wo sind die der Kinder? KAMIL Sind die nicht dabei? Da muss ein Fehler passiert sein... Sie haben mir nur gesagt, dass ich dir das alles geben soll.
26 WOHNUNG – INNEN – ABEND Fırat und Gülistan versuchen, Dilovans Windeln zu wechseln. Sie haben Probleme damit, doch haben sie es fast geschafft. In diesem Moment geht die Tür auf und Yekbun kommt herein. YEKBUN Deckt sofort den Tisch, ich hab Leber mitgebracht. Und zwar mit viel Zwiebeln, Fırat! Fırat nimmt Yekbun sofort die Tüte aus der Hand und rennt in die Küche. Yekbun beugt sich über Dilovan und küsst sie. YEKBUN Wie süß du lächelst! Hast du heute deine Milch getrunken? Gülistan nickt und hilft Fırat beim Decken des Tisches. YEKBUN Und mittags geschlafen? GÜLISTAN Nein… YEKBUN Dann lege ich sie gleich ins Bett und komme wieder. Fangt ihr schon mal mit dem Essen an.
27 SCHLAFZIMMER – INNEN – ABEND Yekbun legt Dilovan ins Bett und deckt sie mit der Decke zu. Gülistan ist ins Zimmer gekommen, ohne dass Yekbun sie bemerkt hat. GÜLISTAN
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So schläft sie nicht ein. YEKBUN Ich wiege sie auf meinen Beinen, dann schläft sie in einer Minute ein. Gülistan holt aus einer Ecke des Zimmers den Kassettenrecorder und reicht Yekbun zwei Kassetten. Yekbun versteht nichts. GÜLISTAN Dilovan kann nur einschlafen, wenn sie Mamas Stimme hört. Gülistan gibt die Kassetten Yekbun und geht wieder ins Wohnzimmer. Yekbun legt eine der zwei Kassetten in den Kassettenrecorder und drückt auf die Playtaste. Aus dem Kassettenrecorder ertönt Sevdas Stimme. SEVDA (OFF) Es war einmal, das ist sehr, sehr lange her, ein Dorf... Doch dieses Dorf hatte ein Problem. Die Wölfe um das Dorf herum ließen die Bauern nicht in Ruhe. Dilovan beginnt, der Stimme ihrer Mutter zuzuhören. SEVDA (OFF) Nachts fielen die Wölfe über das Dorf her und fraßen die Tiere. Die Bauern fingen an, Wache zu halten, doch es nützte nichts. Besonders schlimm war ein grauer Wolf. Er schlich sich immer in der Dunkelheit ans Dorf heran, doch niemand bemerkte ihn. Yekbun ist sichtlich gerührt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie setzt sich langsam an den Bettrand und lauscht wie Dilovan Sevdas Stimme. SEVDA (OFF) Jeden Tag verloren die Bauern einige Schafe. Dann schlossen sie sich zusammen und besorgten Hunde. Doch vergebens! Die Schafe verschwanden weiterhin. Die Bauern hatten die Nase endgültig voll. Sie schworen Rache, doch sie wussten nicht, wie sie sich rächen sollten. Schließlich beschlossen sie, den Wolf zu fangen…
28 KINDERZIMMER – INNEN – MORGEN Gülistan und Fırat schlafen im selben Bett. Eine Hand schüttelt Gülistan leicht. YEKBUN (LEISE) Gülistan... 27
Gülistan öffnet langsam die Augen und sieht am Bettende Yekbun. Yekbun gibt ihr ein Zeichen, dass sie still sein und ihr folgen soll. Gülistan steht schlaftrunken auf und geht hinter Yekbun aus dem Zimmer.
29 WOHNUNGSTÜR / FLUR – INNEN – MORGEN Yekbun zieht ihre Jacke an und holt aus der Jackentasche Geld. YEKBUN Schau Liebes, das sind 10 Millionen. Das müsste euch drei bis vier Tage reichen. Schau im Kühlschrank gründlich nach, was fehlt, bis ich wiederkomme. Wenn etwas passieren sollte, geh zu dieser Adresse. Frag dort nach Aziz, er wird euch helfen, okay? Sie reicht Gülistan einen Zettel. GÜLISTAN Wo gehst du hin? YEKBUN Ich geh euch Flugtickets besorgen. Sobald ich die habe, fahren wir alle zusammen zu Opa nach Stockholm, okay? GÜLISTAN Zu Opa ins Dorf? YEKBUN Ja. Yekbun drückt Gülistan lange an sich, küsst sie und geht aus der Wohnung.
30 KÜCHE – INNEN – TAG Die Kühlschranktür geht auf und Gülistan holt die Lebensmittel raus, stellt sie einzeln auf den Tisch und zählt sie durch. Fırat kommt dazu und schaut Gülistan dabei zu. Wir sehen ein halbes Brot, zwei Tomaten, acht Eier, drei Päckchen Milch, ein paar Oliven und ein Stück Käse.
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FIRAT Tante Songül fährt weg. GÜLISTAN Wohin? FIRAT Keine Ahnung. Ich hab sie gerade vom Fenster aus gesehen.
31 VOR DER HAUSTÜR – AUSSEN – TAG Songül und IHRE FAMILIE (2-3 Männer, 1-2 Frauen) laden ihre Wohnungseinrichtung (Sofa, Schrank etc.) auf einen Laster. Sie sind fast fertig. Als Songül Gülistan am Hauseingang erblickt, gibt sie ihr ein Zeichen, dass sie warten soll und rennt zum Auto, das hinter dem Laster steht. Sie holt aus dem Kofferraum eine Tüte und geht zu Gülistan. SONGÜL Schau, das sind Berfins Kleider, in zwei bis drei Monaten werden sie Dilovan passen. Songül holt einige Kleidungsstücke heraus und zeigt sie Gülistan. Während Gülistan schweigend die Tüte entgegennimmt, hört man von hinten das Hupen des Autos. GÜLISTAN Wohin geht ihr? SONGÜL Nach Istanbul. GÜLISTAN Und warum? SONGÜL Zum Arbeiten. Songüls Augen füllen sich mit Tränen. Sie umarmt noch ein letztes Mal Gülistan und verabschiedet sich. Als sie am Wagen steht, winkt sie ihr zu und der Wagen setzt sich zusammen mit dem Laster in Bewegung.
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32 KÜCHE – INNEN – TAG Die Kühlschranktür geht wieder auf. Gülistan sieht, dass nur noch ein Ei übrig ist. Sie füllt ein Kännchen mit Wasser und kocht darin das Ei.
33 WOHNZIMMER – INNEN – TAG Fırat versucht, Dilovan mit dem Ei zu füttern. Gülistan bemüht sich, dabei Dilovans verschmierten Mund sauber zu machen. Nachdem Dilovan den letzten Löffel gegessen hat, sieht Fırat Gülistan an.
34 STRASSE / ALTSTADT – AUSSEN – TAG Mit Dilovan auf dem Rücken läuft Gülistan durch die engen Gassen der Altstadt, schaut sich die Straßennamen an den Wänden an, fragt jemanden nach dem Weg und als der Befragte auf ein Haus zeigt, klopft sie dort an der Tür. Eine FRAU (26) macht die Tür auf, hinter ihr strecken ZWEI KINDER ihre Köpfe hervor und schauen zu Gülistan. GÜLISTAN Tante, ist Aziz zu Hause? FRAU Wer bist du? Was willst du? GÜLISTAN Meine Tante sagte, dass Aziz uns helfen wird. FRAU Wie heißt deine Tante? GÜLISTAN Yekbun. FRAU Aziz ist mein Bruder. Er ist seit langem nicht da. Er lässt sich nicht blicken. GÜLISTAN Wann kommt er? FRAU
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Weiß nicht. Hör zu, wenn du Yekbun siehst, sag ihr, sie soll nicht mehr her kommen. Die Polizei ist hier jeden Tag. In diesem Moment fängt Dilovan zu weinen an. FRAU Habt ihr Hunger? Kommt rein und esst etwas! Gülistan schaut die Frau verzweifelt an, dreht sich schweigend um und geht.
35 SCHLAFZIMMER – INNEN – TAG Zwei Männer betreten zusammen mit Fırat und Gülistan das Schlafzimmer. Es sind der etwas stämmig gebaute TRÖDELHÄNDLER (45) und sein GEHILFE (18). Der Trödelhändler lässt seinen Blick durch das Zimmer schweifen, geht dann im Zimmer herum und kontrolliert dabei die Möbel. Sin junger Gehilfe notiert etwas in sein Heft. TRÖDELHÄNDLER Zeig mal her! (Murmelt laut vor sich hin.) Ein Kleiderschrank, ein großes Bett, vier Stühle, ein Esstisch, eine Waschmaschine, zwei Teppiche... GEHILFE Wo sind denn eure Eltern? Doch sein Chef geht sofort dazwischen. TRÖDELHÄNDLER Ich gebe euch für alles zusammen 35 Millionen! Der junge Gehilfe schaut zu seinem Chef. Doch der lässt sich nichts anmerken. Gülistan denkt kurz nach und schaut zu Fırat.
36 SCHLAFZIMMER – INNEN – ABEND Das Bett und der Schrank werden gerade abmontiert. Der Trödelhändler liegt unter dem Bett. Sein Gehilfe versucht, den Schrank auseinander zu bauen, während Gülistan und Fırat den Schrank ausleeren und die Kleider ihrer Eltern auf den Boden legen. Als der junge Gehilfe versucht, das Verbindungsstück abzumontieren, das die zwei Flügel des Kleiderschranks zusammenhält, fallen Zeit-
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schriften und einige Bücher zu Boden, die im Verbindungsteil versteckt waren. Gülistan bemerkt das und sammelt geistesgegenwärtig die Zeitschriften und die Bücher auf und versteckt sie unter den Kleidungsstücken. Der junge Gehilfe schaut sie an, sagt aber nichts.
37 WOHNZIMMER – INNEN – ABEND Die Trödelhändler sind gerade im Begriff zu gehen. Sie haben nur noch zwei Stühle und ein Schrankteil wegzutragen. Der Chef steckt die Hand in seine Hosentasche, holt das Geld raus und fängt an, es zu zählen. TRÖDELHÄNDLER 25, 30, 35… hier nimm. Gülistan nimmt das Geld und als die Trödelhändler zur Tür laufen, fällt der Blick des Chefs auf den Fernseher. TRÖDELHÄNDLER Wollt ihr den Fernseher und den Kassettenrecorder nicht auch verkaufen? Dafür gebe ich nochmal 15 Millionen. FIRAT Die verkaufen wir nicht. Gerade als Fırat die Wohnungstür schließen will, erscheinen der Hausbesitzer KEMAL (55) und SEINE FRAU an der Tür. KEMAL Eine Sekunde! Mach die Tür nicht zu! Ist deine Tante zu Hause? FIRAT Sie ist noch nicht da… KEMAL (SEINE STIMME WIRD LAUTER) Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?! Die Miete ist seit drei Monaten fällig. Und eure Tante ist seit zwei Wochen nicht zu sehen. NAZMIYE Kemal, bitte! Die Kinder können doch auch nichts dafür…
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KEMAL Ja, und was sollen wir tun, Nazmiye?! Wir haben selber Schulden! Wir müssen uns darauf verlassen können!! Fırat und Gülistan verfolgen durch die angelehnte Tür die Diskussion zwischen dem Hausbesitzer und seiner Frau. NAZMIYE Du kannst mit ihrer Tante reden, wenn sie wieder da ist. Es gibt sicher eine Lösung. KEMAL Seit Wochen ist sie nicht da. Es heißt immer, sie kommt heute, sie kommt morgen! Selbst wenn sie kommt, was passiert dann? Damit er endlich aufhört zu reden, zieht die Frau des Hausbesitzers ihn von der Tür weg und drängt ihn hastig zu den Treppen. Im Treppenhaus diskutieren die beiden weiter. NAZMIYE Es reicht, du hast gesagt, was du sagen wolltest. Los, geh nach oben. KEMAL Glaubst du wirklich, dass wir die fälligen Mieten je bekommen? NAZMIYE (MIT LEISER STIMME) Bist du verrückt geworden? Warum machst du die Kinder an? KEMAL Das passiert halt, wenn Eltern verantwortungslos sind. Ich schwör’s dir, bald ist meine Geduld zu Ende.
38 SCHLAFZIMMER – INNEN – ABEND Gülistan geht ins Schlafzimmer und setzt sich neben die Kleidungsstücke ihrer Eltern. Das Zimmer ist jetzt ganz leer. Gülistan greift sich einen Schal ihrer Mutter vom Boden und drückt ihn zärtlich an ihr Gesicht.
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39 SUPERMARKT – INNEN – TAG Gülistan ist beim Einkaufen. Babybiskuits, Milch, Eier, Käse, Tomaten…
40 WOHNUNG – INNEN – TAG Als Gülistan nach Hause kommt, weint Dilovan und Fırat ist nicht zu Hause. Gülistan mischt sofort die Biskuits mit Milch und gibt sie Dilovan, doch sie will nicht essen. Sie weint ununterbrochen und hin und wieder hustet sie. Gülistan holt aus dem Kühlschrank ein Ei und will das Kännchen mit Wasser füllen, doch das Wasser hört nach einigen Sekunden auf zu fließen. Sie macht das Fenster im Wohnzimmer auf und ruft nach Fırat. GÜLISTAN FIIIRAAAT! Gülistan nimmt ihre weinende Schwester in den Arm und wiegt sie, aber das Kind hört mit dem Weinen nicht auf. Gülistan ist ratlos.
41 STRASSE – AUSSEN – TAG Auf einem freien Feld zwischen zwei Wohnhäusern spielen Kinder Fußball. Fırat ist auch unter ihnen und steht im Tor. Gülistan kommt mit Dilovan auf dem Rücken zu Fırat. Firat bemerkt sie zwar, schaut aber weiterhin auf das Spielfeld. GÜLISTAN Sie haben uns das Wasser abgestellt. Gülistan dreht sich um und geht. Fırat schaut noch immer auf das Feld und zeigt erstmal keine Reaktion. Verlässt dann aber nach einer Weile das Tor und läuft Gülistan hinterher.
