MEINENHASS BEKOMMTIHR NICHT
JanBraren,MarcBlöbaum, KilianRiedhof
JanBraren,MarcBlöbaum, KilianRiedhof
(VOUS N'AUREZ PAS MA HAINE)
7 . F a s s u n g
v o m
3 0 . A p r i l 2 0 2 0 V o n
J a n B r a r e n
M a r c B l ö b a u m
K i l i a n R i e d h o f
Basierend auf dem Roman "Vous n'aurez pas ma haine"
von Antoine Leiris (Fayard, Frankreich)
13. November 2015
Im Off ferne Straßengeräusche.
INT. ANTOINES WOHNUNG - SCHLAFZIMMER - TAG 1 1
Fahle Sonne fällt durch einen schmalen Spalt zwischen den Vorhängen. Draußen Verkehrslärm, das Rumpeln der Müllabfuhr, Fahrradklingeln.
ANTOINE, 34, ist halbwach und gerädert. Er streckt seinen Arm nach seiner schlafende Frau HÉLÈNE, 35, aus. Die brummt im Halbschlaf.
Der kleine MELVIL (ca. 2 Jahre), prallvolle Windel, tapert verschlafen ins Zimmer, die Haare aufgetürmt, Schnuller im Mund. Er quetscht sich schnaufend zwischen Antoine und Hélène, verankert seine Hand in Mamas Haaren und drückt sein Näschen in ihr Gesicht.
HÉLÈNE (brummt übermüdet)
Mmmh. Süßer, schlaf noch ´ n bisschen. Is erst sieben.
Sie streichelt Melvil über das Köpfchen, blinzelt gegen das Licht.
HÉLÈNE (CONT'D)
Warum is´ so hell?
ANTOINE
Weil´s nicht sieben ist.
Hélène richtet ihren Kopf ruckartig auf, sie tastet nach der Brille auf ihrem Nachttisch. Eine kurzer Blick auf den Wecker. 08:35 Uhr.
HÉLÈNE
Oh... Scheiße! Nicht schon wieder.
Sie legt ihre Brille zurück auf den Nachttisch, lässt ihren Kopf zurückplumpsen. Antoine wiehert leise.
INT. ANTOINES WOHNUNG - BAD, FLUR, KINDERZIMMER, KÜCHE - TAG 2 2
Morgendliche Hektik. Antoine steht mit verschränkten Armen im Flur vor dem Bad. Seine Laune ist im Keller.
ANTOINE
Das ist doch Scheiße! Im August haben wir gebucht. Seit August steht diese Reise fest.
Hélène kommt aus dem Bad, bindet sich im Gehen die Haare hoch. Der kleine Melvil in ihrem Schlepptau, immer noch im Schlafanzug.
HÉLÈNE
Denkst du vor der Kita an die Nasentropfen für Melvil.
Antoine folgt Hélène in Richtung Küche.
ANTOINE
Er braucht keine Nasentropfen!
MELVIL
Tom, Tom!
HÉLÈNE (O.S.)
Melvil, mein Schatz, wir finden dein Phantom, versprochen! (zu Antoine)
Hast du mal im Bett nachgesehen?
Antoine geht ins Kinderzimmer und sucht nach Melvils Phantom.
ANTOINE
Ein Anruf und du lässt alles stehen und liegen.
HÉLÈNE (aus der Küche)
Das ist Werbung! Wenn ich absage, bucht Adil 'ne andere Visagistin.
ANTOINE
Adil! Adil entscheidet jetzt wann wir Urlaub machen, oder was?
(sucht das Phantom)
Der ist hier nicht! Keine Ahnung, wo er ist.
HÉLÈNE (CONT'D) Wenn ich das zweimal mache, bin ich raus.
Antoine kehrt in die Küche zurück und schenkt sich einen Filterkaffee ein. Hélène befüllt den Mixer mit Obst, Melvil will mitmachen, reckt sich auf Zehenspitzen, um die Banane in den Behälter zu balancieren.
MELVIL
Banane, Banane.
Hélène nimmt Melvil auf den Arm und lässt ihn die Banane in den Mixer stopfen.
HÉLÈNE
Willst du auch anmachen?
ANTOINE
DU wolltest diesen Urlaub! Jetzt fahre ich allein nach Korsika!
Helene schaltet den höllisch lauten Mixer an. Melvil hält sich die Ohren zu. Sie setzt ihn wieder ab.
ANTOINE (CONT'D) (laut)
Ich muss mich auch mal erholen. Ich kann nicht 24 Stunden am Tag den Alleinunterhalter machen.
HÉLÈNE (gegen den Mixer-Lärm)
Ich dachte du wolltest mehr Zeit mit ihm verbringen?
ANTOINE
Was soll das denn jetzt? Natürlich will ich Zeit mit ihm verbringen, willst du mir das absprechen, oder was?!
MELVIL (quengelt)
Mama, Tomtom! Mama!
ANTOINE
Melvil, ich rede gerade mit deiner Mutter! (zu Hélène)
Ich geh nach zwei Tagen auf dem Zahnfleisch. Das mach ich nicht!
Antoine holt sich Milch aus dem Kühlschrank...
ANTOINE (CONT'D)
Dann fahren wir halt nicht hin. Canceln wir alles. (müde triumphierend) Melvil, ich hab ihn!
... und entdeckt dabei das kleine Phantom aus Plüsch, zusammengeknüllt vor dem Gemüsefach.
MELVIL
Tom! Tomtom!
HÉLÈNE (zu Melvil)
Ja! Haha! Papa hat ihn gefunden. Danke, Papa!
ANTOINE (matt)
Ja, hurra!
Melvil springt freudig mit seinem Phantom durch die Küche auf den Flur. Hélène verteilt den fertigen Smoothie auf drei Gläser, trinkt.
Sie schaut zur Uhr und dann auf den unglücklichen Antoine. Sie knurrt ihn charmant an. Er lächelt gequält mit.
HÉLÈNE
Lass uns heute Abend reden, ja?
ANTOINE
Heute Abend bist du weg.
Hélène stöhnt, hatte sie vergessen. Sie nimmt ihre große Schminktasche, deutet einen Kuss an und eilt in den Flur.
HÉLÈNE
Melvil, mein Schatz! Ich muss los! Tschüss, ihr Süßen! Hab euch lieb! Und denk an die Nasentropfen.
Rums! Die Tür fällt ins Schloss. Im Treppenhaus verhallen Hélènes Schritte.
Melvil erscheint in der Tür und sieht Antoine an - Vater und Sohn allein zuhause. Antoine zieht die Luft ein und setzt ein Lächeln auf.
Ein sonniger, warmer Novembermorgen. Melvil kaut verträumt auf seinem TomTom herum. Antoine schiebt mit einer Hand die Karre und liest eine Mail auf seinem Smartphone.
Ein Mann mit leerem Kinderwagen, der PAPA VON MAURICE, kommt ihnen entgegen und grüßt. Antoine bemerkt ihn erst, als er schon vorbei ist. Er dreht sich um und blickt in ein fremdes Gesicht.
Der andere Vater bemerkt seine Irritation und hilft ihm auf die Sprünge.
PAPA VON MAURICE
Papa von Melvil?
Antoine nickt - der andere zeigt auf sich.
PAPA VON MAURICE (CONT'D)
Papa von Maurice.
Jetzt kann Antoine ihn einsortieren. Er lächelt - ah - und grüßt zurück.
EXT. CHAMPS ELYSEES - TAG 4 4
Hélènes blauer Peugeot mitten im Verkehrsstrom auf den Champs Élysées.
Hélène am Steuer. Ein kariertes Tuch um den Hals geschlungen. Auf dem Beifahrersitz stapeln sich mehrere nicht bezahlte Strafzettel. Auf dem Rücksitz: Der Kindersitz, ihr hastig hingeworfener Mantel und ihre Make-Up-Tasche.
Aus dem Radio tönt mit voller Lautstärke “Lo Boob Oscillator” von Stereolab. Hélène nickt im Rhythmus mit dem Kopf und singt aus vollem Halse mit, euphorisiert, das ist “ihr” Lied.
Draußen beginnt ein ganz normaler Tag. Ein Kellner balanciert einen schiefen Turm aus Stühlen nach draußen, fängt an die Terrasse aufzubauen. Ein Zeitungsladen öffnet seine Rollläden. Ein Obdachloser schiebt sein ganzes Hab und Gut in einem Wagen mit sich. Eine Gruppe Jugendlicher auf dem Weg von der Bushaltestelle. Ein Mädchen springt einem Jungen auf den Rücken.
INT. ANTOINES WOHNUNG - WOHNZIMMER - TAG 5 5
An der Wand über dem Schreibtisch hängt ein Streifen Automatenfotos aus der Zeit vor Melvil: Antoine und Hélène in love, blutjung, sexy, unzertrennlich. Daneben ein Foto von Antoine mit aufgemaltem Zwirbelbart und eines von Hélène, die ihrem Prinzen einen Bart malt.
Auf dem Schreibtisch steht ein dampfender Becher Kaffee, außerdem ein Notizheft, Bücher, eine Tafel Bio-Schokolade und eine Packung Zigaretten.
Antoine sitzt vor dem aufgeschlagenen Laptop. Darauf das Titelblatt seines Romans: “Der Aufbruch”. Er will die Arbeit an seinem Roman fortsetzen, scrollt durch den Text, zieht die Luft ein und unterdrückt ein Gähnen.
In der Küche wechselt die Waschmaschine in den Schleudergang. Antoine schaut zum Fenster hinaus, auf der Suche nach Inspiration. Er trommelt mit den Fingern an seinen Hinterkopf, sieht wieder auf den Text, denkt angestrengt nach... und öffnet die Sportseite der “L´Equipe”.
INT. ANTOINES WOHNUNG - BAD - TAG 6 6
Mechanisch und abwesend hängt Antoine im Badezimmer die Wäsche auf. Wäschestück für Wäschestück landet auf dem Klappständer über der Badewanne.
Innerlich sucht er nach dem bahnbrechenden Gedanken. Dann hält er plötzlich inne, sinnt einer Idee nach, ja, das könnte etwas sein.
Eilig stürzt er aus dem Bad, um seine Entdeckung im Computer zu bannen.
Antoines Finger schweben über der Tastatur, bereit zu tippen. Aber die Idee hat sich schon wieder erledigt. Antoine liest, legt die Stirn in Falten, schüttelt den Kopf und lässt seufzend die Hände sinken.
Er steht auf und beginnt nervös durchs Zimmer zu tigern. Er wirft erneut einen Blick auf seinen Text, will etwas schreiben, nein doch nicht. Langsam nervt es, er greift nach seinen Zigaretten und geht zum Balkon.
Er steckt sich an der offenen Tür eine Zigarette an, inhaliert den Rauch, sieht durchs Geländer nach unten.
Auf der Straße blüht das Leben. Ein Moto zieht vorbei. Auf dem Trottoir filmen sich zwei junge Frauen im Gehen mit dem Smartphone, die eine findet es urkomisch.
Ein Typ mit Instrumentenkoffer auf dem Rücken kommt ihnen entgegen und trifft an der Straßenecke auf zwei Freunde.
Antoine löst sich aus der Beobachtung, blickt frustriert auf seinen Computer. Dann guckt er auf die Uhr und legt genervt seinen Kopf am Türholm ab.
Der leere Flur. Aus dem Bad kommen Stimmen. Antoine faucht gefährlich.
Dil, dil.
Im Bad rauscht das Wasser. Vor dem Spiegel steht Hélène und schminkt sich. Sie trägt einen Lederblouson und ein enges TShirt mit Aufschrift, sieht umwerfend aus.
Melvil sitzt in der Wanne, planscht wie ein Wahnsinniger mit den Händen im Wasser und johlt.
MELIVL
Dil, dil, dil.
Antoine, der auf einem Hocker neben der Badewanne sitzt, faucht wie ein wildes Tier, schnappt mit dem kleinen Gummikrokodil nach Melvil. Der kleine Mann kreischt vor Vergnügen.
ANTOINE
Der Verlag hat sich auch nicht zurückgemeldet...
MELVIL
Dil, dil...
Zu Melvils Vergnügen attackiert ihn das Krokodil schon wieder, wenn auch etwas müde.
ANTOINE (zu Hélène)
Ich bin echt nutzlos gerade! Ein Totalausfall!
HÉLÈNE (macht Witz)
Hey! So redest du nicht mit meinem Ehemann!
Antoine kennt den Spruch schon, winkt matt ab.
ANTOINE
Das ist alles selbstreferentieller Quark. Ich sollte es einfach lassen.
HÉLÈNE
Ja! Das ist mal ´ ne gute Idee.
Antoine blickt auf. Sie unterdrückt ein Grinsen.
ANTOINE Haha!
HÉLÈNE
Deine ersten drei Kapitel waren phantastisch. Mach dich doch nicht immer selber fertig.
Er steht auf und tritt von hinten an Hélène heran, stützt sein Kinn auf ihre Schulter und blickt neben ihr in den Spiegel, frustriert. Hélène lächelt süß.
HÉLÈNE (CONT'D)
Mein nutzloser und sehr dekorativer Ehemann.
Er zwickt sie zur Strafe für ihre Frechheit in die Taille. Hélène kichert, gibt ihm einen Kuss. Antoine küsst sie zurück. Er schiebt seine Hand unter ihr T-Shirt.
HÉLÈNE (CONT'D) (beim Küssen)
Obwohl, so nutzlos bist du gar nicht.
Antoine wirft einen prüfenden Blick zum Jungen. Er spielt friedlich, die Gelegenheit ist günstig.
Er zieht Hélène in den Flur, drängt sie neben der Badezimmertür an die Wand. Sie küssen sich. Das Verlangen wächst. Es klingelt an der Haustür.
HÉLÈNE (CONT'D)
Das ist Bruno.
Sie will los, aber Antoine hält sie fest.
ANTOINE
Das kann er ab. Der hat mich so oft warten lassen!
HÉLÈNE
Ich komme direkt nach dem Konzert, nicht einschlafen!
ANTOINE
Ja. Aber ich will, dass du nach Bier und Kippen stinkst.
HÉLÈNE
Das war der Plan.
Es klingelt wieder, dieses Mal länger und ungeduldiger.
INT. ANTOINES WOHNUNG - WOHNZIMMER, BALKON - ABEND 9 9
Antoine hält Melvil in den Armen. Durch das Wohnzimmerfenster winken sie Hélène und BRUNO (35, Arbeitskollege von Hélène, Freund von Antoine) zu, die unten auf dem Bürgersteig sind.
Bruno ruft etwas, das wir nicht verstehen. Hélène macht dazu eine unverständliche Geste, als drücke sie auf ein Feuerzeug. Antoine öffnet das Fenster und geht auf den Balkon.
HÉLÈNE
Ich habe die Autoschlüssel vergessen! In meiner kleinen braunen Tasche am Eingang!
Antoine setzt Melvil ab, verschwindet in der Wohnung und kommt mit den Schlüsseln zurück. Er wirft sie Bruno zu.
ANTOINE
Fang!
Bruno streckt sich, um sie zu fangen. Antoine feixt.
ANTOINE (CONT'D)
Und Finger weg von meiner Frau!
Bruno wirft ihm einen Kuss zu.
BRUNO
Du hast ja nie Zeit für mich!
Hélène winkt ihnen zu, bevor die beiden wie zwei Teenager davonrennen.
Antoine sitzt mit Melvil auf dem Schoß im Fat Boy und liest ihm eine Gutenacht-Geschichte vor. Melvil flattern schon die Lider, er schläft fast ein.
ANTOINE
Die kleine Maus wanderte weiter. Das war ein aufregender Tag gewesen. Sie hatte eine Schnecke kennengelernt, einen Marienkäfer und sogar eine riesige Kuh.
MELVIL
Muuh!
ANTOINE
Genau. Die Kuh macht Muh...
Er blättert um, schaut unauffällig auf seine Uhr. Er hat noch die Hälfte des Buches vor sich.
ANTOINE (CONT'D)
Es wurde Abend. Zeit für die kleine Maus nach Hause zurückzukehren. Aber sie wusste den Weg nicht mehr und langsam wurde es dunkel.
Plopp. Melvil rutscht der Schnuller aus dem Mund.
Antoine hat sich nur schnell eine Strickjacke übergeworfen und huscht in seinen Schlappen über die Straße vor dem Haus. Er hält sein Portemonnaie und das Babyfon in der Hand.
Eine Gruppe junger Leute zieht singend durch die Straße. Antoine verschwindet auf der gegenüberliegenden Seite in einem kleinen Kiosk.
Auf dem kleinen Fernseher an der Wand läuft die französische Nationalhymne. Die meisten Spieler singen mit. Der VERKÄUFER gestikuliert, die Zigaretten für Antoine in der Hand, ohne sie auf den Tresen zu legen.
VERKÄUFER (echauffiert sich)
Immer hinten drin stehen und dann lange Bälle nach vorne! Der denkt, dass er so Weltmeister werden kann. So wirst du doch nicht Weltmeister!
Antoine, leicht ungeduldig, legt einen Zehner auf den Tresen.
Gegen die Deutschen wird’s schon reichen.
grummelnd) Jajaja.
Er legt die Zigaretten auf den Tresen. Antoine schiebt die Zigaretten und das Babyfon in die Taschen seiner Strickjacke.
INT. ANTOINES WOHNUNG - DIV. RÄUME - NACHT 13 13
Antoine sitzt angezogen auf seinem Bett im Schlafzimmer. Er liest im Schein der Nachttischlampe ein Buch, sieht auf den Titel, schüttelt den Kopf - was für ein Scheiß!
Auf dem Nachttisch flammt sein Smartphone auf. Er unterbricht seine Lektüre und schaut auf das Display. Eine SMS von Alexandre:
“Hallo, alles gut? Seid ihr zu Hause?”
Antoine runzelt die Stirn. Er versteht nicht, und es interessiert ihn auch nicht wirklich. Er liest weiter.
Eine Polizeisirene fährt draußen vorbei. Dann noch eine. Nach einigen Sekunden erhält er eine weitere SMS. Wieder von Alexandre. Genervt greift Antoine nach seinem Smartphone und liest:
“Seid ihr in Sicherheit?”
Er ist verdattert, schreibt zurück: “Ja, warum?”, schickt die SMS ab, denkt kurz nach. Irgendetwas muss gerade passiert sein.
Antoine steht auf und schleicht auf Zehenspitzen hinüber ins Wohnzimmer - bloß nicht den Kleinen aufwecken. Im Wohnzimmer setzt er sich aufs Sofa und schaltet mit der Fernbedienung den Fernseher ein.
Auf dem Bildschirm sind Live-Aufnahmen von TF 1 zu sehen: Unten läuft ein Spruchband: “Attentat im Stade De France.” Die Bilder sind wenig aussagekräftig. Die Zuschauer stehen auf dem Rasen.
Aber da ist noch etwas. Einige Zuschauer starren auf die Bildschirme im Stadion. Sie wirken schockiert, halten sich die Hand vor den Mund im Angesicht des Schreckens.
Antoine rückt näher und erhöht die Lautstärke.
FERNSEHREPORTER
... il y a beaucoup d'enfants qui pleurent, qui sont a pleurer.
(MORE)
Les service de sécurité essayent de calmer tout le monde. On a demander aux gens de re rentre dans le stade et attendre dans le Stade de France, à l'intérieur... On a entendu effectivement deux lointains explosions pendant on a commenté ce match... Tous que je pouvais dire, ce que c'est terrible, voilà.
... es gibt viele Kinder die weinen, die geweint haben. Die Sicherheitskräfte versuchen alle zu beruhigen... Man hat die Leute gebeten zurück ins Stadion zu gehen und dort zu warten. Also.... Tatsächlich haben wir zwei weit entfernte Explosionen gehört während wir das Spiel kommentiert haben. Alles was ich sagen kann ist, dass es schrecklich ist. So.
Und dann bleibt das viel zu schnell laufende Spruchband am unteren Bildschirmrand stehen:
“ATTENTAT IM BATACLAN”
Antoine erstarrt, reißt die Augen auf. Adrenalin flutet seinen Körper. Er schnappt sein Smartphone mit zitternden Händen und ruft Hélène an, ohne die Augen vom Fernseher abzuwenden.
Es klingelt. Er wartet in höchster Anspannung. Von der Mailbox ertönt Hélènes heitere Stimme.
