The Günzburgers. A German Jewish family history

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Hanneke & Peter Schmitz

Die G端nzburger Eine deutsch-j端dische Familiengeschichte The G端nzburgers A German Jewish family history FRISCH TEXTE VERLAG


Hanneke & Peter Schmitz

Die G端nzburger Eine deutsch-j端dische Familiengeschichte The G端nzburgers A German Jewish family history FRISCH TEXTE VERLAG


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Hanneke Schmitz, Peter Schmitz: Die Günzburger. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte The Günzburgers. A German Jewish family history Zweisprachige Ausgabe Ins Englische übersetzt von Ellen Hopkins 1. Auflage, 2015, FRISCHTEXTE Verlag, Herne ISBN 978-3-933059-55-0

Die Autoren haben sich darum bemüht, alle Urheberrechte an Fotografien und Dokumenten ausfindig zu machen. Sollte diese in Einzelfällen nicht gelungen, bitten wir Sie, sich an den Verlag zu wenden. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeisung, Rückgewinnung und Wiedergabe in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten. © FRISCHTEXTE Verlag, Herne Umschlagentwurf, Layout und Satz: Agentur Steinbökk Gesamtherstellung: druckfrisch medienzentrum ruhr gmbh, Herne ISBN 978-3-933059-55-0


Vorwort Foreword



Vor nicht allzu langer Zeit waren wir Kinder dieses großen (Günzburger) Clans, wir wachsen auf und bald sind wir die ältere Generation. Einige unserer Kinder und Enkelkinder werden an ihrer Herkunft interessiert sein; sie werden froh sein, ihre Kusinen und Vettern zweiten und dritten Grades zu kennen und werden vielleicht auf ihren Reisen durch die Vereinigten Staaten und die Welt sich gegenseitig besuchen können. Unsere Kinder haben ein reiches Erbe; lasst uns ihnen eine Chance geben, es zu erforschen! Greta (Günzburger) Friedhoff, Enkelin von Israel Samuel und Babette Günzburger September 1978.

Not too long ago we were children of this big (Günzburger) clan; we are moving up and soon we’ll be the elder generation. Some of our children and grandchildren will be interested in their heritage; they will be glad to know their second and third cousins and perhaps on their travels through the United States and the world can visit each other. Our children have a rich heritage; let’s give them a chance to explore it!

Greta (Günzburger) Friedhoff, granddaughter of Israel Samuel and Babette Günzburger September 1978.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort Einleitung Die Kinder von Israel und Babette Günzburger

Table of Contents

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Foreword Introduction The children of Israel and Babette Günzburger

Julius (1875–1945)

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Julius (1875–1945)

Rosa (1876–1940)

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Rosa (1876–1940)

Michael (1878–1937)

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Michael (1878–1937)

Albert (1880–1954)

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Albert (1880–1954)

Hugo (1881–1928)

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Hugo (1881–1928)

Jakob (1883–1918)

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Jakob (1883–1918)

Ernst (1885–1952)

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Ernst (1885–1952)

Hilda (1889–1963)

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Moritz und Nanette Günzburger Die vier Kinder von Moritz und Nanette

Impressionen 2012 / 14 Danksagung Die Autoren Bildnachweis Nachfahrentafeln

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Hilda (1889–1963)

Moritz and Nanette Günzburger The Four Children of Moritz and Nanette

Impressions 2012 / 14 Acknowledgements The Authors Photo Credits Family tree



Vorwort Foreword „Es gab keine deutschen Juden, es gab nur jüdische Deutsche.“ So scharf definierte der amerikanische Autor Peter Gay die jüdische Existenz in Deutschland während der Weimarer Republik. Gay, selbst als Peter Joachim Fröhlich 1923 in Berlin geboren und später in die USA emigriert, bezog sich dabei auf die vielleicht zentrale Frage der jüdischen Selbstreflexion über das Leben in Deutschland, die sich nach den Prüfungen durch das Dritte Reich völlig neu stellte: Gab es die viel zitierte „jüdisch-deutsche Symbiose“ oder war es nur eine Illusion, die schließlich im bitteren Exil oder in den Vernichtungslagern endete?

“There has never been a German Jew; there are only Jewish Germans.” That’s how precise American author Peter Gay defined the Jewish existence in Germany during the Weimar Republic. Gay, born as Peter Joachim Fröhlich in Berlin in 1923 and later emigrated to the USA, was referring to perhaps the central question of Jewish self-reflection on life in Germany; a question that had to be asked anew after the tests and trials of the Third Reich: Was there such a thing as the frequently quoted “Jewish German Symbiosis” or was it an illusion that ultimately ended in bitter exile or an extermination camp?

Die Familiengeschichte „Die Günzburger“ ist die Geschichte des „deutschen Judentums“ pars pro toto: Die Nachfahren von geduldeten „Schutzjuden“ landen ausgestattet mit ökonomischer Sicherheit und höherer Bildung in der bürgerlich-deutschen Gesellschaft, ein Assimilations- und Akkulturationsprozess von der unsicheren Peripherie ins selbstbewusste Zentrum der Gesellschaft. Julius Günzburger, dem ein umfangreiches und äußerst spannendes Kapitel dieses Buches gewidmet ist, avancierte sogar zu einem der

The family history “The Günzburgers” is an account of “German Judaism” pars pro toto: The descendants of tolerated “Protected Jews” land in Germany’s middle class, equipped with economic security and higher education— an assimilation and acculturation process from the uncertain sidelines to the self-confident center of society. Julius Günzburger, to whom a comprehensive and incredibly exciting chapter has been dedicated, even advanced to one of the first Jewish engineers in Germany. An idyllic photo, 009


ersten jüdischen Ingenieure in Deutschland. Ein idyllisches Foto aus dem Sommer 1929 zeigt ihn mit seiner Frau Sophie Arm in Arm beim gemütlichen Flanieren im bayrischen Kurort Bad Wiessee. Ein älteres Ehepaar genießt den Sommerurlaub. Sechzehn Jahre und etliche Demütigungen später sollte ihr Leben im KZ Bergen-Belsen enden. Damit ist eine weitere Komponente genannt, die jeder jüdischen Familiengeschichte inne wohnt: die furchtbare Gewalt der Shoah. Und jede biographische Rekonstruktion dient damit nicht nur der familiären Selbstbesinnung, sondern ist auch ein Bekenntnis dafür, dass das nationalsozialistische Projekt der „Endlösung der Judenfrage“ nicht einen Schlussstrich der Geschichte bedeutet. Im jüdischen Glauben wird den Toten gedacht, indem die Namen der Verstorbenen verlesen werden. „Ich möchte, dass sich jemand daran erinnert, dass einmal ein Mensch namens David Berger gelebt hat“, schrieb David Berger in seinem letzten Brief, bevor ihn die Nazis 1941 in Wilna ermordeten. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem hat diesen Satz zu einem Leitgedanken ihrer Erinnerungsarbeit gemacht. „Wir möchten, dass die Erinnerung an die Familien Günzburger nicht verloren geht“, reklamieren Hanneke und Peter Schmitz für sich und ihre langjährige Recherche. Ihre Intention und Bereitschaft, die Geschichte zu erzählen, ist dabei in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: als Akt des Widerstan010

taken in the summer of 1929 shows him leisurely walking arm in arm with his wife Sophie at the Bavarian resort Wiessee. An older married couple enjoys summer vacation. Sixteen years and countless humiliations later, their life would end in the concentration camp Bergen-Belsen. This brings up another component that every Jewish family history entails: the frightening violence of the Shoah. And every biographical reconstruction thereby does not only serve familiarly self-discovery but is a profession that the National Socialist project of the “Final Solution of the Jewish Question” was not the final stroke of their history. In the Jewish religion the names of the dead are read out as a sign of remembrance of those who are no longer with us. “I would like someone to remember that there was once a person by the name of David Berger,” David Berger wrote in his last letter in 1941 before he was murdered in Vilna by the Nazis. The Israeli memorial Yad Vashem turned this statement into the guiding principle of their work of remembrance. “We desire for the memory of the Günzburger families not to be forgotten,” proclaimed Hanneke and Peter Schmitz for themselves and their years of research. Their intention and willingness to tell this story is remarkable in these two ways: as an act of resistance


des gegen das Vergessen und letztlich, in der Ăœberlieferung dieser faszinierenden Familiengeschichte, als Bekenntnis zum Leben. Herne, im August 2015 Ralf Piorr, Historiker und Publizist

against forgetting and ultimately, by passing on this fascinating family history, as a declaration of life. Herne, August 2015 Ralf Piorr, historian and publicist

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Einleitung Introduction


Intention

Die beispiellose Gewalt des Holocaust stellte einen radikalen Schritt gegen das europäische Judentum dar. In Deutschland beendete der Nationalsozialismus eine jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens, die zwischen der Bewahrung der jüdischen Identität und der Assimilation an die nicht-jüdische Umgebung balancierte.

The unparalleled violence of the Holocaust represented a radical step against European Judaism. In Germany the Nazis ended a centuries-long tradition of coexistence and balance between the preservation of Jewish identity and the assimilation into non-Jewish culture.

Auch unsere Familien wurden durch Nationalsozialismus und Holocaust zerrissen. Einige wurden Opfer der Shoah, alle anderen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schrieb in seinem Bestseller „Bloodlands Europa zwischen Hitler und Stalin“: „Das NS-Regime machte Menschen zu Zahlen. Es ist unsere Aufgabe als Humanisten, die Zahlen wieder zu Menschen zu machen. Wenn uns das nicht gelingt, hat Hitler nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Menschlichkeit geprägt.“¹ Diesem Anspruch fühlen wir uns verbunden.

Like many others, our family was torn apart by Nazi Germany and the Holocaust. Some were victims of the Shoah; others were driven from their homes. American historian Timothy Snyder wrote in his bestseller “Bloodlands: Europe betwen Hitler and Stalin”: “The Nazi regime turned people into numbers. It is our job as humanists, to turn the numbers back into people. If we do not succeed, Hitler did not only impact our world but our humanity.”¹ We strongly agree.