42 WOHNUNG – INNEN – TAG Die Möbelhändler sind wieder in der Wohnung und diesmal nehmen sie fast alles mit. Neben der jungen Aushilfe vom letzten Mal ist jetzt ein WEITERER JUNGER MANN dabei. Zuletzt tragen sie den Fernseher und den Kassettenrecorder aus dem Wohnzimmer. Nur eine Matratze am Boden bleibt übrig. Fırat und Gülistan haben Dilovan auf ihren Schoß genommen und beobachten, auf der Matratze sitzend, die Männer. Als die Händler weg sind, erscheint der Haus-
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besitzer an der Wohnungstür. Irritiert schaut er in die Wohnung, schüttelt den Kopf und geht weg.
43 WASSERWERKE – INNEN – TAG An einem Schalter, wo unbezahlte Rechnungen beglichen werden, steht Fırat in einer Schlange. Als er endlich drankommt, legt er die Wasserrechnung und etwas Geld auf den Desk. FIRAT Die möchte ich bezahlen. Der Angestellte schaut auf die Rechnung, schiebt ihm das Geld zurück und zeigt ihm einen anderen Kassenschalter. ANGESTELLTER Hier bist du falsch. Du musst an die andere Kasse da. FIRAT Das geht hier nicht? ANGESTELLTER Du musst dich drüben anstellen. Fırat schaut zur anderen Reihe. Er sieht etwas hilflos aus.
44 WOHNUNG – INNEN – TAG Alle restlichen Möbelstücke sind jetzt im Wohnzimmer. Alles ist durcheinander. In einer Ecke die Kleider, in einer anderen Teller und Bestecke, in einer weiteren Käse und Brot. Gülistan sitzt auf der Matratze und versucht, Dilovan in den Schlaf zu wiegen, indem sie sie auf ihren Beinen hin und her wiegt. Doch Dilovan weint ununterbrochen.
45 STRASSEN – AUSSEN – TAG Fırat geht eiligen Schrittes aus dem Haus und sucht eine Apotheke, die offen ist.
46 APOTHEKE – AUSSEN – TAG Fırat betritt eine Apotheke und fängt an, wie ein Maschinengewehr dem Apothe35
ker zu erzählen. FIRAT Onkel, meine Schwester ist krank, sie schläft nicht, sie weint und hat Fieber... APOTHEKER Atme mal durch, Junge. Wie alt ist denn deine Schwester? FIRAT Sie ist klein, noch ein Baby! APOTHEKER Erbricht sie? FIRAT Nein! Sie schwitzt aber sehr. Der Apotheker holt aus dem Hinterzimmer ein Medikament. APOTHEKER Schau, diesen Saft soll sie drei Mal täglich nehmen. Das erste Mal gleich, wenn du zu Hause bist. Okay? Hast du es verstanden? Fırat nickt und der Apotheker geht zur Kasse. APOTHEKER 15 Millionen. Fırat legt alles Geld, was er in seiner Hosentasche hat, auf die Theke. Der Apotheker fängt zu zählen an. APOTHEKER Das sind aber nur achteinhalb... Fırat sucht seine Hosentaschen nochmal ab. FIRAT Ich hab nicht mehr… Der Apotheker nimmt Fırat das Medikament weg und stellt es an seinen Platz zurück.
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APOTHEKER Geh und sag deinen Eltern, die Medizin kostet 15 Millionen. FIRAT Den Rest bringe ich morgen, versprochen. APOTHEKER Geht nicht. Ist nicht mein Laden. In diesem Moment betritt ein anderer Kunde den Laden. FIRAT Aber das Medikament brauchen wir jetzt. APOTHEKER Hör auf zu betteln. Hol das Geld. Der Apotheker fängt an, sich um den anderen Kunden zu kümmern.
47 WOHNUNG – INNEN – ABEND Fırat kehrt mit leeren Händen nach Hause. Als er die Wohnungstür öffnet, ist es drinnen dunkel. Er drückt auf den Lichtschalter, aber das Licht geht nicht an. GÜLISTAN (AUS DEM DUNKLEN DES ZIMMERS) Sie haben den Storm abgeschaltet… Im Dunkeln nähert sich Fırat langsam Gülistan und setzt sich neben sie auf die Matratze. FIRAT Wie geht es Dilovan? GÜLISTAN Sie ist endlich eingeschlafen. Was hat dir der Apotheker gegeben? FIRAT Gar nichts. GÜLISTAN Warum?
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FIRAT Das Geld hat nicht gereicht. Fırat holt eine Kerze aus der Küche und zündet sie auf einem Teller an. Gülistan hat sich an ein Kissen an der Wand gelehnt. Man sieht ihr an, dass sie müde ist. Fırat setzt sich zu Gülistan und lehnt seinen Kopf ebenfalls an das Kissen.
48 WOHNUNG – INNEN – MORGEN Am Morgen wacht Fırat von einem leisen und unterdrückten Schluchzen auf. Er hebt den Kopf und sieht Gülistan in einer Ecke der Matratze zusammengekauert weinen. Er schaut sofort nach Dilovan. Langsam legt er seine Hand auf ihre Stirn. Dann geht er zu Gülistan und setzt sich schweigend neben sie.
49 WOHNUNG – INNEN – TAG Gülistan fängt an, Dilovan in eine Decke einzuwickeln. FIRAT Lass uns noch eine zweite Decke nehmen, die Würmer sollen sie nicht fressen. Daraufhin holt Gülistan aus dem Schlafzimmer ein Kleid ihrer Mutter und wickelt Dilovan auch damit ein.
50 STRASSE / VOR AZIZ WOHNUNG – AUSSEN – TAG Fırat und Gülistan tragen die in eine Decke eingewickelte Dilovan durch von Passanten gefüllte Straßen, doch niemand schenkt ihnen Aufmerksamkeit. Sie kommen an der Tür von Aziz an. Doch niemand macht die Tür auf. Vor der Nachbarstür steht eine ALTE FRAU. ALTE FRAU Sie sind weg. Man hat sie alle mitgenommen.
51 FRIEDHOF – AUSSEN – TAG Gülistan und Firat sitzen vor einem Häuschen und warten. Gülistan schaut durch das Fenster hinein und sieht einen HODSCHA beten.
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52 FRIEDHOF – AUSSEN – TAG Wir sehen Gülistan und Fırat am Grab. Neben ihnen steht ein ca. 15-jähriger JUNGE mit einem Spaten in der Hand. Fırat holt Dilovans Glöckchen aus seiner Hosentasche und legt es neben das Grab. Gülistan zerbröselt die Babybiskuits und streut sie über das Grab.
53 VOR DEM HAUS – AUSSEN – TAG Als die Kinder sich ihrem Wohnhaus nähern, wirft der Hausbesitzer gerade ihre verbleibenden Habseligkeiten vor die Haustür. Die Kinder nähern sich dem Haus und schauen dem Ganzen zu, sagen aber nichts. Nachdem der Hausbesitzer fertig ist, geht er, ohne sich umzudrehen, ins Haus. Fırat und Gülistan nehmen von den Sachen eine Decke und die Märchenkassette ihrer Mutter und setzen sich auf den Gehweg.
54 STRASSE – AUSSEN – TAG Gülistan und Fırat fangen an, ratlos durch die Stadt zu laufen. Autos, Menschen und andere Kinder... Ein Kind, das einen Korb voller warmer Brote trägt, läuft an Fırat vorbei. Fırat schaut zur Bäckerei, aus dem der Junge gekommen ist, schließt die Augen und atmet den Geruch von frischem Brot in der Luft. FIRAT Wie viel Geld hast du noch? GÜLISTAN (HOLT DIE MÜNZEN HERVOR UND ZÄHLT) 700.
55 PARK IN KOŞUYOLU – AUSSEN – TAG Fırat und Gülistan sitzen auf einer Parkbank und essen das Brot, das sie in der Bäckerei gekauft haben. In diesem Moment läuft eine modern gekleidete, leicht geschminkte junge Frau (DILARA, 20) mit langen, offenen Haaren an ihnen vorbei. Sie geht ein Stück weiter, kehrt dann aber zurück und setzt sich zu ihnen auf die Bank. Sie fängt an, Fırat und Gülistan zu beobachten. So offensichtlich, dass ihr Blick Gülistan auffällt. Gülistan reicht ihr ein Stück vom Brot.
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DILARA Danke, ich hab keinen Hunger. Gülistan isst weiter. DILARA Frühstückt ihr immer hier? Die Kinder antworten nicht. Dilara sieht sich kurz um, greift nach ihrer Tasche, holt einen Stapel kleiner Zettel heraus und reicht sie den Kindern. DILARA Kennt ihr das Einkaufszentrum? Nehmt diese Zettel und klemmt sie dort an die Windschutzscheiben der parkenden Autos… Die Kinder schauen sie verwirrt an. DILARA Wenn ihr das für mich erledigt, gebe ich euch Geld! Gülistan nimmt die Zettel, die Dilara ihr entgegenstreckt. FIRAT Wann gibst du uns das Geld? DILARA Nachdem ihr die Zettel verteilt habt.
56 STRASSE – AUSSEN – TAG Während sie zu der Stelle laufen, die Dilara ihnen beschrieben hat, schaut Fırat auf die Zettel in seiner Hand und fängt an, laut vorzulesen. FIRAT „Ich heiße Dilara, willst du mich kennenlernen? Dann ruf mich an: 0536 2437829.” Was meinst du, wie viel sie uns dafür gibt? GÜLISTAN Mindestens 2-3 Millionen! Fırat freut sich und rennt los. Gülistan ihm hinterher.
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57 EINKAUFSZENTRUM / PARKPLATZ – AUSSEN – TAG Gülistan und Fırat gehen durch den Parkplatz und stecken die Zettel an die Windschutzscheiben, Türgriffe und Außenspiegel der Autos an. Fırat wird als Erster fertig und rennt sofort zu Gülistan. Sie ist auch fertig.
58 PARK IN KOŞUYOLU – AUSSEN – TAG Als sie wieder im Park sind, ist die junge Frau verschwunden. Beide fangen an, sie im Park zu suchen, doch sie können sie nicht finden.
59 ALTSTADT – AUSSEN – ABEND Fırat und Gülistan laufen entlang der Jahrtausende alten Stadtmauern von Diyarbakir. Es ist dunkel geworden und die Straßen haben sich geleert. Fırat läuft hinter Gülistan her. Da er kaum gehen kann, bleibt er stehen und setzt sich auf den Gehweg. Gülistan dreht sich um und geht zurück zu Fırat. FIRAT Wie lange laufen wir noch? Ich bin müde. Ich will schlafen. Gülistan setzt sich zu ihm. Ein Polizeiwagen mit Sirene und Blaulicht nähert sich ihnen. Beide rennen zu den Stadtmauern und verstecken sich in einem der vielen dunklen Eingänge, die in das schon leicht eingebrochene Mauergewölbe führen. Der Polizeiwagen ist nicht mehr zu hören. Als Fırat das Versteck verlassen will, hält ihn Gülistan fest. GÜLISTAN Warte, vielleicht können wir hier schlafen. FIRAT Aber hier stinkt es. Außerdem ist es so dunkel. GÜLISTAN Wovor hast du Angst, hier ist doch niemand. Hier ist es doch besser, als draußen zu schlafen. Gülistan findet am Eingang zwei Pappkartons und breitet sie auf dem Boden aus. Fırat ist immer noch ängstlich. Er steht am Eingang und schaut in die Dunkel-
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heit. Dann sieht er zu Gülistan. Sie hat sich auf die Kartons gelegt und ist bereits eingeschlafen. Ängstlich geht Fırat schließlich auch rein und legt sich neben Gülistan auf die Kartons.
60 STADTMAUER – AUSSEN – MORGEN Am Morgen ist ihre Schlafstelle ein bisschen heller. Gülistan schaut um sich und kann Firat nicht sehen. Sie findet ihn schlafend draußen neben dem Eingang des Verstecks. Sie setzt sich zu ihm. FIRAT Gülistan? GÜLISTAN Was…? FIRAT Ich hab Hunger…
61 STRASSE / KRÄMERLADEN – AUSSEN – TAG Gülistan läuft durch die Straßen. Zum Schluss läuft sie an einem Krämerladen vorbei. Vor dem Laden sind verschiedene Gemüse, Orangen, Wassermelonen und Äpfel aufgestellt. Sie läuft noch einmal an dem Laden vorbei, kommt zurück und bleibt neben den Äpfeln stehen. In diesem Moment kommt der LADENBESITZER raus. Gülistan bekommt für einen Augenblick Angst. Sie sagt nichts, dreht sich um und geht.
62 STRASSE / RESTAURANT – AUSSEN – TAG Gülistan läuft an einem Restaurant vorbei. Ein MITARBEITER kommt mit Tüten in der Hand aus dem Laden und stellt sie neben den Müllcontainer auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Nachdem der Mann weg ist und Gülistan sich vergewissert hat, dass niemand sie beobachtet, reißt Gülistan eine der Tüten auf. Doch sofort ekelt sie sich. Aus der Tüte läuft eine undefinierbare Flüssigkeit aus. Gerade als sie in der anderen Tüte wühlen will, bemerkt sie, dass ein anderes Mädchen neben ihr steht und sie beobachtet. Das ist Zelal, das Enkelkind von
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dem blinden Opa am Anfang des Films. Sie mustern sich gegenseitig. GÜLISTAN Was schaust du!! Zelal sagt nichts. Sie starrt Gülistan an, wie diese sie anfangs angestarrt hat.
63 DAĞKAPI-PLATZ – AUSSEN – TAG Zelal bringt Fırat und Gülistan zum Dağkapı-Platz. Fırat isst dabei ein kleines Stück Sesamkringel. An einer Ecke des Platzes sitzt der Opa, den wir am Anfang gesehen haben und raucht. ZELAL Wo ist Mikail? OPA Ich weiß es nicht. Ich warte seit einer Stunde hier. Er ist noch nicht gekommen… ZELAL Opa, ich hab zwei Freunde mitgebracht. Das ist Gülistan und das ist Fırat. OPA Seid herzlich willkommen. Plötzlich ist von Weitem ein Lautsprecher zu hören. Am anderen Ende des Platzes schiebt ein Junge einen Karren vor sich her. Das ist MIKAIL (12-14). Zelal läuft sofort zu ihm.