HÉLÈNE (MAILBOX)
Hallo, dies ist die Mailbox von Hélène Muyal. Nachrichten bitte nach dem Pieep!
Zum Schluss hört man noch ihr Lachen, ein kurzes Getuschel, unterbrochen durch den Piepton.
ANTOINE
Ich bin´s... ist alles in Ordnung bei dir? ... Rufst du mich an!? Bitte jetzt!
Er legt auf, starrt intensiv aufs Display. Nach drei Sekunden versucht er es wieder... Wieder ihre Mailbox. Sofort wählt er eine andere Nummer. Eine andere Mailbox.
BRUNO (MAILBOX)
Hier ist Bruno... und jetzt kommst du!
Auf TF 1 immer noch Bilder aus dem Stadion. Antoine schaltet um, er braucht mehr Informationen.
Auf FRANCE 2 läuft ein Livebericht vom Bataclan. Fassungslos und mit versteinerter Miene sieht er die Fassade des Konzertsaals, Sondereinsatzkommandos, Rettungswagen.
... Boulevard Richard Lenoir, à quelques centaines du Bataclan. La salle du spectacle est cerner par la police . Il y a déjà eu au moins quinze morts et il y aurait encore un parts du publique prisonnières à l'intérieur. Plusieurs hommes ont fait éruption plutôt avec des fusils-mitrailleurs. Selon le témoignages recueillir au téléphone, ils ont crié – Allahu Akbar – dieu est grand, avant de ouvrir la feu sûr la foule.
... Boulevard Richard Lenoir, einige hundert Meter vom Bataclan entfernt. Der Konzertsaal ist umstellt von Polizeikräften. Es gibt bereits mindestens fünfzehn Tote und ein Teil des Publikums ist immer noch im Saal gefangen. Mehrere Männer sind mit Maschinengewehren eingedrungen. Nach einer telefonischen Zeugenaussage haben sie Allahu Akbar – Gott ist groß – gerufen, bevor sie das Feuer auf die Menge eröffnete haben.
Antoine hält sich voller Entsetzen die Hand vor den Mund. Er sitzt starr und mit weit aufgerissenen Augen da.
Er wählt den Notruf der Polizei.
AUTOMATISCHE ANSAGE (O.S.)
Vous êtes en relation avec le 17 police secours. Votre numéro de téléphone est identifié et votre communication sera enregistré. Tout abus sera sanctionner. Ne quitter pas! Un operateur va prendre votre appel!
(es piept, die Ansage beginnt von vorne) Vous êtes en rela...
Antoine legt auf. Leichenblass. Sein Telefon klingelt, er starrt aufs Display - es ist leider bloß Alexandre - er geht ran. Steht auf.
ANTOINE Ja?!
ALEXANDRE (O.S.)
Hier ist Alex. Wo bist du? Bist du zuhause? Ist alles in Ordnung?
ANTOINE
Hélène ist im Bataclan.
Schweigen in der Leitung. Nur Antoines Atem ist zu hören.
INT. ANTOINES WOHNUNG - KINDERZIMMER, FLUR - NACHT 14 14
Melvil sitzt im dunklen Zimmer aufrecht in seinem Bettchen. Die Haare kleben verschwitzt an seinem Köpfchen.
Etwas hat ihn geweckt. Aus dem Flur dringen Licht und leise Stimmen. Antoine redet mit einem Mann. Die Tür klingelt schnarrend. Jemand macht auf. Eine Frauenstimme ertönt.
INT. ANTOINES WOHNUNG - FLUR, WOHNZIMMER, KÜCHE - NACHT 15 15
JULIE (37, Antoines Schwester), tatkräftig, rational, angestrengt, hängt ihren Mantel an die Garderobe.
JULIE
Waren sie zu zweit, oder waren da Freunde dabei.
Sie streicht sich die Haare aus der Stirn und blickt in das aufgewühlte Gesicht ihres Bruders. Antoine hängt am Telefon.
ALEXANDRE
Zu zweit.
ALEXANDRE (28, Antoines jüngerer Bruder), hilfsbereit, empfindsam, zurückhaltend, ist schon da. Er schaut mit halben Auge auf den laufenden Fernseher.
ANTOINE
Er hat sich bei Pauline gemeldet. Aber jetzt geht er nicht mehr ans Telefon!
Er hat niemanden erreicht, starrt verzweifelt aufs Telefon.
ANTOINE (CONT'D)
Warum geht der nicht ran. Der muss doch mal rangehen...
Julie tauscht einen besorgten Blick mit Alexandre.
JULIE
Du, jetzt warte mal. Lass uns kurz nachdenken. Es gibt sicher ´ ne Erklärung.
ALEXANDRE
Vielleicht ist sie längst draußen. Vielleicht hat sie auch in der Aufregung ihr Handy verloren.
ANTOINE
Ich kann hier nicht einfach rumsitzen. Ich muss sie suchen.
Hast du schon bei der Polizei angerufen? Ich ruf da jetzt mal an...
Das hab ich doch längst gemacht!
Schüsse aus dem Fernseher. Sie wechseln ins Wohnzimmer.
Im TV zeigen sie Bilder vom Polizeieinsatz in der Rue Oberkampf:
Menschen, die aus dem Bataclan entkommen sind, von den Einsatzkräften mit goldenen Rettungsfolien versorgt.
Sicherheitskräfte hinter einer Hausecke verschanzt. Sie werden aus dem Bataclan beschossen. Sie erwidern das Feuer. Es ist wie im Krieg. Mitten in Paris.
Alexandres Telefon klingelt, er guckt aufs Display, er muss da rangehen, wendet sich zum Telefonieren ab.
Ich kann jetzt nicht, ich bin bei meinem Bruder...ja, ja, mir geht´s gut! Ja, ich melde mich, ciao.
Je me trouve juste devant le Bataclan... il y a encore des tirs. Nous savons que à l'intérieur il y a des personnes qu'il sont blessés, qui sont bloqués a l'intérieur et qu'il y a également des coups de feu à l'intérieur du salle de spectacle... les blessés sont nombreux, les victimes également.
Ich befinde mich direkt vor dem Bataclan... Es sind immer noch Schüsse zu hören. Wir wissen, dass es Verletzte gibt, dass sie im Gebäude eingesperrt sind, und dass auch im Saal Schüsse fallen die Zahl der Verletzten ist groß, ebenso die Zahl der Opfer.
ANTOINE
Gib mir deinen Wagenschlüssel!
Alexandre fummelt seinen Schlüssel aus der Tasche.
ALEXANDRE
Ich komm mit dir.
JULIE
Nein. Ihr bleibt bitte hier. Es ist zu gefährlich.
Das ist mir scheißegal!
JULIE
Die haben auf Twitter gesagt, man soll zu Hause bleiben. Du kannst auch nichts machen.
ANTOINE
Ich werde sie finden, und wenn nicht, dann finde ich jemanden, der... Jemanden, der was weiß.
Ein Geräusch aus dem Flur. Julie entdeckt Melvil vor dem Kinderzimmer, er reibt sich die müden Äuglein.
JULIE
Melvil, Schätzchen, waren wir zu laut?
Sie nimmt ihn auf den Arm, küsst ihn auf die Nase und trägt ihn zurück ins Kinderzimmer.
JULIE (CONT'D)
Komm, Tante Julie bringt dich schnell wieder ins Bettchen.
Antoine versucht noch einmal, Bruno zu erreichen und plötzlich ist er dran!
ANTOINE (erleichtert)
Bruno?! ...
BRUNO (O.S.) (wie aus einer anderen Welt)
Ja... ja.
ANTOINE
Wo seid ihr? Seid ihr draußen?
Im Hintergrund ist ein Rauschen zu hören, wie von einem Zug. Antoine hält sich sein freies Ohr zu, um besser hören zu können, weicht in die dunkle Küche aus. Er brüllt fast ins Telefon.
ANTOINE (CONT'D)
Bist du noch dran?
Alexandre folgt Antoine in die Küche, versucht etwas zu verstehen.
BRUNO (O.S.)
Ich bin... oh Gott, ich blute... Die bringen mich ins Krankenhaus...
ANTOINE
Ist Hélène bei dir?
BRUNO (O.S.) Was?
ANTOINE
Ob Hélène bei dir ist?
Laute Stimmen im Hintergrund.
BRUNO (O.S.)
Nein, nein. Sie war neben mir. Sie ist auch verletzt.
ANTOINE
Aber wo ist sie jetzt? Ist sie draußen!? ... Bruno?! Was ist mit Héléne? ...
Alexandre steht mit angehaltenem Atem in der Küchentür. Die Leitung steht noch, aber man hört nur undeutliche Stimmen aus dem Hintergrund.
BRUNO (O.S.)
Ich weiß es nicht, ich kann... ich kann nichts sagen...
ANTOINE Was? ...Bruno?!
Ein Tuten in der Leitung. Das Gespräch ist weg. Antoine versucht sofort wieder anzurufen. Doch diesmal geht nur Brunos Mailbox ran.
BRUNO (MAILBOX)
Hier ist Bruno ... Und jetzt kommst du!
Er geht einfach nicht mehr ran. Brunos Verstörtheit hat Antoines Panik noch gesteigert.
Auch Alexandre ist jetzt leichenblass und den Tränen nahe, er hat alles mitgehört, nickt Antoine zu - dann also nach ihr suchen.
EXT. PÉRIPHÉRIQUE - NACHT 16 16
Die nächtliche Périphérique im entsättigten Gelb der Straßenlaternen, kaum Verkehr.
Auch die Straßen links und rechts der Stadtautobahn wirken menschenleer.
Alexandre und Antoine sprechen kein Wort während der Fahrt. Antoine starrt auf die Straße. Lauscht aufmerksam dem Radio.
... Le périmètre est toujours bloquer, c'est désormais ce qu'on peut dire ce que c'est désormais un lourds silence après ce ballet des pompiers. Ce que je pouvais dire ce que il y a quarante minute, c'était vers minuit on a entendu, donc, des tires de rafale suivi de six-sept gros explosion. Et puis silence...
... der Bereich um das Bataclan ist immer noch gesperrt. Was man sagen kann, zur aktuellen Stunde, nach dem Hin und Her der Feuerwehrkräfte, ist, dass eine erdrückende Stille herrscht. Vor vierzig Minuten, gegen Mitternacht, haben wir Schüsse gehört gefolgt von sechs bis sieben lauten Explosionen Und dann Still
In der Ferne ragt ein großes, halb beleuchtetes, grünes Gebäuden auf: das Georges Pompidou-Krankenhaus.
INT. POMPIDOU-KRANKENHAUS - EINGANGSHALLE - NACHT 17 17
Antoine ist in eine Diskussion mit der überforderten REZEPTIONISTIN verwickelt. Hinter ihm staut sich eine ungeduldige Schlange. Eine SCHWARZE FRAU telefoniert laut. Irgendwo ertönen hastige Schritte. Türen schlagen. Die nervöse Anspannung ist greifbar.
ANTOINE
Aber kann es nicht sein, dass meine Frau schon hier ist und nur noch nicht im Computer?
REZEPTIONISTIN #1 (überdeutlich)
Sie ist nicht System! Das heißt, sie ist nicht hier!
ANTOINE (fleht)
Rufen Sie doch bitte einmal kurz auf der Station an... Sie trägt einen Lederblouson und ein T-Shirt mit Aufdruck...
REZEPTIONISTIN #1
Geben Sie bitte den Tresen frei, Monsieur.
Antoine schluckt und kämpft mit den Tränen. Die Frau aus der Schlange schiebt sich neben ihm an den Tresen.
SCHWARZE FRAU
Entschuldigung, Madame, ich brauche Hilfe für meinen Mann...
Kann ich Ihnen denn wenigstens meine Telefonnummer dalassen?
REZEPTIONISTIN #1
Monsieur. Nein. Es macht keinen Sinn. Die Opfer werden momentan überall hingebracht. In alle Krankenhäuser. Fahren Sie nachhause...
Antoine dreht sich gereizt ab. Er verliert hier nur seine Zeit.
REZEPTIONISTIN #1 (CONT'D)
...und rufen Sie die numéro de crise an.
Die Stadt leert sich. Die Straßen sind wie ausgestorben. Ein Mann schließt hastig die Rollläden seines kleinen Einkaufsladens.
Antoine starrt wie hypnotisiert auf die Fahrbahn. Das Handy am Ohr. Das Autoradio läuft leise, das Navigationsgerät gibt den Befehl zum Abbiegen.
HÉLÈNE (MAILBOX)
Hallo, dies ist die Mailbox-
Wieder nur ihre Mailbox. Antoine legt auf, vergräbt sein Gesicht in den Händen und stöhnt. Alexandre beobachtet ihn aus dem Augenwinkel. Er legt ihm unbeholfen eine Hand auf die Schulter.
Irgendwo hinter ihnen hört man einen Krankenwagen vorbei fetzen.
Antoine steht am verlassenen Tresen der Notaufnahme des Bichat-Krankenhauses.
Gespenstische Ruhe im Foyer. Die Menschen im Wartebereich starren auf einen Monitor unter der Decke, auf dem eine LiveNachrichtensendung läuft, andere blicken gebannt auf ihre Handys.
Antoine zuckt erwartungsvoll herum. Eine Tür öffnet sich Endlich kommt die junge REZEPTIONISTIN #2 zurück.
REZEPTIONISTIN #2
Es tut mir leid. Ihre Frau ist auch nicht auf der Intensivstation.
Antoine lässt die Schulter hängen.
REZEPTIONISTIN #2 (CONT'D)
Ich kann Ihnen leider nicht helfen.
ANTOINE
Aber das... was soll ich denn jetzt...
REZEPTIONISTIN #2
Versuchen Sie es unter der numéro de crise.
Sie schreibt eine Nummer auf einen Block.
ANTOINE
Das hab ich gemacht! Die wissen nichts.
Die Rezeptionistin lächelt untröstlich. Sie würde Antoine gerne helfen.
REZEPTIONISTIN #2
Dann sind die Daten Ihrer Frau vielleicht noch nicht erfasst.
Sie schiebt Antoine den Zettel mit der Telefonnummer über den Tresen.
REZEPTIONISTIN #2 (CONT'D)
Rufen Sie einfach nochmal dort an. Das sind die einzigen, die einen Überblick haben.
Ihr Telefon klingelt. Sie geht mit einem entschuldigenden Blick ans Telefon, sie muss weiterarbeiten. Antoine bleibt hilflos am Tresen stehen.
REZEPTIONISTIN #2 (CONT'D) (in den Hörer) Einen Moment.
Sie hält den Hörer zu, beugt sich zu Antoine, senkt die Stimme, denn ihr Tipp widerspricht ihren Anweisungen.
REZEPTIONISTIN #2 (CONT'D)
Gehen Sie ins Salpêtrière. Da werden die meisten aus dem Bataclan hingebracht.
Antoine nickt ihr dankbar zu und stößt sich vom Tresen ab.
EXT. STRASSEN VON PARIS - NACHT 20 20
Antoines Handy zeigt drei Uhr an. Kurz vor einer Kreuzung steht ein blinkendes Polizeiauto mitten auf der Fahrbahn.
Daneben ein Polizist mit kugelsicherer Weste und Maschinengewehr.
Alexandre bremst. Der Polizist geht auf sie zu und schüttelt demonstrativ den Zeigefinger: Stopp! Hier geht es nicht weiter! Alexandre öffnet das Fenster.
ALEXANDRE
Entschuldigung, wir wollen zum Salpêtrière...
POLIZIST
Hier geht´s nicht weiter. Kehren Sie um, Monsieur.
ALEXANDRE
Wir suchen meine Schwägerin, sie war im Bataclan.
Der Polizist spricht ins Funkgerät, Antoine steigt aus.
ANTOINE (zu Alexandre) Warte hier auf mich.
Er rennt los. Der Polizist sieht zu, wie er in der Dunkelheit verschwindet.
Antoine rennt durch leere Straße. Keine Passanten, keine Autos. Er zieht die Geschwindigkeit an und rennt nun mitten auf der Fahrbahn. Ein bizarres Bild der Freiheit in einer erstarrten Stadt.
INT. HÔPITAL SALPÊTRIÈRE - GANG, FOYER NOTAUFNAHME - NACHT 21 21
Antoine eilt einen leeren Gang entlang, biegt um eine Ecke. Die Flügeltür unter dem Schild “Urgence” schwingt auf.
Antoine betritt das Foyer der Notaufnahme. Im Wartebereich stehen ein Dutzend Menschen, in Rettungsfolie eingehüllt.
Voller Entsetzen registriert Antoine die traumatisierten Gesichter, die gehetzten, panischen Blicke. Eine junge Frau hat einen riesigen Blutfleck auf ihrer Hose. Antoine scant die Verletzten ab. Hélène ist nicht dabei.
Er wendet sich an den Tresen. Die Rezeptionistin telefoniert angespannt.
Die Rezeptionistin winkt ab - jetzt nicht, bitte! Eine Krankenschwester eilt hinter Antoine vorbei. Er folgt ihr.
ANTOINE (CONT'D)
Entschuldigung, ich suche meine Frau, Hélène Leiris. 170 groß...
Die Krankenschwester schüttelt den Kopf, eilt weiter in einen Vorraum. Antoine folgt, hält dann geschockt inne.
Im Vorraum stauen sich die Einlieferungen: vier Schwerverletzte auf Rolltragen. Die Übergabe der Rettungskräfte an die Ärzte verläuft leise, in höchster Konzentration.
NOTARZT ... Eintrittsstelle im abdominalen Bereich.
ARZT
Okay, runter ins Trauma-Center.
Sie wenden sich dem nächsten Verletzten zu. Antoine verharrt in der Tür zum Vorraum, kann Hélène nicht entdecken. Doch er muss weiter auf die Verletzen starren.
NOTARZT
... Trauma durch Schusswaffe. Keine Austrittsstelle sichtbar. Glasgow Score 4, Hämodynamik instabil...
ARZT (laut) Monsieur!
Ein Arzt schiebt Antoine beiseite. Eine Trage wird vorbeigeschoben. Antoine verharrt, paralysiert. Wie durch Glas von der Wirklichkeit getrennt.
Alexandres Auto gleitet durch einen Tunnel im Herzen von Paris. Neonlichter fließen über Antoines erstarrtes Gesicht. Er schaut aufs Display seines Handys. Es ist 7 Uhr. Auch Alexandre ist gezeichnet von der Nacht.
ALEXANDRE
Wir können noch mal in die Banlieus fahren. Vielleicht nach Issy ins Corentin Celton.
ANTOINE
Melvil braucht sein Fläschchen. Wir... müssen nach Hause.
Alexandre nickt, beschleunigt sanft.
Nebenan läuft der Fernseher. Hollande hält eine Rede an die Nation.
... c'était un acte de guerre, qui a été commis par une armée terroriste Daesh, une armée djihadiste contre la France... ad lib.
... es war ein Akt des Krieges, der von einer terroristischen Armee des islamischen Staats begangen wurde, eine dschihadistische Armee, gegen Frankreich...
Das Licht der Vorhänge färbt alles orange. Antoine steht mitten im Raum. Seine Sinne extrem geschärft, der Körper voller Adrenalin, sprungbereit wie bei großer Gefahr.
Er hört die Stimmen von Alexandre, Julie und Hollande. Alles ist gleich laut, alles kann wichtig sein. Er wartet auf die erlösende Nachricht, dass sie lebt. Noch einmal versucht er Bruno anzurufen. Aber sein Telefon ist ausgeschaltet.
Melvil ist in überdrehter Stimmung, trabt mit einem nervigen kleinen Soundbook durchs Wohnzimmer und haut dem telefonierenden Alexandre auf den Po.
Antoine tritt in die Zwischentür.
Melvil, scht!
Aber Melvil ignoriert ihn, entwischt laut trampelnd und singend in den Flur. Antoine will ihm den Weg abschneiden, öffnet die Tür zum Flur.
Im Flur vor der Küche stehen Alexandre und Julie. Beide telefonieren. Melvil flitzt an ihnen vorbei in die Küche.
JULIE
Kann ich Ihnen meine Nummer dalassen, dass Sie mich zurückrufen?
Antoine lauscht angespannt den Geschwistern.
ALEXANDRE
Das ist mir bewusst, Monsieur. Aber bei der número de crise wissen die auch nichts über sie.
Julie, die auf halbem Ohr mitgehört hat, rupft Alexandre unsanft am Arm, hält kurz ihr Telefon zur Seite.