Wir wollen die Geschichten unserer Vorfahren und Verwandten nicht auf das Thema Shoah und Verfolgung reduWe do not want to reduce the stories of our ancestors zieren. Es sind Geschichten einer Minderheit, geprägt von and relatives to the topics of Shoah and the persecution. 014


Phasen guter Nachbarschaft, von großartigen Erfolgen, Karrieren, sozialem Engagement, Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Im Mittelpunkt stehen die Kinder unserer Urgroßeltern Israel Samuel Günzburger (1846 – 1893) und Babette, geb. Kaufmann (1850–1933) und deren Nachfahren. Sie erlebten den Höhepunkt in der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und wurden gleichzeitig Opfer einer nie dagewesenen Katastrophe, ausgelöst durch das Nazi-Regime. Die Hinweise auf politische Ereignisse bilden die Folie, vor deren Hintergrund die Familiengeschichten geschrieben sind. Sie sollen damit in einen größeren historischen Kontext gestellt werden zum besseren Verständnis für heutige und spätere Generationen. Die Rekonstruktion der Familiengeschichten ist für uns nicht Selbstzweck. Wir fühlen uns dem Gedanken verpflichtet, dem nationalsozialistischen Projekt der Vernichtung des jüdischen Lebens, und damit auch dem versuchten Ausradieren der jüdischen Kultur in Europa, eine lebendige Erinnerungskultur entgegen zu setzen. Es soll ebenfalls ein Angebot an die vielen Verwandten in allen Erdteilen sein, gewaltsam zerrissene Fäden wieder zueinander zu bringen.

Hanna (Hanneke) Schmitz, geb. Günzburger Peter Schmitz August 2015

They are stories of a minority characterized by phases of good community, of great successes, careers, social engagement, and fight for recognition and equality. Our focus is on the children of our great-grandparents, Israel Samuel Günzburger (1846–1893) and Babette, born Kaufmann (1850–1933), and their descendants. They experienced the high point of the growth of the Jewish population in Germany and simultaneously became victims of an unprecedented disaster, caused by the Nazi regime. The references to political events form the background of the family stories, a historical context to provide better understanding for present and future generations.

The reconstruction of our family history is not an end in itself for us. We feel an obligation to oppose the Nazi project to destroy Jewish life, and thus the attempt to erase Jewish culture in Europe, and counter it with a vibrant culture of remembrance. It is also an opportunity for the many relatives in all parts of the world to bring back together the threads that were violently torn apart.

Hanna (Hanneke) Schmitz, née Günzburger Peter Schmitz August 2015 015



Juden in Deutschland von 1800 bis 1945

Jews in Germany from 1800 to 1945

Die Geschichten der Familien Günzburger aus EmmenThe stories of the Günzburger families from Emmendindingen sind Spiegelbilder der Geschichte der Juden in gen are mirror images of the stories of the Jews in Germany. Deutschland. An ihnen lässt sich beispielhaft der Weg vom They allow us to track an example of a grand start ending in großen Beginn zum größten Martyrium verfolgen. widespread martyrdom. Eine Erfolgsgeschichte ist der Werdegang der Juden in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Was als ein im europäischen Vergleich beispielloser Aufstieg einer Bevölkerungsgruppe begann, endete in Vertreibung und der Shoah. Über Jahrhunderte hinweg lebten Juden am Rande der Gesellschaft. Solange es Zünfte gab, war ihnen der Zugang zum Handwerk u. a. verwehrt. Schlachter, Metzger oder Bäcker waren die einzigen Handwerke, die Juden ausüben durften. In den ländlichen Gebieten arbeiteten sie überwiegend als Vieh- oder Getreidehändler. Strenge Regeln begrenzten die Berufs- und Handelstätigkeiten ebenso wie den Zuzug zu den Gemeinden. Die Niederlassung wurde so restriktiv reguliert, um auch innerhalb der jüdischen Gemeinde keine allzu große Konkurrenz aufkommen zu lassen. Ein wichtiges Instrument waren Schutzbriefe (daher die Bezeichnung Schutzjude), die an einzelne Personen oder Gemeinden gebunden waren. Diese gewährten ein

A success story is the history of the Jews in Germany from the end of the 18th century until the first third of the 20th century. What began as an ethnic group’s rise never seen before in Europe ended in persecution and the Shoah. For centuries, Jews lived on the margins of society. As long as there were guilds, they were denied access to small trades, among others. Butchers and bakers were the only crafts Jews were allowed to practice. In rural areas, they mainly worked as livestock or grain merchants. Strict rules limited their professional and trading activities as well as their access to the townships. Their settlement was regulated so restrictively in order to prevent the rise of competition from the Jewish community. An important instrument was the “Schutzbrief” or letter of protection; hence the term “Schutzjude,” Protected Jew, applied to individuals or communities. Such a letter of protection granted a limited-time right of settlement. In addition, the holder of this letter was under the protection of 017


zeitlich begrenztes Niederlassungsrecht. Außerdem stand der Inhaber dieses Briefs unter dem Schutz des jeweiligen Landesherrn. Das alles kostete Geld. Zahlreiche Sonderabgaben neben den Steuern wurden herangezogen. Innerhalb der jüdischen Gemeinde bildete sich eine deutlich sichtbare soziale Struktur. Bankiers und Großkaufleute bildeten die dünne Schicht der Hofjuden (2 Prozent). Sie verfügten über Privilegien und Rechte, die sie weit über die Masse ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Mitbürger hinaushob. Bestens wirtschaftlich und verwandtschaftlich vernetzt hatten sie Zugang zum Landeshof, übernahmen Führungsrollen in den Gemeinden, zeichneten sich aus durch ein ausgeprägtes Mäzenatentum und durch kulturelle Nähe zum nichtjüdischen Umfeld. Nicht selten traten sie als Fürsprecher für ihre Glaubensbrüder auf. Eine schmale Mittelschicht bildeten die Schutzjuden. Mit ihren Familien und Gesinde waren sie relativ wohlhabend. Ausgestattet mit einigem Handelskapital konnte diese schmale Schicht (20 Prozent) einigermaßen existentiell gesichert leben. Den weitaus größten Teil bildeten Gesinde, Hausierer und Bettler, die in unsicheren Verhältnissen bis tiefer Armut lebten.

the monarch. All this cost money. In addition to taxes, numerous special fees were demanded. A clearly visible social structure formed within the Jewish community. Bankers and prosperous businessmen formed the thin layer of the “Hofjuden” (court Jews; 2 percent). They had rights and privileges that elevated them far above their Jewish and non-Jewish fellow citizens. With great economic and family networks, they had access to the “Landeshof ” (local government), took leadership roles in the communities, and were characterized by strong patronage and cultural proximity to their non-Jewish environment. They often acted as advocates for their brothers in faith. The Protected Jews built a small middle class. With their families and servants they were relatively wealthy. Equipped with some commercial capital, this small class of citizens (20 percent) lived somewhat securely. The vast majority were servants, peddlers and beggars who lived in uncertain circumstances or even deep poverty.

The start of the Modern Age after the Napoleonic Wars (1813–1815) gave the Jews first-time rights such as freedom of trade. The gradual rise of economic and social equality Der Start in die Moderne nach den Befreiungskriegen brought about an unprecedented two- or three-genera(1813–1815) brachte den Juden die ersten Rechte wie Gewer- tion-long social uprising. Sons of cattle dealers became befreiheit. Mit der schrittweisen wirtschaftlichen und so- tradesmen, entrepreneurs, lawyers and engineers. zialen Gleichstellung ging ein über zwei, drei Generationen 018


However, these success stories were not trouble-free. vollzogener beispielloser sozialer Aufstieg einher. Aus Söhnen von Viehhändlern wurden Kaufleute, Unternehmer, Liturgical reforms were introduced that sought to associJuristen und Ingenieure. ate the work week more closely with Christian values; outdated liturgical elements were removed. German replaced Diese Erfolgsgeschichte verlief allerdings nicht störungs- the Hebrew language. Scripture that expressed a longing frei. Gottesdienstreformen wurden eingeführt, die den Ab- for the distant home of Palestine was to be erased entirely. lauf des Dienstes stärker an christlichen Vorbildern orien- Jewish reform schools no longer exclusively taught religitieren wollten; nicht mehr zeitgemäße liturgische Elemente ous but secular knowledge. wurden beseitigt. Anstelle des Hebräischen sollte die deutsche Sprache treten. Stellen in der Bibel, die die Sehnsucht Such changes caused significant clashes between pronach der fernen Heimat Palästina ausdrückten, sollten ponents and opponents in various communities. The balgänzlich gestrichen werden. In den jüdischen Reformschu- ancing act between preserving their own identity on the len wurde nicht mehr ausschließlich religiöses, sondern basis of religion and the integration into non-Jewish culweltliches Wissen vermittelt. Solche Ideen lösten in vielen ture led to dramatic confrontations, even within the famiGemeinden heftige Auseinandersetzungen zwischen Befür- lies. The tendency was for traditional Judaism to decrease wortern und Gegnern aus. Der Spagat zwischen Bewahren as the secularization of the entire community increased. der eigenen Identität auf religiöser Grundlage und der Integration in die nicht-jüdische Umgebung führte selbst innerEven in the beginning of the 19th century, there was halb der Familien zu dramatischen Auseinandersetzungen. a fierce debate about legal equality for Jews. The hate Tendenziell nahm die traditionelle Autorität der jüdischen preacher Hundt-Radowsky polemicized in his “JudenspieGemeinde in Folge der zunehmenden Säkularisierung der gel” (1819) against legal equality for Jews based on their gesamten Gesellschaft stetig ab. corrupt character. Theodor Fritsch in his “Handbuch der Judenfrage” (“Handbook of the Jewish Question”; 1887) Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es eine hef- was recognized by the Nazis as an intellectual forerunner tige Debatte über die rechtliche Gleichstellung der Juden. of the Holocaust. He knew only one mission: To trample Der Hassprediger Hundt-Radowsky polemisierte in seinem the Jews. This ethnically racist „rogue anti-Semitism“ was Judenspiegel (1819) gegen die rechtliche Gleichstellung met with rejection among the conservative circles of the 019


der Juden unter Hinweis auf deren verderbten Charakter. Theodor Fritsch mit seinem Handbuch der Judenfrage (1887) war einer der von den Nazis anerkannten geistigen Wegbereiter des Holocaust. Er kannte nur eine Mission: Den Juden zertreten. Dieser völkisch rassistische „Radau Antisemitismus“ stieß bei den konservativen Kreisen der gebildeten Oberschicht auf Ablehnung. Ihr Antisemitismus richtete sich auf die nicht assimilierten Ostjuden und deren zunehmende Zuwanderung im Zuge der industriellen Revolution.² Nach Beginn der Reichsgründung in der Kaiserzeit (1871 – 1918) war die Erfolgsgeschichte der deutschen Juden auf ihrem Höhepunkt. Juden waren im Verhältnis reicher und gebildeter. Sie hatten in manchen Berufen bessere Stellungen als ihre christlichen Kollegen und Konkurrenten. Sie gehörten zu den Kerngruppen des städtischen Bürgertums. Werte und Verhaltensregeln dieser Schicht adaptierten sie nicht nur passiv; sie trugen vielmehr aktiv an der Ausarbeitung entsprechender Lebensformen und kultureller Verhaltensregeln bei. Nach ihrem Selbstverständnis waren sie Deutsche jüdischen Glaubens. Die nationale wie die religiöse Zugehörigkeit definierten ihre Identität gleichermaßen. Aus Juden in Deutschland waren längst deutsche Juden geworden. In vielen Städten waren die jüdischen Mitbürger nicht nur geachtet und anerkannt sondern hatten oft ein gutes, freundschaftliches, nicht selten sogar ein herzliches Verhältnis zu ihrer nicht-jü020