64 DAĞKAPI-PLATZ – AUSSEN – TAG Mikails Verkaufswagen ist anders als die anderen Karren der fliegenden Händler. Denn auf seinem Karren sind an zwei Seiten Lautsprecher angebracht, die Mikails Stimme aus dem Kassettenrecorder ziemlich laut wiedergeben. MIKAIL (OFF AUS DEM TAPE) Schock, Schock, Schock! Jedes Teil für nur eine Million… Antennenkabel, Spülmittel, zehn nagelneue Messer... Alles für eine Million!
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Die quietschende Kinderstimme aus dem Kassettenrecorder fällt sofort auf und zieht die Aufmerksamkeit der Passanten an. ZELAL (SIE MUSS WEGEN DES LAUTSPRECHERS SCHREIEN.) Was ist das? MIKAIL (EBENFALLS LAUT) Mein Verkaufsstand. ZELAL Das weiß ich! (zeigt auf die Lautsprecher) Was das ist, meine ich! MIKAIL Hab ich einem Freund abgekauft. Und? Wie findest du meine Stimme? Siehst du, wie die Leute gucken. So ist es unmöglich, mich zu übersehen... ZELAL Gülistan, nimm dir hier eine Packung Taschentücher. Und du, Fırat, Feuerzeuge. MIKAIL Moment Mal, ihr könnt euch da nicht einfach bedienen. Ist alles abgezählt. (holt ein Heft hervor) Du schreibst hier alles auf, was du wann genommen hast. Zelal verzieht das Gesicht und tut, was Mikail gesagt hat. Sie nimmt die Taschentücher und die Feuerzeuge und nimmt sich Gülistan und Fırat vor. ZELAL Hört zu, das hier rundum ist unser Revier. Wenn die Leute zuerst nicht kaufen, bleibt dicht bei ihnen, lasst sie nicht in Ruhe, steckt die Dinger in ihre Taschen, am Ende kaufen sie es doch. Schaut jetzt genau zu, wie ich das mache. Zelal nimmt von Gülistan ein Päckchen Taschentuch und rennt zu einer Passantin. Auch wenn die Frau sie ein paar Mal versucht davonzuscheuchen, klemmt sich Zelal an sie und geht nicht von ihrer Seite weg. Schließlich gibt die Frau auf und kauft ihr ein Taschentuch ab. Zelal kommt zu Gülistan und Fırat angerannt und zeigt ihnen stolz die 500er-Münze in ihrer Hand. ZELAL Habt ihr gesehen? Los, jetzt seid ihr dran! Fırat, die Feuerzeuge kosten auch 500, okay…? So, jetzt zeigt, was ihr könnt. Ach so! Und wenn jemand fragt, ob ihr zur Schule geht, sagt einfach „Ja“!
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Dann gibt sie Gülistan drei, vier Packungen Taschentücher und Fırat ein Paket Feuerzeuge und rennt erneut zu einem Passanten, den sie ins Auge gefasst hat. Gülistan und Fırat stehen da und schauen ihr nach.
65 DAĞKAPI-PLATZ – AUSSEN – TAG Fırat und Gülistan trennen sich langsamen Schrittes in unterschiedliche Richtungen. Schüchtern fangen sie an zu verkaufen. Fırat streckt einer vorbeilaufenden Frau ein Feuerzeug hin, aber er bringt kein Wort heraus. Gleich nach ihr kommt ein Student vorbei, dem er das Feuerzeug hinstreckt. Der Student bleibt stehen, nimmt das Feuerzeug aus Fırats Hand, zündet seine Zigarette an, reicht ihm das Feuerzeug wieder zurück und geht einfach weiter. Fırat ist verwirrt, doch sein Feuerzeug bietet er gleich einem anderen Mann im Anzug an. Diesmal hat er Glück. Der Mann bleibt stehen. MANN Wieviel? FIRAT 500. Der Mann drückt Fırat eine Münze in die Hand, nimmt das Feuerzeug und geht. Fırats Augen glänzen.
66 DAĞKAPI-PLATZ / GÜLİSTANS ECKE – AUSSEN – TAG Fırat kommt zu Gülistan angerannt und zeigt ihr die Münze in seiner Hand. FIRAT Ich hab eine verkauft. Ich hab schon 500. Und du? Wie viel hast du verkauft? GÜLISTAN Ich konnte noch nichts verkaufen… FIRAT Gar keins? GÜLISTAN Ich sagte doch, keins. Gülistan geht auf einen Mann zu, der sich ihnen nähert. Fırat ruft ihr nach.
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FIRAT Es ist einfach, du schaffst es. Schäm dich nicht. GÜLISTAN Schon kapiert. Lass mich in Ruhe. Fırat geht voller Freude zu seinem alten Platz. Offensichtlich macht ihm die Arbeit jetzt Spaß. Gülistan geht zu einem Passanten, streckt ihm das Taschentuch hin und fängt an zu reden. GÜLISTAN Onkel, ich... möchtest du vielleicht Taschentücher? Doch der Mann schaut Gülistan nicht einmal an. Er läuft einfach weiter. Gülistan lässt nicht locker und läuft neben ihm her. Der Mann bleibt plötzlich stehen. Holt dann aber aus seiner Jackentasche ein Handy hervor. MANN Hallo? Du schon wieder! Hab ich dir nicht gesagt, dass du mich nicht nochmal anrufen sollst. Halt die Fresse, du Arsch! Ich mach dich fertig, das verspreche ich dir! Während des Telefonats steht Gülistan neben dem Mann, hält ihm die Packung entgegen und wartet darauf, dass das Gespräch endet. Als der Mann dann schließlich aufgelegt hat, läuft er seinen Weg weiter und lässt Gülistan einfach da stehen. So als wäre Gülistan Luft für ihn.
67 DAĞKAPI-PLATZ / FIRATS ECKE – AUSSEN – TAG Fırat bietet einem jungen Mann ein Feuerzeug an. Diesmal preist er seine Ware an! FIRAT Feuerzeug der Herr? Kostet nur 500. Bitte... Nimm doch! Der junge Mann schenkt ihm keine Aufmerksamkeit und läuft weiter. Fırat holt ihn ein und stellt sich vor ihn. Der junge Mann schubst ihn leicht zur Seite und geht weiter. Plötzlich ist ein Pfiff zu hören. STIMME Hey, Junge!! Junge, dich meine ich!
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Erneutes Pfeifen. Fırat dreht sich um und sieht nicht weit von sich entfernt ein schönes Auto, welches am Straßenrand geparkt hat. Der im Wagen sitzende Mann hat das Fenster heruntergekurbelt und gibt Fırat ein Zeichen, dass er zu ihm kommen soll. Fırat rennt zum Wagen, in der Hoffnung ein Feuerzeug zu verkaufen. Er nimmt sich ein Feuerzeug und streckt es dem Mann hin. Als der Mann seinen Kopf aus dem Autofenster streckt, sehen wir ihn besser. Der Mann im Wagen ist der Polizist Nuri! NURI Wieviel? Fırat erschrickt und lässt das Feuerzeugpaket in seiner Hand fallen. Er steht da wie paralysiert und antwortet nicht. NURI Bist du taub oder was... Ich hab gefragt, was das Feuerzeug kostet. Fırat schließt fest die Augen. Nuri hat keine Geduld mehr, er flucht, kurbelt das Fenster hoch und fährt davon. Aber Fırat bleibt immer noch wie angewurzelt stehen. Die Augen fest verschlossen. Zelal kommt zu ihm. ZELAL Hey, was ist los mit dir? Als Zelal anfängt, die Feuerzeuge aufzusammeln, sieht sie, dass Fırat sich in die Hose macht. ZELAL Mann, du hast dir ja in die Hose gemacht… Gülistan!!
68 NURİS WOHNUNG / WOHNZIMMER / KÜCHE – INNEN – TAG Wir sehen im Wohnzimmer eine Frau (ÜMIT, 35), die vor dem Fernseher sitzt. Es läuft ein Melodrama. Es wird verzweifelt gebettelt und geschrien (Das Geschehen sehen wir nicht, wir hören es nur). Die Frau macht nach einer Weile den Ton lauter, geht aus dem Zimmer, ohne ihren Blick vom Bildschirm zu trennen, und betritt die Küche. Die Küche ist wie das Wohnzimmer modern eingerichtet und gepflegt. Auf dem Herd kocht das Essen. Während die Frau sich um das Essen kümmert, geht die Wohnungstür auf. Es ist Nuri, der reinkommt. Mit Einkaufstüten in der Hand, geht er in die Küche und küsst seine Frau auf die Wan-
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ge. Sofort schaut er auf das Essen. NURI Genau nach meinem Geschmack. (Er schmeckt mit dem Löffel das Essen ab.) Wie geht’s Bora? ÜMIT Hat noch immer Bauchschmerzen. Und ein bisschen übel ist ihm auch. Schau mal bei ihm rein, er fragt schon den ganzen Tag nach dir. Nuri geht zuerst ins Wohnzimmer und macht den Fernseher leiser. ÜMIT (OFF AUS DER KÜCHE) So höre ich nichts… Mach lauter! Nuri macht den Fernseher wieder lauter und geht ins Kinderzimmer.
69 KINDERZIMMER – INNEN – TAG Das Kind (Bora), das am Anfang des Films mit Gülistan Grimassen gezogen hat, hat sich unter eine Decke verkrochen und liest ein Buch über Dinosaurier. NURI Wie geht es denn meinem Löwen… Bora legt sofort das Buch weg, als er seinen Vater sieht, und ahmt einen Löwen nach. BORA ROAAAR…. Nachdem Nuri Bora einen Kuss auf die Wange gegeben hat, fängt er an, ihn mit seinem schmutzigen Bart zu kitzeln. Bora fängt zu lachen an… BORA Papaaa… Bitte… Es kratzt, bitte. NURI Und du willst ein Löwe sein? Wohl eher ein Hase… In diesem Moment klingelt es an der Tür.
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ÜMIT (OFF AUS DER KÜCHE) Nuriii, mach bitte die Tür auf! Meine Hände sind fettig.
70 WOHNUNGSTÜR – INNEN – TAG Nuri macht die Tür auf und die Nachbarstochter NERIMAN (15) erscheint vor der Tür. NURI Hallo Neriman, ist was passiert? Neriman sieht Nuri bewundernd an und steht wie angewurzelt da. So, als hätte sie vergessen, was sie sagen wollte. NERIMAN Nein... ich meine… In der offenen Wohnungstür gegenüber erscheint Nerimans Mutter (HATICE, 45). FRAU HATICE Hallo Herr Kaya, wie geht es ihnen? NURI Danke Frau Hatice, uns geht es gut, nur der Junge ist ein bisschen krank. FRAU HATICE Das tut mir aber leid. Gute Besserung. NURI Danke schön. FRAU HATICE Ich wollte meine Tochter zum Einkaufen schicken und dachte, wenn sie vielleicht auch etwas brauchen... NURI Nein, ich habe vorhin schon eingekauft. Danke schön. FRAU HATICE Okay, dann schönen Tag noch…
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NURI Ihnen auch einen schönen Tag, Frau Hatice. Frau Hatice geht wieder in ihre Wohnung. NURI Dir auch Neriman… Nuri lächelt Neriman an und macht die Tür zu. Ümit hält eine der Tüten, die Nuri mitgebracht hat, in der Hand. ÜMIT Und wo sind sie, Nuri? NURI Was? ÜMIT Was wollte ich heute Abend kochen? NURI Steak… ÜMIT (ZEIGT AUF DIE LEERE TÜTE) Und? Wo sind sie?
71 AM FLUSS TIGRIS – AUSSEN – TAG Fırats Unterhose ist zum Trocknen auf einem Felsen ausgebreitet. Zelal fasst nach der Unterhose. ZELAL Ist noch nicht trocken! Dauert aber nicht mehr lang. Gülistan hat sich am Fluss über Fırats Hose gebeugt und wäscht sie. Fırat selber hockt nicht weit weg von ihnen alleine hinter einem Felsstück und wartet. GÜLISTAN Fırat, komm... lass wenigstens deine Füße mit Seife waschen. ZELAL
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Fırat, du brauchst dich nicht schämen. Denkst du, wir haben nie in die Hose gemacht. Weißt du, wie oft sich Mikail in die Hose macht? Fırat schenkt ihnen aber keine Beachtung und schaut weg. Gülistan dreht sich zu Zelal. GÜLISTAN Wirklich? ZELAL Ja... wirklich. In der Nacht, als die Soldaten kamen und unser Dorf niederbrannten, schliefen er, meine Mutter und mein Vater im selben Zimmer. Mikail hatte furchtbare Angst. Er träumt immer wieder von dieser Nacht. GÜLISTAN Und wo warst du, als die Soldaten kamen? Wie bist du entkommen? ZELAL Ich war in dieser Nacht bei Opa im Haus. Sein Haus haben sie auch niedergebrannt, aber wir konnten uns retten. Gülistan schaut wieder zu Fırat; der sieht sie und verkriecht sich noch weiter hinter dem Felsen. GÜLISTAN Hier, ich werfe dir die Seife rüber. Wasch dich selber. Gülistan wirft die Seife rüber. Die Seife landet vor Fırat. GÜLISTAN Ist euer Dorf weit weg von hier? ZELAL Nein. In der Nähe von Lice. Aber vom Dorf ist nichts übrig geblieben. Alles ist verbrannt. GÜLISTAN Dann kommt doch mit in unser Dorf. Wir werden ein bisschen Geld sparen und zu unserem Opa, ins Dorf unserer Eltern gehen. ZELAL Und wie heißt euer Dorf?
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GÜLISTAN Schtokhom. Fırat greift sich die Seife, die unweit von ihm gelandet ist, und geht damit in den Fluss.