Lass dich nicht abwimmeln.
ALEXANDRE
Da hab ich schon angerufen. Die wissen nichts!
Alexandre nickt überfordert, wendet sich ab.
ALEXANDRE (CONT'D) (ins Telefon) Ja, ja. Verstehe...
Am Ende des Flurs in der Küche sitzt SYLVIE (62, Hélènes Mutter). Sie wirkt bedrückt, hat einen Brei für Melvil zusammengerührt. Melvil krabbelt auf ihren Schoß, kaut an ihrer Nase. Sylvie muss lächeln. Seine Fröhlichkeit ist ein kleiner Trost.
SYLVIE
Soll Oma gleich mit dir auf den Spielplatz gehen, hm?
Antoine zieht sich in Richtung Balkon zurück. Im Wohnzimmer passiert er ANNIE (41, Hélènes Schwester), die ebenfalls telefoniert.
ANNIE ... genau, ich bin die Schwester von Hélène, Annie. Wir kennen uns von der Hochzeit. Ja, ja...
Antoine zündet sich auf dem Balkon eine Zigarette an. Hinter ihm im Wohnzimmer flimmern stumm arabische Schriftzeichen über den Fernseher - sie zeigen ein Bekennerschreiben des IS.
ANNIE (CONT'D)
Was? Nein. Ich suche nur nach ihr. Ist sie vielleicht bei euch?
Unten auf der Straße schlägt eine Autotür zu. Antoine blickt durch die Gitterstäbe des Geländers und entdeckt eine Frau mit dunklen Haaren und einem hellen Trenchcoat. Sie ist aus einem Taxi ausgestiegen.
Er beugt sich über das Geländer, aber die Frau ist entweder im Hof, oder im Haus verschwunden. Hélène? Antoine drückt eilig seine Zigarette aus und stürzt ins Wohnzimmer, vorbei an Annie, Julie und Alexandre.
INT. ANTOINES WOHNUNG - TREPPENHAUS - TAG (CONTINUOUS) 24 24
Antoine steht im Treppenflur und horcht und wartet voller Hoffnung.
Der Aufzug fährt abwärts und hält im Erdgeschoss. Jemand öffnet die Tür, bevor diese sich lautstark wieder schließt.
Der Aufzug setzt sich in Bewegung, kommt näher. Antoine schließt die Augen und spricht ein stummes Gebet. Doch dann zieht er vorbei, hält ein Stockwerk höher. Jemand steigt aus und klingelt beim Nachbarn.
Die Tür öffnet und schließt sich, eine hohe Frauenstimme ertönt. Antoine geht mit hängenden Schultern zurück in seine Wohnung.
Melvils Atem geht ruhig und gleichmäßig. Er ist kurz vorm Einschlafen. Er hält das Kuschel-Phantom fest in den Händchen. Antoine singt “Au clair de la lune”.
ANTOINE
Au clair de la lune, on n’y voit qu’un peu. On chercha la plume, on chercha du feu. En cherchant d’la sorte je n’sais c’qu’on trouva.
Melvil fallen die Augen zu. Die Spannung in seinem kleinen Körper lässt nach, er schläft ein.
ANTOINE (CONT'D)
Mais je sais qu’la porte sur eux se ferma.
Antoine hört auf zu singen. Aus dem Korridor dringen Stimmen und Schluchzer. Antoine verharrt wie gelähmt, lauscht atemlos auf die Geräusche aus dem Flur. Er weiß, was jetzt kommt.
Der Flur ist schwach beleuchtet. Antoine tritt aus dem Kinderzimmer. Annie weint stumm. Sie hält noch das Telefon in der Hand. Alexandre ist vollkommen erstarrt. Julie steht völlig verloren daneben. Sie weint, ihre Unterlippe wackelt.
Annie blickt Antoine an, schüttelt den Kopf, als wolle sie sagen: “Es ist vorbei”, ohne die Wörter zu finden. Sylvie findet den Mut, es Antoine gegenüber auszusprechen.
SYLVIE
Das war die Gerichtsmedizin. (flüstert)
Hélène ist... tot.
Antoine starrt Sylvie unverwandt an, senkt den Blick. Setzt sich in Bewegung, will alleine sein.
Sylvie streckt ihm die Arme entgegen. Doch Antoine weicht ihr aus und geht ins Wohnzimmer.
Antoine steht mitten im dunklen Wohnzimmer, allein mit sich, wie betäubt. Die Nachricht dringt nicht durch.
Alles ist unwirklich. Die Straßengeräusche, sein eigener Atem. CUT TO:
Antoine steht auf dem Balkon. Er lehnt mit aschfahler Miene am Geländer. Er starrt in die Tiefe. Sein Blick wird ganz leer. Dann lässt er sich vom Balkon fallen.
Antoine steht unverändert mitten im Wohnzimmer.
Er schüttelt ungläubig den Kopf. Die Welt da draußen vor dem Fenster, sie dreht sich weiter.
Pechschwarze Nacht. Antoine schreckt aus flachem Schlaf, ist sofort knallwach.
Das einzig sichtbare Licht kommt von der LED-Anzeige des Radioweckers: 4:31 Uhr.
Hélènes Bett ist leer geblieben. Antoine starrt auf die Brille auf den Nachttisch. Sie liegt da, wie Hélène sie am Freitagmorgen abgelegt hat. Es ist unfassbar.
Unten auf der Straße beschleunigt ein Wagen. Blaulichter zucken über die Zimmerdecke, die sich in diesem Moment auf Antoine herabzusenken scheint.
INT. ANTOINES WOHNUNG - WOHNZIMMER - NACHT 31 31
Flackerndes blaues Fernseher-Licht und die Stimme eines Nachrichtensprechers erfüllen das Wohnzimmer. Antoine sitzt auf dem Sofa, apathisch, schaut und hört kaum hin.
Sie zeigen die Wiederholung einer Nachrichtensendung vom Tag: Fassungslose Pariser vor den Orten der Attentate. Menschen weinen, halten sich. Ein Meer aus Kerzen.
Chaque un tend de réaliser
l'horreur qui se dérouler hier soir. Des bougies, des fleurs, quelque mots sur un papier, partout le choque est immense. Et l'émotions à fleur de peau. Alle versuchen den Horror zu verstehen, der sich gestern ereignet hat... Kerzen, Blumen, ein paar Worte auf einem Papier, der Schock ist überall groß. Und die Gefühle brechen sich ihre Bahnen...
Ein neuer Beitrag lässt Antoine aufhorchen.
COMMENTATEUR TÉLÉ
... les enquêteurs ont la convictions que cette Clio noir a servit a l'une des terroristes, à telle était utilisé par le commando qui seront du au Stade de France. La clio a été louer par Salah Abdeslam...
... Die Ermittler sind überzeugt, dass dieser schwarze Clio einem der Terroristen dazu gedient hat, ein Kommando zum Stade de France zu fahren... Er wurde von Salah Abdeslam gemietet...
Plötzlich werden Fotos der Attentäter eingeblendet. Erst von Salah Abdeslam, dann von seinen Komplizen.
Der Anblick der Mörder trifft Antoine unvorbereitet. Er spürt den Hass in sich aufsteigen, starrt auf den Fernseher und kaut auf seinem Daumennagel.
COMMENTATEUR TÉLÉ (CONT'D)
... le terroriste encore en vie et recherché par tout les polices d'europe. Par ailleurs, on commence ce matin en savoir plus sur l'organisation des terroristes...
... der Terrorist der von der Polizei in ganz Europa gesucht wird... Außerdem sind neue Details über die Infrastruktur der Terroristen bekannt geworden...
Der Daumennagel reißt ein. Es blutet. Antoine nimmt kaum Notiz. Der Horror hat ihn fest im Griff, er kann nicht wegsehen.
INT. ANTOINES WOHNUNG - BAD - DÄMMERUNG 32 32
Draußen dämmert es. Grelles kaltes Licht von der Neonlampe über dem Spiegel. Antoine wickelt sich Pflaster um den eingerissenen Daumennagel.
Er stützt sich auf dem Rand des Waschbeckens ab, starrt in den Spiegel, auf sein blasses Gesicht, die unterlaufenen Augen. Als würde ihm erst der Anblick des eigenen Spiegelbilds seine fatale Lage klarmachen.
Melvil ist schon wach, brabbelt im Hintergrund aus dem Flur.
Antoine senkt den Blick, er versucht seine Kräfte zu sammeln, blickt noch einmal in den Spiegel, nickt sich unmerklich zu. Dann verlässt er das Bad.
INT. ANTOINES WOHNUNG - KÜCHE - TAG 33 33
Magnetische Buchstaben halten das Familienfoto an der Kühlschranktür: Hélène und Antoine auf Korsika. Sie lächeln glücklich in die Kamera.
Der Mixer läuft. Tapfer versucht Antoine, den Tagesrhythmus aufrecht zu erhalten.
Es ist die zweite Nacht ohne Schlaf und ohne Hélène. Antoines Blick ist von Trauer ausgehöhlt. Melvil mustert ihn mit großen Augen vom Kinderstuhl aus. Eine leichte Unruhe im Blick. Irgendwas ist anders heute.
Von der Tür aus beobachtet Julie voller Sorge und Mitgefühl ihren Bruder. Er wirkt so zerbrechlich, dass sie es kaum erträgt: Wie er mit zittriger Hand Hélènes Frühstücksplan am Kühlschrank studiert: Walnuss- und Leinöl, etwas Agavendicksaft, Nüsse und Hafermilch.
Antoine nimmt den Deckel hoch, ohne den Motor abzustellen. Sofort spritzt der Brei heraus. Melvil findet es komisch, er lacht künstlich.
Antoine flucht leise, schließt den Deckel und macht den Motor aus. Julie greift einen Lappen, will den Brei aufwischen, aber Antoine nimmt ihr den Lappen aus der Hand.
JULIE
Lass mich dir doch helfen!
Stoisch verrichtet Antoine seine Arbeit. Er schafft das hier alleine! Es ist sein Job!
Sonntag Morgen. Die Stadt ist wie ausgestorben. Die Stille ist fast unheimlich. Man hört die Vögel zwitschert. Selbst Cafés sind geschlossen. Auf den Außentischen stehen noch Gläser - unverändert seit Freitagnacht.
Antoine schiebt den Kinderwagen mit Melvil durch die Straße. Voll konzentriert auf sein Ziel, den Spielplatz. Jetzt nicht straucheln.
Ein verlassener Spielplatz. Keine Autos. Antoine sitzt auf einer Bank und starrt angespannt vor sich hin.
Melvil spielt im Sandkasten, füllt ein Eishörnchen aus Plastik mit Sand und entleert es wieder.
Irgendwo knallt eine Tür. Stimmen. Antoine entdeckt zwei Soldaten, die mit Maschinengewehren patrouillieren.
MELVIL
Papa?
Antoine reagiert mit Verspätung auf Melvil, der mit einem Eishörnchen vor ihm steht.
MELVIL (CONT'D)
Papa, Eis.
Ganz langsam kehrt Antoine aus seiner angespannten Beobachtung in die Realität zurück. Melvil schaut ihn erwartungsvoll an.
Antoine muss sich zusammenreißen, um Normalität zu behaupten. Er nimmt das Eishörnchen und tut so, als würde er daran lecken.
ANTOINE
Mmmm... Erdbeereis. Lecker!
Melvil dreht zufrieden ab.
Antoines Wohnung wie ausgestorben. Auf dem Boden neben der Eingangstür stehen Hélènes Schuhe, am Kleiderhaken hängen ihre Jacken, die Tasche, das karierte Tuch.
Wir hören die Schritte von Antoine und Melvil auf dem Treppenabsatz vor der Tür, welche sich abrupt öffnet. Melvil stürmt in die Wohnung und rennt ins Wohnzimmer
Mama? Mamaaa?
Antoine erstarrt, sieht, wie sein Sohn vom Wohnzimmer in ihr Schlafzimmer rennt.
Mama?
Antoine senkt tief erschüttert den Blick. Melvil erscheint wieder im Flur, schaut ihn fragend an.
Abendbrot zu zweit. Der dritte Stuhl ist leer geblieben. Alles schreit nach Hélène. Antoine hat den Kopf aufgestützt, ist angespannt und abwesend zugleich.
Maa-ma, Maa-ma
Melvil hat sein Essen noch nicht angerührt. Er spielt mit dem karierten Tuch von Hélène, zieht es sich über den Kopf. Antoine müsste etwas tun, aber er starrt nur kraftlos vor sich hin.
MELVIL (CONT'D)
Maa-ma.
Melvil, iss jetzt bitte etwas.
Wieder versteckt Melvil seinen Kopf unter Hélènes Tuch, zieht es weg und lacht, als wollte er Antoine damit aufmuntern. Da nimmt Antoine ihm das Tuch weg.
ANTOINE (CONT'D)
Iss jetzt.
Melvil blickt seinen Papa verstört an. Etwas ist ganz und gar nicht in Ordnung. Antoine spürt den Stoff von Hélènes Tuch zwischen seinen Fingern. Es reibt ihn auf, macht ihn immer dünnhäutiger.
Schreiend läuft Melvil durch den Flur zur Haustür. Der Superhelden-Schlafanzug spannt über dem prallen Bäuchlein. Heiße Tränen kullern.
MELVIL
Mama soll! Mama soll...
ANTOINE
Mama ist nicht da! Papa liest heute vor.
Er nimmt Melvil gegen seinen Widerstand auf den Arm und trägt ihn zurück ins Kinderzimmer. Melvil windet sich, strampelt wütend mit den Beinen.
ANTOINE (CONT'D)
Melvil! Es geht nicht anders.
Er setzt sich in den Sitzsack, hält Melvil fest auf seinem Schoß und beginnt vorzulesen. Scheinbar ist jetzt Ruhe.
Es war einmal ein kleines Marienkäfer-Mädchen, das hieß Paula.
MELVIL
Mama! Mama soll!
Er schiebt Antoines Hand mit dem Bilderbuch weg. Aber Antoine hält dagegen, bemüht sich, unbeirrt weiterzulesen.
ANTOINE
Frau Marienkäfer war sehr stolz auf ihr Kind: Paula gehorchte immer und sagte stets die Wahrheit.
Melvil zerrt an dem Buch. Kratzt Antoine im Gesicht.
ANTOINE (CONT'D)
Aua, Melvil, du tust mir weh!
Er lässt ihn los. Der Kleine rennt wieder zur Tür und schreit nach Mama.
MELVIL
Mama! Mama! Mama!
Antoine blickt Melvil völlig überfordert nach.
Dann steht er auf, folgt Melvil erschöpft in den Flur. Melvil läuft vor ihm weg ins Wohnzimmer.Er brüllt jetzt wie am Spieß.
Antoine geht vor ihm in die Knie, zieht ihn zu sich und hält ihn zwischen seinen Beinen fest.
ANTOINE
Melvil. Papa ist doch da. Mama kann jetzt nicht kommen.
MELVIL
Mama! Mama!
ANTOINE
Melvil! Bitte! Hör auf!
Aber seine Worte erreichen Melvil nicht. Melvils Schreien ist für Antoine kaum auszuhalten. Er würde selbst gerne Schreien, sucht verzweifelt nach einer Beruhigung für den Jungen.
ANTOINE (CONT'D)
Mama kann nicht mehr wiederkommen... Sie hatte einen schweren Unfall. Es... es ist nicht deine Schuld. Sie wäre viel lieber bei dir... aber sie kann es nicht. Sie kann es nicht.
Mamamama...
Die Erwähnung von Mama verschlimmert die Situation nur. Antoine kann nicht mehr. Wie soll er den Jungen trösten, wenn er selbst untröstlich ist.
In seiner Hilflosigkeit greift er nach dem Handy und startet eine Playlist von Hélène. “La Berceuse a Frédéric” von Bourvil.
Mmh, Mmh, Mmh... Allez, faut dormir maintenant! Petit, petit Frédéric J'ai trouvé cette musique Que je mets comme un cadeau Au chaud de ton berceau...
Melvil verstummt, er wird für einen Augenblick von der Atmosphäre der Musik eingefangen, doch dann verzieht er wieder sein Gesicht und weint umso mehr.
Mama...
Antoine ist am Ende seiner Kräfte angelangt. Wie gelähmt starrt er auf Melvil. Er kämpft mit den Tränen, er gibt einfach auf. Da kommt ihm eine Eingebung zu Hilfe. Mit zittrigen Fingern sucht er in seinem Handy nach Fotos von Hélène und zeigt sie Melvil.
ANTOINE
Guck, da ist Mama.
Und tatsächlich beruhigt Melvil sich. Er deutet mit bebendem Brustkorb auf Antoines Handy, auf dem ein Foto von Hélène zu sehen ist und aus dem das Lied tönt.
Melvil dreht sich zu Antoine um, lächelt ihn unsicher an, während sein kleiner Brustkorb noch vom Weinen bebt. Er patscht auf das Foto.
MELVIL
Mama.
Ja, Mama.
ANTOINE
Antoine drückt Melvil erleichtert an sich und kommt mit ihm zur Ruhe. Er spürt plötzlich eine sensationelle Nähe und Liebe zu seinem Sohn. Vielleicht stehen sie diesen Wahnsinn ja zusammen durch.
Melvil macht sich los, will mehr Fotos sehen. Er wischt über die Bilder in Hélènes Album.
4 Uhr. Antoine schreckt auf aus flachem Schlaf, er ist sofort hellwach.
Er vermeidet den Blick zur Seite, auf die leere Betthälfte und die unerträgliche Gewissheit, dass sie nicht da ist.
Da ist sie wieder: die Hoffnungslosigkeit. Antoine legt sich die Hand auf die Augen.
Der dunkle Flur. Antoine streicht langsam an der Wand entlang. Stoppt an der Wand gegenüber des Badezimmers. Keine drei Tage ist es her, da hat er Hélène an dieser Stelle in den Armen gehalten.
CUT TO:
Antoine drängt Hélène neben der Badezimmertür an die Wand. Sie küssen sich. Das Verlangen wächst. (Situation aus Bild 9)
BACK TO:
Die Erinnerung an Freitagabend zieht Antoine den Boden unter den Füßen weg. Ohnmächtig und verzweifelt schüttelt er immer wieder den Kopf.
Montagmorgen, Eiseskälte. Antoine hat die Kapuze seines Anoraks bis über die Augen heruntergezogen und zieht nervös an seiner Zigarette, während er Melvils Kinderwagen vor sich herschiebt.
Um sie herum eilen die Menschen zur Métro, die Autos haben ihren Tanz wieder aufgenommen, der Verkehr ist dicht und nervös, es wird viel gehupt.
Zwei schwer bewaffnete Soldaten kommen ihnen entgegen, patrouillieren einfach so über den Bürgersteig - Kriegsgebiet Paris. Irgendwo ganz nah jagt unsichtbar ein Polizeiwagen mit lauter Sirene vorbei.
Melvil hält sich die Ohren zu. Auch Antoine kneift überreizt die Augen zusammen und geht schneller.
Als Antoine mit Melvil den Vorraum der Kita bestritt, verstummt das Gespräch der zwei Mütter an der Garderobe. Sie wissen nicht, wie sie ihn begrüßen sollen. Nicken ihm wortlos und unsicher zu - sie wissen um seine Tragödie.
Antoine geht mit gesenktem Blick zu Melvils Garderobenfach. Er spürt die befangenen Blicke der Mütter in seinem Rücken. Um niemanden ansehen zu müssen, konzentriert er sich ganz auf Melvil.
Er geht vor ihm in die Hocke, beginnt ihm die Schuhe auszuziehen. Aber der Junge macht nicht richtig mit.
ANTOINE
Melvil, bitte. Mach mal mit.
So schnell es geht zieht Antoine ihm Schuhe und Mantel aus, darauf bedacht, niemanden anzusehen.
Dann gibt er dem Jungen einen Abschiedskuss, aber Melvil klammert, er denkt nicht daran Antoine gehen zu lassen.
ANTOINE (CONT'D) (zu Melvil)
Papa muss jetzt los.
Antoine richtet sich auf, entdeckt in der Tür zum Raum der Entdecker eine Erzieherin. Sie kämpft mit den Tränen, sucht Antoines Blick. Er schlägt die Augen nieder.
Nur wenige Fahrgäste in der U-Bahn. Antoine trägt ein schwarzes Sakko unter seinem Anorak, weißes Hemd, Krawatte. Er wackelt nervös mit dem Bein. Schaut auf die Armbanduhr.