educated upper class. Their anti-Semitism focused on the unassimilated Eastern Jews and their increasing immigration during the industrial revolution.² After the beginning of the German Empire during the Imperial Era (1871–1918), the success story of the German Jews was at its peak. Jews were overall richer and more educated. In some professions, they held better positions than their Christian colleagues and competitors. They were among the core groups of the urban bourgeoisie. They did not just passively adopt the values and behavior of this class but actively contributed to the development of appropriate forms of life and cultural behavior rules. They saw themselves as Germans of Jewish faith. Their national and religious affiliation equally defined their identity. The “Jews in Germany” had become “German Jews.” In many cities, Jewish citizens were not only respected and recognized but often had a good, friendly and not infrequently a warm relationship with their non-Jewish neighbors. “German in his essence, faithful to his father’s faith,” said a 1913 obituary of a respected Jewish citizen from Bochum. The Weimar Republic (1918–1933) brought about contradictory developments for the Jewish population. On the one hand, several remaining legal restrictions were repealed. On the other hand, the anti-semitic movement experienced an unprecedented upswing, for the first time established


dischen Umgebung. „Deutsch in seinem Wesen, dem väterli- as a permanent political force that combined a rejection of chen Glauben treu“, hieß es 1913 in einem Nachruf auf einen the Republic with an abysmal hatred of Judaism. That was angesehen Bürger jüdischen Glaubens aus Bochum. the backdrop of life in Jewish communities. While many citizens of Jewish origin turned away from Judaism and toDie Weimarer Republik (1918–1933) brachte für die jü- wards new identities, others sought to form a modern Jewdische Bevölkerung widersprüchliche Entwicklungen. Ei- ish identity based on history, religion and culture. nerseits wurden sämtliche noch bestehenden rechtlichen Beschränkungen aufgehoben. Anderseits erlebte die antiThe anti-semitism of the Weimar period posed a more semitische Bewegung einen bisher nicht dagewesenen Auf- radical and violently inclined challenge to the cohabitaschwung, etablierte sich zum ersten Mal dauerhaft als po- tion of Jews and non-Jews compared to the 19th century. litische Kraft, die ihre ablehnende Haltung gegenüber der Nevertheless, surely nobody seriously suspected in 1933 Republik mit einem abgrundtiefen Hass auf das „Judentum“ that this attitude would end in the most radical attempt of verband. Vor diesem Hintergrund lief das Leben in den jüdi- a comprehensive genocide a few years later. schen Gemeinden ab. Während viele Bürger mit jüdischer Herkunft sich vom Judentum ab- und neuen Identitäten zuwandten, suchten andere eine moderne, jüdische Identität aus Geschichte, Religion und Kultur zu bilden. Der Antisemitismus der Weimarer Zeit stellte das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden radikaler und gewaltbereiter in Frage als im 19. Jahrhundert. Dennoch ahnte wohl keiner 1933 ernsthaft, dass diese Haltung ein paar Jahre später in dem radikalsten Versuch eines umfassenden Genozids enden würde.

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Weinheim / Hemsbach Mannheim

Ludwigshafen Neustadt a. W. Landau

R端lzheim Karlsruhe

Hagenau

Lichtenau

Stuttgart

Strasbourg Kehl

Emmendingen Freiburg

Basel 1: Die Heimat unserer Vorfahren. 1: The home of our ancestors.

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Günzburger in Emmendingen Günzburgers in Emmendingen Heimat unserer süddeutschen Vorfahren

Home of our Southern German Ancestors

Die Heimat unserer jüdischen Vorfahren und Anverwandten Kaufmann, Roos, Günzburger, Pfälzer, Richheimer, Friedhoff usw. war die Gegend zwischen Hemsbach bei Weinheim an der Bergstraße und Emmendingen am Fuß des Kaiserstuhls, nördlich von Freiburg. Schwerpunkte bildeten die Städte Kehl gegenüber Straßburg und Emmendingen bei Freiburg. Hier lebten unsere Vorfahren seit mindestens zweihundert Jahren bis Mitte der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Familien Kaufmann und Roos kamen aus dem französischen Elsass. Sie wechselten auf die deutsche Rheinseite zuerst nach Lichtenau, später nach Kehl. Der Ort Emmendingen war Sitz einer der Günzburger Linien.

The home of our Jewish ancestors and distant relatives Kaufmann, Roos, Günzburger, Pfälzer, Richheimer, Friedhoff, etc. was the area between Hemsbach near Weinheim on Berg Street and Emmendingen at the foot of the Kaiserstuhl, north of Freiburg. The focal points were the cities of Kehl across from Strasbourg and Emmendingen near Freiburg. Here our ancestors lived for more than two hundred years until the mid-1930s. The families Kaufmann and Roos came from the Alsace region of France. They switched to the German side of the Rhine, first to Lichtenau and later to Kehl. The town of Emmendingen was the seat of the Günzburger lineage.

Ancestors of Israel Samuel Günzburger Vorfahren von Israel Samuel Günzburger The history of the Jewish community in Emmendingen Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Emmendin- began in 1716 with the settlement of five families, as we gen begann 1716 mit der Ansiedlung von fünf Familien, be- know from seeing the 1717 bill of sale of the old cemetery. It kannt aus dem Kaufbrief des alten Friedhofs von 1717. Am ended in October 1940 with the deportation of the remainEnde stand im Oktober 1940 die Deportation der noch in ing, mostly elderly, Jews from “Baden” to Gurs, at the foot of Emmendingen verbliebenen, meist älteren, badischen Ju- the Pyrenees. den nach Gurs, am Fuß der Pyrenäen. 023


2: Josle Breisachers Grab in Meckenheim 2: Josle Breisacher’s tomb in Meckenheim

Eng verbunden mit der Gründung einer Gemeinde in Emmendingen im 18. Jahrhundert war der Name Joseph Günzburger, ein österreichischer Schutzjude, Heereslieferant für die Kaiserliche Garnison in Breisach. Günzburg, Herkunftsort der Familien, lag in der vorderösterreichischen Markgraf Burgau.³ Die Juden wurden von dem Markgrafen von Burgau aus Günzburg im Jahr 1623 vertrieben. „Diesem Umstand werden wir also die Verbreitung der Günzburger in Süddeutschland und im Elsass zuzuschreiben haben.“⁴

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Joseph Günzburger, an Austrian Protected Jew, army supplier to the Imperial garrison in Breisach, was closely associated with the founding of a congregation in Emmendingen in the 18th century. Günzburg, the place of origin of the family, was located in the Austrian Margrave Burgau.³ The Jews were driven out of Günzburg by the Margrave of Burgau in 1623. “This situation then caused the spreading of the Günzburgers in Southern Germany and Alsace.”⁴


Zu einer jüdischen Gemeinde gehörten: ein Friedhof, A Jewish community included: a graveyard, a synagogue eine Synagoge und eine Schule. and a school. Der alte Friedhof wurde 1717 angelegt. Die alte Synagoge und die Schule standen an der Kirchstraße 11. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts wurden die älteren jüdischen wie die christlichen Kinder in Realschulen unterrichtet. Dafür hatte Oberamtmann Schlosser in Emmendingen gesorgt.⁵ Der erste für uns relevante Günzburger war Israel Günzburger (1774–1846), Sohn eines Schutzjuden aus Schmieheim mit demselben Namen. Eine verwandtschaftliche Beziehung zum o. g. Joseph Günzburger ist wahrscheinlich, aber nicht gesichert. Israel heiratete 1797 Sarah Weil (1779 –1847), Tochter des Judenschulzen Jonas Weil aus Emmendingen. Am Ende des 18. Jahrhunderts war die Schutzzuteilung an Juden noch streng reglementiert. Jonas selbst war schon durch Einheirat in die Familie Weil Schutzbürger geworden. Erst nach mehreren Anläufen gelang es ihm 1798, seinen Schwiegersohn Israel Günzburger als Schutzbürger und Handelsmann in Emmendingen anzusiedeln. Handelsmann war die Bezeichnung für Viehhändler.⁶ Neben Geldverleih gehörte der Viehhandel zu den Erwerbstätigkeiten jüdischer Männer. Die reicheren unter den Viehhändlern kauften und verkauften Vieh und unterhielten eigene Stal-

The old cemetery was established in 1717. The old synagogue and school were located at 11 Kirchenstrasse. Since the mid-18th century, the older Jewish children were taught alongside Christian children in the “Realschule” (secondary school). The “Oberamtmann” (high official) Schlosser of Emmedingen made sure of that.⁵ The first Günzburger relevant for us was Israel Günzburger (1774–1846), son of a Protected Jew of the same name from Schmieheim. A family relation to the above-mentioned Joseph Günzburger is likely but not certain. In 1797, Israel married Sarah Weil (1779–1847), daughter of Jonas Weil, a Protected Jew of Emmendingen. At the end of the 18th century, the protection allocation for Jews was still strictly regulated. Jonas himself had become a Protected Jew by marrying into the Weil family. Only after several attempts did he succeed in getting his son-in-law Israel Günzburger established as a protected citizen and “Handelsmann” in Emmendingen in 1798. “Handelsmann” was the term for cattle dealer.⁶ In addition to money lending, trading livestock was one of the occupations of Jewish men. The richer cattle dealers bought and sold livestock and managed their own stables. For a 025