72 ALTSTADT / VERFALLENE KIRCHE – AUSSEN – ABENDDÄMMERUNG Zelal, Gülistan und Fırat betreten den Hof einer alten, verfallenen Kirche. Gülistan und Fırat sind leicht verwirrt, weil sie wenigstens ein Haus mit einem Dach erwartet haben. Mikail sitzt mitten im Hof und kocht auf einer Gasflasche Omelett mit Gemüse. Mikails Verkaufswagen steht in einer Ecke des Hofes. Der Opa hat sich an den Wagen angelehnt und lauscht einer kurdischen Musik, die leise aus dem Lautsprecher ertönt. Hin und wieder hört man den Opa tief seufzen. ZELAL Täuscht euch nicht, es ist sehr schön hier. Guck, manchmal schlafen wir auf dem Dach da oben. Und nachts schauen wir den Sternen zu. FIRAT Wie kommt ihr da hinauf? Die Treppen sind doch kaputt. Zelal dreht sich um und verschwindet durch die Tür hinter sich. Nach einigen Sekunden ist sie oben auf dem Dach zu sehen. ZELAL Seht ihr! Los, kommt hoch. Drinnen gibt es eine Leiter. Gülistan und Fırat folgen Zelal. Drinnen ist alles verfallen. Die Wände sind voller Löcher, der Boden staubig und hier und da haben sich Mülltüten angesammelt. Ganz oben angekommen, lehnt eine Leiter an der Wand. ZELAL Pass auf, Gülistan, die dritte Stufe ist nicht fest. Endlich oben angekommen, erblicken Gülistan und Fırat die chaotisch zusammengewucherte Stadt und die heruntergekommene Kirche. ZELAL
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Das war einmal eine armenische Kirche. GÜLISTAN Wieso ist sie zerstört? ZELAL Weiß ich nicht.
73 STRASSEN VON DİYARBAKIR / AUTO – INNEN / AUSSEN – NACHT Die Straßen von Diyarbakır. Nuri fährt mit seinem Auto im nächtlichen Verkehr von Diyarbakır. Nach einer Weile verlässt Nuri die Hauptstraße und fährt in einer Seitenstraße eine lange Mauer entlang. Wir sehen das Schild: Gendarmerie Hauptquartier. Am Ende der Straße sehen wir ein großes Gittertor. Neben dem Gittertor steht ein SICHERHEITSMANN. Der Sicherheitsmann sieht Nuri und grüßt ihn. Das Gittertor geht ächzend auf und nachdem das Auto durchgefahren ist, geht es ächzend wieder zu.
74 GENDARMERIE – INNEN – NACHT Nuri läuft die langen und verschachtelten Gänge entlang.
75 GENDARMERIE / KELLERGESCHOSS – INNEN – NACHT Nuri betritt einen Gang im Kellergeschoss. In einem Zimmer gleich neben dem Eingang sitzt Ramazan, den wir aus der Nacht kennen, in der die Eltern ermordet wurden. Er ist vertieft in das Buch in seiner Hand und raucht. NURI Hallo, Ramazan. Was liest du denn? (Nuri schaut auf die Titelseite.) Ooh, Noam Chomsky!! Nanu, hast du etwa ein Fernstudium angefangen? Ramazan schließt das Buch und öffnet eine Akte, die vor ihm liegt und reicht sie Nuri. RAMAZAN Warum? Der Typ erzählt detailliert von den dreckigen Geschäften der Amis. NURI
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Von wegen! Mann, der Typ ist ein Kommunist, Kommunist!! (Nimmt das Buch und schlägt ihm damit auf den Kopf.) Würde mich nicht wundern, wenn ich dich bald in einer dieser Zellen sähe. Beide fangen zu lachen an. NURI Bereite du den Raum vor. Ich bin gleich da.
76 NURIS BÜRO – INNEN – NACHT Nuri nimmt die Akte mit, die ihm Ramazan gegeben hat und geht in das gegenüberliegende Zimmer. Nachdem er seine Jacke über den Stuhl gehängt hat, fängt er an, die Akte zu studieren. Nach einer Weile holt er aus der Akte eine Kassette und einige Fotos und schaut sie an (Wir sehen die Fotos nicht.). Nuri holt aus der Schublade einen Schlüssel, öffnet einen Schrank und holt einen Kassettenrecorder hervor.
77 VERNEHMUNGSRAUM – INNEN – NACHT Nuri betritt den Raum und wir sehen Yekbun. Sie sitzt auf einem Stuhl, ihre Augen sind verbunden. Sie ist barfuß und hat noch das T-Shirt an, das sie an jenem Morgen getragen hatte, als sie das Haus verließ. Wir hören das unruhige Atmen von Yekbun. Nuri lehnt sich an den Tisch, der vor Yekbun steht, und mustert sie von Kopf bis Fuß: ihre Hände, Finger, Haare, ihre Lippen. Nuri nähert sich Yekbun und fängt an, sie zu umkreisen. Er mustert sie weiter. Ihr Ohr, ihren Nacken und wieder ihre langen Haare. Dabei atmet Nuri langsam durch die Nase. Nuri gibt Ramazan die Kassette, die er der Akte entnommen hat. Ramazan schaut Nuri fragend an. Nuri deutet ihm an, dass er die Kassette in den Recorder schieben soll. Ramazan legt die Kassette ein und lässt den Recorder laufen. Aus dem Tape hört man Sevdas Stimme. Sevda erzählt ein Märchen... Ramazan schaut Nuri an. SEVDA (OFF AUS DEM TAPE) (Sevda erzählt das Märchen von „Hänsel und Gretel“.) Yekbun dreht ihren Kopf langsam in die Richtung, aus der die Stimme ertönt. SEVDA (Fortsetzung des Märchens)
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FIRAT Das ist doch langweilig! Mama, erzähl uns lieber Geschichten aus dem Dorf! SEVDA (OFF SCREEN) Gleich Fırat, aber lass mich erst, diese Geschichte zu Ende erzählen… (Fortsetzung des Märchens) Yekbun hört der Stimme zu. Ihr Atmen hat sich beruhigt. Unter ihrer Augenbinde sehen wir eine Träne herunter rollen.
78 NURİS WOHNUNG – INNEN – MORGENDÄMMERUNG Die Tür geht auf und Nuri betritt kurz vor Sonnenaufgang die Wohnung. Er geht ins Schlafzimmer, zieht seine Sachen aus und zieht die Pyjamahose an, die über einem Stuhl auf ihn wartet. Nuris Frau schläft im Bett und wir sehen Nuris langsamen und vorsichtigen Bewegungen an, dass er sich bemüht leise zu sein. Nuri holt aus der Jackentasche seine Zigaretten und geht aus dem Schlafzimmer.
79 BALKON – AUSSEN – MORGENDÄMMERUNG Nuri geht auf den Balkon und lehnt sich an das Geländer. Draußen fängt ein neuer Tag an. Straßenverkäufer ziehen vorbei, der Besitzer des gegenüberliegenden kleinen Supermarkts macht seinen Laden auf, Menschen fahren zur Arbeit. Ein Mann, der gerade die Tür seines Auto öffnet, sieht Nuri und grüßt ihn. Nuri grüßt zurück und setzt sich auf einen Stuhl und zündet seine Zigarette an. Es ist ein schöner und heiterer Morgen.
80 BALIKÇILAR-MARKT – AUSSEN – TAG Auf dem Markt Balıkçılar verkauft Gülistan den Leuten Taschentücher. Sie geht von einem Laden zum anderen und versucht, den Ladenbesitzern welche zu verkaufen. Gülistan sieht vor einem Laden eine junge Frau. Sie rennt sofort zu ihr und zieht an ihrer Jacke. Die junge Frau dreht sich um und wir sehen, dass es die junge Frau ist, die Gülistan und Fırat die Zettel hat verteilen lassen. Gülistan streckt ihr eine Packung Taschentücher entgegen. GÜLISTAN Schwester, kauf doch bitte eine… Gülistan erkennt erst in diesem Moment Dilara.
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GÜLISTAN Du wolltest doch auf uns warten? Wir haben alle Zettel verteilt, aber du bist weggegangen, ohne uns das Geld zu geben. Dilara schaut sich um und beugt sich dann zu Gülistan runter. DILARA Nicht jetzt. Ich werde dich… Eine ältere Frau kommt um die Ecke. FRAU Beeil dich, wir sind zu spät dran… GÜLISTAN Du wolltest uns aber Geld geben. DILARA Das werde ich, aber nicht jetzt… Die Frau kommt zu ihnen. FRAU Wessen Tochter ist das? DILARA Mama... Sie hilft mir beim Putzen. Dilara schaut Gülistan flehend in die Augen, damit sie nichts verrät. Gülistan weiß nicht, was sie sagen soll. FRAU Los, lass uns jetzt gehen. Dilaras Mutter läuft weiter. DILARA (ZU GÜLISTAN, LEISE) In zwei Stunden… Im Park. Dilara geht weg und Gülistan schaut ihr hinterher.
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81 ALTSTADT / ENGE GASSEN – AUSSEN – ABENDDÄMMERUNG Gülistan folgt Dilara heimlich. Nach einer Weile kommt Dilara an einer Haustür an. Vor der Tür spielen ZWEI MÄDCHEN, vier und zwölf Jahre alt. Das kleine Mädchen hat nur eine Unterhose und ein T-Shirt an und ist barfuss. Das 12-jährige Mädchen trägt kaputte Schuhe und eine Hose, die ihr zu klein ist. Dilan nimmt die Kleine an der Hand und führt sie ins Haus. Das ältere Mädchen bleibt vor der Haustür und spielt mit der Puppe in ihrer Hand. Der Puppe fehlt aber ein Arm und sie hat kaum Haare. Die Puppe sieht auf eine Art so ungepflegt und verletzt aus wie das Mädchen. Gülistan geht auf die Haustür zu und als sie dort ankommt schaut sie noch mal das kleine Mädchen an. Doch das Mädchen interessiert sich nicht für Gülistan und spielt mit ihrer Puppe. MÄDCHEN (Singt ein Lied vor sich hin und kämmt die Haare der Puppe.) Gülistan späht durch die Tür in den Innenhof. Dilara ist gerade dabei, dem Mädchen die schmutzigen Füße zu waschen. KLEINES MÄDCHEN Kalt, kaaalt! DILARA Ist ja gut. Ist gleich vorbei. Nachdem Dilara sie getrocknet hat, holt sie aus der mitgebrachten Tüte ein Paar Plastikschlappen und zieht sie ihr an. Die Schlappen sind für das Mädchen ein bisschen zu groß, sodass sie, mit den Füßen schleifend, ins Haus flieht. JUNGE (OFF SCREEN) Suchst du jemanden? Gülistan erschrickt. Gleich neben der Tür steht ein 14-jähriger JUNGE. Er hält einen Karren, den man zum Müllsammeln benutzt. Offensichtlich kommt er von der Arbeit zurück. Er ist schwarz vor Dreck. Gülistan läuft langsam rückwärts, dreht sich um und verlässt schnellen Schrittes den Ort.
82 MARKT – AUSSEN – TAG Wir sehen Fırat und Opa neben Mikails Karren. Fırat versucht, die Feuerzeuge und die Kaugummis in seiner Hand zu verkaufen. Aber es ist offensichtlich, dass er keine Lust hat. Mikail kommt zu Fırat.
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MIKAIL Ich drehe eine Runde. Bleib du bei Opa, okay? Rühr dich nicht von der Stelle. Mikail geht weg und Fırat streckt einer weiteren Person Kaugummis hin, hat aber keinen Erfolg. Fırat kommt zum Opa und setzt sich wieder neben ihn. Plötzlich dreht Fırat sich zu Opa und fängt an, ihn gründlich zu studieren. So, als wolle er feststellen, ob Opa tatsächlich blind ist, macht er ruckartige Bewegungen vor ihm und verzieht Grimassen. Doch von Opa kommt kein Ton. Er schaut geradeaus, als sei Fırat nicht bei ihm. Diesmal macht Fırat blitzschnelle Handbewegungen vor Opas Gesicht und versucht, ihn dadurch zu erschrecken. Gerade als Firat eine dieser schnellen Bewegungen macht, fasst der Opa in einer blitzschnellen Reaktion Fırats Arm in der Luft. Fırat ist irritiert. OPA Ich kann dich nicht sehen, Fırat… Aber ich kann dich spüren… Der Opa fängt zu lachen an. LADENBESITZER (OFF SCREEN) Opa!!! Opa!! Der Inhaber eines Reparaturladens gibt Opa und Fırat ein Zeichen, dass sie zu ihm kommen sollen. Fırat hält Opa an der Hand und sie laufen zum Laden. Der Ladeninhaber zeigt auf einen mittelgroßen Fernseher, der in der Mitte des Raums steht. Neben dem Ladeninhaber steht der Besitzer des Fernsehers. LADENINHABER Opa, kannst du einen Fernseher transportieren. OPA JA!! LADENINHABER (ZU FIRAT) Kennst du die Wasserwerke gleich da vorne? (Fırat nickt.) Dieser Onkel wohnt da in der Nähe. Ihr bringt seinen Fernseher zu ihm nach Hause. Dafür gibt’s 10 Millionen. Okay? Der Besitzer des Fernsehers sieht irritiert zu Fırat und Opa, aber der Ladeninhaber beruhigt ihn mit seinem Blick. Der Ladenbesitzer legt den Fernseher auf den Rücken von Opa und alle machen sich auf den Weg. Fırat will die Einkaufstüten
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in der Hand des Mannes tragen, aber der Mann lässt es nicht zu.
83 NEBENSTRASSEN – AUSSEN – TAG Der Mann läuft vorne, hinter ihm Fırat, der sich an der Hose von Opa festhält und ihn so führt und dabei die Hindernisse beschreibt. Der Fernseher ist schwer und der Opa hat Schwierigkeiten, ihn zu tragen. FIRAT Opa, geht’s gut? Bist du müde? Doch Opa antwortet nicht. Er atmet schwer und läuft weiter.