MANN #1 ... die haben einen dieser Wichser in Molenbeek festgenommen.
Halb hinter Antoine unterhalten sich zwei MÄNNER.
MANN #2
Tut mir leid, aber Hollande hat echt recht. Das ist wie im Krieg.
MANN #1
Von mir aus können sie die alle standrechtlich erschießen.
Antoine infiziert der Hass. Sein Blick fällt auf drei junge Araber vor dem nächsten Ausgang.
Sie tragen Turnhosen, Sneaker und Kappen. Einer hat eine Sporttasche zwischen seinen Beinen. Sie albern herum, posen, unterhalten sich laut und gestikulierend. Als einer der Jungs seinen Blick bemerkt, schaut Antoine schnell weg.
Als er wieder zu ihnen sieht, blicken ihn alle drei direkt an, fast provozierend - was willst du? Antoine weicht ihren Blicken aus. Schaut beschämt zu Boden.
MANN #1
Letzte Woche waren wir noch im Petit Cambodge essen.
MANN #2
Ey, Freitagabend war Elise ausich konnte sie erst nicht erreichen. Ich war kurz vorm Herzinfarkt...
Mann #2 lacht kurz auf, tief erleichtert. Antoine erträgt die Unterhaltung nicht länger, er steht auf, geht zur Tür.
Warten in einem kleinen klaustrophobischen Raum, hinter halbopaken Vorhängen. Draußen auf dem Gang laufen Mitarbeiter in gelben und schwarzen Westen vorbei, gefolgt von Angehörigen. Man hört das bittere Schluchzen einer Frau.
Antoine steht am Fenster, die Stirn in seine Hand gestützt. Er will nichts sehen, nichts hören. Hinter ihm sitzen Sylvie und Annie, flüstern miteinander.
...ich hab solche Angst davor, sie zu sehen.
Annie streichelt beruhigend die Hand ihrer Mutter.
ANNIE Ach Mama.
SYLVIE (leise)
Wir wissen doch gar nicht wie sie aussieht. Vielleicht ist sie ganz entstellt...
Sylvies Ängste sind für Antoine kaum zu ertragen. Er schiebt sich die Finger über die Ohren, was Sylvie und Annie nicht verborgen bleibt.
Da klopft es an der Tür. Eine PSYCHOLOGIN mit weißer Weste und einer Kladde betritt den Raum. Antoine geht sofort auf sie zu. Auch Sylvie und Annie stehen auf.
Guten Tag, Mesdames, Monsieur. Sie sind die Angehörigen von Hélène Muyal-Leiris?
Antoine nickt.
Mein Name ist Irine Appiah, ich bin Psychologin am Cellule D’urgence Medico-Psychologiques. Bevor ich Sie gleich zu den Abschiedsräumen bringe, möchte ich Sie kurz darauf vorbereiten, was Sie erwartet...
Antoine verschränkt seine Arme und zieht die Luft ein, als wollte er sich wappnen, für das was jetzt kommt.
Ein langer Gang. Links gehen Türen ab. Aus den Räumen dahinter dringen seltsame Geräusche: Ein Jaulen und Heulen, ein Durcheinander dumpfer Stimmen.
Antoines Unruhe wächst mit jedem Schritt. Die Psychologin lächelt ihm aufmunternd zu. Sylvie hat sich bei Annie untergehakt, es fällt ihr schwer, sich auf den Beinen zu halten.
Sie passieren Mitarbeiter in gelben und schwarzen Westen. Alle grüßen mit einem dezenten Nicken, alle haben Beileidsminen aufgesetzt.
Antoine sitzt neben Sylvie und Annie auf einer Bank vor den Salles Funéraire. Das Warten und die Ungewissheit sind kaum auszuhalten für ihn.
Er steht abrupt auf, verschränkt die Arme vor der Brust und fixiert die Psychologin. Die Frau bemerkt seine Ungeduld. Sie schaut pflichtschuldig auf ihre Uhr und dann auf ihren Zeitplan.
Antoine wendet sich zu Sylvie und Annie um.
ANTOINE (leise)
Ich würde gleich gerne alleine zu ihr.
SYLVIE (überrascht)
Ist denn dafür genug Zeit?
Annie reagiert gereizt.
ANNIE
Wir möchten sie auch sehen, Antoine!
In diesem Moment öffnet sich die Tür vor ihnen. Hinter einer weiteren Blauweste tritt eine Familie auf den Gang hinaus. Fast alle sind am Boden zerstört, weinen ungehemmt. Sylvie versucht die Fassung zu wahren, wendet ihren Blick ab und greift nach Annies Hand.
Antoine starrt betroffen auf den Boden.
Die Psychologin bespricht sich derweil mit der Blauweste. Antoine beobachtet die beiden Frauen, tritt auf die Psychologin zu.
ANTOINE
Sind wir jetzt dran?
PSYCHOLOGIN (lächelt sanft)
Einen kleinen Moment noch. Wir müssen den Raum erst herrichten.
Antoine dreht fassungslos ab, er sucht Annies und Sylvies Blick.
ANTOINE (leise, ungehalten)
Wir warten jetzt seit über einer Stunde!
ANNIE
Das stimmt doch nicht.
ANTOINE
Doch. Es ist fast eine Stunde.
Im Hintergrund winkt die Psychologin. Sie sind jetzt soweit. Sie hält die Tür zum Vorraum auf.
ANTOINE (CONT'D) (leise)
Diese Arschlöcher..!
SYLVIE (ruhig)
Antoine! Geh rein, bitte. Wir sind dran!
Antoine bemerkt erst jetzt, dass sie an der Reihe sind. Zitternd vor Anspannung tritt er durch die letzte Tür.
INT. GERICHTSMED. INSTITUT - RAUM VOR LEICHENSAAL, 47 47
LEICHENSAAL - TAG
Hélène liegt auf einer Bahre, die von weitem einem Altar ähnelt, hinter einer Glasscheibe, die bis zum Boden reicht. Ihr Körper ist mit einem weißen Tuch bedeckt. Ihre Haut ist bleich wie Schnee, ihre Augen sind geschlossen, es scheint, als schlafe sie. Sie ist wunderschön.
Antoine presst sich mit ganzem Gewicht gegen die Scheibe. Hélènes Anblick lässt Antoine ruhig werden. Ängste und Befürchtungen fallen von ihm ab.
Er neigt den Kopf: Es ist jetzt, als läge Hélène zu Hause vor ihm im Bett.
Er will reden, doch seine Gefühle schneiden ihm die Worte ab. Er spürt eine tiefe Erleichterung darüber, sie wiederzusehen.
Die Psychologin öffnet die Tür. Antoine muss jetzt gehen. Er steht auf, weicht langsam zurück, wendet sich zum Gehen. An der Tür dreht er sich noch einmal zu ihr um. Ein letzter Blick.
Dann durchquert Antoine den Vorraum und tritt hinaus auf den lichten Gang, überwältigt von einem tiefen Glücksgefühl. Hinter ihm in der Unschärfe: Annie und Sylvie.
Antoine bleibt an einem sonnigen Fenster stehen. Der Himmel ist aufgerissen. Er lehnt seinen Kopf an die Scheibe und lächelt: Helene ist wieder in seinem Leben.
Am Freitag Abend habt ihr das Leben eines ganz besonderen Menschen gestohlen. Die Liebe meines Lebens, die Mutter meines Sohnes. Aber meinen Hass bekommt ihr nicht.
Antoine gleitet durch einen langen, engen Rolltreppenschacht abwärts in den Untergrund der Stadt.
ANTOINE
Ich weiß nicht, wer ihr seid, und ich will es nicht wissen, ihr seid tote Seelen. Wenn der Gott, in dessen Namen ihr blindlings getötet habt, uns nach seinem Bild schuf, dann hat jede Kugel, die den Körper meiner Frau durchbohrte, auch ihn ins Herz getroffen.
Er starrt vor sich hin, ohne zu fokussieren, in Gedanken, fast fieberhaft. Aus der Tiefe kommen ihm Menschen entgegen. Sie gleiten in der Unschärfe an ihm vorbei.
Gedankenversunken bewegt sich Antoine über den Bahnsteig.
ANTOINE (V.O.)
Nein, ich werde euch nicht das Geschenk machen, euch zu hassen. Auch wenn ihr es darauf angelegt habt.
Er passiert eine Gruppe Araber, die von bewaffneten Polizisten kontrolliert werden. Die meisten Leute sehen hin. Einige gehen auf Abstand.
ANTOINE (V.O.)
Auf den Hass mit Wut zu antworten, das hieße, der selben Ignoranz nachzugeben, die euch zu dem gemacht hat, was ihr seid. Ihr wollt, dass ich Angst habe, dass ich meine Mitbürger misstrauisch beobachte, dass ich meine Freiheit der Sicherheit opfere.
Die Bahn fährt ein. Antoine bleibt stehen. Der Fahrtwind geht durch seine Haare.
ANTOINE (V.O.)
Verloren. Der Spieler ist noch im Spiel.
Der Zug hält. Menschen steigen eilig ein und aus, folgen der strengen Choreografie ihres Arbeitstages. Auch Antoine betritt die U-Bahn.
Rush-Hour am Nachmittag. Die Bahn ist gefüllt. Die Menschen spiegeln sich in den Scheiben, haben sich im Blick, ohne sich anzusehen. Ein Pärchen hält sich eng umschlungen, auf der Suche nach Geborgenheit.
Die U-Bahn gleitet aus dem Tunnel ans Licht. Draußen scheint die Sonne. Das Licht bricht sich in der verdreckten Scheibe. Antoine schießt die Augen, lehnt sich zurück.
ANTOINE (V.O.)
Heute Morgen durfte ich sie sehen. Endlich, nach Nächten und Tagen des Wartens. Sie war genauso schön wie am Freitagabend, als sie das Haus verließ...
Die Sonne wärmt sein Gesicht. Er lächelt, schlägt die Augen auf, blinzelt in das glitzernde Licht.
ANTOINE (V.O.)
... genauso schön wie vor mehr als zwölf Jahren, als ich mich unsterblich in sie verliebte.
Die Anspannung ist plötzlich fast euphorischer Lebendigkeit gewichen. Er wackelt unruhig mit dem Bein.
Aus dem Dunklen kommend: Menschen strömen auf die automatischen Schleusen am Ausgang der Metrostation zu.
ANTOINE (V.O.)
Zugegeben, der Kummer zerreißt mich, diesen kleinen Sieg habt ihr errungen, aber er wird nicht von Dauer sein.
Mittendrin Antoine. Blass, aufrecht, ganz bei sich. Hinter den Schleusen kontrollieren Soldaten mit Maschinengewehren den Zugang zu den Bahnsteigen.
Eine Schule im 10. Arrondissement. Fröhliches Kindergeschrei vom Hof hinter dem Zaun. Eine Gruppe Kinder hält sich an den Händen, sie spielen ein Lauf- und Fangspiel.
ANTOINE (V.O.)
Ich weiß, dass sie jeden Tag bei uns sein wird, und dass wir sie in jenem Paradies der freien Seelen wiedersehen werden, zu dem ihr niemals Zutritt haben werdet.
Antoine passiert, kann der Versuchung nicht widerstehen, seine Hand am Zaun entlang gleiten zu lassen, wie ein Kind.
ANTOINE (V.O.)
Wir sind zu zweit, mein Sohn und ich, aber wir sind stärker als alle Armeen der Welt.
Antoine schließt die Tür hinter sich, verharrt einen Moment im Flur vor der Garderobe.
ANTOINE (V.O.)
Ich will euch jetzt keine Zeit mehr opfern, ich muss mich um Melvil kümmern, der gerade aus seinem Mittagsschlaf aufwacht.
Die Hand ruht noch auf dem Türgriff, tief in Gedanken versunken. Alexandre kocht hinten in der Küche.
Melvil schläft friedlich in seinem Bett. Die Gesichtszüge entspannt. Der Schnuller ist aus seinem Mund gerutscht.
ANTOINE (V.O.)
Er wird seinen Nachmittagssnack essen, wie jeden Tag, dann werden wir wie jeden Tag, und sein ganzes Leben lang zusammen spielen.
Antoine kniet sich vor seinem Bett auf den Boden. Er betrachtet den schlafenden Jungen.
ANTOINE (V.O.)
Und sein ganzes Leben lang wird dieser kleine Junge euch beleidigen, weil er glücklich und frei ist.
Antoine sitzt an seinem Schreibtisch, tippt letzte Sätze, lehnt sich zurück und betrachtet sein Werk.
ANTOINE (V.O.)
Denn nein, auch seinen Hass bekommt ihr nicht.
Er liest seinen Text noch einmal durch, ändert ein Wort, löscht einen Satz, schaut ein letztes Mal auf Facebook.
Ganz oben auf der Seite prangt die Frage: Was machst du gerade?
Antoine. Essen!
Antoine kopiert seinen Text von Microsoft Word auf Facebook. Er zögert, überfliegt ihn ein letztes Mal.
Er drückt auf Enter.
Es gibt Nudeln mit Tomatensoße. Antoines erste richtige Mahlzeit seit Freitag. Melvil isst mit Händen und Füßen und Alexandre bemüht sich tapfer, mit einem Tuch das Schlimmste zu verhindern.
Julie trägt ihre Einkäufe in die Küche und beginnt die Sachen in den Kühlschrank zu räumen. Da fängt Antoine plötzlich an, auf Melvils Esssitten zu antworten, indem er die Nudeln wie ein Staubsauger laut schlürfend in den Mund zieht.
Melvil kichert los, er versucht es Antoine nachzumachen. Aber seine Heiterkeitsausbrüche werden mit jeder Nudel größer.
Alexandre ist kurz irritiert, freut sich aber über Antoines gute Laune und macht ebenfalls mit. Drei Männer beim NudelEinsaugen. Nur Julie scheint Antoines entfesselte Heiterkeit mit Sorge zu erfüllen.
Als Antoine ihren ängstlichen Blick bemerkt, hält er inne und lehnt sich zurück. Julies Misstrauen raubt ihm die Unbeschwertheit.
Ein dunkler Flur. Nur aus dem Bad fällt Licht.
Antoine steht allein vor dem Spiegel. Auf der Ablage drei Zahnbürsten im Becher.
Über der Wanne hängt immer noch die Wäsche, die er an ihrem letzten gemeinsamen Tag aufgehängt hat. Er nimmt ihr frisch gewaschenes Top in beide Hände und riecht daran. Nichts als Waschpulver.
Ihn durchschießt ein Gedanke. Er öffnet den Wäschekorb und sucht fieberhaft nach getragener Wäsche von Hélène. Er findet ein T-Shirt, vergräbt seine Nase darin.
Ihre Präsenz in einem Stück Stoff trifft ihn mit Wucht, lässt ihn verzweifelt aufstöhnen, er schluchzt, tritt gegen den Korb und tut sich dabei weh.
Antoine sitzt in der dunklen Küche, reibt sich die Nasenwurzel, starrt wie abgeschaltet vor sich hin. Sein Handy klingelt, das blaue Licht des Displays flammt auf. Ein Anruf von Unbekannt. Er geht ran.
ANTOINE (vorsichtig) Ja, hallo?
JOURNALIST DU MONDE (O.S.)
Monsieur Leiris? ANTOINE Ja.
JOURNALIST DU MONDE
Entschuldigen Sie die späte Störung. Mein Name ist Santini, ich bin Journalist vom Le Monde.
Antoine steht auf und geht aus der Küche.
JOURNALIST DU MONDE (CONT'D)
Ich hab Ihren Post gelesen. Ich weiß nicht, ob Sie es schon mitbekommen haben, aber der ist über zwanzigtausend Mal geteilt worden.
Kurzes Schweigen, Antoine geht ins Wohnzimmer.
ANTOINE
Ähm, nein, hab ich noch gar nicht...
JOURNALIST DU MONDE
Die Worte, die Sie gewählt haben, sind sehr stark, Monsieur. Ich denke, Sie sprechen vielen Menschen aus dem Herzen.
An seinem Schreibtisch schlägt er seinen Laptop auf. Facebook spielt vollkommen verrückt. In seinem Postfach hat sich eine absurde Zahl neuer Nachrichten angesammelt und es werden ständig mehr.
JOURNALISTE DU MONDE (O.S.)
Monsieur? Sind Sie noch da?
ANTOINE
Ja.
Antoine starrt fassungslos auf den Bildschirm.
JOURNALISTE DU MONDE (O.S.)
Wir würden Ihren Text gerne auf der Titelseite der morgigen Ausgabe abdrucken. Würden Sie uns dazu Ihre Erlaubnis geben? ...
Antoine weiß nicht, was er sagen soll. Er tritt ans Fenster. Draußen funkelt die Stadt.
Drei Uhr früh. Antoine sitzt nur mit einer Boxershort bekleidet auf dem Bett, seinen Rechner auf dem Schoß und liest die vielen Kommentare zu seinem Post.
Antoine, sie bekommen deinen Hass nicht. Aber du bekommst unsere ganze Zuneigung!
Mir laufen die Tränen, wenn ich deine Worte lese. Ich schließe dich fest in meine Arme, Vicolaine
Bin tief beeindruckt von deiner Besonnenheit. Ich umarme euch fest. Arnaud
Antoine ist überwältigt und berührt von der Anteilnahme. Er schluckt, starrt einen Moment in die Dunkelheit, liest weiter.
Was für eine Lektion in Würde, Liebe und Humanität! Und ein wunderbares Erbe für Melvil. Sei fest umarmt!
KORRIDOR
Abholzeit in der Kita. Im Vorraum herrscht ein Durcheinander von Eltern und Kindern. Antoine meidet die Blicke der anderen Eltern.
Er hilft Melvil beim Anziehen, hat es eilig.
ANTOINE
Melvil, bitte zieh dich an. (spricht wie ein Roboter) Guten Tag, ich bin Ihr Anziehroboter Antoine.
Melvil kichert. Antoine blickt zur Uhr.
ANTOINE (CONT'D)
Komm Süßer, mach mit! Papa muss schnell nachhause.
Er hockt vor Melvil, zwängt ihn in die Schuhe, doch dann erregt etwas hinter ihm seine Aufmerksamkeit.
Eine Gruppe von Müttern hat sich hinter ihm aufgebaut. Sie schauen ihn mitleidig an. Antoine würde sich gerne in Luft auflösen.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Antoine! Unser herzliches Beileid. Das ist alles so schrecklich...
Sie fällt ihm um den Hals, drückt ihn fest. Die zweite Mutter steht schon in den Startlöchern, kämpft mit den Tränen während sie Antoine umarmt.
TUPPERDOSENMUTTER #2
Es tut mir so wahnsinnig leid für euch... Wir haben deinen Text im Le Monde gelesen...
Antoine nickt und lächelt verkrampft. Er wartet die Beileidsorgie ab, wie einen Regenschauer.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Wir haben lange über dich gesprochen. Und haben gedacht, dass du gerade jede Hilfe gebrauchen kannst...
Eine der Mütter kommt mit einer riesigen Tupperdose auf ihn zu.
TUPPERDOSENMUTTER #3
Wir wollten dir...
Sie kämpft mit den Tränen. Mutter #2 springt ihr bei.
TUPPERDOSENMUTTER #2
Wir haben uns gedacht, dass wir ab jetzt für euch kochen... Reihum.
Mutter #3 hält die Tupperdose umklammert, ohne sie Antoine zu geben.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Es ist nichts Besonderes, nur eine Suppe aus Hokkaido-Kürbis, Karotten und Kartoffeln. Marie-Louis´ Lieblingsessen...
Die Belagerung zieht sich. Antoine sucht nach einem Ausweg aus der Situation, ohne zu ruppig zu wirken. Er kratzt sich am Hals.
ANTOINE (murmelt)
Ah, okay, danke, aber das ist wirklich nicht nötig...
TUPPERDOSENMUTTER #2 (beruhigend)
Nein, Antoine, ich weiß! Aber du darfst das wirklich annehmen!
TUPPERDOSENMUTTER #1
Wir haben einen Plan ausgearbeitet. Heute mach ich, morgen ist Manon dran und Donnerstag Ines...
Antoine weiß überhaupt nicht wo er hinsehen soll, zwingt sich zu einem Lächeln. Dann rupft er der Mutter die Schüssel aus der Hand.
ANTOINE
Ja, danke. Entschuldigung, ich hab´s ´ n bisschen eilig...