3: Alter jüdischer Friedhof, Emmendingen 3: Old Jewish cemetery, Emmendingen

4: Gemeindehaus an der Kirchstraße 4: Meeting house in Kirchstraße

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lungen. Gegen eine Gebühr ließen sie das Vieh auf städtischem Grund am Ortsrand weiden. Die ärmeren unter den Händlern machten nur Verkäufer und Käufer unter den Bauern ausfindig und vermittelten deren Adresse an reichere Händler. Sie kamen bei ihrer Suche bis zum 50 Kilometer entfernten Schwarzwald. Abnehmer der Tiere waren neben Metzgern auch die nahe gelegene Garnison in Breisach. Pferde bildeten das Herz jedes Transportmittels auch beim Militär. Viehhandel war nicht ein Monopol jüdischer Händler. Es gab auch christliche Viehhändler. Im Gegensatz zu seinen christlichen Mitbewerbern gewährte der jüdische Händler Kredite, so dass Bauern bei finanziellen Engpässen den jüdischen Händler bevorzugten. Geflügelhandel war eine Domäne der Frauen. Seit 1785 wurden Viehmärkte monatlich durchgeführt. Ab 1809 wurde in Baden die Rechtsgleichheit sowie Handels- und Gewerbefreiheit eingeführt, 1828 wurden die Judensteuern abgeschafft. Die wirtschaftliche Lage der Emmendinger Juden verbesserte sich Schritt für Schritt. Eigentum durften sie allerdings noch nicht erwerben. Wo die Familie Israel Günzburger wohnte, wissen wir nicht. Israel starb am 8. Januar 1846. Begraben sein müsste er wie seine Frau auf dem alten jüdischen Friedhof von Emmendingen. In der Nacht vom 10. November 1938 haben SA-Schläger Steine auf dem Friedhof zerstört, manche Exemplare landeten in einer nahe gelegenen Baustoffhandlung.

fee, they let their livestock graze on municipal land on the outskirts of town. The poorer ones only tracked the sellers and buyers among the farmers and passed on their addresses to richer cattle dealers. This search led them to the Black Forest, 50 kilometres away. Besides butchers, a purchaser of the animals was the nearby garrison in Breisach. Horses were at the core of transportation, even in the military. Trading livestock was not a monopoly of Jewish merchants. Christian cattle dealers existed also. In contrast to their Christian competitors, Jewish dealers granted loans, so that farmers in financial difficulties preferred the Jewish dealer. Poultry trade was the women’s domain. Livestock markets were conducted monthly from 1785. Starting in 1809, equality laws and freedom of trade and commerce were instituted in Baden; in 1828, the Jewish tax was abolished. Step by step, the economic situation of the Emmendinger Jews improved. However, they were not yet allowed to acquire land. We do not know where the family of Israel Günzburger lived. Israel died on January 8, 1846. He should be buried with his wife at the old Jewish cemetery in Emmendingen. During the night of November 10, 1938, Nazi stormtroopers destroyed gravestones in the cemetery; some ended up at a nearby supplier of building materials.

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5: Modellhäuser in der oberen Karl-Friedrich-Straße mit gleicher Stockwerk-, Trauf- und Firsthöhe 5: Model houses on the upper Karl-Friedrich-Street with unified height: stories, eaves and ridges

Das vom Großherzog Karl Friedrich erlassene Judenedikt von 1809 stieß nicht überall auf Zustimmung. Nach dem Tod des greisen Herzogs begann zuerst eine Welle der Restituierung. Sein Nachfolger Karl setzte eine Kommission ein, die befand „… die Juden, solange sie Juden sind und wenn auch sonst nichts gegen sie eingewendet wird, können in einem christlichen Staate niemals den christlichen Staatsgliedern ganz gleich gehalten werden.“⁷ In Emmendingen nutzten die Juden ihre Rechte auf freie Ansiedlung. Außerhalb des Stadttores entstand ein Neubaugebiet in Nieder-Emmendingen, die spätere Karl-Friedrich-Straße. Am Ortsausgang befindet sich noch heute das Haus des ehemaligen Gasthofs „Zum (alten) Ochsen“. 1855 gab es bereits 028

The Judenedikt (Jewish Edict) of 1809 decreed by the Grand Duke Karl Friedrich was not supported by everyone. After the death of the aged duke, there began an initial wave of restitution. His successor, Karl, set up a commission, which said “… the Jews, as long as they are Jews, and even if nothing else can be said against them, can never have full equality with Christian citizens when living in a Christian state.”⁷ In Emmendingen, the Jews took advantage of their right of free settlement. Outside of the city gate, a new housing development rose up in Lower Emmendingen, which later became Karl-Friedrich-Street. Right at the city limit, you can still find the former guest


6: Die jüdische Schule 6: The Jewish school

232 Mitglieder in der jüdischen Gemeinde. Das waren über 12 % der Einwohner von Emmendingen. Die zweite Generation Günzburger in Emmendingen wurde in Zeiten zunehmender Freiheiten geboren. In Ermanglung eines eigenen Lehrers besuchten die jüdischen Kinder bis 1830 die Stadtschule von Emmendingen. Danach wurde eine jüdische Schule gegründet, zuerst im Gebäude der alten Synagoge, später in der Karl-Friedrich-Straße 62. Das Gebäude lag am Stadtrand der Neustadt, nahe den Viehweiden. Neben religiöser Unterweisung wurden auch weltliche Fächer vermittelt. Deutsch, Schönschreiben,

house „Zum (alten) Ochsen“ (“To the [old] Ox). In 1855, the Jewish community already had 232 members. They made up over 12 % of the residents of Emmendingen. The second generation Günzburger in Emmendingen was born into a time of increasing freedom. Lacking their own teacher, Jewish children attended the public school of Emmendingen until 1830. Then a Jewish school was founded, first in the building of the old synagogue, later at 62 Karl-Friedrich-Street. The building was on the outskirts of the “Neustadt” (new area of town) near the pastures. In addition to religious education, secular subjects 029


Geometer und Naturkunde standen auf der Stundentafel. Bei Mädchen war die Vorbereitung auf die Hausfrauenrolle ein wesentlicher Teil der Schulerziehung. Spinnen, Stricken, Handarbeiten sollten die zukünftigen Mütter lernen. Die Kosten übernahm zuerst teilweise, später ganz, die Gemeinde Emmendingen. Ab 1872 wurden die konfessionellen Schulen der jüdischen und evangelischen Gemeinde zu einer gemischten Schule, der sogenannten Simultanschule, zusammengefasst. Das bedeutete das Ende der jüdischen Elementarschule. Der Unterricht wurde auch am Sabbat erteilt. Nicht wenige jüdische Eltern schickten ihre Kinder dennoch zum Unterricht oder ließen sie am Sonntag bei den christlichen Klassenkameraden die Hausaufgaben für die nächste Woche abholen.⁸ Im direkten Vergleich waren die jüdischen Schüler besonders erfolgreich. Das hatte einen simplen Grund. Die jüdischen Kinder mussten nicht wie ihre christlichen Mitschüler daheim bei der Arbeit, im Stall und auf dem Feld mitarbeiten. Oftmals kamen diese Kinder gar nicht oder übermüdet zur Schule. Diese Volksschule war gedacht als Schule für das Volk, also als Ausdruck für die allgemeine Schulpflicht. Die Bürgerschule war eine weiterführende Schulform, in der die Schüler auf nicht-akademische Berufe im kaufmännischen oder handwerklichen Bereich vorbereitet werden sollten.

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were taught as well. German, penmanship, geometry and science were part of the curriculum. For girls, preparing for the role of housewife was an essential part of the education. These future mothers were to learn spinning, knitting and crafting. The cost of this education was paid, first in part, later in full, by the Jewish community of Emmendingen. Starting in 1872, the religious schools of the Jews and the Protestant church were combined into a joint school, the so-called “Simultanschule”. This was the end of the Jewish elementary school. Classes continued even on the Sabbath day. Several Jewish parents still sent their children to school or had them pick up their homework assignments for the following week from their Christian classmates on Sunday.⁸ In direct comparison, the Jewish students were particularly successful. The reason was simple. Jewish children, unlike their Christian classmates, did not have to help out with the work at home, in the barn and in the field. Often, these children did not attend school or they came overtired. This “Volksschule” (school of the common folk) was intended as a school for the people, as the implementation of mandatory schooling. The “Buergerschule” was a secondary type of school, preparing students for non-academic careers in commercial or manual labor fields.


Israel Günzburger und seine Frau Sarah hatten acht Kinder. Die beiden Jüngsten waren Samuel (1818–1885) und Marx (Marum) (1820–1875). Der spätere Handelsmann Samuel heiratete Rosa Haas (?–1875) aus Breisach. Wir wissen nicht, ob Samuel und Rosa bereits auf der Karl-Friedrich-Straße im Gasthof „Zum Ochsen“ wohnten. Ideal war die Lage am Stadtrand von Nieder-Emmendingen. Die Gebäude ließen Stallungen fürs Vieh vermuten. Der nahe Dorfanger bot den Tieren den notwendigen Auslauf. Samu-

Israel Günzburger and his wife Sarah had eight children. The two youngest were Samuel (1818–1885) and Marx (Marum) (1820–1875). Later a businessman, Samuel married Rosa Haas (?–1875) from Breisach. We do not know if Samuel and Rosa already lived on Karl-Friedrich-Street in the guest house “Zum Ochsen”. The location was ideal on the outskirts of Lower Emmendingen. The buildings hint at stables for cattle. A nearby public pasture offered the animals the necessary space. Samuel as well as Rosa were

7: Samuel Günzburger 7: Samuel Günzburger

8: Rosa Günzburger, geb. Haas 8: Rosa Günzburger, née Haas

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el wie Rosa wurden auf dem alten Friedhof beerdigt.⁹ Ihre Gräber blieben vom SA-Terror 1938 und den jugendlichen Tollheiten der 1970er Jahre verschont. ¹⁰

buried at the old cemetery.⁹ Their graves were spared from the Nazi terror in 1938 and the youthful indiscretions of the 1970s.¹⁰

1862 setzte in Baden die völlige rechtliche Gleichstellung 1862 introduced complete legal equality for the Jews in der Juden ein. Gewerbefreiheit wie Freizügigkeit waren Baden. Freedom of trade as well as freedom of movement jetzt garantiert. War die Existenz im Ort nicht mehr gesi- were now guaranteed. If their livelihood was no longer secured in town, they moved to the cities or abroad. chert, wanderten sie in die Städte oder ins Ausland ab. Samuel und Rosa Günzburger hatten fünf Kinder. Ihr ältester Sohn, Israel Samuel (1846–1893) und sein Vetter Moritz (1854–1888), Sohn des Onkels Marx, heirateten zwei Töchter des Getreidehändlers Samuel Kaufmann aus Lichtenau. Der Ort lag ca. 80 Kilometer nördlich von Emmendingen. Wie kamen diese Verbindungen zustande? Hatte ein Schadchanim (Ehevermittler) die Verbindungen geschaffen? Hatten die Kaufmanns geschäftliche oder sogar verwandtschaftliche Beziehungen nach Emmendingen? Immerhin liegen auf dem Freistetter Friedhof bei Lichtenau auch Günzburger begraben. Der Patriarch Samuel Kaufmann (1822–1893) und seine Frau Esther, geb. Roos, (1827–1895) waren Nachfahren aus miteinander versippten und verschwägerten Familien. Die Beschlüsse „Liberté, égalité, fraternité“ der französischen Nationalversammlung von 1791 machten aus Juden gleichberechtigte Bürger. Ein Gräuel für manchen jüdischen Fa032