84 NEBENSTRASSEN – AUSSEN – TAG Der Besitzer des Fernsehers hat das Gerät selber geschultert. Fırat hält Opa an der Hand und sie folgen dem Mann.
85 PARK IN KOŞUYOLU – AUSSEN – TAG Als Gülistan an der Parkbank ankommt, wartet Dilara schon dort. Aber neben Dilara sitzt ein alter Mann. Gülistan nähert sich der Parkbank und schaut zuerst zum ALTEN MANN, dann zu Dilara. Dilara tut so, als würde sie Gülistan nicht kennen. Gülistan kommt auf die Parkbank zu. GÜLISTAN Onkel, kann ich mich setzen? ONKEL Setz dich, Liebes. Ich wollte sowieso aufstehen. Der alte Mann steht auf und Gülistan und Dilara bleiben alleine zurück. DILARA Danke. Dass du nichts verraten hast… Dilara holt fünf Millionen aus ihrer Handtasche und drückt sie Gülistan in die Hand.
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GÜLISTAN Schwester, das ist zu viel. Gülistan will das Geld nicht annehmen. DILARA Aber ihr habt zu zweit gearbeitet... Der kleine Junge, war das dein Bruder? Gülistan nickt. GÜLISTAN Fırat. DILARA Wo sind eure Eltern? Gülistan antwortet nicht. DILARA Und wie heißt du? GÜLISTAN Gülistan. DILARA Ein schöner Name. GÜLISTAN Deiner ist auch sehr schön. DILARA Woher kennst du denn meinen Namen? GÜLISTAN Der stand doch auf den Zetteln, die wir verteilt haben. DILARA Das ist nicht mein Name… Ich heiße Dilan. GÜLISTAN Dilan ist auch sehr schön…
86 DAĞKAPI-PLATZ – AUSSEN – SPÄTNACHMITTAG
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Mikail wartet mit seinem Wagen auf dem Dağkapı-Platz. Fırat sitzt neben ihm. MIKAIL (OFF LAUTSPRECHER) Schock, Schock, Schock! Jedes Teil für nur eine Million… Antennenkabel, Spülmittel, zehn nagelneue Messer... Alles für nur eine Million! Eine Frau schaut sich das 10er-Messerset an. FRAU Kostet das auch eine Million? MIKAIL Ja, meine Dame. FRAU Wie wär’s mit 750? MIKAIL Aber das ist doch mein Einkaufspreis! FRAU Und sind sie auch stabil? MIKAIL Beim Koran, das sind sie... FRAU Also billiger geht’s nicht? MIKAIL Weißt du was, Schwester, nimm es einfach. Kannst es geschenkt haben. FRAU Schon gut, hier nimm. MIKAIL Danke. FRAU Wenn sie nicht gut sind... Dann knöpf ich mir dich vor! MIKAIL Schäm dich, Schwester. Eher bricht dieses Haus hier zusammen, als dass mei-
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ne Messer brechen. Wenn es dir nicht gefällt, kannst du umtauschen. Ich bin jeden Tag hier. Die Frau geht weg. Mikail dreht sich zu Fırat und zeigt auf die Kundin, die sich entfernt. MIKAIL Schau sie dir genau an. Die Schuhe, die sie anhat... Die haben bestimmt 100 Millionen gekostet, vielleicht sogar 150. Aber bei uns will sie zehn Messer für eine Million und diskutiert dafür zwei Stunden. Mikail räumt seinen Karren auf und zusammen mit Fırat machen sie sich auf den Weg. In diesem Moment kommt Mikails Freund HÜSEYIN (15) zu ihnen. Sie grüßen sich. MIKAIL Schau, das ist Fırat. Hüseyin grüßt Fırat und reicht Mikail eine Plastiktüte. HÜSEYİN Schau, die sind gestern aus Urfa gekommen. Alles neu. Die bist du in zwei Tagen wieder los! Mikail nimmt alles einzeln aus der Tüte. Zwei Geldbeutel, einen Rosenkranz, ein Handy und diversen Krimskrams. Als Mikail einen der Geldbeutel überprüft, findet er darin einen Ausweis. MIKAIL Mann, was ist das!? HÜSEYIN Was denn? MIKAIL Das ist doch geklaut!! HÜSEYIN Wieso geklaut!? Ich hab dafür hart gearbeitet!! MIKAIL Was soll denn das heißen!? Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Die Dinger
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sind gestohlen. HÜSEYİN Gibt’s hier überhaupt Waren, die nicht gestohlen sind? Hier, dieses Handy… wurde bestimmt schon vier Mal vertickt. MIKAIL Was redest du denn! Mann, in Diyarbakir landen die Leute im Knast, weil sie politisch sind. Und du willst da als gewöhnlicher Dieb rein?! HÜSEYIN Ist ja schon gut. Ich wollte dir einen Gefallen tun. Wenn du sie nicht willst, auch gut. Kommst du zum Fußballspiel? MIKAIL Um wieviel Uhr? HÜSEYIN Um fünf. MIKAIL Okay.
87 DACH – AUSSEN – NACHT Alte Häuser innerhalb der historischen Stadtmauern. Einige Hunde bellen in der Ferne. Gülistan, Zelal, Fırat und Mikail haben die Matratzen zusammengelegt und schlafen darauf. Sie haben nur eine Decke. Gülistan schaut zu den Sternen. Plötzlich schießt ein Düsenjäger über ihre Köpfe hinweg und sein Lärm durchbohrt die nächtliche Stille. Mikail versucht, seine Ohren zuzuhalten. Ein zweiter Düsenjäger fliegt über ihre Köpfe. Alle haben die Augen auf. GÜLISTAN Zelal? ZELAL Ja. GÜLISTAN Kennt Opa eigentlich Märchen? ZELAL
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Ja… Er erzählt aber keine mehr… GÜLISTAN Kennst du welche? ZELAL Nein. In diesem Moment steht Fırat auf und läuft zu Mikails Karren. Gülistan und Zelal schauen ihm hinterher. ZELAL Weck Opa bloß nicht auf. Er erzählt keine Märchen mehr. Fırat läuft leise an Opa vorbei und nähert sich Mikails Karren. Er schaltet den Kassettenrecorder auf dem Wagen an, legt eine Kassette ein und drückt auf die Playtaste. Aus dem Lautsprecher hört man die Stimme seiner Mutter. SEVDA Es war einmal, das ist sehr sehr lange her, ein Dorf... Doch dieses Dorf hatte ein Problem. Die Wölfe um das Dorf herum ließen die Bauern nicht in Ruhe. Jede Nacht fielen sie über das Dorf her und fraßen die Tiere. Die Bauern fingen an, Wache zu halten, aber alles war vergebens. Besonders schlimm war ein grauer Wolf. Er schlich immer in der Dunkelheit ans Dorf heran und niemand konnte ihn bemerken. Fırat legt sich wieder neben Gülistan schlafen. Mikail nimmt langsam die Hände von den Ohren und hört gebannt der Stimme von Sevda zu. SEVDA Jeden Tag verloren die Bauern einige Schafe. Dann schlossen sie sich zusammen und besorgten Hunde. Doch vergebens! Die Schafe verschwanden weiterhin. Die Bauern hatten die Nase endgültig voll. Sie schworen Rache, doch wussten nicht, wie sie sich rächen sollten. Schließlich beschlossen sie, den Wolf zu fangen… In diesem Augenblick fliegen noch einige Düsenjäger über ihre Köpfe hinweg. SEVDA Alle Männer des Dorfes bewaffneten sich, stiegen auf ihre Pferde und fingen an, den grauen Wolf zu suchen. Schließlich sahen sie ihn in der Nähe eines Felsens. Einige der Männer wollten ihn gleich töten, doch der Weise des Dorfes sagte: „Nieder mit den Waffen!“ Alle waren natürlich irritiert. Dann
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stieg dieser Mann von seinem Pferd, legte seine Waffe auf den Boden und näherte sich mit einem Stück Fleisch, das er mitgebracht hatte, vorsichtig dem Wolf. Alle schauten voller Staunen zu. Der graue Wolf war nicht wiederzuerkennen. Er verhielt sich wie eine zahme Katze. Der Mann warf das Fleischstück vor den Wolf und holte aus seiner Tasche ein Glöckchen, das er am Hals des Wolfes vorsichtig festband. Dann kam er zurück, stieg auf sein Pferd und sagte: „Wir kehren zurück.“ Alle waren verwirrt und fragten: „Haben wir uns bewaffnet, um den Wolf zu füttern?“ Daraufhin sagte der weise Mann: „Wir haben ihm jetzt dieses Glöckchen angehängt und uns damit an ihm gerächt, wie selbst der Wolf das nicht erwartet hätte. Dieser Wolf wird nie wieder einem Lebewesen nahe kommen. Wer das Glöckchen hört, wird weglaufen. Was das Fleisch betrifft, das wird das letzte sein, was er frisst...“ Nach diesem Tag lief der Wolf tagelang umher. Immer wenn er an eine Herde heranschlich, läutete sein Glöckchen und die Schafe liefen weg, die Hunde bellten und der Hirte wurde aus dem Schlaf gerissen. Immer wenn er sich an eine Gazelle heranmachte, sprang die Gazelle davon, rannte in die Berge und rettete ihr Leben. So lief der Wolf tagelang auf der Suche nach einer Beute. Und eines Tages brach er an einem Felsen zusammen und starb vor Hunger. Und so konnten die Bauern wieder in Ruhe schlafen. Fırat hat sich an Gülistan geschmiegt und schläft. Mikail schläft auch. Der Opa ist jetzt wach und raucht.
88 EINKAUFSZENTRUM MEGA CENTER – AUSSEN – TAG Gülistan klemmt die kleinen Zettelchen an die Windschutzscheiben der Autos vor dem Einkaufszentrum. Eine FRAU kommt zu einem der Autos, liest den Zettel, der an ihrem Wagen angebracht wurde, und schmeißt ihn gleich weg. Nachdem Gülistan alle Zettel verteilt hat, geht sie zu Dilan, die in einer Ecke des Einkaufszentrums auf sie wartet.
89 STADTVIERTEL OFIS / VOR DER BANK – AUSSEN – TAG Ein MANN wartet vor einem Bankautomaten in der Schlange und als er drankommt, steckt er seine Karte rein. In dem Moment, als der Mann sein Passwort eingeben will, zieht Fırat an seiner Jacke.
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FIRAT Onkel, kauf doch eine. MANN (TIPPT DIE GEHEIMZAHL EIN) Ich will nicht. FIRAT (BEDRÄNGT IHN) Es kostet doch nur 500. MANN (SCHUBST FIRAT ZURÜCK) Verstehst du denn nicht! Hau ab! Der Mann hebt sein Geld ab, legt es in seinen Geldbeutel und läuft zu einer Sammeltaxihaltestelle in der Nähe. Fırat sieht zu Hüseyin, der auf der anderen Straßenseite steht, und zeigt ihm den Mann. Hüseyin gibt zwei Jungs, die gleich in der Nähe der Haltestelle warten, ein Zeichen, und zeigt ihnen den Mann auf den Fırat gedeutet hat. Die beiden Jungs nehmen die Verfolgung des Mannes auf.
90 SAMMELTAXI-HALTESTELLE – AUSSEN – TAG In dem Moment, als unser Mann in das Sammeltaxi steigen will, versperrt einer von HÜSEYINS JUNGS den Eingang, während ein anderer Junge den Geldbeutel des Mannes aus seiner Hosentasche zieht. Der Mann bemerkt davon gar nichts und steigt in das Sammeltaxi. Der Junge, der dem Mann den Geldbeutel geklaut hat, kommt zu Hüseyin und steckt ihm heimlich den Geldbeutel zu.
91 BANKAUTOMAT – AUSSEN – TAG Hüseyin und Fırat sind vor dem Bankautomaten. FIRAT 2-5-8-3… Hüseyin tippt die Geheimzahl ein.
92 ZWISCHEN DEN HÄUSERN – AUSSEN – TAG Alle Kinder, die wir bei der Aktion von vorhin gesehen haben, warten im Hinterhof eines Gebäudes im Stadtviertel Ofis. Hüseyin und Fırat stoßen ebenfalls zu ihnen. Hüseyin grinst. Er öffnet den Geldbeutel und holt das Geld heraus.
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JUNGE, DER DEN GELDBEUTEL GEKLAUT HAT 200!! HÜSEYIN Und das hier hab ich vom Bankautomaten. (Er greift in seine Hosentasche und holt einen Stapel Scheine.) 600... Die Augen der Kinder glänzen. Hüseyin gibt jedem seinen Anteil. Fırat bleibt ein bisschen weit weg von ihnen. Hüseyin schaut ihn an und reicht ihm 50 Millionen. HÜSEYIN Und das ist dein Anteil.
93 STADTVIERTEL OFIS / STRASSE – AUSSEN – TAG Dilan hält Gülistan an der Hand und sie schlendern wie zwei Schwestern im Stadtzentrum. Gülistan trägt jetzt ein neues T-Shirt und eine neue Hose. Dilan dagegen trägt Schuhe mit hohen Absätzen, eine bunt gemusterte Bluse und Jeans. Sie hat sich wieder ein bisschen zuviel geschminkt. Plötzlich klingelt ihr Handy. Dilan holt das Handy aus ihrer Tasche, zögert aber, das Gespräch anzunehmen. Sie drückt den Anruf weg. Gülistan findet es seltsam, dass Dilan nicht rangegangen ist. Das Handy klingelt nochmal. Nachdem es einige Male geläutet hat, geht Dilan in einen Hauseingang und nimmt das Gespräch doch an. DILAN Hallo… Ja, ich bin’s… Dilara. (hört zu) Jetzt…? Ich habe Zeit… Wohin soll ich kommen? Ich kenne es… Zehn Minuten…? Geht in Ordnung… Dilan legt auf und fängt an nachzudenken. Sie ist sichtlich unentschlossen.
94 IM DEM HOTEL – INNEN - TAG Dilan und Gülistan warten in der Lobby. Sie sieht einen Mann, der auf sie zukommt. Der Mann zeigt ihr sein Handy, Dilan nickt. DILAN Warte nicht hier, warte draußen. Direkt vor der Tür, okay?