Leichte Irritation bei den Müttern. Antoine nimmt Melvils Hand und schiebt sich in Richtung Ausgang, heilfroh, den Müttern zu entkommen.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Antoine!
Er dreht sich noch einmal um, langsam machen ihn die Damen aggressiv.
Ja?
TUPPERDOSENMUTTER #1
Denkst du dran, uns die Schüsseln wieder mitzubringen? Du musst sie auch nicht spülen.
Antoine nickt und geht.
Antoine steht im Schlafzimmer vor Hélènes Frisiertisch und telefoniert, das Handy fest ans Ohr gepresst, ganz auf das Interview konzentriert.
MODERATOR (O.S.) (aus dem Telefon)
Ihre Frau Hélène war am Freitag Abend im Bataclan und ist dort ums Leben gekommen. Sie sind heute Abend bei uns auf France Info, weil Sie auf Facebook einen Text veröffentlicht haben, der gestern tausendfach geteilt wurde...
Antoine nickt nervös. Er greift nach Hélènes Haarbürste, berührt die Haare, die darin stecken.
MODERATOR (CONT'D)
... Sie wenden sich darin an die Terroristen und sagen ihnen: Meinen Hass bekommt ihr nicht. Wann haben Sie sich entschieden diesen Text zu schreiben, Antoine?
ANTOINE
Also das war... Ich habe Hélène am Montag morgen endlich wiedergesehen. Und ähm...
Ihm stockt die Stimme, er ringt kurz um Fassung.
ANTOINE (CONT'D)
...Entschuldigung. Und das hat mich, das hat mir wahnsinnig gut getan, ich hätte das nicht erwartet. Sie zu sehen und mir zu sagen...
Er schüttelt den Kopf, lächelt, wieder ganz in der positiven Emotion, die das Wiedersehen in ihm ausgelöst hat.
ANTOINE (CONT'D)
... dass sie immer noch existiert. Auf eine Weise können wir immer noch alle drei zusammenleben, weil sie immer bei uns sein wird.
Er gewinnt mit jedem Satz an Sicherheit. Er blickt durch den Türspalt. Sie Melvil im Wohnzimmer, der in der Nachmittagssonne auf dem Teppich spielt.
ANTOINE (CONT'D)
Und in diesem Augenblick sind die Worte von selbst gekommen...
Drüben lässt Melvil ein Spielzeugauto durch die Luft fliegen.
Die Verwandten sind da, auf dem Tisch stapeln sich Fotokisten. Julie studiert ihre Aufzeichnungen. Sylvie und Annie schauen alte Bilder durch.
ALEXANDRE
Und was ist mit Passy? Ist nicht weit weg.
JULIE
Ja, aber die machen nur Urnenbestattungen. Père Lachaise wäre ´ ne Möglichkeit. Hat einen großen schönen Park, und die Preise sind noch okay.
Sie wendet sich an Antoine, der abwesend aus dem Fenster starrt, in Gedanken weit weg.
JULIE (CONT'D)
Antoine, was meinst du denn?
Alle sehen Antoine an. Der bemerkt mit Verspätung, dass die Frage an ihn ging.
ANTOINE
Ähm... Montmartre.
JULIE
Montmartre ist viel zu teuer! Das ist wirklich...
Antoine nickt abwesend - Ah.
ALEXANDRE (zu Antoine)
Oder Bougival, wo Mama und Papa liegen.
Annie legt die Stirn in Falten, Ausdruck ihres Missfallens, sie sucht Antoines Blick, aber der reagiert nicht.
ANNIE
Bougival?! Das ist nicht dein Ernst!
ALEXANDRE (halb Spaß, halb Ernst) Was hast du gegen Bougival?
ANNIE
Gar nichts. Aber das ist nicht Hélène! Hélène war immer hier in der Stadt! Immer mittendrin!
JULIE
Wir müssen nur eine Entscheidung treffen.
Julie sieht zu Antoine, der inzwischen abgelenkt auf sein Handy guckt. Auch Sylvie bemerkt Antoines Abwesenheit.
ANNIE (leicht gereizt)
Musst du los, Antoine? Dann geh doch einfach!
Antoine blickt auf, zieht die Luft ein.
ANTOINE (gereizt, etwas zu laut) Ich will Montmartre, das hab ich doch gesagt!
Kurzes Schweigen. Annie atmet hörbar aus. Sylvie schließt die Augen, die Gereiztheit zehrt an ihren Nerven. Sie hält ein Foto in die Runde, zeigt es Antoine. Der Versucht die Schärfe herauszunehmen.
Das Foto zeigt Hélène in Teenager-Tagen. Sie trägt eine Pumphose und Schuhe wie Sindbad der Seefahrer, die Haare steil nach oben toupiert, das Gesicht stark geschminkt.
Annie lacht schrill auf, schlägt sich die Hand vor den Mund.
JULIE
Wie süß! Fasching?
SYLVIE (lacht)
Eben nicht! So ist sie in die Schule gegangen. Da war sie nicht von abzubringen.
Das Foto macht die Runde. Annie kichert. Für einen kurzen Moment löst sich die Anspannung in der lebendigen Erinnerung. Nur Antoine bleib fern, fühlt sich fremd in der Heiterkeit.
SYLVIE (CONT'D) (sanft)
Ja so war sie. Mein Honigkind.
Sylvie kämpft plötzlich mit den Tränen.
SYLVIE (CONT'D) (seufzt)
So frech und wild und wunderbar.
Bei Sylvie kullern Tränen, Annie will sie trösten aber Sylvie wehrt sie ab - es geht schon.
SYLVIE (CONT'D)
Ist alles gut....
Sie sieht Antoine direkt an. Aber Antoine weicht ihrem Blick aus, er hält den Schmerz nicht aus, kämpft dagegen an. Blickt hilflos zur Uhr, reibt die Hände über die Oberschenkel.
Dichter Verkehr auf der Avenue Félix Faure. Ein Motorrad-Taxi schlängelt sich zwischen den Autos hindurch. Antoine hält sich auf dem Rücksitz fest.
Ein beleuchteter Spiegel. Antoines Hals wird von einem Lätzchen aus Taschentüchern geschützt. Er sitzt mit geschlossenen Augen da. Die gepflegten Händen einer Maskenbildnerin bringen seine Frisur in Ordnung, tragen MakeUp auf, frisieren sogar seine Augenbrauen.
Die Maskenbildnerin mustert das Resultat ihrer Arbeit und nickt zufrieden.
Antoine öffnet die Augen. Ihre Blicken treffen sich. Sie schaut ihn an, warm und verständnisvoll. Es tut Antoine gut. Er nickt der Maskenbildnerin zu, die Andeutung eines Lächelns.
5 STUDIOS - SET
Antoine in einer Studiokulisse. Von Kameras umringt, ihm * gegenüber in der Unschärfe vier Journalisten und eine Moderatorin. Das Rotlicht auf Kamera 1 leuchtet. Die Sendung ist live.
Ich glaube das Schlimmste war, dass ich sie zwei... Es waren zwei Tage, an denen sie ganz allein war. Lebend oder tot, ich habe sie ganz allein gelassen.
Antoine trägt ein Mikro am Revers, er versucht seine Gefühle zu bändigen. Er bemüht sich um Souveränität.
MODERATORIN
Haben Sie sich vorstellen können, soviel Resonanz auf Ihren Brief zu bekommen?
ANTOINE
Nein, ganz und gar nicht. Ich habe nicht daran gedacht. Und es hat mich wirklich überrascht, dass ich derartig berührt bin von den vielen Nachrichten, die man mir geschickt hat.
Kurze Pause. Er lächelt versonnen, gewinnt an Sicherheit.
MODERATORIN Nachrichten von wem?
ANTOINE
Nachrichten von Unbekannten. Von Leuten aus der ganzen Welt, aus Quebec, Italien, Brasilien, auch aus den Vereinigten Staaten, wo Hélène ein ganzes Jahr gelebt hat. Das war... das ist ganz wunderbar.
MODERATORIN
Haben Sie wirklich keinen Hass und keine Wut in sich?
Antoine hört die Zweifel. Er blickt etwas verloren in die Runde, denkt über seine Antwort nach.
ANTOINE
Ich verbiete es mir. Es ist nicht sicher, dass nicht Morgen, oder den Tag darauf der Hass in mir aufsteigt, dass ich einen Moment habe, in dem ich Angst habe, aber...
Die Worte, ihr Rhythmus, fühlen sich gut und richtig an. Antoine richtet sich auf.
ANTOINE (CONT'D)
Ich habe diesen Brief geschrieben um mich davor zu bewahren. Denn wenn ich meinen Sohn mit Ressentiments aufwachsen lasse, wird er vielleicht genauso werden wir diese Leute. Die voller Hass sind, die...
(MORE)
ANTOINE (CONT'D)
die keine Lust haben die Welt anders zu sehen, als von ihrer dunklen Seite, die nicht sehen wollen, was wunderbar ist im Leben. Damit meine ich Musik, Kultur, Literatur, Filme, sich lieben, ein Glass auf einer Terrasse trinken.
Er kaut auf der Lippe, ein kurzer Blick zu den vier Journalisten. Sie wissen nicht mit ihrer eigenen Rührung umzugehen. Einer nickt zustimmend.
MODERATORIN
Sind Sie ein Widerstandskämpfer?
ANTOINE (schüttelt den Kopf)
Ich... ich weiß nicht. Ich bin nichts Besonderes. Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, der seine Frau verloren hat, die schönste Frau der Welt, die Liebe meines Lebens, die immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. Und die diese Leute gerade versucht haben mir wegzunehmen. Aber ich werde ihnen nicht das Geschenk machen sie zu hassen. Nein. Nein...
Antoine wirkt auf eine seltsame Art befreit.
Der nackte, nasse Melvil hat die Arme ausgebreitet und schlottert. Antoine rubbelt ihn übermütig trocken, ahmt laut Melvils Schlottern nach. Melvil kichert.
Im Flur zieht sich Julie den Mantel an, um zu gehen, und mustert ihn skeptisch.
ANTOINE
Ich mach doch nur die Großen. Ein Sender pro Land. CNN, BBC...
JULIE
Ist das nicht ein bisschen früh, alles?
ANTOINE (genervt)
Was soll ich denn machen? Mich einschließen und mir die Kugel geben?
Julie senkt angefasst den Blick, kann auf die Heftigkeit nichts erwidern.
Der Auftritt bei France 5 auf einem Laptop-Bildschirm. Antoine in Nahaufnahme.
ANTOINE (schüttelt den Kopf)
...die Liebe meines Lebens, die immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. Und die diese Leute gerade versucht haben mir wegzunehmen. Aber ich werde ihnen nicht das Geschenk machen sie zu hassen. Nein. Nein...
Antoine sitzt mit dem Laptop auf dem Schoß auf der Bettkante. Er mustert sein eigenes zerbrechliches Antlitz auf dem Bildschirm.
MODERATORIN
Es hilft Ihnen, glaube ich, wenn Sie ein bestimmtes Lied hören?
ANTOINE
Ja, ich ähm, das Lied erzählt die Geschichte des Mondes, also... meine Frau hieß mit zweitem Vornamen “Luna”. Und es gibt Zeiten da sehen wir den Mond überhaupt nicht, aber das ist nicht schlimm, weil er wiederkommt. Und, ja, was soll ich sagen...
MODERATORIN
Wir werden einen Ausschnitt aus diesem Lied hören.
Die Regie spielt Lo Boob Oscillator von Stereolab ein. Die ersten Takte laufen. Ein fröhliches, lebensbejahendes Lied.
Im Studio ringt Antoine sichtlich um Fassung. Das Lied wühlt ihn auf, er wirkt verletzt und brüchig, kämpft gegen Tränen. Die Moderatorin bemerkt es und greift ein.
MODERATORIN (CONT'D)
Merci beaucoup. Merci beaucoup, Antoine Leiris, d'être venue sur notre plateau, parler de cette lettre, qui nous touche évidemment tous, sans faire de voix héros, dont le voix d'un homme juste et un père.
Antoine schlägt das Laptop zu. Tiefe Zweifel an seinem Auftritt. Hat er sich zu sehr exponiert? Wozu das Ganze? Wem hilft das alles?
Eine Sicherheitsschleuse am Eingang zum Polizeihauptquartier. Zwei mit Maschinenpistolen bewaffnete Polizisten. Hochkonzentriert, penibel aufmerksam. Einer kontrolliert akribisch Antoines Tasche, der andere liest das amtliche Dokument in einen Scanner ein.
Er reicht Antoine das Dokument zurück, nickt ihm zu. Der andere winkt ihn durch die Schleuse. Antoine darf passieren. Er nimmt sein Portemonnaie, die Schlüssel und das Handy vom Band und betritt das Foyer.
INT. POLIZEIHAUPTQUARTIER QUAI DES ORFÈVRE - BÜRO -
Antoine steht an einem langen Tresen und wartet auf die Rückkehr eines Kommissars, der im Hintergrund etwas in einem Regal sucht.
An der Wand hängen Steckbriefe der flüchtigen Terroristen. Daneben hängt eine Frankreich-Karte, Orte von Festnahmen sind mit Stecknadeln markiert.
Der Kommissar kehrt mit einem großen braunen Umschlag aus festem Karton zurück. Er legt ihn auf den Tresen und schiebt Antoine ein Formular und einen Stift zu.
KOMMISSAR
Wenn Sie mir bitte hier den Empfang quittieren.
Antoine reagiert nicht, er starrt wie gebannt auf den Umschlag. Seine Augen suchen Halt an dem Fahndungsplakat. Der Kommissar bemerkt seinen Blick.
KOMMISSAR (CONT'D)
Wir sind an der Sache dran. Wir werden die Typen kriegen.
Antoine nickt abwesend, er greift nach dem Stift und unterschreibt mit zitternder Hand.
Antoine geht über den Bürgersteig. Er wird plötzlich langsamer, bleibt schließlich stehen.
Antoine kann nicht anders: Er zieht den gefalteten braunen Umschlag aus seiner Manteltasche. Er öffnet die Lasche und steckt seine Hand hinein. Nach und nach fördert er Hélènes Hinterlassenschaft zutage.
Den Ehering. Ihre Armreife und den Bernsteinanhänger - die Kette ist zerrissen. Eine ungeöffnete Packung Taschentücher. Die Autoschlüssel. Ihr Portemonnaie.
Er nimmt das Portemonnaie in die Hand und schlägt es auf. Das Foto von Hélène, Antoine und Melvil - in Blut ersoffen.
Geschockt stopft er alles zurück in den Umschlag. Er drückt sich den Arm vor den Mund. Schweißperlen treten auf seine Stirn.
Menschen passieren ihnen. Ein Geschäftsmann schaut ihn kurz über der Schulter nach, geht dann doch weiter.
Antoine stolpert nah der Bordsteinkante eine Straße entlang. Er weint stumm.
Ein Auto hupt alarmiert, rauscht dicht an Antoine vorbei. Er nimmt es verzögert wahr.
In der U-Bahn. Laute, kreischende Fahrt durch endlose Tunnel. Antoine sitzt am Fenster, er wirkt wieder etwas gefasst.
Aus den Augenwinkeln bemerkt er eine junge schwarze PARISERIN, zwei Reihen entfernt, die ihn immer wieder * anschaut. Antoine vermeidet den Blick.
Die Bahn wird langsamer. Der nächste Halt naht. Antoine erhebt sich und tritt an die Tür. Die Pariserin stellt sich neben ihn.
PARISERIN
Entschuldigung. Kann es sein, dass ich Sie im Fernsehen gesehen habe? Sind Sie Monsieur Leiris?
Antoine blickt zu ihr, dazu die Andeutung eines Lächelnsdie zaghafte Bestätigung.
Ein kurzer Moment der Verlegenheit. Die Frau möchte noch etwas sagen, das ist zu spüren. Aber dann hält die Metro, die Tür öffnet sich, Antoine steigt aus.
PARISERIN (CONT'D) (sie ruft ihm nach)
Monsieur! Meine Freundin war im Bataclan... Ihre Worte haben mich sehr berührt, danke.
Sie legt die Hand auf ihr Herz und nickt ihm dankbar zu.
Danke.
Die Tür schließt sich. Die Metro fährt ab. Bewegt schaut Antoine der Pariserin nach. Der Wind lässt sein Haar flattern. Er muss lächeln.
Die leere Tupperdose steht auf dem Tisch. Gut gelaunt füllt Antoine die aufgewärmte Suppe in Melvils Teller. Melvil patscht schon ungeduldig mit den Händen auf den Tisch.
ANTOINE
Ja! Geht sofort los!
Antoines Handy bimmelt. Er tippt aufs Display, überfliegt nebenbei eine neue Facebook-Nachricht:
Ton message est aussi bouleversant qu'il est puissant. Joli chemin que tu empruntes. Je crois que ton fils a de la chance d'avoir un papa comme toi.
Er grinst und schüttelt den Kopf. Das ist irgendwie übertrieben, aber es beglückt ihn.
Er setzt sich zu Melvil an den Tisch, beginnt ihn zu füttern. Er überprüft mit der Oberlippe die Temperatur und schiebt ihm den Löffel in den Mund.
Aber Melvil zieht eine Grimasse, spuckt alles wieder aus.
MELVIL (angeekelt)
Bäh.
ANTOINE
Was? So schlimm? Komm schon. Die haben sich so viel Mühe gegeben.
Melvil verweigert den nächsten Löffel.
MELVIL
Bäh!
ANTOINE
Da werden die Mamas aber traurig sein. Das ist doch lecker!
Antoine riecht genussvoll an der Suppe, probiert... und verzieht mit gespieltem Ekel das Gesicht.
ANTOINE (CONT'D) (übertrieben)
Uaah. Bähh. Kaka!
Melvil lacht laut auf.
INT. ANTOINES WOHNUNG - BAD, FLUR, WOHNZIMMER - NACHT 76 76
Melvil hat die Hände vors Gesicht geschlagen und lacht sich ungläubig in Fäustchen. Sein Papa ist ein Held.
Antoine kippt die Suppe ins Klo. Alles! Große Flatschen dickflüssiger Suppe verschwinden in der Toilette.
ANTOINE
Böse Suppe! Böse Kaka-Suppe! Weg mit dir! Kaka!
MELVIL (stimmt euphorisch ein)
Bäh! Kaka! Bäh! Kaka!
ANTOINE
Bähh!!! Kaka!!
“Bähh” und “Kaka” macht einen guten Rhythmus. Melvil skandiert es immer weiter. Antoine fällt mit ein.
Laute Musik aus der Anlage. Antoine hat Melvil im Arm und dreht sich wieder und wieder im Kreis mit ihm.
ANTOINE UND MELVIL (im Rhythmus der Musik)
Bäh bähhh kaka kaka bähh bähh kaka kaka!
Ein wilder Tanz, während sie entfesselt “Bähhh. Kaka!” singen.
Dann lässt Antoine sich mit Melvil aufs Sofa fallen. Die beiden sind außer Atem. Melvil kuschelt sich an seinen Vater.
Antoine riecht an Melvils Haaren, nimmt Geruch und Wärme des Kindes in sich auf.
ANTOINE (flüstert)
Wir werden glücklich sein, Melvil.
Er streichelt Melvils zarte Haut, fühlt sich in der Zweisamkeit geborgen und stark.
Flackerndes Licht. Wummernde Bässe. Tanzende Menge.
Wir werden glücklich sein!
Gedränge am Tresen. Die hübsche Frau am Tresen unterhält sich abgewandt mit zwei Freundinnen.
Plötzlich schaut sich die Frau zu uns um. Es ist Hélène. Sie schaut uns unverwandt an. Viel zu lange für einen beiläufigen Blick.
Sie macht einen Witz, schielt uns an.
INT. ANTOINES WOHNUNG - SCHLAFZIMMER - MORGENGRAUEN 79 79
Morgengrauen. Das Handy piept zweimal auf dem Nachttisch. Eine SMS ist eingegangen. Antoine wacht in den Klamotten von gestern auf, er ist rotäugig und bleich.
Eine leere Weinflasche liegt neben dem Bett. Melvil schläft immer noch neben ihm. Der Radiowecker zeigt 06:03. Das Handy piept erneut.
Antoine fischt nach dem Handy. Sein Kopf schmerzt. Stöhnend öffnet er die SMS: “Bist du wach? Ich muss mit dir reden. Steh unten.”