Samuel and Rosa Günzburger had five children. Their eldest son, Samuel Israel (1846–1893) and his cousin Moritz (1854–1888), son of his uncle Marx, married two daughters of the grain wholesaler Samuel Kaufmann from Lichtenau. This town was about 80 kilometres north of Emmendingen. How did these connections come about? Did a “Schadchanim” (marriage broker) create the connections? Did the Kaufmanns have business or even family relationships in Emmendingen? After all, there are some Günzburgers buried at the Freistetter Cemetery in Lichtenau. The patriarch Samuel Kaufmann (1822–1893) and his wife Esther, née Roos (1827–1895), were descendants of inter-family marriages. The rulings “Liberté, égalité, fraternité” of the French National Assembly of 1791 turned Jews into equal citizens—a concern to some Jewish family men, who saw the assimilation to non-Jewish culture as the beginning of the end of their own culture.¹¹


9: Samuel Kaufmann und Esther Roos aus Lichtenau 9: Samuel Kaufmann and Esther Roos from Lichtenau

milienvater, der in der Assimilation an die nicht jüdische Umgebung den Anfang vom Ende der eigenen Kultur sah.¹¹ So auch für die Familien Kaufmann und Roos aus Niederrödern bei Seltz im Elsass. Sie zogen in den rechtsrheinischen Teil der Hessich-Darmstädtischen Grafschaft nach Lichtenau. Dabei nahmen sie eine ungünstigere rechtliche Stellung als Schutzjuden in Kauf mit dem Ziel, der Bewahrung der eigenen Identität. Samuels Vater Michael Kaufmann war bereits erfolgreicher Getreidehändler. Immerhin konnte er seiner Frau Minna Braunschweig schon 10.000 (rheinische) Gulden im Falle seines Ablebens versprechen. Minna verzichtete auf die Auszahlung, um zusammen mit ihren Kindern den Getreidegroßhandel ihres Mannes nicht

This was true for the families Kaufmann and Roos from Lower Rödern at Seltz in Alsace. They moved to the Hessich-Darmstadt county North of the Rhine River to Lichtenau. By doing so, they conceded to a less favorable legal status as Protected Jews in order to protect their own identity. Samuel‘s father Michael Kaufmann was already a successful grain wholesaler. After all, he was already able to promise his wife Minna Braunschweig 10,000 Gulden in the event of his death. Minna waived the payment in order to preserve her husband’s grain wholesale business together with their children. Their oldest son Samuel was a devout Jew, old-fashioned until the end. Emancipation was an abomination to him; integration equal to doom. He saw his fears confirmed in the lifestyle of his eldest son 033


zu gefährden. Ihr ältester Sohn Samuel war ein strenggläubiger Jude „alten“ Schlages bis an sein Lebensende. Emanzipation war ihm ein Gräuel, Integration gleich Untergang. Seine Befürchtungen sah er durch den Lebenswandel seines ältesten Sohnes Leopold bestätigt. Der wollte zunächst ein nicht standesgemäßes jüdisches Mädchen aus dem Hause eines Lumpensammlers heiraten, was von Samuel abgelehnt wurde. Danach verliebte sich Leopold in ein katholisches Mädchen. Trotz aller Verlockungen wie einer Weltreise ließ sich Leopold nicht von einer Mischehe mit einer katholischen Christin abbringen. Was für ihn die große Liebe war, galt für Samuel als das größte Unglück auf Erden. Er verstieß seinen Sohn, verhängte eine Kontaktsperre zu ihm über die gesamte Familie und ließ sich selbst auf dem Sterbebett nicht mehr zu einer versöhnlichen Geste erweichen. Leopold aber wechselte von einer Minderheit in die nächste. Er und seine katholische Frau waren von einer übergroßen evangelischen Mehrheit umgeben. Für nicht wenige dieser Mehrheitsgläubigen waren Katholiken Anbeter des „Leibhaftigen“. Der frankophile Samuel wählte für vier seiner fünf Töchter französisch klingende Namen: Bonette, Babette, Karoline und Nanette.¹² Das Standesbuch der jüdischen Gemeinde Lichtenau enthält die Geburtsurkunden der Kaufmann Töchter.

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Leopold. First, Leopold wanted to marry a socially unacceptable Jewish girl from the home of a ragman, which was rejected by Samuel. Then Leopold fell in love with a Catholic girl. In spite of all enticements such as world travel, he was not deterred from a mixed marriage to a Catholic. What was great love to him, Samuel saw as the greatest misfortune on earth. He disowned his son, imposed a no-contact rule for the entire family, and even on his deathbed did not soften up for a reconciliatory gesture. Leopold, however, moved from one minority to the next. He and his Catholic wife were surrounded by a large Protestant majority. For many within this faith majority, Catholics were worshipers of the devil. The Francophile Samuel chose French-sounding names for four of his five daughters: Bonette, Babette, Karoline and Nanette.¹² The registry book of the Jewish community Lichtenau contains the birth certificates of the Kaufmann daughters.


10: Geburtsurkunde von Babette 10: Birth certificate of Babette Kaufmann from Lichtenau

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Israel Samuel Günzburger

Israel Samuel Günzburger

Der Viehhändler Israel Samuel Günzburger aus Nieder-Emmendingen heiratete Babette Kaufmann aus Lichtenau. Sie bildeten die dritte Generation der Günzburger aus Emmendingen. Sie wohnten im Haus „Zum Ochsen“ oder „Alter Ochse“. Der Gasthof wurde bis 1868 betrieben.

The cattle dealer Israel Samuel Günzburger from Lower Emmendingen married Babette Kaufmann from Lichtenau. They formed the third generation of Günzburgers in Emmendingen. They lived in the house “Zum Ochsen” or “Alter Ochse”. The guest house was operated until 1868.

11 & 12: Babette und Israel Samuel 11 & 12: Babette and Israel Samuel

Die nahen städtischen Weiden wurden von ca. 20 in Emmendingen gemeldeten Viehhändlern genutzt. Schräg gegenüber dem „Alten Ochsen“, in der Karl-Friedrich-Straße 9, wohnte z. B. Israel Philipp Günzburger, ein Vetter von Israel Samuel, ebenfalls Viehhändler. Dieser (Namens)vetter starb 1940 im Lager Gurs. Im Gedenken an ihn ließen seine Nachfahren aus USA einen Grabstein auf dem Friedhof von Emmendingen errichten. 036

The nearby public pastures were used by about 20 cattle dealers, registered in Emmendingen. Kitty corner to the “Alten Ochsen”, at 9 Karl-Friedrich-Street, lived Israel Philipp Günzburger, a cousin of Israel Samuel, also a cattle dealer. This namesake died in 1940 in Camp Gurs. In his memory, his relatives from the USA dedicated a gravestone to him, which is located in the new cemetery of Emmendingen.


Von links im Uhrzeigersinn: 13: „Zum Ochsen“ oder „Alter Ochse“, bis 1868 Gasthaus 14: „Zum Ochsen“ oder „Alter Ochse“, ca. 1914 15 „Zum Ochsen“ in den Goldenen Zwanzigern Clockwise: 13: “Zum Ochsen” or “Alter Ochse”, guest house until 1868 14: “Zum Ochsen” or “Alter Ochse”, c. 1914 15: “Zum Ochsen” in the Golden Twenties

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The fourth generation of Günzburgers grew up during Die vierte Generation Günzburger wuchs in die Kaiserzeit (1871–1918) hinein. Zwischen 1875 und 1889 wurden die the Imperial Period (1871–1918). The eight children of Israacht Kinder von Israel Samuel Günzburger und seiner Frau el Samuel Günzburger and his wife Babette were born beBabette geboren. tween 1875 and 1889.

16: Der Viehhändler Israel Samuel in typischer Kutscherkleidung 16: Cattle dealer Israel Samuel in typical clothing of a coachman

Das Jahr 1893 stand im Hause Günzburger unter denkbar schlechten Vorzeichen. Am 25. Juli 1893 war der Patriarch Samuel Kaufmann, Babettes Vater, im Alter von 71 Jahren in Kehl gestorben. Aus den Nachlassakten geht hervor, dass Samuel vermögend war. Leopold, der eine Katholische geheiratet hatte, wurde auf sein Pflichtteil gesetzt. Die Töch038

The year 1893 wasn’t kind to the Günzburger household. On July 25, 1893, the patriarch Samuel Kaufmann, Babette’s father, died at the age of 71 in Kehl. His will shows that Samuel was wealthy. Leopold, who married a Catholic woman, was given only the required amount. The daughters got more than the sons. Samuel already passed on part


ter bekamen mehr als die Söhne. Samuel hatte schon vor of his wealth before his death. Included in her inheritance, seinem Tod einen Teil seines Vermögens weitergereicht. In- Babette received about 36,000 Goldmark which is the klusive Erbteil dürfte Babette ca. 36.000 Goldmark erhalten equivalent of about 640,000 Euros.¹³ haben, das entspricht ca. 640.000 €.¹³ Four months later to the day, Babette’s husband Israel Auf den Tag genau vier Monate später starb Babettes Mann Samuel died of cancer. He was only 47 years old and was Israel Samuel an Krebs. Er wurde nur 47 Jahre alt und liegt buried in the old cemetery of Emmendingen. Unfortuauf dem alten Friedhof von Emmendingen begraben. Leider nately, his grave fell victim to the Nazi terror of Novemwurde sein Grab Opfer des SA Terrors vom November 1938. ber 1938. Julius, the eldest, was at the beginning of his Julius, der älteste Sohn, stand 1893 beim Tod des Vaters am mechanical engineering education in Karlsruhe when his Anfang seines Maschinenbau-Studiums in Karlsruhe. Er father died in 1893. He was allowed to continue his studies. durfte sein Studium fortsetzen. Rosa, die älteste Tochter, Rosa, the eldest daughter, was just 17 years old, unqueswar gerade 17 Jahre alt, gewiss eine notwendige Stütze im tionably an essential support in the Günzburger home. Hause Günzburger. Der dritte in der Reihe der Kinder war The third in the series of children was Michael. At age 15, Michael. Mit 15 Jahren war er noch auf der Bürgerschule. Al- he still attended the “Buergerschule”. Albert was 13 years bert war 13 Jahre. Er war der Einzige, der später in die Fuß- old. He was the only one who followed after his father and stapfen seines Vaters trat und den Beruf des Viehhändlers became a cattle dealer. Hugo, who later became a successfortführte. Hugo, der ein erfolgreicher Zigarrenfabrikant ful cigar manufacturer, was 12 years old, Jakob 10 and the wurde, war 12 Jahre, Jakob zehn und der jüngste Sohn Ernst, youngest son Ernst, who later followed the example of his der dem Vorbild des älteren Bruders Hugo folgen sollte, acht. older brother Hugo, was eight. Hilda, the youngest, was Hilda, die Jüngste, war erst vier Jahre alt. only four years old. Wie wurde Babette mit dieser Situation fertig? Sie hatte Verantwortung für ihre Kinder und einen Viehhandel, den sie ohne männliche Hilfe nicht fortführen konnte. Wie weit ihr Erbteil reichte, können wir nicht beurteilen, da uns keine Informationen darüber zur Verfügung stehen. Zehn Jah-

How did Babette manage this situation? She was responsible for her children and the cattle business, which she was unable to continue without male help. We do not know to what extend her inheritance was helpful because we do not have any information about it. Ten years after 039


re nach dem Tod ihres Mannes tauchte im Adressbuch der Stadt Emmendingen ein Hinweis auf eine Gewürzhandlung (Spezereien) in der Karl-Friedrich-Straße 40 auf.

the death of her husband, the address book of Emmendingen points us to a spice shop on 40 Karl-Friedrich Street.