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Gülistan nickt. Dilan geht zum Mann. Der Mann nimmt von der Rezeption den Schlüssel, hält Dilan an der Hand und läuft zum Lift. Dilan schaut ein letztes Mal zu Gülistan, die sie beobachtet.
95 INTERNETCAFÉ – INNEN – TAG Fırat ist mit Hüseyin und den anderen Jungs in einem Playstation-Internetcafé. Alle sitzen vor den Bildschirmen und spielen. Fırat haben wir seit langem nicht mehr so glücklich gesehen.
96 STRASSE – AUSSEN – TAG Als Fırat und seine neuen Freunden an einem Sportgeschäft vorbeilaufen, bleiben alle stehen und betrachten fasziniert die Sportschuhe im Schaufenster.
97 FUSSBALLPLATZ – AUSSEN – SPÄTNACHMITTAG Fırat und die Jungs spielen Fußball. Fast alle haben neue Schuhe an.
98 NEBEN DEM HOTEL – AUSSEN – TAG Gülistan sitzt vor dem Hotel auf einem Stein und wartet. In ihrer Hand ein Sesamkringel. Vor sich hat sie Taschentücher ausgebreitet und bietet sie Passanten an. Ab und zu sieht sie zum Hoteleingang rüber. Ein Passant kauft ein Taschentuch und in diesem Moment kommt Dilan aus dem Hotel. Gülistan gibt dem Mann das Taschentuch und rennt zu Dilan.
99 VOR DEM HOTEL – AUSSEN – TAG Dilan schaut sich um. Ihr Gesicht ist ohne jeden Ausdruck. Gülistan kommt angerannt. GÜLISTAN Schau, wie viel ich verdient habe. Gülistan zeigt ihr das Geld. Doch Dilan greift sich Gülistans Hand und entfernt sich vom Hotel, ohne etwas zu sagen.
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GÜLISTAN Dilan... Was ist denn los?
100 STRASSE – AUSSEN – TAG Dilan und Gülistan biegen in eine Seitenstraße ab. Dilan holt aus ihrer Tasche fünf Millionen und reicht sie Gülistan. Aber Dilans Hand bleibt in der Luft hängen. DILAN Warum nimmst du es nicht? Gülistan antwortet ihr nicht. DILAN Warum, verdammt nochmal, nimmst du es nicht!!? (Sie fängt sich wieder.) Hilfst du mir morgen wieder? GÜLISTAN Mach ich. DILAN Im Park, um neun. Dilan dreht sich um und geht.
101 AN DER MÜLLHALDE / BARACKE – AUSSEN – ABEND Fırat, Hüseyin und dessen Freunde haben neben der Baracke Feuer gemacht und essen geröstete Maiskolben. Eines der Kinder singt ein Lied. Plötzlich ist hinter ihnen ein Pfeifen zu hören. Hüseyin und seine Freunde fangen an, das Feuer hektisch zu löschen. 1. JUNGE Ich schwör’s euch, die Bullen werden uns diesmal fertig machen. HÜSEYIN Quatsch nicht, Mann, beeil dich. Der Junge, der gepfiffen hat, eilt zu ihnen.
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2. JUNGE Schon gut, sie kommen nicht hierher. Sie haben weiter vorne geparkt. HÜSEYIN Was machen sie? 2. JUNGE Keine Ahnung.
102 MÜLLHALDE – AUSSEN – ABEND In der Dunkelheit der Nacht und aus sicherer Entfernung beobachten die Jungs die Schatten, die sich vor dem Scheinwerferlicht eines Wagens bewegen. Zwei Männer in Zivil holen zwei Körper aus dem Kofferraum eines Jeep-ähnlichen Wagens und werfen sie auf die Müllhalde. Schnell steigen sie wieder in den Wagen und verschwinden. Nachdem das Auto weggefahren ist, gehen die Kinder zu der Stelle, wo die Körper hingeworfen wurden. HÜSEYIN Bindest, mach doch mal Licht. BINDEST holt aus seiner Hosentasche eine kleine Taschenlampe und schaltet sie an. HÜSEYIN Halt mal dorthin. Nein, weiter links. Bindest sucht mit dem Licht der Taschenlampe die Dunkelheit ab und erwischt schließlich die Silhouetten zweier Körper. Die Kinder kommen noch näher und sehen die zwei Leichen schweigend an. Fırat erkennt eine der Leichen. Es ist Memo. Der junge Mann, der sich für eine Nacht bei ihnen versteckt hielt.
103 STRASSE – AUSSEN – TAG Gülistan wartet zusammen mit Dilan neben einem Hotel. Gülistan geht es anscheinend nicht gut. Sie verzieht ihr Gesicht und stellt sich gequält von einem Bein auf das andere. GÜLISTAN Müssen wir noch lange warten?
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DILAN Keine Ahnung, er hat mir dieses Hotel beschrieben. Was ist? Tut dir etwas weh? GÜLISTAN Ich muss pinkeln. Dilan schaut sich um. Gleich gegenüber sieht sie eine Patisserie.
104 PATISSERIE – INNEN – TAG Dilan und Gülistan betreten den Laden. DILAN Schau, gleich da hinten. Ich warte hier auf dich. Dilan setzt sich an den Tisch am Fenster und schaut sich um. In der Patisserie sitzen zwei bis drei leicht geschminkte Frauen einzeln an Tischen. Eine liest in einem Buch, eine andere hält ihren Kopf in den Händen und döst. Alle haben einen Teller Süßigkeit vor sich auf dem Tisch, der aber nicht angerührt wurde. Ein Mann mittleren Alters betritt die Patisserie und läuft, die Frauen musternd, in den hinteren Bereich. Schließlich bleibt er bei einer der Frauen stehen und fragt, ob er sich zu ihr setzen darf. In diesem Moment klingelt Dilans Handy. DILAN Hallo? Ja. Gleich im Café gegenüber (Dilan steht auf und winkt kurz raus). Okay, ich warte. In diesem Augenblick kommt Gülistan aus der Toilette. Auf dem Weg zurück zu Dilan mustert sie natürlich auch die Frauen an den Tischen. Genau in diesem Moment geht die Tür zum Café auf und der Polizist Nuri betritt den Laden. Als Gülistan ihn sieht, erstarrt sie auf der Stelle. NURI Hatte ich dir nicht vor dem Hotel gesagt!? DILAN Ja, aber als sie sich verspätet haben… NURI Ja und! Warte halt. Ist doch dein Job, oder? DILAN
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Ich hab wirklich lange gewartet. Nuri bemerkt die erstarrte Gülistan. NURI Was glotzt du so? DILAN Das ist meine Schwester… Sie begleitet mich nur. NURI Schon gut. Ich hab keine Zeit zu vertrödeln. Den Schlüssel hab ich schon. Nuri und Dilan verlassen das Cafe.
105 VOR DER PATISSERIE – AUSSEN – TAG Dilan läuft mit Nuri in Richtung Hotel. Gülistan schaut ihnen hinterher.
106 DAĞKAPI-PLATZ – AUSSEN – SPÄTNACHMITTAG Gülistan kommt zum Platz und sucht Fırat. In der Weite sieht sie Zelal neben ihrem Verkaufswagen und geht zu ihr. GÜLISTAN Zelal, hast du Fırat gesehen? ZELAL Nein, hab ich nicht. GÜLISTAN Sollte er nicht Opa helfen? ZELAL Ja, aber er ist halt nicht aufgetaucht. Also hat Mikail mit Opa gearbeitet. Gülistan schaut sich verzweifelt um.
107 STRASSEN – AUSSEN – NACHT Die Straßen sind menschenleer. Gülistan läuft durch die Straßen von Diyarbakır
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und sucht nach Fırat. Im Viertel Bağlar, im Viertel Ofis und auf dem Dağkapi Platz... Sie geht zu den Kindern, die sie unterwegs sieht, um festzustellen, ob Fırat unter ihnen ist. Schließlich wird sie müde und legt sich auf die Wiese an der alten Stadtmauer und schläft ein.
108 MOPEDVERLEIH / HISTORISCHER BURGTURM – AUSSEN – TAG Wir sind bei ONKEL ISMAIL (55), der nur einen Arm hat. Ismail und sein Sohn MERHAS reparieren neben einer kleinen Hütte ein Moped. OSMAN (26) und Hüseyin sind auch bei ihnen. Osman telefoniert. OSMAN Mann, vertrau mir. In einer Woche bin ich wieder in Istanbul. Ich hab doch immer gezahlt... Gib mir mal Murat... Gib ihn mir, Mann... Murat, sag dem Wichser, er soll sich abregen. Halt ihn hin. Ach ja, Murat, ist das Zimmer klar? Okay, gut. Lass da drei bis vier Matratzen auslegen... Zehn Kinder... Er sieht zu Hüseyin, der bestätigt mit dem Kopf. OSMAN ...höchstens 15. Wie viele eben in den Wagen passen. Okay, ich ruf dich an. Er legt auf. OSMAN Merhas, seit wann bist du draußen? MERHAS Zwei Tage. OSMAN Wo hast du gesessen? MERHAS In der Haftanstalt von Mardin. OSMAN Ich kann dich nächste Woche nach Istanbul mitnehmen. Willst du? ONKEL İSMAİL
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Nein, er wird nun bei mir arbeiten. Merhas steht hinter seinem Onkel Ismail und gibt Osman ein Zeichen nach dem Motto: „Überlass ihn mir!“ In diesem Moment kommen Bindest und Fırat mit dem Moped näher. Hüseyin pfeift. Bindest stellt das Moped ab und grüßt Osman. Sie laufen ins Viertel. HÜSEYIN Osman, dieser Bindest ist genau der Typ, den du suchst. Es gibt nichts, was er nicht kann. OSMAN Warst du schon mal in Istanbul? BINDEST Nein. OSMAN Was kannst du? BINDEST Ich klau alles. OSMAN Hört mir zu, in Istanbul ist es anders als hier. Dort gibt es viele Reiche, das stimmt. Dort verdient man das Zehnfache von dem, was man hier verdient. Auch das stimmt. Aber man muss die Zähne zusammenbeißen, man muss diszipliniert sein. Weil wenn die Bullen einen erwischen... Die machen dich fix und fertig. Und wenn man keine Unterstützung hat, niemanden, den man beschmiert... Da bist du verloren... Es ist kein leicht verdientes Geld, also... Also du, Bindest und Cekdar. Und er? Versteht er was davon? (Er zeigt auf Fırat, der hinter ihnen herläuft.) Wir brauchen noch jemanden in seiner Größe. HÜSEYIN Fırat, was sagst du dazu. Istanbul!! Fırat lächelt. OSMAN Hüseyin, schau dich in deinem Umfeld genau um. Wir können keine Typen brauchen, die gleich in der ersten Nacht losheulen, die machen uns nur Probleme. Wenn sich ‚ne Familie quer stellt, kein Problem. Das klär ich schon.
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Osman steigt in seinen Wagen. OSMAN Ich erwarte morgen Abend eine Nachricht.
109 VOR DEM CAFÉ – AUSSEN – TAG Gülistan wartet zusammen mit Dilan vor dem Café. Nuri Kaya hält mit seinem Auto vor ihnen und steigt aus dem Wagen. NURI Steigt ein. Wir fahren zu mir. Dilan zögert. DILAN Davon war aber am Telefon nicht die Rede… NURI Das heißt? DILAN Ich gehe nicht zu Kunden nach Hause. NURI Kommst du nun mit oder nicht? Dilan weiß nicht, was sie tun soll. NURI Dann halt nicht. Nuri will in seinen Wagen einsteigen. GÜLISTAN Wir kommen!! Dilan schaut irritiert zu Gülistan. Gülistan macht die Autotür auf und will einsteigen. Dilan hält sie zurück. DILAN
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Schon gut, Gülistan, du musst nicht mit, ich gehe alleine. Keine Angst, es passiert schon nichts. NURI Nein, nein, lass sie mitkommen. Das ist sogar besser. Dann fällt es den Nachbarn nicht auf. Steig ein! Dilan und Gülistan steigen in den Wagen und das Auto fährt los. Dilan sitzt wie damals in der Mordnacht in einer Ecke des Wagens und starrt in Nuris Richtung. Die Kamera hat Gülistans Gesicht close.
110 NURİS WOHNUNG / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Gülistans Gesicht close. Das Bild öffnet sich und wir sehen, dass Gülistan jetzt woanders ist. Sie befindet sich in der Wohnung von Nuri und sitzt, genauso wie seine Frau vorher, vor dem Fernseher.
111 NURİS WOHNUNG / FLUR / KINDERZIMMER / SCHLAFZIMMER – INNEN – TAG Gülistan öffnet leise die geschlossene Wohnzimmertür und geht auf den Flur. Aus dem Schlafzimmer hört man Nuris Stöhnen. Gleich gegenüber dem Schlafzimmer ist das Kinderzimmer. Gülistan geht hinein und betrachtet das von Spielzeugen und farbigen Postern gefüllte Zimmer.
112 ARBEITSZIMMER NURI – TAG – INNEN Neben dem Kinderzimmer ist ein weiteres kleines Zimmer. Die Vorhänge sind leicht zugezogen und es ist halb dunkel. Es ist eine Art Arbeitszimmer von Nuri. In einer Ecke des Zimmers ist ein Bücherregal mit vielen Büchern und dem gegenüber steht ein Tisch mit einem Computer. Sie schaut sich um und sieht an der Wand eine Urkunde. Gülistan läuft zur Wand und betrachtet die Urkunde. Auf der Urkunde ist zu lesen: Dem Feldwebel Nuri Kaya, verliehen für seine besonderen Verdienste in den Jahren 1993-1995, im Rahmen der von der Gendarmerie in Diyarbakır durchgeführten Operation „Niederschlag“. In der Schrankvitrine sehen wir auch Fotos. Aufnahmen von Nuri in Soldatenuniform und mit seiner Familie. Gülistans Blick fällt plötzlich auf den Stuhl, der am Computertisch steht. Über die Rückenlehne des Stuhls hängt Nuris Jacke und auf dem Sitz liegt seine Pistole. Gülistan blickt eine Weile auf die Waffe und nimmt sie dann zögerlich in die Hand. In diesem Moment geht im Flur eine Zimmertür auf. 76
113 NURİS WOHNUNG / FLUR – INNEN – TAG Gülistan schaut in den Flur und sieht wie Dilan ins Bad geht. Nach einer kurzen Weile hört man das Rauschen des Wassers. Die Schlafzimmertür ist leicht offen und Gülistan geht schweren Schrittes den Flur entlang in Richtung Schlafzimmer. Dort angekommen, schiebt Gülistan die Tür ein bisschen weiter und sieht Nuri im Bett liegen. Nuri kann sie nicht sehen, weil er mit dem Rücken zu ihr liegt. Gülistan hebt die schwere Pistole und richtet sie auf Nuri. Ihre Hände zittern.