Die Nachricht macht Antoine hellwach. Er steht beunruhigt auf, tritt ans Fenster und linst hinunter auf die Straße.
Unten steht Bruno neben einer Platane, rauchend, fröstelnd in seiner dünnen schwarzen Jeansjacke, eine Bierflasche in der Hand. Er ist auf eine Krücke gestützt und schaut die Fassade hoch. Er wirkt anders: Rasiert, die Haare zurückgekämmt. Sein Blick aufgerieben.
Antoine tritt sofort vom Fenster zurück, um nicht gesehen zu werden. Mit Bruno sprechen - eine Unmöglichkeit.
Antoine ist über dem Küchentisch eingeschlafen. Das Schnarren der Wohnungsklingel reißt ihn aus dem Schlaf. Antoine schreckt sofort auf. Bruno? Es klingelt erneut.
Antoine tritt leise in den Flur, horcht atemlos. Eine gedämpfte Stimme im Treppenhaus.
Wer war das?
Nicht Bruno! Erleichtert geht Antoine zur Wohnungstür, öffnet.
Im Treppenhaus scannt ein drahtiger PAKETBOTE die unzähligen Pakete auf der Sackkarre, ohne Notiz von Antoine zu nehmen.
Die? Die beschweren sich immer. Natürlich hab ich ´ ne Karte geschrieben! Dann müssen die feinen Leute ihren Hintern mal ins Postamt bewegen... Sekunde, bin beim Kunden.
Antoine wartet frösteln. Dann hält ihm der Paketbote den Scanner zum Unterschreiben hin.
Einmal für alle reicht.
Antoine starrt den Mann überfordert an. Die ganzen Pakete und Päckchen auf der Sackkarre sind für ihn? Der Paketbote schiebt die Pakete mit dem Fuß in den Flur.
Wildes Kindergeschrei aus dem Raum der Entdecker. Antoine kniet im Vorraum vor Melvil und drückt ihn an sich.
Die KINDERGÄRTNERIN steht schon zur Übergabe parat. Doch Antoine mag sich nicht von seinem Sohn trennen.
Darf Papa noch nicht gehen?
Melvil schüttelt den Kopf, knabbert an Antoines Ohr. Antoine ist es recht. Er vergräbt sein Gesicht an Melvils Rücken.
Papa hat dich lieb.
Die Kindergärtnerin geht neben den beiden in die Knie.
So Melvil, dann komm mal zu mir, hm? Der Papa muss jetzt los.
Antoine blickt auf und nickt, aber bewegt sich nicht. Melvil klammert sich an seinen Hals.
Die Kindergärtnerin nimmt schließlich Melvil auf den Arm und bedeutet Antoine mit einem Kopfnicken schnell zu gehen.
Melvil protestiert, windet und biegt sich auf ihrem Arm, während Antoine sich schweren Herzens zurückzieht.
Antoine im gleißenden Scheinwerferlicht. Zwei Kameras auf sein Gesicht gerichtet.
Die Techniker von NBC haben den Salon im Erdgeschoss des Hotels in ein Aufnahmestudio verwandelt. Draußen im Lichthof gehen Geschäftsmänner vorbei.
Antoine spult seinen Text ab. Er ist nicht in den eigenen Schuhen, wirkt unruhig, spricht ohne Emphase.
ANTOINE
Why did the letter touch so much? It's because we all want to be hopeful for the world.
NBC MODERATOR
Many people think of you as a hero...
Antoine seufzt, kaum hörbar. Er erträgt die Frage nicht mehr.
ANTOINE
...Oh, I'm not! I'm just a normal guy trying to deal with the terrible loss of my wife, the mother of my son.
NBC MODERATOR
Okay... Do you have a message for us, for the people out there?
Aus den Augenwinkeln sieht Antoine, dass sein Handy-Display glüht. Ein Anruf von Bruno!
ANTOINE
Ah, yes. Do I have a message? Maybe. Yes... Live life. Don't let them win. Let's go play and listen to music and drink some beer, enjoy life.
Stille. Antoine lächelt eine Spur zu mechanisch in die Kamera, scheint seinen Worten nicht zu trauen.
Auf der Rolltreppe in die Tiefe. Antoine holt sein Handy aus der Tasche. Vier Anrufe von Bruno in Abwesenheit. Er ruft die Mailbox an. Hält sich das Telefon ans Ohr.
BRUNO (AUF DER MAILBOX) (angefasst, jämmerlich)
Hey, guapo... hey, hey, hey. Ich bin hier, wo bist du? ... hm...Ich muss dich sehen...
(MORE)
Ich muss dich wirklich dringend sprechen.
Es folgt ein Klappern, ein Fluch, offenbar ist Bruno das Handy aus der Hand gerutscht. Erst dann bricht der Anruf ab.
Antoine lässt das Handy wie unbeteiligt in die Tasche gleiten. Er folgt dem Strom der Passanten.
Es ist noch vor der Rush-Hour am frühen Abend. Antoine steht am Ausgang, starrt auf den Fußboden, um niemanden ansehen zu müssen.
Da bremst die U-Bahn plötzlich abrupt ab und das Licht beginnt zu flackern. Antoine hat Mühe, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Jemand stöhnt laut und ängstlich auf.
Dann geht das Licht ganz aus. Nur noch die Notbeleuchtung aus dem Tunnel sorgt für etwas Restlicht. Man hört einen lauten Knall in der Ferne.
Oh Gott, was war das? ...hab Angst!
Antoine gerät selbst in Panik. Er sieht sich um. Die anderen Fahrgäste sind nur Schemen. Augen glänzen in der Dunkelheit.
Aber dann geht das Licht wieder an und die Bahn fährt weiter. Die Fahrgäste sehen sich an. Die Angst lässt nach.
Melvil trommelt wild auf Hélènes Schlagzeug herum.
Julie sitzt hinten in der Küche, adressiert einen hohen Stapel Trauerkarten.
Antoine beschäftigt sich lieber mit seinen Paketen. Er hockt im Wohnzimmer in einem Meer aus Stofftieren, Zeichnungen, Süßigkeiten, Schecks, Rasier-Sets und Postkarten aus aller Welt. Er überfliegt einen Brief aus Büttenpapier. Alexandre assistiert beim Auspacken. Der Fernseher läuft stumm.
Hier... Marianne aus Nancy, 82, sehr kinderlieb. Sie möchte auf Melvil aufpassen, damit du wieder arbeiten gehen kannst. Süß ... Magst du die?
Er hält Antoine eine Packung Alkoholpralinen hin. Unter der Schleife klemmt ein Zettel.
ALEXANDRE (CONT'D)
Ach, guck mal, und hier ist noch ´ n Rabatt-Coupon für ein Paar HerrenSocken.
Antoine lächelt automatisch mit.
Julie erscheint in der Tür zum Wohnzimmer. Melvil drischt immer lauter mit den Sticks auf Hélènes Schlagzeug ein.
JULIE
Melvil! (zu Antoine)
Es ist gleich halb neun, der Junge muss doch ins Bett.
ANTOINE (halblaut)
In Bougival vielleicht.
Melvil schreit plötzlich freudig auf und läuft zum Fernseher.
MELVIL
Mama!
In den Abendnachrichten werden Bilder der Opfern gezeigt, darunter auch Hélène. Julie reagiert sofort und schaltet schnell den Fernseher aus. Melvil protestiert.
MELVIL (CONT'D)
Mama!
Er schlägt mit der Hand auf den Bildschirm, doch sie ist verschwunden! Er lässt seine Hand dort, wo sie zu sehen war, und wartet auf die Rückkehr des Bildes seiner Mutter.
MELVIL (CONT'D) (quengelt)
Mamaa!
Betretenes Schweigen. Julie blickt vorwurfsvoll auf Antoine. Antoine hockt hilflos zwischen den Paketen.
INT. ANTOINES WOHNUNG - KINDERZIMMER - NACHT 85 85
Antoine liegt in Embryonalstellung mit Melvil auf dem Teppich, sein Gesicht an Melvils Schulter vergraben. Er sucht in der Intimität das Gegengift gegen die innere Anspannung. Melvil trinkt gierig sein Fläschchen.
JULIE + ALEXANDRE (O.S.)
Tschüß!
Ja, Tschüß.
Melvil mit einer Hand in Antoines Gesicht, betastet die Nase, den Mund, die Augen. Antoine grunzt matt und leise. Melvil soll weitermachen. Er hält sich nervös am Jungen fest. Streichelt ihn mit zittrigen Händen.
Melvil lugt über den Rand seines Fläschchens und beäugt den aufgeriebenen Papa.
Die Küche im fahlen Licht. Antoines übernächtigtes Gesicht im Schimmer seines Laptop-Displays. Er liest auf Facebook Nachrichten von Fremden aus aller Welt.
Diese Menschen sind blind. Sie sind blind vor Hass. Aber ich schicke Ihnen meine blinde Liebe.
Antoine freut sich über die Nachricht. Er schreibt spontan zurück. Blinde Liebe. Das ist genial.
Er will die Antwort absenden. Aber es geht nicht. Antoine drückt mehrmals auf die Enter-Taste. Nichts passiert. Womöglich hat sich das Programm aufgehängt. Er schließt Facebook, öffnet es wieder, loggt sich ein.
Da erscheint ein Fenster: Konto gesperrt. Dein Konto wurde gesperrt. Solltest du Fragen oder Bedenken haben, besuche bitte unsere FAQ-Seite hier.
Ungläubig versucht Antoine, sich erneut einzuloggen. Wieder der Sperrhinweis. Die Sache beunruhigt ihn zunehmend.
ANTOINE (leise Panik)
Häh! Was soll das denn jetzt? Scheiße.
Er hämmert auf den Tasten des Laptops.
Der dunkle Flur. Ein gekrümmte Gestalt. Es ist Antoine. Entsetzen im Blick, Schweiß auf der Stirn. Die zitternde Hand auf der Brust. Alles hat sich zugeschnürt. Sein Herz rast. Er weiß überhaupt nicht, was mit ihm los ist.
Er blickt ins Schlafzimmer. Melvil schläft friedlich. Antoine atmet flach in den Handrücken, starrt auf seinen Sohn - als könne der Anblick seine Panik lindern. Es hilft nicht.
Antoine beißt sich in seinen Handrücken. Er atmet flach und schnell, schiere Panik im Blick.
Warmes Wasser rauscht in die Wanne.
Antoine versucht mit zitternden Hände seinen Hosenknopf aufzumachen. Er zwängt sich aus der Hose. Sein Atem noch immer panisch.
Er steigt schlotternd, mit T-Shirt, Shorts und Socken in die Wanne. Versucht sich im warmen Wasser zu beruhigen.
Direkt über ihm baumelt die gewaschene Wäsche auf der Leine. Hélènes Sachen. Antoine schließt die Augen. Er wimmert leise. Aber sein Atem beruhigt sich etwas.
CUT TO:
Eine kurze Erinnerung. Im grellen Licht der Sonne am Meer. Wir sind hinter Hélène, ganz nah bei ihr. Sie dreht sich um und lacht, aber ihr Gesicht bleibt unscharf.
CUT BACK:
Er kann sich nicht an ihr Gesicht erinnern. Antoine fährt sich mit der Hand an den Kopf. Er umklammert sich, schreit seine Verzweiflung in die Armbeuge.
Die Särge stapeln sich auf Regalen bis unter die Decke. Julie bespricht sich vor einem Modell mit dem BESTATTER. Sylvie und Annie blättern am Besuchertisch einen Katalog mit Blumengestecken durch. Leere Kaffeetassen. Man ist schon eine Weile hier.
Antoine, noch in Mantel und Schal, schlaflos und aufgerieben, steht mit Alexandre abseits zwischen den Ständern mit Urnen.
ALEXANDRE
Vielleicht waren es einfach zu viele Nachrichten?
ANTOINE
Aber deswegen können die doch nicht meinen Account sperren. Die sind alle weg!
Alexandre bläst überfordert Luft aus. Da tritt Julie heran.
JULIE
Antoine, wir müssen jetzt eine Entscheidung treffen, mit dem Sarg. Nehmen wir den weißen oder natur?
Antoine fährt gereizt herum, er mustert Julie abwesend.
JULIE (CONT'D)
Ich finde weiß toll... gerade in Kombination mit den Lilien.
ANTOINE (befremdet)
Wieso Lilien? Ich will keine Lilien!
Julie ringt mit der Fassung.
JULIE
Ich hab dir vor zwei Tagen eine Mail geschickt. Das ist alles längst bestellt! Hast du das Kleid rausgesucht?!
Antoine starrt sie an - keine Ahnung wovon sie spricht.
JULIE (CONT'D)
Das Kleid für Hélène? Für die Beerdigung?
ANTOINE
Hélène mochte keine Lilien, und die Särge finde ich alle furchtbar!
Julie ringt mit den Tränen. Das Verhalten ihres Bruders ist unerträglich.
ALEXANDRE
Antoine. Die Beerdigung ist in drei Tagen...
ANTOINE
Ja! Dann verschieben wir es eben.
Antoine wendet sich ab, streift laut seufzend die Reihe der Särge entlang, kann über die Modelle nur den Kopf schütteln.
ANNIE
Entschuldige, aber ich komme gerade mit deiner Haltung nicht klar. Deine Schwester kümmert sich hier um alles und du... du bist einfach nur destruktiv!
ANTOINE (fährt herum)
Ich hab meine Frau verloren, erzähl mir nicht, wie ich mich zu verhalten habe.
ANNIE
Ja, und ich meine Schwester. (deutet auf Sylvie) Und sie ihre Tochter. Mann, du bist hier nicht allein.
Antoine hat keine Lust, zurechtgewiesen zu werden. Er schiebt sich an Annie vorbei. Sylvie hält ihn am Ärmel fest.
SYLVIE
Antoine, bitte. Das hat uns alle schwer getroffen. Aber wir können dem nicht ausweichen.
SYLVIE (CONT'D)
Wir werden das gemeinsam durchstehen.
ANTOINE Was soll das heißen?
ANTOINE (CONT'D) (empört)
Ich weiche nicht aus!
Annie lacht ungläubig auf. Ihr platzt der Kragen.
ANNIE
Doch, das tust du! Drei Arschlöcher in Joggginghosen haben meine Schwester umgebracht. Und du setzt dich ins Fernsehstudio und philosophierst rum.
SYLVIE
Annie, das geht zu weit!
ANNIE
Das ist so typisch.
Antoine schaut Annie einfach nur an - wütend und fassungslos! Er bläst Luft durch die Zähne und geht.
ANTOINE
Okay. Dann macht doch was ihr wollt.
Er geht, dreht sich noch einmal um.
ANTOINE (CONT'D) (zitternd vor Wut)
Ich hab mir das nicht ausgesucht! Ich will Hélène einfach nur behalten wie sie war...
Wütend marschiert er aus dem Bestattungsinstitut. Alle sind betroffen, selbst Annie kämpft kurz mit den Tränen.
INT. HOTEL INTERCONTINENTAL - SUITE - TAG 90 90
Eine Suite, zum Aufnahmestudio umfunktioniert. Auf dem Teleprompter läuft der Post, ins Englische übersetzt.
Antoine sitzt in einem Sessel vor laufender Kamera und hält sich die Hände vor das Gesicht. Die Aufnahme ist unterbrochen. Dann nickt er in die Kamera - es geht wieder.
ANTOINE
Okay, I´m fine.
Die BBC-Moderatorin lächelt verständnisvoll. Sie gibt dem Techniker ein Zeichen. Antoine beginnt noch einmal von vorne. Er liest seinen Post vom Teleprompter ab.
ANTOINE (CONT'D)
On Friday night, you stole away the life of an exceptional being. The love of my life, the mother...
Antoine stockt, schüttelt den Kopf über sich selbst.
ANTOINE (CONT'D)
Sorry. I´m sorry...
BBC MODERATORIN
No problem! Is the prompter too fast?
Antoine schüttelt den Kopf - nein! Die Moderatorin spricht leise mit dem Techniker, der stellt den Teleprompter auf Null. Dann nickt sie Antoine freundlich zu.
ANTOINE
On Friday night, you stole away the life of an exceptional being. The love of my life, the mother of my son, but you will not have my hatred....
Er bricht ab, schließt die Augen, fasst sich mit der rechten Hand an seine linke Brust, senkt den Blick.
BBC MODERATORIN
Do you need a break, Monsieur Leiris?
Antoine starrt unsicher ins helle Licht, er senkt den Blick, schüttelt den Kopf - was macht er hier eigentlich?
EXT. MÉTRO - NACHT 91 91
Ein kleines helles Licht am Ende des Tunnels, schnell größer werdend. Der Blick in den Gleistunnel. Einfahrt der U-Bahn.
EXT. STRASSE VOR RESTAURANT - NACHT 91a 91a
Kalter Herbstwind bläst um die Häuser. Antoine hat seinen Kragen hochgeschlagen, wirkt angespannt und kurzatmig. Er biegt um eine Straßenecke und verlangsamt seinen Schritt.
Vor einem Restaurant auf der Straße steht Bruno und raucht. Antoine erkennt ihn schon an der Silhouette und der Art wie er seine Zigarette wegschnippst.
Bruno will gerade zurück ins Restaurant gehen, als er Antoine entdeckt. Er humpelt auf ihn zu, lächelt ihn unsicher an. Da ein kurzes Zögern auf beiden Seiten. Dann umarmt Bruno Antoine.
BRUNO
Hey, Guapo! Tut gut, dich zu sehen.
INT. RESTAURANT, TERRASSE - NACHT 92 92
Bruno nippt an seinem Bier, wischt sich nervös den Schaum von der Lippe. Ihm gegenüber dreht Antoine angespannt sein Bierglas.
Wenig Betrieb hinten im Restaurant. Über dem Tresen läuft der Fernseher: Blaulichter, Polizisten - es geht um den Anschlag. Der Wirt und ein einziger Gast schauen zu.
Brunos unruhiger Blick sucht Antoine, bittet um Erlaubnis zu erzählen. Antoine nickt - er ist stark genug.
BRUNO
War eine unglaubliche Stimmung da. Am Anfang. Absoluter Wahnsinn! Alle waren am Tanzen. Die ganze Bude hat gerockt.
(lächelt)
Hélène hatte den Mega-Spaß. Sie ist so richtig durchgetickt. Hat laut gesungen. Die war sofort heiser.
Er lächelt Antoine an. Der nimmt sein Lächeln auf, ohne es richtig zu wollen.
BRUNO (CONT'D)
Erst dachten wir, das wäre Teil der Show, oder irgendwelche Idioten, die Knallfrösche zünden oder so was.
Er fährt sich mit der Hand ins Haar, blickt zu Antoine. Vergewissert sich noch einmal, ob er weitersprechen soll.
BRUNO (CONT'D)
Wir waren ziemlich weit vorne im Graben bei den Lautsprechern... Aber dann hat die Band aufgehört zu spielen und wir haben kapiert, dass da irgendwas nicht stimmt. Die hatten Panik. Wir haben uns umgedreht... Die haben einfach in die Menge geschossen. Die haben immer weiter gemacht: Neben uns, hinter uns, überall, sind die Leute zusammengebrochen. Wir wurden nach vorne gedrückt. Ich hatte Angst, dass wir totgetrampelt werden...
Antoine starrt hilflos hinaus auf die Straße, sucht Halt in einer Alltäglichkeit. Draußen knattert ein Pizzabote vorbei.
BRUNO (CONT'D)
Mich hat´s im Bein erwischt, ich hab nichts gespürt, war einfach nur warm, keinen Schmerz... Ich bin ausgerutscht: Da waren überall Pfützen, alles war nass, ich hab das erst nicht kapiert... das war alles Blut.
Er spricht mit weit aufgerissenen Augen. Antoine ist gefangen von der Erzählung, stützt seinen Kopf in die Hände. Die Finger jetzt auf die Ohren gelegt, als wollte er nichts hören. Ohnmacht überschwemmt ihn.
BRUNO (CONT'D)
Ein Typ hat sich unter einer Leiche versteckt. Neben mir hat einer versucht, seine Freundin wiederzubeleben, aber die war längst... Es war schlimmer als ein Horrorfilm... dieser Geruch. Schweiß, Rost, verbranntes Gummi... (er riecht an seinem Arm) Das klebt an mir. Ich werd´s nicht los.
Antoine, starrt auf die Tischplatte, atmet durch den offenen Mund. Bruno fängt an zu zittern. Er blickt Antoine direkt an. Flehen im Blick.