17: Auszug aus dem Emmendinger Adressbuch 1903 17: Excerpt of the Emmendingen directory 1903

Babette überlebte ihren Mann Israel um 40 Jahre. Sie Babette survived her husband Israel by 40 years. She starb im Alter von 83 Jahren im Juli 1933. Das Nazi-Regime died at the age of 83 in July 1933; she was spared the Nazi und insbesondere die Deportation 1940 nach Gurs blieben regime and in particular the deportation to Gurs in 1940. ihr erspart. Sie liegt auf dem neuen Friedhof von Emmen- She is buried in the new cemetery of Emmendingen. dingen begraben.

18: Grabstein auf dem neuen Friedhof Emmendingen 18: Gravestone at the new cemetery of Emmendingen

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Die Großfamilie Günzburger 1920

The extended family Günzburger 1920

Die Aufnahme vom Anfang der Weimarer Republik war das letzte gemeinsame Familienfoto (siehe nächste Seite). Babette feierte ihren 70. Geburtstag 1920 im „Alten Ochsen“. Die Großfamilie war versammelt und stand zum Fotoshooting vor dem ehemaligen Gasthof. Gezeigt wird eine gutbürgerliche, selbstbewusste Familie von Fabrikanten, Kaufleuten, Viehhändlern, Sägewerksbesitzern und Ingenieuren. Auf dem Foto fehlten die Eheleute Michael Günzburger und Bertha Günzburger, geborene Richheimer. Sie warteten in Mannheim auf die Geburt ihrer zweiten Tochter Greta. Diese schrieb Jahre später eine Erklärung zu dieser Aufnahme, aus der wir ein „who is who“ ableiten können.

This photograph from the beginning of the Weimar Republic was the last family photo (see next page). Babette celebrated her 70th birthday in 1920 in the „Alten Ochsen”. The extended family was gathered and stood in front of the former guest house for the photo shoot. Shown is a bourgeois, confident family of manufacturers, businessmen, cattle dealers, sawmill owners and engineers. Missing in the photograph are Michael Günzburger and Bertha Günzburger, née Richheimer. They were awaiting the birth of their second daughter Greta in Mannheim. Years later, Greta wrote about this photograph, giving us a “who’s who.”

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19: Familienfoto, 1920 (Bezüge zur Babette angefügt) Oberste Reihe (v.r.n.l.): Albert (Sohn), Ernst (Sohn), Hilda (geb. Pfälzer, Schwiegertochter, Frau von Ernst), Hilda Veit (geb. Günzburger, Tochter), Julie (geb. Veit, Ehefrau des Neffen Hermann Günzburger). 2. Reihe: Zoe Richheimer (geb. Kahn, Schwägerin des Sohnes Michael), Hugo (Sohn), Martha (geb. Günzburger, Schwiegertochter), Lina Bloch (geb. Günzburger, Nichte des Ehemanns), Julius (Sohn), Jeanne (geb. Kahn, Frau von Albert), Sophie (Schwiegertochter, Frau von Julius), Berthold Veit (Schwiegersohn, Ehemann von Hilda), Hermine Roos (geb. Günzburger, Nichte), Klara Goldschmidt (geb. Günzburger, Nichte des Ehemanns), Rosa Dreifuss (geb. Günzburger, Tochter). 3. Reihe: Rosa (Nichte des Ehemanns, Mutter des Schwiegersohns Berthold), Lina (geb. Haas, Schwippschwägerin, Mutter von Martha), Babette (geb. Kaufmann, die Jubilarin), Nanette (geb. Kaufmann, Schwester), Alice (geb. Roos, Ehefrau des Neffen Max). 4. Reihe: Georg Veit (Enkel), Käte (Enkelin), Otti Veit (Enkelin), Emmi Veit (Enkelin), Ruth (Enkelin), Karl Veit (Enkel) 19: photograph of the family, 1920 (relationship to Babette added) Top row (from right to left): Albert (son), Ernst (son), Hilda (née Pfälzer, daughter-in-law, wife of Ernst), Hilda Veit (née Günzburger, daughter), Julie (née Veit, wife of nephew Hermann). 2nd row: Zoe Richheimer (née Kahn, sister-in-law to son Michael), Hugo (son), Martha (née Günzburger, daughter-in-law), Lina Bloch (née Günzburger, husband’s niece ), Julius (son), Jeanne (née Kahn, wife of Albert), Sophie (daughter-in-law, wife of Julius), Berthold Veit (son-in-law, husband of Hilda), Hermine Roos (née Günzburger, niece), Klara Goldschmidt (née Günzburger, husband’s niece), Rosa Dreifuss (née Günzburger, daughter). 3rd row: Rosa (husband’s niece, mother of son-in-law Berthold), Lina (née Haas, co-sister-in-law, mother of Martha), Babette (née Kaufmann, the birthday girl), Nanette (née Kaufmann, sister), Alice (née Roos, wife of nephew 20: Bertha und Michael Günzburger

Max). 4th row: Georg Veit (grandson), Käte (granddaughter), Otti Veit (granddaughter),

20: Bertha and Michael Günzburger

Emmi Veit (granddaughter), Ruth (granddaughter), Karl Veit (grandson)

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Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4) 5)

Snyder, T. (2013): Bloodlands – Europa zwischen Hitler und Stalin. München Mommsen, H. (2014): Das NS-Regime und die Auslöschung des Judentums in Europa. Göttingen Günther, K. (2011): Die Jüdische Gemeinde Emmendingen 2011. Emmendingen. Ginsburger, M. (1913): Die Günzburger im Elsaß. Gebweiler. Schlosser war der Mann von Cornelia Goethe, der Schwester von Johann Wolfgang von Goethe. Schlosser was the husband of Cornelia Goethe, the sister of Johann Wolfgang von Goethe. 6) Günther,K: Die Jüdische Gemeinde 7) ebd. 8) ebd. 9) Pflugfelder, Th. (1980): Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden in Baden während des Dritten Reichs. Freiburg. S. 12 10) Landesarchiv: Grabstein 148 und Grabstein 213 auf dem alten Friedhof. 11) Günzburger, B. (2013): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau Unternehmer in Kehl. Berlin 12) Landesarchiv Baden-Württemberg. 13) Eine Goldmark = ca. 17,82 Euro. One “Goldmark” = about 17.82 Euro.

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Die Kinder von Israel und Babette G端nzburger The children of Israel and Babette G端nzburger


Julius Günzburger (1875–1945)

21: Julius im Alter von 36 Jahren 21: Julius at the age of 36

Julius Günzburger wurde am 4. Februar 1875 in Emmendingen am Fuße des Kaiserstuhls geboren. Er war der älteste Sohn des Viehhändlers Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette, geb. Kaufmann. Nach dem Besuch der Volksschule und der höheren Bürgerschule am Ort wechselte er 1888 mit 13 Jahren zur Realschule nach Freiburg. Als „Abiturient“ mit dem Abschluss Untersekun046

Julius Günzburger was born on February 4, 1875 in Emmendingen, “at the foot of the Kaiserstuhl” hills. He was the eldest son of Israel Samuel Günzburger, cattle dealer, and his wife Babette, née Kaufmann. After attending the Volksschule (elementary school) and the Höhere Bügerschule (middle school) in town, he transferred to the Realschule (high school) in Freiburg in 1888 at age 13. He grad-


da (heute Klasse 10) beendete er 1891 seine Schullaufbahn.¹ uated in 1891 with an Untersekunda degree (today’s 10th Zwei Jahre später starb 1893 sein Vater Israel Samuel. grade).¹ Two years later, in 1893, his father Israel Samuel died.

Studium in Karlsruhe Education in Karlsruhe Nach der Schulzeit absolvierte Julius eine praktische Ausbildung als Vorbereitung für sein Maschinenbaustudium. Er arbeitete je ein halbes Jahr in der Maschinenfabrik des Herrn Kern in Lörrach und in der Firma des Herrn C. Saaler in Theningen (heute Teningen) bei Emmendingen. Die Maschinenfabrik Kern wurde 1850 in Lörrach gegründet.² Noch heute gibt es eine Firma DMT Drehmaschinen Kern in Lörrach.³ Das Eisen- und Hammerwerk Theningen basierte auf eine 1771 gegründete Schmiede und gehörte zu den ältesten deutschen Fabriken. Heute ist die EHT Werkzeugmaschinen GmbH eine weltweit aktive Firma.⁴

After his schooling, Julius completed an apprenticeship in preparation for his mechanical engineering degree. He worked half a year each for the Kern machine factory in Lörrach and the Saaler company in Theningen (today’s Teningen) near Emmendingen. The Kern factory was founded in 1850 in Lörrach² and still exists as DMT Drehmaschinen Kern.³ The Theningen steel and hammer mill was founded in 1771, one of the oldest German factories. Today, EHT Werkzeugmaschinen GmbH is active worldwide.⁴,

A mechanical engineering degree was an unusual choice Mit einem Maschinenbaustudium wählte Julius eine für for someone of Julius’ heritage. None of his brothers or seine Herkunft untypische Berufsrichtung. Keiner seiner cousins worked at a technical job. They mostly worked Brüder oder Vettern war und wurde in einem technischen as merchants or manufacturers. Julius was the first acaBeruf tätig. Sie arbeiteten überwiegend als Kaufleute oder demic anong the Günzburgers and one of the first Jewish Fabrikanten. Julius war der erste Akademiker unter den engineers, which was continuously emphasized in family Günzburgern und einer der ersten jüdischen Ingenieure, circle.⁵ wie in Familienkreisen stets betont wurde.⁵

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Das Studium der Ingenieurwissenschaften verlangte 1892 kein Abitur nach Oberprima, wie es heute vorausgesetzt wird. Ein „Einjähriges“ verbunden mit Praktika, reichte zur Zulassung aus. So waren die Themen der ersten Semester z. B. in Mathematik Themen wie Analysis und Lineare Algebra, die heute in der Oberstufe eines Gymnasiums behandelt werden.