114 ALTSTADT / RUINE – AUSSEN – TAG Ein Frosch, der mit Wäscheklammern an einer Leine festgeklemmt ist, windet sich vor Schmerzen und zappelt hin und her. Doch vergebens. Plötzlich fliegt ein Stein vorbei und prallt gegen die Wand hinter dem Frosch. Stimmen und Gelächter von Kindern ertönen. KINDER Du Niete… Jetzt sehen wir, wie Hüseyin und seine Freunde, alle in einer Reihe stehend, mit einer Schleuder auf den Frosch zielen. Hüseyin ist gerade dran. Er konzentriert sich, zielt und schießt ab. Der Stein streift den Frosch, der daraufhin kurz aufquäkt. Die Kinder lachen wieder und klopfen Hüseyin auf die Schulter. Nun ist Fırat dran. Er nimmt die Schleuder von Hüseyin und zielt. Er spannt das Gummi der Schleuder und in dem Moment als er loslassen will, wird der Frosch von zwei Augen verdeckt. Das ist Gülistan. Sie hat sich vor den Frosch gestellt. FIRAT Geh da weg. Ohne jeden Ausdruck im Gesicht steht Gülistan nur da und wartet. FIRAT Geh weg, sonst schieße ich!! Fırat spannt das Gummi der Schleuder und zielt wieder auf den Frosch. GÜLISTAN Ich hab ihn gesehen.
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FIRAT Ich schwör’s, ich lasse los. Fırat spannt das Gummi etwas weiter. Gülistan holt aus der Tüte in ihrer Hand Nuris Pistole und zeigt sie Fırat und den anderen Kindern. GÜLISTAN Ich hab den Mörder gesehen… Fırat lässt plötzlich das Gummi los, der Stein fliegt und Gülistan fällt zu Boden.
115 PATISSERIE – INNEN – TAG Dilan sitzt in der Patisserie und wartet. Der Kellner in der Patisserie bringt Dilan eine Cola. DILAN Ich hab keine Cola bestellt. KELLNER Ist von dem jungen Mann am Tisch da hinten. Dilan dreht sich nach hinten um und sieht einen Jungen, der sie anlächelt. Er ist in Dilans Alter und sieht gut aus. Der Junge kommt lächelnd zu Dilan. JUNGER MANN Entschuldige, ich beobachte dich seit ein paar Minuten. Wartest du auf jemanden? DILAN Nein,… eigentlich nicht. JUNGER MANN Darf ich mich hinsetzen? Noch bevor Dilan antwortet, setzt er sich zu Dilan. JUNGER MANN Ich gehe aufs Gymnasium, das gleich um die Ecke ist. Heute hab ich aber geschwänzt. Und du?
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DILAN Ich? JUNGER MANN Auf welche Schule gehst du? DILAN Ich gehe nicht zur Schule. In diesem Moment geht die Tür auf und ein Mann kommt schnellen Schrittes zu Dilans Tisch. Es ist Nuri. Nuri packt Dilan, die ihn nicht gesehen hat, fest am Arm und zieht sie zu sich. Der Junge greift sofort ein. JUNGER MANN Moment mal, was soll denn das? Nuri lässt Dilans Arm los und urplötzlich schlägt er den Kopf des Jungen auf den Tisch. JUNGER MANN Aaa!! Nuri dreht sich den anderen Gästen in der Patisserie zu. NURI Glotzt nicht! Nuri wendet sich wieder zu Dilan, wirft sie brutal gegen die Wand und packt sie am Hals. NURI Wo ist die Waffe? Dilan kann nicht atmen, so fest ist Nuris Griff. DILAN Www... welche... Waffe? Nuri lockert den Handgriff. DILAN Ich sch… schwöre... Ich weiß nichts.
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NURI Verarsch mich nicht. Ich hab gefragt, wo die Waffe ist. DILAN Ich weiß es wirklich nicht… NURI Und die Kleine? Wo ist sie? Weil Dilan nicht sofort antwortet, wird Nuris Griff wieder fester. DILAN Sie wollte heute kom... kommen... ist sie aber nicht. NURI Sie war doch deine Schwester! Wo ist sie, hab ich gefragt!! Dilan antwortet nicht. NURI Hör mir gut zu... Du findest sie, kapiert? Sonst prügele ich die Scheiße aus dir raus! Das schwöre ich!!!
116 ALTE STADTMAUERN – AUSSEN – ABENDDÄMMERUNG Gülistan und Fırat sitzen auf der Stadtmauer und schauen auf das Panorama von Diyarbakır. Man sieht eine Wunde auf Gülistans Stirn. Nicht weit weg von ihnen sitzen auch Hüseyin und seine Freunde. Fırat steckt die Waffe, die er in seiner Hand hält, wieder in die Tüte, geht zu Hüseyin und gibt sie ihm.
117 ALTSTADT / DILANS HAUS – AUSSEN – ABEND Gülistan öffnet leise das Hoftor, das in Dilans Haus führt und sieht hinein. Im Hof sitzt in einer Ecke Dilans kleine Schwester. Das Mädchen hat diesmal eine neue Puppe in der Hand. Gülistan kommt rein und setzt sich zu dem Mädchen. Das Mädchen zeigt Gülistan ihre neue Puppe und reicht ihr die alte, kaputte Puppe. In diesem Moment geht das Tor auf und Dilan kommt mit ihrer Mutter rein. Als Dilan Gülistan sieht, kommt sie angerannt und umarmt sie.
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118 STRASSE / VOR NURİS HAUS – AUSSEN – TAG Gülistan, Hüseyin, Bindest und Fırat sitzen auf einer Mauer und warten. Gülistan sieht etwas und gibt Fırat einen Stoß. Ein Auto parkt vor dem Haus. Nachdem das Auto geparkt hat, steigen Nuri, sein Sohn und seine Frau aus dem Wagen. Nuri geht zum Kofferraum, holt einen Koffer und eine Tasche raus und folgt dann seiner Frau und seinem Sohn ins Haus. Die Kinder beobachten Nuri von weitem. Als Nuri und seine Familie das Haus betreten, ertönt in der Straße die Stimme des Muezzins. Hüseyin blickt sich um und macht Bindest auf das in der Nähe liegende Minarett aufmerksam.
119 MALERGESCHÄFT – INNEN – TAG Gülistan geht zusammen mit Dilan in ein Malergeschäft und sie sehen sich die in Reihe aufgestellten Farben und Lacke an. Der LADENBESITZER kommt zu ihnen, wählt eine kleine Dose aus und macht den Deckel auf. Es ist gelbe Farbe. Gülistan und Dilan gefällt die Farbe nicht. Sie zeigen auf eine andere Dose. Der Ladenbesitzer macht den Deckel auf. Die Farbe Rot gefällt ihnen.
120 MOSCHEENHOF – AUSSEN – TAG Zelal und ihr Opa, kommen in den Hof einer Moschee. Der IMAM grüßt den Opa und sie setzen sich in eine Ecke. Der Opa erzählt dem Imam etwas. Der Imam hört ihm interessiert zu.
121 DRUCKEREI – INNEN – TAG Fırat geht zusammen mit Bindest in eine Druckerei und reicht dem Ladenbesitzer einen Zettel. FIRAT 1000 Stück. Der Ladenbesitzer nimmt den Zettel und wirft einen kurzen Blick darauf. Dann sieht er Fırat und Bindest irritiert an. Doch sein verwirrter Blick verwandelt sich langsam in ein Lächeln.
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122 ARMENISCHE KIRCHE – AUSSEN – TAG Mikail sitzt mit Gülistan in einer Ecke und schreibt etwas auf einen kleinen Zettel. Nachdem er mit dem Schreiben fertig ist, holt er von seinem Karren den Kassettenrecorder und ein kleines Mikro. Er drückt auf die Aufnahmetaste und fängt zu schreien an. MIKAIL Schock, Schock, Schock!!
123 ALTSTADT / ZWISCHEN DEN HÄUSERN – AUSSEN – TAG Hüseyin kommt an einer Haustür an und klopft. Zuerst öffnet eine FRAU die Tür. Doch als sie Hüseyin sieht, geht sie wieder hinein und Osman erscheint an der Tür. Hüseyin reicht ihm eine Liste. Auf der Liste sehen wir eine Reihe von Namen. Osman scheint zufrieden. Scherzend zerzaust er Hüseyins Haare.
124 NURİS WOHNSTRASSE – AUSSEN – MORGENDÄMMERUNG Die Sonne geht gleich auf. Die Morgensonne taucht die ganze Straße in eine angenehme und fröhliche Farbe. Die leere Straße wirkt einladend, so als würde sie die Menschen, die dort leben, dazu auffordern den Tag zu beginnen.
125 NURİS WOHNUNG / SCHLAFZIMMER / WOHNZIMMER – INNEN – TAG Nuri liegt im Bett. Seine Augen sind offen, er starrt die Decke an. Langsam steigt er aus dem Bett, holt aus seiner Jacke eine Zigarettenschachtel und geht auf den Balkon, der vom Wohnzimmer zur Straße schaut. Er hat ein ärmelloses T-Shirt und seine Pyjamahose an.
126 BALKON / STRASSE – AUSSEN – MORGEN
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Nuri setzt sich auf den Stuhl auf dem Balkon und zündet eine Zigarette an. In diesem Moment betritt die 15-jährige Nachbarstochter Neriman den Balkon nebenan und fängt an, die aufgehängte Wäsche zu sammeln. Sie grüßt Nuri mit einem kurzen und schüchternen Lächeln. Nuri grinst nur zurück und sieht zur Straße hinunter. Er sieht einen Nachbarn, der zu seinem Auto eilt. NURI Kemal! Ihr habt gestern ’ne richtig geile Abreibung gekriegt... Der Mann, den Nuri gerufen hat, schaut nach oben. KEMAL Vergiss es, Mann... Ich kann es noch immer nicht fassen. Kemal zeigt auf seine Uhr und deutet ihm an, dass er keine Zeit hat und öffnet die Wagentür. In dem Moment, als er in den Wagen steigen will, sieht er einen Zettel an der Windschutzscheibe.
127 BALKON – AUSSEN – MORGEN Nuri hört hinter sich ein Klappern und als er sich umdreht, sieht er seinen Sohn Bora hinter der Balkontür. Mit schlaftrunkenen Augen schaut sein Sohn ihn an. Nuri lächelt seinen Sohn an, breitet die Arme aus und deutet ihm an, dass er zu ihm kommen soll. Bora tritt auf den Balkon und setzt sich auf den Schoß seines Vaters. NURI Was ist? Warum bist du so früh wach? BORA Es hat an der Tür geklingelt… NURI An der Tür? BORA
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Aber da war niemand. NURI Vielleicht hast du ja geträumt? BORA Nein, es hat geklingelt. Da lag auch dieser Zettel vor der Tür. Da bist du drauf. Nuri nimmt den Zettel aus Boras Hand. Auf dem kleinen Zettel ist das Foto von Nuri und den anderen aus seiner Truppe in Soldatenuniform und mit Waffe zu sehen. Es ist das Foto, welches Gülistan in der Schrankvitrine gesehen hatte. Darunter steht in großen Lettern folgendes geschrieben: An alle Bewohner von Diyarbakır: Der Soldat Nuri Kaya ist Mitglied der staatlichen Kontraguerilla JITEM. Er wohnt in der Emek-Straße, Haus Sümbül. 2. Stock. Wohnung Nummer 6. Nuri Kaya ist ein Mörder. Er ist verantwortlich dafür, dass viele Menschen verschwunden sind oder ermordet wurden. Er hat am 15. Mai auf der Landstraße zwischen Batman und Diyarbakir Vedat und Sevda Gün umgebracht. Gerade als er diese Zeilen liest, kommt auf dem Nachbarsbalkon Hatice zu ihrer Tochter und schaut Nuri an. Nuri grüßt die Frau, doch sie grüßt ihn nicht zurück und sagt zu ihrer Tochter: HATICE Geh rein Neriman. Nuri bemerkt den Zettel in Hatices Hand. Er steht auf, geht ans Geländer und sein Blick wandert von Hatice zum Zettel in ihrer Hand. Tatsächlich hält sie denselben Zettel in der Hand, den auch Bora gefunden hatte. Nuri streckt langsam seine Hand aus und deutet Hatice an, dass sie ihm den Zettel rüberreichen soll. Nuri streckt sich über das Geländer, um den Zettel zu nehmen. Doch in dem Moment, wo er nach dem Zettel greifen will, lässt Hatice das Papierstück los und der Zettel fliegt langsam zur Straße hinunter. Die Blicke von Nuri und Hatice treffen sich. Hatice schaut ihn mit einem bohrenden Blick an. Nuri schaut zur Straße und ist erneut irritiert. Denn sein Nachbar Kemal, der vorhin noch in Eile zu seinem Auto rannte, steht immer noch da und schaut mit dem Zettel in der Hand, zu Nuri hoch. Nuri schubst seinen Sohn zur Seite und rennt hinunter.