BRUNO (CONT'D)
Hélène lag die ganze Zeit neben mir. Ich hab ihre Hand gehalten... Sie ist in meinen Armen gestorben.
Bruno weint. Antoine hält es nicht mehr aus. Seine Hände krallen sich ineinander. Er blickt den Freund nicht an.
ANTOINE
Warum hast du es mir nicht gleich am Telefon gesagt? Ich hab gehofft das ganze Wochenende... Ich versteh das nicht!
Der Vorwurf trifft Bruno ins Mark. Er fängt an zu zittern und zu beben, fällt in diesem Moment völlig auseinander.
BRUNO
Ich konnte nichts machen. Die haben immer weitergeschossen. Ich hab mich zwei Stunden nicht gerührt. Die haben auf alles geschossen was sich bewegt hat... Es tut mir so leid...
Bruno zieht Antoine verzweifelt in die Umarmung, klammert sich regelrecht fest und redet flüsternd weiter.
BRUNO (CONT'D)
Sie war so schrecklich still...
Bruno glaubt, dass Antoine ihm die Versöhnung verweigert. Aber Antoine ist einfach nur schockiert von der Schilderung ihres Todes.
Unter den dünnen Bettlaken schimmert das Handy-Display.
Antoine liegt unter dem Laken, wie in einem Kokon, das Handy ans Ohr gepresst. Er zittert unmerklich, aufgerieben und verstört nach der Begegnung mit Bruno.
HÉLÈNE (O.S.) (gut gelaunter Singsang)
Hi Baby, ich bin noch kurz mit Melvil einkaufen. Wir haben überlegt, was du essen magst?... Und wenn du jetzt nicht gleich rangehst, dann gibt es einfach Fisch für dich! Drei, zwei, eins, und zu spät! (sie kichert) Kannst ja schon mal Kartoffeln aufsetzen. Bis gleich.
Sie küsst in den Telefonhörer, im Hintergrund brabbelt Melvil fröhlich rum. Dann legt Hélène auf. Antoine schließt die Augen.
Noch einmal drückt er wie automatisch die Taste zum Abhören der gespeicherten Nachricht. Seine Augen sind glasig, die Hände zittern leicht, als er erneut das warme Handy ans Ohr drückt.
HÉLÈNE (O.S.) (CONT'D)
Hi Baby, ich bin noch kurz mit Melvil einkaufen...
Bringzeit in der Kita. Antoine hat den Kopf aufgestützt, blickt zu Boden. Viel zu erschöpft und dünnhäutig um in soziale Interaktion zu treten.
Er sitzt neben Melvil, der seine Schuhe heute alleine ausziehen will, dafür aber eine Ewigkeit braucht.
Zwei der Tupperdosenmütter betreten hinter ihm den Vorraum und begrüßen Antoine.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Hallo, Antoine.
TUPPERDOSENMUTTER #2 Hi.
Antoine dreht sich verstört um. Weiß nicht, was die beiden Frauen wollen. Die zweite Mutter nimmt zwei Gläser aus ihrer Tasche.
TUPPERDOSENMUTTER #2 (CONT'D) (gut gelaunt)
Nachschub! Heute gibt es Karotte und Aubergine.
Antoine macht keine Anstalten die Gläser entgegenzunehmen, er ist in Gedanken woanders. Die Mutter zögert, stellt sie einfach auf der Bank ab.
TUPPERDOSENMUTTER #1
Hast du zufällig die Schüsseln dabei?
Antoine guckt sie unverwandt an.
TUPPERDOSENMUTTER #1 (CONT'D)
Die Tupperschüsseln.
ANTOINE (nickt) Ah...
TUPPERDOSENMUTTER #1
Na ja, kein Problem. Vielleicht kannst du ja Montag dran denken?
Weil Antoine auf befremdliche Weise gar nicht reagiert, geht sie vor Melvil in die Hocke.
TUPPERDOSENMUTTER #1 (CONT'D) (zu Melvil)
Hat´s dir denn geschmeckt? Hm? Die Suppe?
Melvil verzieht das Gesicht und schüttelt den Kopf.
TUPPERDOSENMUTTER #1 (CONT'D) (überrascht)
Nein? War nicht lecker?
Bähh-kaka, bähh-kaka, bähh-kaka!
Antoine lächelt automatisch, eine Reaktion auf Melvil, nicht als Provokation gemeint.
Das Lächeln der Mutter friert ein. Sie schaut zu Antoine, der seinen Fauxpas gar nicht bemerkt und sie mit leichter Verwirrung ansieht.
ANTOINES WOHNUNG - BAD - TAG
Antoine sitzt überfordert auf dem Rand der Badewanne. Auf seinem Schoß Melvil. Er will ihm die Fingernägel schneiden. Die brüchige Stimme verrät seinen desolaten Zustand.
ANTOINE
Knipser oder Schere, hm? Wie macht Mama das?
Melvil kennt die Antwort nicht. Antoine entscheidet sich für die Schere. Er sucht nach der besten Position, stellt sich ungeschickt an.
Unter dem konzentrierten Blick von Melvil schneidet er den ersten Nagel.
ANTOINE (CONT'D) (leise zu sich) Geht doch.
Doch beim nächsten Nagel entgleitet ihm die Schere, Melvil zieht ruckartig seine Hand zurück, und macht eine Faust.
Ein schriller Schrei. Es ist Antoine. Er glaubt, er habe Melvil den halben Finger abgeschnitten.
ANTOINE (CONT'D)
Oh Gott, hab ich dich geschnitten? Zeig mal deine Hand. Melvil, mach mal Hand auf.
Endlich öffnet Melvil seine Hand. Antoine entdeckt kein Blut. Er hat ihm nur ein bisschen Haut abgeschnitten. Es ist trotzdem eine Katastrophe.
ANTOINE (CONT'D)
Alles gut, nichts passiert! Nichts passiert!
Er pustet auf den Finger, lehnt seinen Kopf an den Kleinen, als würde er Trost bei Melvil suchen.
Antoine hockt am Küchentisch, den Kopf in seine Hand gestützt und starrt auf den aufgeschlagenen Laptop. Er tippt mit einem Finger das Wort “Bataclan” ein und geht auf die Video-Suche.
Die Ergebnisse sind sofort da. Nachrichten und Footage aus den Tagen danach. Der Blick in den Abgrund, nur einen Klick entfernt.
Antoine schlägt den Laptop zu. Er steht auf, tritt an den Tresen, starrt vor sich hin. Dann öffnet er den Schrank. Er wühlt nach Pillen. Drückt zwei Tabletten aus einer BlisterVerpackung und spült sie mit einem Schluck Cognac herunter.
Antoine öffnet die Türen des Kleiderschranks. Eine intensive Welle ihres Geruch rollt ihm entgegen. Er schließt die Augen, atmet tief ein.
Zart streift er mit der Hand über Hélènes aufgereihte Schätze. Er berührt vorsichtig die Stoffe, fühlt die Textur.
Er greift nach einem gelben Kleid mit fröhlichem Blumenmuster, fährt mit der Hand zärtlich über den Stoff. Er hängt das Kleid an die offene Tür.
Sucht weiter, verharrt bei einer Bluse in fröhlichem Orange, das von kleinen weißen Karos etwas gedämpft wird.
CUT TO:
Eine kleine präzise Erinnerung: Hélène verknotet die Enden der Orange gemusterten Bluse über ihrem Bauchnabel, legt einen schmalen Streifen ihrer Haut frei.
CUT BACK:
Antoine entscheidet sich für ein Kleid aus feinem weißem Tüll, zieht es vom Bügel, hält es sich vor den Körper, vergräbt sein Gesicht in dem Stoff und riecht daran. Er verzweifelt ein bisschen an ihrer starken Präsenz.
ANTOINE (flüstert, zu sich)
Ach du...
Er küsst das Kleid, legt es behutsam aufs Bett, streichelt noch einmal über den Stoff.
Antoine tritt an den Schminktisch, trinkt noch einen Schluck Cognac, fährt mit der Hand über Mascaras, Lippenstifte, Cremes und Flakons. Er greift nach ihrem Parfum, besprüht seinen Hals, schließt die Augen und atmet den Duft ein.
Er geht zur Tür und schließt ab. Dann nimmt er das weiße TüllKleid, legt sich aufs Bett und breitet das Kleid über sich aus, fährt mit seinen Händen liebkosend über den Stoff.
Er zieht sich den dünnen Stoff des Kleides über das Gesicht. Atmet durch den Stoff. Es sieht aus wie eine Totenmaske.
Der Flur im Halbdunkel. Nur aus der Küche dringt Licht. Melvil, der Mund schokoladenverschmiert, die Windel randvoll, ist dabei, Klopapier über den Fußboden abzurollen.
Er schubst die Rolle über den Boden, krabbelt dem abgerollten Papierstreifen hinterher. Und macht “Brumm, Brumm” - wie ein Auto. Da klingelt es an der Tür.
Melvil setzt hochkonzentriert sein Straßenbauprojekt fort. Dann dreht sich ein Schlüssel im Schloss. Alexandre betritt die Wohnung und entdeckt Melvil.
ALEXANDRE
Hey, Großer... Wo ist denn Papa?
Irritiert über das Klorollen-Chaos, wirft er einen Blick in die Küche: Eine halbleere Flasche Cognac.
ALEXANDRE (CONT'D)
Antoine? Antoine...!
Er will ins Schlafzimmer. Aber es ist angeschlossen.
ALEXANDRE (CONT'D) Antoine?
Er rüttelt an der Tür. Keine Reaktion. Beunruhigt geht Alexandre durchs Wohnzimmer zur Schiebetür des Schlafzimmer. Auch diese ist verschlossen. Hinten läuft der Fernseher.
ALEXANDRE (CONT'D) Antoine! Mach mal auf, bitte!
Er hämmert gegen die Schiebetür.
ALEXANDRE (CONT'D) (laut, verzweifelt) Antoine!
Er rüttelt jetzt panisch an der Schiebetür. Er donnert seine Schulter dagegen. Das bringt nichts. Er blickt sich hilflos nach einem Werkzeug um.
Da öffnet sich plötzlich die Schiebetür. Antoine, verschmierter Lippenstift auf dem Mund, steht benebelt da. Er stinkt nach Cognac und Parfum.
ANTOINE
Was ist denn mit dir los?
Alexandre starrt ihn fassungslos an.
ANTOINE (CONT'D) (irritiert u. belustigt)
Ich hab doch nur ´ n Kleid rausgesucht. Ist alles gut.
Er will ihn beruhigend anfassen. Aber Alexandre haut wütend Antoines Arm beiseite.
ALEXANDRE
Spinnst du jetzt völlig?
Der Zustand des Bruders macht ihm Angst.
Ohrenbetäubender Lärm im Raum der Entdecker. Melvil tobt und tanzt mit den anderen Kindern zu lauter Musik.
Hinter der Scheibe zum Korridor steht Antoine. Er trägt einen schwarzen Anzug, die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen. Er beobachtet Melvil und winkt zum Abschied.
Aber Melvil sieht ihn nicht.
Mit einer kleinen Schaufel wird Sand auf das Grab geworfen.
Antoine, immer noch hinter einer Sonnenbrille verschanzt, rammt die Schaufel in den Eimer mit Sand, dreht ab, baut sich neben der Grabstätte auf, um die Beileidsbekundungen der Trauergäste zu empfangen.
Er wirkt, als hätte das Ganze hier nichts mit ihm zu tun. Als erstes tritt Julie heran.
Sie hat ihre Jüngste auf dem Arm, blickt Antoine verweint und voller Mitleid ins Gesicht. Die Kleine überreicht ihm ein Blümchen.
Julie will Antoines Wange streicheln, deutet es nur an, sie gibt ihm einen Kuss.
Antoine nickt ihr mechanisch zu.
Danke.
Neben ihm wirft Alexandre mit der Schaufel Sand ins Grab und nimmt anschließend seinen Bruder in den Arm.
Antoine streichelt ihm mechanisch über den Rücken. Alexandre heult Rotz und Wasser. Es schüttelt seinen ganzen Körper. Er kann sich nur schwer von Antoine trennen.
Sylvie ist die nächste. Ihr Lidstrich ist von den vielen Tränen verlaufen. Sie nimmt Antoines Hände, schaut ihn an, senkt ihren Blick.
Geh mir bitte nicht verloren.
Sie streichelt ihm über den Arm. Antoine starrt sie durch seine Sonnenbrille an. Für ein kurzen Moment ist zu spüren, wie er um Fassung ringt. Er atmet dagegen an.
Dann macht Sylvie Platz für Annie, die ihren Schwager mit einem entschuldigenden Lächeln gegenübertritt. Sie gibt ihm rechts und links Küsschen, kondoliert fast lautlos.
Danke.
Melvil liegt auf dem Wickeltisch und strampelt. Er ist noch im albernen Quatsch-und-Spiel-Modus. Antoine schafft es nicht, ihm die Windel zu schließen. Mühsam unterdrückt er seine Wut.
ANTOINE
Machst du bitte mit?
Melvil windet sich aus seinem Griff, langt nach einem Spielzeug.
ANTOINE (CONT'D)
Hallo. Mach jetzt mit! (leise zu sich, erschöpft) Ich kann nicht mehr.
Aber Melvil tritt ihn mit Füßen.
ANTOINE (CONT'D) (scharf, unterdrückt)
Ich hab gesagt, du sollst damit aufhören! Schluss!
Melvil fängt an zu weinen. Antoine bemerkt selber, er war zu aggressiv. Doch er schafft es nicht, Melvil zu trösten - ihm fehlt die Kraft.
“Lo Boob Oscillater” von Stereolab auf voller Lautstärke.
Antoine sitzt auf dem Bett, die großen Kopfhörer auf den Ohren und badet mit geschlossenen Augen in Hélènes Superhit. Die Flasche Wodka steht zu seinen Füßen.
Melvil steht auf Zehenspitzen, macht sich so lang wie es geht und kommt gerade eben an die Klinke.
Die Schlafzimmertür platzt auf. Melvil entdeckt Antoine auf dem Bett.
Aus seinen Kopfhörern dringt laute Musik. Antoine sieht Melvil völlig ausdruckslos an, als würde er durch ihn hindurchschauen. Aus seinem Blick spricht eine fast unheimliche Gleichgültigkeit.
Melvil hat sein Kissen und seine Decke vor die Wohnungstür geschleppt. Er liegt halb auf seiner Decke, halb auf dem Holzfußboden und schläft.
Der kalte Luftzug unter der Tür lässt seine flaumigen Haare zittern.
Antoine tigert durchs dunkle Schlafzimmer, wankt betrunken, säuft Wodka direkt aus der Flasche, starrt aufgewühlt seinen Laptop an.
Der Computer liegt aufgeschlagen auf dem Bett. Der Bildschirmschoner wirft bläuliches Licht.
Antoine nimmt noch einen Schluck, knibbelt hibbelig am Etikett am Flaschenhals. Er tritt ans Bett, als würde das Flimmern ihn anziehen.
Er lässt sich aufs Bett fallen. Er muss begreifen, was passiert ist. Es ist wie eine Sucht. Er startet das Video.
Das Bild ist dunkel, fasst starr. Die “Eagles of Death Metal” im Licht der Scheinwerfer. Die PA bringt das Handymikrofon an seine Grenzen. Ein lautes Knattern mischt sich in die Musik. Die Musik bricht ab. Verwirrung auf der Bühne. Schreie.
Antoine starrt entsetzt auf sein Laptop. Die Schüsse platzen. Menschen schreien. Eher gedämpft als hysterisch. Es ist der reinste Horror.
Antoine ist unfähig, zu reagieren. Er muss hinsehen. Plötzlich ist es fast still.
Doch nach einem Moment folgt eine neue Salve.
Wieder Stille.
Wieder Schüsse.
Die Aufzeichnung ist unerträglich lang.
Antoine sitzt da. Paralysiert. Unfähig, die Aufzeichnung zu stoppen.
Wieder Schüssen. Vereinzelt keine Salve.
Plötzlich bricht die Aufzeichnung ab. Aber Antoine bleibt einfach nur auf dem Bett sitzen, starrt ins Leere. Der Horror hat sich eingebrannt.
Antoines Zigarette glimmt in der Nacht. Er raucht zu schnell, lässt die Kippe vom Balkon fallen und schaut den in die Tiefe stürzenden Funken nach.
Ein schrecklicher Gedanke bemächtigt sich seiner und Antoine dreht sich abrupt um. Er bleibt mit dem Rücken zum Geländer stehen, starrt verstört auf den Boden.
liegt auf der Seite und schläft.
Plötzlich legt sich ein Arm um ihn. Es ist Helene. Antoine wacht auf, dreht sich lächelnd zu ihr. Ihre Haare kitzeln über sein Gesicht.
Sie ist da! Er streichelt sie, zutiefst erleichtert, küsst sie, ganz zart. Und sie küsst ihn zurück. Sie umschlingen sich mit ihren Armen.
atemlos)
Wo warst du denn solange?
Er gräbt sein Gesicht in ihre Haare. Ein unfassbares Glück.
Mitten in der Nacht. Antoine erwacht in seinem Bett. Er fährt herum. Das Bett neben ihm ist leer.
Er stöhnt, legt seinen Handrücken auf der Stirn ab. Das ganze war nur ein Traum, die Enttäuschung und der Horror sind real.
Chaos in der Wohnung. Überall liegen Sachen herum, Decken, Kleider, Schuhe, Melvils Spielzeug, Gläser, Bücher.
Melvil watschelt durch den Flur.
MELVIL
Papa? Papa!
Im Wohnzimmer läuft der Fernseher alleine vor sich hin. LiveÜbertragung von der zentralen Trauerfeier. Hollande greift in seiner Rede einen Gedanken von Antoine auf.
HOLLANDE (TV)
... qui sont tombé le 13 novembre incarner nos valeurs. Et notre devoir et plus que jamais de le faire vivre: ces valeurs. Nous ne séduirons ni à la peur, ni à la haine.
... die am 13. November gefallen sind verkörpern unsere Werte Und es ist mehr denn je unsere Pflicht diese Werte zu leben. Wir lassen uns nicht verführen, weder von der Angst, noch vom Hass...
MELVIL (O.S.)
Papa! Papa!!!!
Melvil hat einen Stapel Bücher aus dem Regal gezogen. Er kaut auf seinem Lieblingsbuch herum und wälzt sich auf dem Teppichboden des Kinderzimmers. Papa soll Vorlesen.
MELVIL (CONT'D)
Papaaa!
Keine Reaktion.
Antoine steht mit geschlossenen Augen unter der Dusche und lässt das dampfend heiße Wasser über seinen Kopf fließen. Am liebsten würde er den ganzen Tag so verbringen. Die Tür klappert, der Junge kommt ins Bad.
ANTOINE
Tür zu, bitte, Melvil.
Plötzlich zieht Melvil den Duschvorhang auf.
MELVIL (freudig)
Papa. Auch baden.
ANTOINE
Melvil, du wirst ganz nass! Geh bitte raus, ich kann jetzt nicht! Das Wasser ist heiß!
Er schiebt den Kleinen zurück, ein bisschen zu ruppig, und zieht den Vorhang wieder zu. Dann fängt er an, sich einzuseifen.
Aber im Bad ist es plötzlich still, Melvil ist weg. Antoine streckt seinen Kopf aus der Dusche.
ANTOINE (CONT'D) (ruft)
Melvil? Wo bist du? Kleiner Wolf?
Er beeilt sich, spült sich die Seife aus dem Haar, hat kein gutes Gefühl, Melvil alleine in der Wohnung zu lassen. Das trifft ihn plötzlich etwas Hartes am Bein: Melvil kippt einen Stapel Bilderbücher in die Badewanne.
Wutschnaubend steigt Antoine aus der Badewanne.
ANTOINE (CONT'D) (schimpft laut)
Sag mal spinnst du jetzt völlig? Guck dir an, was du gemacht hast!
Er packt Melvil an beiden Armen, hebt ihn weg von der Wanne. Er holt die Bücher aus der Wanne.
ANTOINE (CONT'D)
Die Bücher sind kaputt! Die sind alle Schrott jetzt! Guck dir an was du gemacht hast!
Melvil fängt an zu schreien und zu weinen, will zurück zur Wanne, aber Antoine lässt ihn nicht.
MELVIL
Mama! Mama!
ANTOINE (schreit)
Hör auf zu schreien!