An engineering degree did not require the Abitur (today’s 12th-grade high school degree) after the Oberprima (grade 13), as required today. The Einjährige (exams), together with internships, sufficed for entry. First-semester subjects included math analysis and linear algebra, part of today’s high school high school curriculum.

Julius began his studies at the Polytechnic of Karlsruhe Julius war seit dem Frühjahr 1892 Student des Polytech- in the spring of 1892. He remained at the Großherzogliche nikums Karlsruhe. Bis 1896 blieb Julius an der Großherzog- Technische Hochschule until 1896, completing his exams lichen Technischen Hochschule in Karlsruhe, wo er auch for his final degree. In June 1896, he graduated with an sein Examen als Diplom-Ingenieur ablegte. Er schrieb 1896 overall grade of “good.” In 1896, he wrote a resume, which einen Lebenslauf (Curriculum Vitae), den er zu seinem Ex- he had to present at the time of his exams. It reads: amen vorlegen musste.

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Geboren am 4. Februar 1875 in Emmendingen, Baden, besuchte ich von meinem sechsten Lebensjahr an die dortige Volksschule u. später die Höhere Bürgerschule. Nach Abschließung derselben trat ich im Schuljahr 1888 in die II. Klasse (Untertertia) der Realschule in Freiburg ein, die ich 1891 als Abiturient verließ. Im folgenden Jahr arbeitete ich zu meiner praktischen Ausbildung je ein halbes Jahr in der Maschinenfabrik der Herren Kern in Lörrach und des Herrn C. Saaler in Theningen. Im Frühjahr 1892 trat ich in das hiesige Polytechnikum ein, dem ich seit dieser Zeit ununterbrochen als Studierender des Maschinenbaus angehöre. Den ersten Teil des Diplomexamens bestand ich im Oktober 1894.

Born on February 4, 1875 in Emmendingen, Baden, I attended the “Volksschule” in town at age six and later the “Höhere Bürgerschule”. After completion of the later, I entered the 2nd grade (Untertertia) at the “Realschule” in Freiburg in 1888 and left as a graduate in 1891. In the following year, I worked on my practical education, half a year each at the maschine factory of Mr. Kern in Lörrach and of Mr. C. Saaler in Theningen. In the spring of 1892, I entered this polytechnic, and have remained an engineering major here continuously. I passed the first round of exams in October 1894. Julius Günzburger

Julius Günzburger

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22: Der Lebenslauf von Julius. 23: Im Juni 1896 schloss er sein Studium mit der Gesamtnote „gut“ ab. 22: Curriculum vitae of Julius. 23: In June 1896, he graduated with the overall grade “good”.

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Julius hatte das „Einjährige“. Damit war im 19. Jahrhundert eine militärische Dienstpflicht von einem Jahr verbunden. Von 1896 bis 1897 diente Julius bei den Pionieren in Kehl am Rhein. War es Zufall oder konnte Julius sich den Ort des Militärdienstes auswählen? In Kehl wohnte die Familie Kaufmann, aus der seine Mutter Babette stammte. Einzelheiten über die Zeit beim Militär wissen wir nicht.

After completing his Einjaehrige, Julius was obligated to one year of military service. From 1896 to 1897, Julius served with the pioneers in Kehl at the Rhine River. Was it coincidence or was Julius able to select the location of military service? His mother Babette’s family, the Kaufmanns, lived in Kehl. We do not have details of his time in the military.

Julius und seine Kusine Sophie

Julius and his cousin Sophie

In Emmendingen, Karl-Friedrich-Straße 36, wohnte die Familie des Eisenwarenhändlers Moritz Günzburger gleich neben der Familie Israel Günzburger. Moritz, ein Vetter von Israel Günzburger, war verheiratet mit Babettes Schwester Nanette und hatte mit ihr vier Kinder. Die älteste Tochter war Sophie. Julius und Kusine Sophie waren Nachbarskinder. Wir gehen davon aus, die Beziehung zwischen den beiden war eine klassische Sandkastenliebe. Mit Sophie aus Emmendingen hatte Julius auch während seiner Militärzeit Kontakt. Sophie wurde schwanger und gebar am 19. Mai 1897 in Deutsch-Wilmersdorf, heute Berlin, ihren Sohn Kurt. Während der Vater Julius zu der Zeit schon in Aachen wohnte, lebte Mutter Sophie in Wilmersdorf, Kurfürstendamm 127. In Kurts Geburtsurkunde steht als Mutter Sophie, geb. Günzburger, eingetragen.⁶ Zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Sohnes waren beide also noch nicht verheiratet und hatten keine gemeinsame Wohnung.

The family Moritz Günzburger, who sold hardware goods, lived on 36 Karl-Friedrich Street in Emmendingen, right next to the family of Israel Günzburger. Moritz, a cousin of Israel, was married to Babette’s sister Nanette and they had four children. The oldest daughter was Sophie. So cousins Julius and Sophie were neighbors even as kids. We assume the relationship between the two was that of classic childhood sweethearts. Sophie stayed in contact with Julius during his military service, giving birth to their son Kurt on May 19, 1897 in Deutsch-Wilmersdorf, today’s Berlin. While Julius lived in Aachen at the time, Sophie lived in Wilmersdorf, 127 Kurfürstendamm. Kurt’s birth certificate lists mother Sophie, née Günzburger.⁶ That means, the two of them were not married and did not live together when their first son was born.

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Julius und Sophie heirateten am 18. Mai 1899 in Emmendingen. In der Heiratsurkunde wurde Aachen als Wohnort genannt. Trauzeugen waren der Kaufmann Philipp Günzburger, ein Vetter von Julius, an den im Dezember 1944 die letzte Nachricht aus dem KZ Bergen-Belsen ging und der Holzhändler Simon Veit, Gemeindevorsteher in Emmendingen und Schwiegervater von Julius’ Schwester Hilda. Am 30. Mai 1900 meldete Julius die Geburt des Sohnes Paul beim Standesamt Aachen. Paul wurde einen Tag vorher in der Wohnung Junkerstraße 49, nahe der TH Aachen, geboren. Am 13. Oktober 1900 meldete Julius den Tod seines Sohnes Paul. Dieser war im Alter von vier Monaten einen Tag zuvor in der Wohnung Junkerstraße gestorben. Später zogen die Günzburger in die Gartenstraße 40 in Aachen. Dort hielten sie sich auch nicht lange auf, sondern wechselten nach München-Gladbach, wo sie ab dem 28. September 1901 zuerst in der Bettrather Straße 1 wohnten. Dort wurde Erna am 8. August 1902 als Tochter der Eheleute Julius und Sophie Günzburger geboren. Noch einmal stand ein Umzug an. 1903 wechselte die Familie weiter zur Bettrather Straße 91, bevor sie schließlich am 19. Mai 1903 nach Zwickau zog. Wir wissen nicht, wo Julius seine ersten Berufserfahrungen gesammelt hatte.

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Julius and Sophie married in Emmendingen on May 18, 1899. Their marriage certificate lists Aachen as their place of residence. Their witnesses were businessman Philipp Günzburger, Julius’ cousin, the recipient of their last communication from the concentration camp Bergen-Belsen in December 1944, and timber tradesman Simon Veit, head of the Jewish community in Emmendingen and father-in-law to Julius’ sister Hilda. Julius registered the birth of his son Paul at the county clerk in Aachen on May 30, 1900. Paul was born a day prior in their apartment at 49 Junkerstreet, located close to the TH Aachen. But the baby lived less than five months. He died where he was born, at their apartment on 49 Junker Street, near the technical school in Aachen. Later, the Günzburger family moved to 40 Garten Street. They didn’t stay there for long but moved on September 28, 1901, to München-Gladbach where they first lived at 1 Bettrather Street. There, Erna was born on August 8, 1902 as the daughter of Mr. and Mrs. Julius and Sophie Günzburger. The family had another move ahead of them. In 1903, they moved to 91 Bettrather Street. We do not know where Julius got his first professional experience.


Karriere in Zwickau

Career in Zwickau

Die Badener Julius und Sophie Günzburger zogen nach Zwickau in Sachsen.⁷ In Zwickau wechselte die Familie Günzburger auch mehrfach ihren Wohnsitz. Zuerst lebten sie in der Werdauer Straße 28. Ab 1906 wohnte der Ingenieur Julius Günzburger in der Osterweihstraße 4a. Von 1912 bis 1913 war die Familie in der Richardstraße 34 gemeldet. Ab 1914 wurde der Wohnsitz in die Spiegelstraße 7 verlegt. Hier blieb die Familie bis zu ihrem Umzug nach Bochum 1927.⁸

On May 19, 1903, Julius and Sophie Günzburger from Baden moved to Zwickau, far from their family in Southern Germany.⁷ In Zwickau, the family moved several times. First they lived at 28 Werdauer Road. From 1906, the engineer Julius Günzburger lived at 4a Osterweih Street. From 1912 to 1913, the family was registered at 34 Richard Street. As of 1914, their residence was listed as 7 Spiegel Street. Here the family lived until moving to Bochum in 1927.⁸

Julius legte den Grundstein seiner Karriere bei der Zwickauer Maschinenfabrik AG. Haupterzeugnisse des Unternehmens waren Luftkompressoren, Druckluft- und Zentrifugalpumpen und Dampf- und Fördermaschinen für Bergwerke, mit denen das Unternehmen im In- und Ausland bedeutende Umsätze erzielte.⁹ Vom 8. Juni 1906 an arbeitete Julius als Oberingenieur bei der Zwickauer Maschinenfabrik. Er besaß ab Januar 1907 die Gesamtprokura. Von 1912 bis zu seinem Ausscheiden auf eigenen Wunsch Ende August 1926 war er Technischer Direktor. Der Generaldirektor Hugo Heinrich stellte Julius ein Zeugnis aus.

Julius laid the foundation of his career at the Zwickau Maschinenfabrik AG. The company mainly produced air compressors, pneumatic and centrifugal pumps, steam engines and winding machines for mines, and made significant earnings domestically and internationally.⁹ On June 8, 1906, Julius began work as a senior engineer at the Zwickau factory. From 1912 until retiring of his own accord at the end of August 1926, his title was technical director. The firm’s director-general, Hugo Heinrich, gave Julius a letter of recommendation.