128 STRASSE – AUSSEN – MORGEN
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Nuri kommt zu Kemal angerannt, reißt ihm den Zettel aus der Hand und fängt an, ihn zu zerreißen. So als würde er dem Ganzen keinen Sinn abgewinnen, schaut Kemal Nuri seltsam an. Nuri schaut sich um und sieht den Zettel, der vorhin vom Balkon hinunter flog. Er rennt sofort zu der Stelle und als er im Begriff ist, den Zettel vom Boden zu heben, erstarrt er auf der Stelle. Derselbe Zettel steckt an den Windschutzscheiben aller parkenden Autos. Nuri gerät in Panik, rennt von einem Auto zum anderen und sammelt die Zettel. In diesem Augenblick sieht er denselben Zettel in der Hand eines Mannes, der gerade seinen Laden aufmacht. Der Mann setzt seine Brille auf und fängt an, den Zettel zu lesen. Aus einem Haus direkt neben dem Laden kommt ein Mann, der auch denselben Zettel hat. Nuri bleibt verzweifelt stehen und sieht ihnen zu. In diesem Moment hört er die aufgeregte Stimme einer Frau. FRAU Gott verdammt! Eine Frau, die gerade die Straße überqueren wollte, ist anscheinend über eine mit roter Farbe am Boden gemalte Schrift gelaufen und versucht nun, die Farbe von ihrem Schuh abzustreifen. Der Ehemann der Frau steht unmittelbar vor der Schrift und versucht, sie zu lesen. MANN DER FRAU Der Mörder Nuri Kaya wohnt in diesem Haus. Rechts und links von der Schrift zeigen zwei große Pfeile auf Nuris Wohnhaus. Nuri kommt langsam zu dem Mann und bleibt verzweifelt vor der Schrift stehen. In diesem Moment hört man ein Krächzen aus den Lautsprechern der Moschee und anschließend ertönt Mikails Stimme. MIKAIL (OFF AUS DEM TAPE) An alle Bewohner von Diyarbakır: Der Soldat Nuri Kaya ist Mitglied der staatlichen Kontraguerilla JITEM. Er wohnt in der Emek-Straße, Haus Sümbül, 2. Stock. Wohnung Nummer 6. Nuri Kaya ist ein Mörder. Er ist verantwortlich dafür, dass viele Menschen verschwunden sind oder ermordet wurden. Er hat am 15. Mai auf der Landstraße zwischen Batman und Diyarbakir Vedat und Sevda Gün umgebracht. In diesem Moment ist die Straße voller Menschen und alle schauen einerseits zu Nuri Kaya, andererseits hören sie die Stimme aus dem Lautsprecher der Moschee. Nuri steht mitten auf der Straße mit einem ausdruckslosen Gesicht. Alle auf der Straße schauen ihn an.
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129 ZEITUNG / BÜRO – INNEN – TAG Es klingelt an der Bürotür der Zeitung, bei der Gülistans Vater arbeitete. Güler, die wir am Anfang des Films kurz gesehen haben, macht die Tür auf und findet Bindest vor sich. BINDEST Schwester, das ist für euch. Bindest drückt Güler einen großen Briefumschlag in die Hand und verabschiedet sich. Güler schaut auf den Briefumschlag und sieht, dass nichts drauf steht. Sie rennt sofort wieder vor die Tür und ruft Bindest hinterher. GÜLER Eine Sekunde!! Wer hat das geschickt…!? Hey, Junge! Doch Bindest ist längst verschwunden. Güler geht mit dem Kuvert hinein, setzt sich im Redaktionsraum an ihren Tisch und macht den Briefumschlag auf. Darin findet sie den Zettel der Kinder mit den Informationen über Nuri Kaya, sein Foto und seine Waffe.
130 FRIEDHOF – AUSSEN – TAG Fırat füllt eine kleine Plastikflasche mit Wasser, kommt zum Grab der kleinen Dilovan und schüttet das Wasser um das Grab herum. Wir sehen am Grab auch Gülistan, Mikail und Zelal. Zelal betet, Gülistan legt die Blumen, die sie mitgebracht hat, auf das Grab. GÜLISTAN Du versprichst es, oder? Du besuchst sie einmal die Woche, versprochen? ZELAL Versprochen! Wenn ich mal nicht kommen kann, kommt Mikail. MIKAIL Ich kann doch gar nicht beten! FIRAT Musst du auch nicht. Es reicht, wenn du mit ihnen redest. Sie würden sich
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freuen. In diesem Moment hört man einen Pfiff. Am Friedhofseingang sehen wir Hüseyin. Er deutet ihnen an, dass es jetzt an der Zeit ist und sie endlich kommen sollen. Mikail und Zelal gehen los. Fırat macht noch ein kleines Loch am Fuße von Dilovans Grab und Gülistan holt die Märchenkassette ihrer Mutter hervor. Nachdem sie die Kassette in eine kleine Plastiktüte eingewickelt hat, legt sie die Tüte in das Loch und überdeckt es wieder mit Erde.
131 ALTSTADT – AUSSEN – TAG Der Kofferraum eines Renault-Toros geht auf. Es ist Osman, der den Kofferraum öffnet. Neben dem Auto warten neun bis zehn Kinder in Reihe an einer Wand. Alle sind zwischen 10 und 16 Jahre alt. Fırat und Gülistan sowie Mikail und Zelal sind auch da. Hüseyin und Bindest tragen aus Osmans Haus vier bis fünf Packungen Wasser und stellen sie in den Kofferraum. OSMAN Du, Memo, Rohat, Merhas, Ali, Rojbin, Niştiman, setzt euch nach hinten. Und wie heißt du noch mal? SERTAC Sertac… OSMAN Du, Fırat und Gülistan auch. Sertac, Gülistan und Fırat steigen auf die Ladefläche. Osman bringt zwei Tüten voller Sesamkringel. OSMAN Es gibt Wasser und Brot für jeden. (Spricht nach vorne.) Wenn was ist, einfach ans Fenster klopfen. (zu Gülistan) Zieh deinen Fuß weg! Und er schließt den Kofferraum. Hüseyin und Bindest setzen sich auf den Vordersitz neben Osman. Der Wagen ist jetzt voller Kinder. Gülistan sieht zu Zelal und Mikail, die draußen warten. Der Wagen fährt los. Zelal gießt dem Wagen Wasser hinterher.
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132 STADTVIERTEL BEN U SEN / KLEINE NEBENGASSE – AUSSEN – TAG Der mit Kindern gefüllte Wagen fährt in eine Gasse und hält vor einem kleinen Haus. Osman steigt aus dem Wagen und klopft an der Tür. Ein Mann tritt vor die Tür. Osman gibt dem Mann einen Stapel Geldscheine, welchen dieser sofort zu zählen beginnt. Nach dem Zählen dreht er sich nach hinten und schreit ins Haus. MANN Berivan!! Zusammen mit ihrer Mutter kommt ein kleines, ca. 13-jähriges Mädchen aus dem Haus. Das Mädchen sieht ihren Vater verlegen an und läuft zum Auto. Die Mutter schaut dem Mädchen hinterher. Osman macht den Kofferraum auf und BERIVAN steigt ein. Gülistan und die anderen müssen auf der ohnehin engen Ladefläche noch enger zusammenrücken. Das Auto hupt und fährt los. Berivans Vater ist bereits im Haus verschwunden, nur ihre Mutter steht noch vor der Tür und schaut dem Wagen nach.
133 AUTO – INNEN / AUSSEN – TAG Das Auto ist überfüllt. Gülistan sieht eine Weile die weinende Berivan an und reicht ihr ein Taschentuch. Berivan nimmt es nicht. Fırat lehnt seinen Kopf an Gülistans Schulter und versucht zu schlafen. Das Auto hält an einer Ampel. In diesem Moment hält ein anderer Wagen direkt neben dem Auto der Kinder. Auf dem Rücksitz des anderen Wagens sitzt ein ca. 13-jähriges Mädchen. Das Mädchen sieht Gülistan an und lächelt. Gülistan sieht sie eine Weile an, zeigt aber keine Reaktion. Als das Mädchen bei Gülistan keine Reaktion sieht, fängt sie an, wie der Junge am Anfang des Filmes, Grimassen zu ziehen und sie anzulächeln. Doch Gülistan zeigt nach wie vor keinerlei Reaktionen. Sie schaut nur in das glücklich lächelnde Gesicht des Mädchens. Beide Autos fahren in diesem Moment wieder los. Gülistan sieht aus dem Fenster die Stadt, die sich vor ihr ausbreitet. Vor ihrem Auge passieren die Stadt Diyarbakır und ihre Menschen Revue. Bauern, Städter und Karren der fliegenden Straßenhändler. Polizisten, Soldaten und Kinder. Kinder, die Taschentücher verkaufen, Windschutzscheiben putzen, betteln. Gülistans Blick ist auf die Straße gerichtet, von der sie nicht weiß, in welche Zukunft sie führt.
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ENDE
NACHWORT Wann ist das Schreiben am Drehbuch eines Filmes eigentlich zu Ende? Für die meisten Autoren spätestens dann, wenn die Dreharbeiten anfangen. Für die Regisseure, die auch das Buch geschrieben haben, fängt hier jedoch ein weiteres Kapitel des Schreibens an. Jedenfalls war das bei mir der Fall. Während der Dreharbeiten zu MIN DÎT waren wir permanent gezwungen, alles Geschriebene neu zu überdenken, zu überarbeiten und vor allem dem Faktor Zufall eine Chance zu geben. Es blieb uns wegen der finanziellen Möglichkeiten und der politisch brisanten Situation der Stadt auch kaum etwas anderes übrig. Das war zwar, zugegeben, sehr anstrengend und zuweilen sehr verunsichernd. Aber genau das hat dem Film auf eine unbeschreibliche Art sehr gut getan. Denn gerade für einen Film wie MIN DÎT, der auf realen Ereignissen basiert, war es ungemein wichtig, einen Blick dafür zu haben, was um uns herum passiert, die Stadt und die dort lebenden Menschen einzubinden und dies alles möglichst authentisch in den Film einfließen zu lassen. Nehmen wir z.B. den Anfang von MIN DÎT. Im Drehbuch wird als erste Szene
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die zufällige Begegnung zwischen Gülistan und Nuris Sohn beschrieben. Abgesehen davon, dass ich diese Szene gedreht habe und sie mir, ehrlich gesagt, nicht besonders gelungen ist, gab es eine Woche vorher die zufällige Begegnung mit dem alten Mann, der seinen Zigarettenstand aufbaute. Wir waren gerade mit einem kleinen Team dabei, aus einem Wagen heraus allgemeine Stadtbilder einzufangen, als unser Wagen neben diesem alten Mann stehen blieb. Ich rief unserem Fahrer zu, dass er, egal was passiert, auf keinen Fall weiterfahren darf, zeigte Kamerafrau Isabelle Casez den alten Mann und sie fing diesen wunderbaren Moment auf unglaublich natürliche Weise ein. So eine Szene hätte ich nie schreiben können. Und kaum ein Schauspieler hätte diesen traurigen und erschöpften Blick des alten Mannes so ausdrucksvoll darstellen können. Wir waren gerade beschenkt worden. Dass wusste ich. Ich hatte damals keine Ahnung, wo und wie ich dieses Bild in den Film einbringen würde. Erst im Verlaufe des Schnitts merkte ich, dass es thematisch absolut Sinn macht, den Film mit der langen Einstellung eines alten kurdischen Mannes anzufangen, der mit seiner Körperhaltung und seinem Gesicht all das ausdrückt, was seine Generation erlebt hatte, und dann auf Gülistan zu schneiden und die Geschichte der jetzigen Generation zu erzählen. Gülistans kurzer Blick aus dem Bus ist also alles, was aus der Szene 1 im Drehbuch übrig geblieben ist. Das Drehbuch für MIN DÎT hatte ich ursprünglich auf Türkisch verfasst. Dann ließ ich es für die Schauspieler, die Kinder und ihre Eltern ins Kurdische übersetzen. Das Resultat war sehr weit von jenem Kurdisch entfernt, das die Menschen auf der Straße sprachen. Man sollte in diesem Zusammenhang wissen, dass MIN DÎT aufgrund des Verbots der kurdischen Sprache in der Türkei, der erste kurdischsprachige Spielfilm ist, der je in der Türkei gedreht worden ist. Es war in diesem Sinne auch hier eine besondere Herausforderung, möglichst authentisch zu sein. Das machte die Sache aber auch wieder spannender. So war allen Schauspielern klar, dass sie den Text in ihre eigene Sprache umwandeln mussten. Gerade den Kindern gab diese Arbeitsweise deutlich mehr Sicherheit und ein Gefühl, an dem Ganzen beteiligt zu sein. Jedes Mal, wenn wir eine neue Szene anfingen, setzte ich mich also mit den Kindern in eine Ecke, sprach mit ihnen über den Text, fragte sie, ob sie das so sagen würden, die Kinder schlugen was vor, wir schrieben es auf und fingen an, die Szene zu drehen. Das kontrollierte Zulassen der Einflussnahme von außen, die Beteiligung der Schauspieler an den Szenen und vor allen Dingen das „Ermöglichen von Zufällen“ ist für mich die wohl interessanteste Erfahrung, die ich aus der Arbeit an MIN DÎT mitgenommen habe. Natürlich kann man solch eine Arbeitsweise nicht auf jede Produktion anwenden. Und ich glaube auch nicht, dass sie immer Sinn macht. Aber MIN DÎT verdankt dieser Arbeitsweise viele seiner stärksten Momente. Miraz Bezar im März 2011
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Bisher sind folgende Drehbücher in der Reihe
DEUTSCHE DREHBÜCHER erschienen:
2008 AUF DER ANDEREN SEITE Von Fatih Akin KIRSCHBLÜTEN – HANAMI Von Doris Dörrie 2009 CHIKO Von Özgür Yildirim NACHT VOR AUGEN Von Johanna Stuttmann NOVEMBERKIND Von Heide und Christian Schwochow 2010 DAS WEISSE BAND Von Michael Haneke DIE FREMDE Von Feo Aladag WHISKY MIT WODKA Von Wolfgang Kohlhaase
2011 ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND
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Von Nesrin und Yasemin Samdereli MIN DÎT – DIE KINDER VON DIYARBAKIR Von Miraz Bezar VINCENT WILL MEER Von Florian David Fitz
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