MELVIL
Mama, Mama!
Hör auf!
Mama!
ANTOINE
MELVIL
ANTOINE (brüllt)
Hör auf damit!!!
Jetzt rennt Melvil weinend aus dem Badezimmer.
Antoine nimmt die Bücher, feuert sie wütend auf den Boden, und sackt vor der Wanne zusammen. Er kann nicht mehr. Zusammengekrümmt liegt er auf dem Boden und zittert am ganzen Körper.
Er schließt erschöpft die Augen.
ANTOINE (CONT'D) (matt)
Melvil.
Er rappelt sich mühsam auf, schnappt sich ein Handtuch, wickelt es um die Hüfte, tritt auf den Flur.
Antoine stolpert über den Flur ins Kinderzimmer. Er zittert vor Kälte und innerer Erregung.
ANTOINE
Melvil...
Das Kinderzimmer ist leer.
Antoine seufzt, schaut in die Küche - auch leer. Da bemerkt er, dass die Wohnungstür halboffen ist. Das kann nicht sein...
ANTOINE (CONT'D)
Melvil?!
Ein flüchtiger Blick ins Schlafzimmer - kein Melvil. Antoine stürzt nach draußen. Melvil ist fort!
Nackte Füße auf Bodenkacheln. Antoine rennt durch den Hausflur, bloßer Oberkörper, Handtuch um die Hüften, er stößt die Haustür auf, rennt auf die Straße.
ANTOINE (ruft)
Melvil? Melvil!
Er läuft weiter, blickt sich verzweifelt um.
ANTOINE (CONT'D)
Melvil!!!
Keine Spur von Melvil. Antoine schlägt sich die Hand vor den Mund. Er ist entsetzt über sich selbst.
Antoine hält sich das Telefon ans Ohr, er ist leichenblass, sein Atem flach. Endlich wird abgenommen.
Vous êtes en relation avec Police secours, nous allons donner suite à votre appel. Sie sind mit dem Notruf der Polizei verbunden. Wir werden Ihren Anruf sofort entgegennehmen.
Antoine stöhnt auf. Wartet. Plötzlich hört er ein Geräusch aus dem Schlafzimmer. Ein dumpfes Klappern.
Antoine legt auf, schaut ins Schlafzimmer.
Er wartet, lauscht. Aus dem Schrank kommt ein leises Schniefen. Antoine öffnet die Schranktür.
Melvil hockt zusammengekauert zwischen Helenes Kleidern und lutscht am Stoff seines kleinen Phantoms. Sein kleiner Körper bebt noch vom Weinen. Antoine versetzt es einen Stich.
ANTOINE
Melvil, es tut mir leid.
Er streckt seine Hand aus, aber der Kleine weicht ängstlich zurück.
Mama.
Antoine muss schlucken.
Melvil sitzt auf Antoines Schoß und schaut zum Fenster heraus. Draußen im Regen zieht die Stadt vorüber. Weiter hinten im Wagon spielt ein Straßenmusiker.
Melvil nimmt den Schnuller aus dem Mund, dreht sich zu Antoine um und strahlt ihn an.
MELVIL
Mama!
Antoine erwidert sein Lächeln, ist ganz bei ihm.
ANTOINE
Ja, Melvil. Wir besuchen jetzt Mama.
Melvil nickt zufrieden.
Der Regen hat aufgehört, aber auf den Wegen haben sich einige große Pfützen gebildet. Melvil steuert direkt darauf zu, aber Antoine schnappt ihn und nimmt ihn auf den Arm, bevor er hineinspringen kann. Er erstickt seinen Protest, indem er auf Hélènes Grab zeigt.
ANTOINE
Da, siehst du? Da vorne ist es.
Sie sind da. Das frische Grab ist von Blumen und Kränzen übersät. Der Novemberwind hat die Blüten zerrupft. Er holt aus seiner Tasche ein Bild, auf dem Hélène Melvil in den Armen hält, legt es auf dem Grab ab.
Antoine kniet sich hin, ohne recht zu wissen, wie er es erklären soll. Er muss die Dinge sortieren, für Melvil und für sich.
ANTOINE (CONT'D)
Weißt du Melvil, Mama kann jetzt nicht mehr bei uns wohnen. (gerät ins Stocken)
Sie ist weg. Wir können sie nicht mehr sehen. Aber sie ist trotzdem in unseren Herzen.
Er legt seine Hand auf sein und dann auf Melvils Herz.
ANTOINE (CONT'D)
Und wenn wir ihr nahe sein wollen, dann können wir immer hierherkommen.
Er mustert Melvil, sucht nach Anzeichen von Verständnis.
ANTOINE (CONT'D)
Die letzten Tage waren ziemlich trubelig. Ich glaub, das ist alles Papas Schuld. Aber das wird jetzt anders, das verspreche ich dir! Wir beide sind jetzt ein Team. Okay? Zwei Abenteurer. Und wenn es mal nicht so klappt, dann kommst du zu mir und dann bin ich für dich da! Das versprech ich dir!
Antoine legt seine Hand auf Melvils Herz. Aber Melvil hat genug, er gleitet von Antoines Schoß. Er ist hier fertig, will jetzt sofort los. Antoine blickt ihm nach, unsicher, ob der Junge ihn verstanden hat.
Stunde der Wahrheit: Antoine muss seinen Worten Taten folgen lassen. Melvil steuert auf die nächste Pfütze zu, springt jauchzend hinein. Er strahlt Antoine glücklich an. Das Spiel ist seine Waffe, der nächste Unfug sein Horizont. Antoine steht auf und folgt seinem Sohn.
Aus dem Kinderzimmer aufgeregte Stimmen.
ANTOINE
Oh. Oh. Vorsichtig!
Antoine hat mit Melvil einen hohen Turm aus Bauklötzen gebaut. Der Turm schwankt bereits, trotzdem platziert Melvil mit Antoines Hilfe einen weiteren Klotz auf der Turmspitze.
ANTOINE (CONT'D)
Hurra!
Antoine will Melvil abklatschen. Doch Melvil stößt den Turm um. Er bricht polternd zusammen. Melvil jubelt.
ANTOINE (CONT'D)
Und nochmal Hurra!
Beide lachen. Draußen vor der Wohnung steigt eine Frau mit Absätzen die Treppe hinauf. Unwillkürlich blickt Antoine auf und lauscht auf die Geräusche aus dem Treppenhaus. Melvil registriert es. Er blickt mit weit aufgerissenen Augen zu Antoine.
Mama!
ANTOINE
Komm, wir spielen weiter, Melvil!
Aber Melvil legt sich den Finger auf die Lippen und lauscht. Draußen geht die Frau vorbei ein Stockwerk höher.
Für einen Moment verzweifelt Antoine an sich selber. Er senkt den Blick, schüttelt leicht den Kopf. Es geht so nicht weiter.
Eine leere Wohnung. 5. Stock. Hell. Der Blick geht über die Dächer. Ähnlicher Schnitt wie die von Antoine, aber Neubau.
Antoine steht im Wohnzimmer, nimmt die Atmosphäre in sich auf. Melvil ist in einem der anderen Zimmer zu hören. Antoine zögert noch, wendet sich um. Der MAKLER steht im Flur, hält sich dezent zurück.
ANTOINE
Ab wann ist die Wohnung frei?
Der Makler tritt heran.
MAKLER
Es sollen noch ein paar Schönheitsreparaturen... also, ab wann können Sie denn?
ANTOINE
Sofort.
Die Blicke treffen sich.
MAKLER
Ich hab Sie im Fernsehen gesehen. Sicher nicht einfach.
Er senkt den Blick, um seine Ergriffenheit zu verbergen. Antoine nickt ihm freundlich zu - schon okay.
EXT. SPIELPLATZ - TAG 119
119
Melvil buddelt an einer Sandburg. Der kleine Maurice arbeitet mit seiner Schaufel parallel. Kurz blickt Melvil zu Antoine, der mit dem Papa von Maurice zwischen anderen Müttern auf einer Bank sitzt. Er lächelt ihm zufrieden zu.
Antoine winkt lächelnd zurück, lauscht mit halben Ohr den Ausführungen seines Banknachbarn, nippt am Coffee to go. Der Papa von Maurice hat eine Dose mit geschnitten Karotten und Äpfeln auf dem Schoß.
PAPA VON MAURICE
Meine Frau dreht echt am Rad. Alles muss plötzlich makrobiotisch sein. (ruft)
Maurice, nicht hauen! (zu Antoine)
Wir schnippeln den ganzen Tag Gemüse und schroten Körner. Ich hab echt andere Sachen zu tun... Wie machst du das denn?
ANTOINE
Ich? Ähm... Tiefkühl. Picard.
PAPA VON MAURICE
Aah. Ist ja ´ n Traum.
Die beiden grinsen sich kurz an.
INT. ANTOINES WOHNUNG - KÜCHE - TAG 120 120
Umzugstag. Die Küche besteht nur noch aus Kartons und verpacktem Geschirr. Antoine wickelt Haushaltsgeräte in Zeitungspapier und verstaut sie in Kartons.
Hinter ihm im Flur passiert Annie Alexandre, der zwei Kisten auf einmal wuchtet. Sie macht sich ein bisschen über sein Gehabe lustig.
Antoine wickelt die Saftpresse ein, hält inne. Starrt auf das Gerät, blickt sich in der halbleeren Küche um. Ihm kommen Zweifel, ob dieser Schritt richtig ist.
Julie tritt in die Küche, bemerkt seine Zweifel. Sie klappst ihm aufmunternd die Schulter.
Antoine nimmt ihre Ermutigung mit einem Lächeln an, verpackt die Saftpresse, während Julie sich einen Karton schnappt und die Küche verlässt.
Brunos Geburtstagsfeier in einer Bar. Es ist voll. Die Musik ist so laut, dass die Leute sich anbrüllen müssen. Sektflaschen werden entkorkt, Gläser gefüllt. Gleich ist es Mitternacht.
Antoine steht am Rand der Party, das Bier in der Hand ist lau. Er fühlt sich unter den Feiernden wie Falschgeld.
Da entdeckt er Bruno in der Menge, der ihn beobachtet und ihm ein bisschen schmerzerfüllt zulächelt. Bruno schiebt sich neben ihn, er streichelt Antoine über den Rücken. Sie folgen einen Moment schweigend dem Treiben.
ANTOINE
Ich frag mich gerade, was ich hier eigentlich mache.
Bruno nickt wissend - er versteht Antoine.
ANTOINE (CONT'D)
Das Leben geht einfach so weiter. Ich weiß gar nicht, ob ich das will.
Bruno blickt ihn an und lächelt.
BRUNO
Ich glaube, Hélène will das!
ANTOINE (lächelt unsicher)
Ja?
BRUNO
Ja! Ganz sicher!
Er stößt mit Antoine an, der ist nicht ganz überzeugt. Aber dann wird die Musik plötzlich leise und die Gäste fangen an runterzuzählen.
Vier, drei, zwei, eins... Happy birthday too you, happy birthday too you... (ad lib.).
Und damit springt Bruno auf die Tanzfläche davon. Seine Wunde tut noch weh. Er dreht sich humpelnd im Kreis, wirft seinen Freunden Kusshände zu.
Antoine singt mit. Und als das Ständchen in einen rasend schnellen Song übergeht, gibt er sich dem Rhythmus hin. Er tanzt, erst verhalten und dann wie ein Derwisch, weint und lacht gleichzeitig, beginnt mitzusingen.
EXT. STRASSEN IN DER NÄHE DER HALTESTELLE OBERKAMPF - NACHT 122 122
Antoine, deutlich angetrunken nach der exzessiven Feier, durchkämmt die Straßen in der Nähe des Bataclan. Er zielt mit dem Autoschlüssel auf die Reihen der geparkten Fahrzeuge, drückt immer wieder auf den Entriegelungsknopf, in der Hoffnung, so den Wagen zu finden. Doch ohne Erfolg.
Er will die Autosuche schon aufgeben - nichts als eine blöde Schnapsidee, als plötzlich die Lichter eines Wagens aufblinken.
Zum ersten Mal seit den Anschlägen sitzt Antoine in Hélènes Auto. Andächtig betrachtet er ihre Hinterlassenschaften: Der Berg von Strafzetteln auf dem Beifahrersitz... Antoine schüttelt leise amüsiert den Kopf - das sieht ihr ähnlich.
In der Mittelkonsole entdeckt er ihr ausgeschaltetes Handy und im Aschenbecher einen angebrochenen Joint mit Spuren von Lippenstift. Er nimmt den Joint, zündet ihn an und lehnt sich zurück. Er raucht, langsam, jede Sekunde und jeden Zug auskostend.
Auf der Rückbank liegen ihre Handtasche, die sie an dem Abend trug, alte Frauenzeitschriften, eine angebrochene Schachtel Kekse, Melvils leerer Kindersitz mit seinem Autoschnuller für unterwegs, sowie mehrere Stofftiere und Spiele, die immer da sind, für alle Fälle. Alles ist genauso wie immer. Hélènes Präsenz ist überwältigend.
Und plötzlich entdeckt Antoine auf der anderen Straßenseite das Bataclan. Die schwarze Markisen mit der ikonographischen goldenen Schrift. Der Tatort ist zum Greifen nah.
Antoine stöhnt laut, wie unter Schmerzen. Das alles ist überhaupt nicht auszuhalten.
Diese Scheiße... warum bist du denn da hin gegangen.
Er haut verzweifelt gegen das Lenkrad. Immer wieder. Dann bricht er über dem Steuer zusammen.
Plötzlich klopft es an der Scheibe. Ein junges Pärchen ist besorgt herangetreten. Der TYP beugt sich vor. Seine Stimme klingt matt durch die beschlagene Scheibe.
TYP
Alles gut bei Ihnen?
Antoine winkt matt ab. Jaja - alles gut.
Antoine, noch in den Klamotten der durchzechten Nacht, hängt gerädert am Küchentisch. Melvil lässt ein Spielzeug-Auto um das liebevoll gedeckte Frühstück sausen, mäht den Salzstreuer um. Sylvie brät am Herd Spiegeleier.
Antoine starrt trübsinnig vor sich hin. Sylvie lädt ihm und Melvil ein Spiegelei auf den Teller. Sie streicht sanft über Antoines Schulter.
Antoine greift seufzend zur Gabel. Sein Blick bleibt auf Melvil hängen, der sein Spiegelei inspiziert.
Er schaut ihn lange an. Jetzt bemerkt Melvil seinen Blick, schaut auf. Seine Augen voller Erwartung. Antoine spürt die Herausforderung und die Chance.
Ein weiter Sandstrand, von Felsen umsäumt. Das Meer ist ruhig, wenige Menschen wie zufällige Farbtupfer über den Strand verteilt.
Antoine schmiert Melvil mit Sonnenmilch ein. Eine lästige Pflicht. Antoine mag es so wenig wie Melvil.
Zum Schluss das Nervigste: Nase, Stirn und Backen. Fertig. Antoine streift sich die verschmierte Hände ab und kickt den Strandball ein paar Meter weg und fordert Melvil auf: Und jetzt ab, spielen! Doch Melvil verharrt unwillig auf der Strandmatte. Er hat keine Lust.
CUT TO:
Später. Antoine versucht Melvil zu einem kleinen Spiel mit dem Ball zu animieren. Er kickt ihm den Ball zu.
Melvil macht lustlos mit. Antoine strengt sich wirklich an, umdribbelt den Jungen, bejubelt ein Tor. Melvil kümmert es nicht.
CUT TO:
Noch später. Antoine will Zeitung lesen. Schwierig. Denn Melvil krabbelt über seinen Körper und lässt sich in die Zeitung rutschen. Antoine schimpft genervt. Sein Blick fällt neidisch auf die Familie nebenan. Das 5jährige Kind spielt friedlich im Sand. Die Eltern lesen Bücher.
Er nickt der dreiköpfigen Familie ein paar Meter weiter zu. Man kennt sich schon.
CUT TO:
Melvil jagt auf kurzen Beinchen hinter Antoine durch das seichte Wasser, quietscht vor Vergnügen. Die aufspritzenden Tropfen funkeln im Sonnenlicht.
Ein kleiner Supermarkt in Strandnähe. Antoine lädt eine gekühlte Wasserflasche zu Obst und Croissants in seinem Korb.
Ein paar Meter weiter liegt Melvil auf dem Boden, heult und schreit. Das typisch theatralische Drama eines Kleinkindes. Es geht um Leben und Tod.
ANTOINE
Melvil, lass es bitte!
Antoine lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht von den Blicken der anderen Touristen. Entschlossen zieht er Mevil die Schokolade aus der Hand, legt sie zurück ins Regal.
ANTOINE (CONT'D) Wir nehmen jetzt keine Schokolade. Nein.
Er nimmt Mevil an die Hand und zieht ihn Richtung Kasse.
Antoine steht im hüfthohen Wasser, die Hände unter Melvils Bauch gelegt.
Der Kleine trägt Schwimmflügeln, strampelt wild mit Armen und Beinen im Wasser, zwischen Angst und Lust, das Köpfchen so weit wie möglich aus dem Wasser gereckt.
Ganz vorsichtig löst Antoine eine Hand von Melvils Bauch und hebt sie aus dem Wasser. Melvil bemerkt die fehlenden Unterstützung, strampelt noch doller.
Doch schnell gewinnt er Zutrauen zur veränderten Situation. Er lacht und hustet und spuckt.
Und dann plötzlich nimmt Antoine auch die zweite Hand von seinem Bauch und hebt sie aus dem Wasser. Melvil schwimmt jetzt ganz allein. Er quietscht vor Vergnügen.
Antoine lacht, klatscht in die Hände.
Sanfte Abendstimmung. Die Sonne steht tief am Himmel. Antoine trägt den müden, glücklichen Melvil auf das Haus zu.
In den Zimmern wehen die Vorhänge. Behutsam legt Antoine den Jungen in sein Bettchen, zieht ihm die Schuhe und die Hose aus. Draußen rauschen die Bäume im Abendwind. Grillen zirpen.
Antoine streichelt Melvil über den Kopf. Er legt ihn auf den Nachttisch. Dann steht er auf und geht aus dem Zimmer.
Gute Nacht, Papa.
Antoine wärmt es das Herz, voller Liebe blickt er auf Melvil. Dann schließt er leise die Tür.
Er geht ins Wohnzimmer, will die Glotze ausmachen, aber dort läuft ein Beitrag über die Festnahme von Salah Abdeslam.
... dans cette appartement de Molenbeek, que Salah Abdeslam se cachait. Après quatre moins d'enquête ce logisticien des attentats de Paris est enfin capturé – vivant...
... in dieser Wohnung in Molenbeek hat sich Salah Abdeslam versteckt. Nach vier Monaten der Ermittlung wurde der Drahtzieher derPariser Attentate endlich gefasst – lebend
Ein Bild von Salah Abdeslam wird eingeblendet. Antoine mustert das Bild des Attentäters. Es versetzt ihm einen kleinen Stich, hat aber keine Macht mehr über ihn.
Er macht den Fernseher aus.
INT./EXT. FERIENHAUS - ABEND 130 130
Antoine schenkt sich in der offenen Küche ein Glas Wasser ein und trinkt. Er schnappt sich sein Buch geht nach draußen.
Im Garten legt er sich in die Hängematte. Es schaukelt. Statt zu lesen, lauscht er dem Wind, den rauschenden Blättern. Auf der Leine tropfen die nassen Schwimmsachen. Antoine schaut sanft lächelnd ins Gegenlicht. Der Tag war schön.
Er greift nach seinem Handy. Blättert durch die Fotos vom Strand. Er sieht sich ein Video an, auf dem Melvil fröhlich quietschend der Kamera hinterherläuft.
Antoine muss lachen und im nächsten Moment kommen ihm die Tränen. Er lässt das Handy auf seine Brust sinken. Den ganzen Tag hat er noch nicht an Hélène gedacht. Er schaut in den Himmel. Wie schön es gewesen wäre, sie dabei zu haben.
Dann lässt er die Tränen einfach laufen. Kein Verkrampfen. Alles fließt. Der Schmerz ist warm und auszuhalten. Er atmet aus. Die Tränen werden weniger. Er wischt sich über das Gesicht. Hélène ist tot. Es ist die Realität. Und doch wird es weitergehen. Sanft schaukelt die Hängematte im Abendwind. *
SCHLUSSTITEL
Für Antoine Leiris und seine Familie.