Latecomer Fritz, the youngest member of the family, was born on September 7, 1911. The family was in contact Fritz, der jüngste Spross der Familie, wurde als Nachzüg- with relatives despite the great distance. Fritz and Erna ofler am 7. September 1911 geboren. Die Familie hatte trotz ten spent their vacation in Southern Germany. Kurt went der weiten Entfernung Kontakt zu den Verwandten. Fritz to school there for a year. 053


und Erna verbrachten oft die Ferien in Süddeutschland. Julius was drafted in World War I. The medal he received Kurt ging dort für ein Jahr zur Schule. did not, however, save him from the Nazi persecution that was to come. When and how long he stayed in military serJulius wurde im Ersten Weltkrieg eingezogen. Er erhielt vice, we do not know. eine Medaille, die ihn allerdings nicht vor der späteren Verfolgung durch die Nazis bewahrte. Wann und wie lange er Dienst leisten musste, wissen wir nicht.

24: Familie Julius Günzburger 1911 in Zwickau. Von links: Sohn Kurt (14), Sophie (32) mit Fritz (3 Monate), Julius (36), Sophies Schwester Hedwig (27), Tochter Erna (9) und Hedwigs Sohn Walter (4). Auf der Anrichte ein Foto vom Vater Israel Samuel. 24: Family Julius Günzburger 1911 in Zwickau. From the left: son Kurt (14), Sophie (32), Fritz (3 months), Julius (36), Sophie’s sister Hedwig (27), daughter Erna (9) and Hedwig’s son Walter (4). On the mantle a photo of father Israel Samuel.

Wechsel ins Ruhrgebiet zur Flottmann AG Transfer into the Ruhr area to Flottmann Julius begann unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus Immediately after leaving the Zwickau company, Juder Zwickauer Maschinen AG als technischer Berater bei lius started work as technical adviser at Flottmann AG, der Flottmann AG mit Hauptsitz in Herne.¹⁰ Die Maschinen- headquartered in Herne.¹⁰ Flottmann produced products 054


25: Zeugnis der Zwickauer Maschinenfabrik 25: Certificate of machine factory of Zwickau. Transcript: Machine Factory of Zwickau

Zwickau in Saxony

Zwickau, in Saxony, 10 / 4 / 1926 Certificate Per request, this certifies that Mr Director Julius Günzburger was employed here as chief engineer from June 8, 1906 until Mai 31, 1912 and as technical director from June 1, 1912 until August 31, 1926. Mr Günzburger has had power of attorney since January 1907. Among his obligations were especially the leadership of the technical department, order processing, and contact with customers. Later, as director, he was also in charge of workshops and profit and loss forecasts. Mr Günzburger specifically worked towards the implementation and expansion of our compressor department. We are glad to certify that Mr Günzburger did his work with diligence and care and was very valuable during his long years of employment with us. Mr Günzburger also proved to be a skilled salesman. He is leaving his position by his own choice and we wish him the best for his future. Machine Factory of Zwickau H. Heinrich

055


fabrik produzierte ähnliche Produkte wie das Zwickauer Unternehmen. Der Gründer des Herner Werks Otto Heinrich Flottmann war wie Julius vom Jahrgang 1875. 1904 gelang Otto Heinrich die Patentierung eines „Ein-Mann-Bohrhammers“. Der Gesteinsbohrhammer wurde erfolgreich bei Arbeiten u. a. im Steinbruch, bei Tunnel- und Eisenbahnarbeiten eingesetzt.¹¹ Kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs wurde in Marktredwitz, ca. 100 Kilometer von Zwickau entfernt, die Produktion von Druckluftwerkzeugen aufgenommen. 1931 übernahm die Zwickauer Maschinenfabrik diesen Betrieb von Flottmann.¹² Leiter dieses Betriebs war Ernst Flottmann, ein Bruder des Firmeninhabers. Was bewog Julius zum Wechsel ins Ruhrgebiet? Gab es Meinungsverschiedenheiten mit der Firmenleitung der Zwickauer Maschinenfabrik, wie von seinen Kindern nach dem Krieg kolportiert wurde oder versprach sich Julius in dem Herner Unternehmen noch einen weiteren Karriereschub? Julius Spezialgebiet war der Kompressorbau. Seine Söhne Kurt und Fritz berichteten nach dem Krieg, er habe mehrere Patente auf Hydraulik Produkte erworben. Eine Anfrage beim Deutschen Patent- und Markenamt in Berlin verlief jedoch negativ. Es konnte kein Hinweis auf Patente unter dem Namen Julius Günzburger in den 1920er Jahren gefunden werden. Die Firma Flottmann hatte in diesem Zeitraum etliche Patente für Drucklufterzeugnisse erworben. Vermutlich war Julius an der Ausarbeitung 056

similar to the Zwickau companies. The founder of the Herne plant, Otto Heinrich Flottmann, was born in 1875 like Julius. In 1904, Flottmann patented a “one-man-hammer drill”. The rock drill was successfully utilized in quarrying, tunneling and railway work, to name a few.¹¹ Shortly before the end of WWI, Flottmann AG started a branch for the production of pneumatic tools in Marktredwitz, about 100 kilometers from Zwickau. In 1931, the Zwickau Maschinenfabrik took over this branch from Flottmann.¹² The head of this operation was Ernst Flottmann, a brother of the company’s owner. Why did Julius transfer to the Ruhrgebiet, the area surrounding the River Ruhr? Were there differences of opinion between the Zwickau company head, as his children reported after the war, or was Julius looking for a new career opportunity at the company in Herne? Julius’ area of speciality was the manufacture of compressors. His sons Kurt and Fritz reported after the war that he patented multiple hydraulic products. However, an inquiry from the German Patent and Trademark office bore negative results. Nothing points to a patent under the name Julius Günzburger in the 1920s. The Flottmann company patented various air compressors during that period. We assume Julius was a part of these patents but they were not registered in his name.


dieser Patente beteiligt, sie wurden jedoch nicht unter seiIn a September 13, 1955 letter, Flottmann-Werke GmbH nem Namen angemeldet. confirmed that Julius worked for them from September 1926 to September 1932, first as a consultant and later as In einem Schreiben vom 13. September 1955 bestätigten technical director. From 1929 to 1931, he was on the board die Flottmann-Werke, dass Julius vom September 1926 bis of managers, as can be seen in the Flottmann AG’s memos September 1932 in dem Unternehmen tätig war. Zuerst als of 1929 and 1930. Berater, dann als Technischer Leiter und in den Jahren 1929 bis 1931 als Mitglied des dreiköpfigen Vorstands, wie aus den Geschäftsberichten der Flottmann AG, Herne von 1929 und 1930 hervorgeht. 26: Wiedergutmachungssache des Julius Günzburger 26: Reparations for Julius Günzburger. Transcript: Reparations for Julius Günzburger, born February 2, 1875 (regarding your letter from September 13, 1955) Per your above mentioned inquiry, we are reporting that according to our record, Mr Julius Günzburger worked for our company as technical director from September 1926 until September 1932. His average annual income during the last three years before his departure was 17,500 RM [Reichsmark].

057


27 & 28: Geschäftsbericht der Flottmann AG für das Jahr 1929 27 & 28: Flottmann “Geschäftsbericht” for 1929.

Die goldenen Bochumer Jahre

The Golden Years in Bochum

Die Flottmann-Werke lagen in Herne. Dieses „Dorf“ kam für Julius als Wohnort nie in Frage, wie wir aus einer Randnotiz in der späteren Korrespondenz seines Sohnes Fritz wissen. Im Januar 1927 kaufte Julius Günzburger von dem Kaufmann und Gärtnereibesitzer Albert Schwarz zwei Hofgrundstücke in der Farnstraße 32 in Wiemelhausen, Bochum.¹³ Der Kaufpreis betrug 38.000 RM.¹⁴ Julius zog mit So058

The Flottmann company was located in Herne. This small town was out of question as a place of residence for Julius, as we read in a side note of a later letter of his son Fritz. In January 1927, Julius Günzburger bought a twopart lot at 32 Farnstraße in Wiemelhausen, Bochum, from businessman and florist Albert Schwarz.¹³ The sales price was 38,000 RM.¹⁴ Julius moved to Bochum with Sophie,


phie, Tochter Erna und Sohn Fritz nach Bochum. Kurt blieb daughter Erna and son Fritz. Kurt stayed in Zwickau. The in Zwickau. Im Adressbuch 1928 / 1929 von Bochum fanden Bochum directory for 1928 / 1929 says: Günzburger, Julius. wir den Eintrag: Günzburger, Julius, Fabrikdirektor, Farn- Factory Director, 32 Farnstraße, phone no. 63814.¹⁵ straße 32, Tel. 63814.¹⁵ Farnstraße is a cross street to Königsallee near the Die Farnstraße ist eine Querstraße zur Königsallee in der Graf-Engelbertstraße-Gymnasium (high school). There Nähe des Graf-Engelbert-Gymnasiums. Dort ging Fritz, der Fritz, the youngest son of the Günzburger family, went to jüngste Sohn der Familie Günzburger, zur Schule. Tochter school. Daughter Erna was 26 years old when they moved. Erna war beim Umzug 26 Jahre alt. Sie wurde ebenfalls im The directory also mentioned: Günzburger, Erna, office Adressbuch erwähnt: Günzburger, Erna, Büroangestellte. worker. A 1932 entry states: teacher for shorthand and typeIm Eintrag von 1932 hieß es: Lehrerin für Stenographie und writing.¹⁶ Many years after the war, Erna and Fritz told of the Schreibmaschine. Viele Jahre nach dem Krieg erzählten die bourgeois life that the Günzburger family led on Farnstraße. Kinder Erna und Fritz vom gutbürgerlichen Leben, das die Günzburger Familie in der Farnstraße führte. Julius was at the height of his career in 1929. Julius war 1929 auf dem Gipfel seiner beruflichen LaufFritz received his Abitur (high school degree) at the bahn angekommen. Graf-Engelbert-Realgymnasium in 1931. His career aspiration was journalism even then. But at his father‘s request, Der jüngste Sohn Fritz legte 1931 sein Abitur an dem he first studied two semesters of law in Berlin and one seGraf-Engelbert-Realgymnasium ab. Sein Berufswunsch mester in Heidelberg before transferring to Cologne. The war schon damals Journalist. Aber auf Wunsch seines Va- 1932 Bochum directory does not mention him anymore. ters studierte er zuerst zwei Semester Jura in Berlin und ein Semester in Heidelberg, bevor er nach Köln wechselte. Im Bochumer Adressbuch von 1932 wurde er deshalb nicht mehr erwähnt.

059


29: Sophie und Julius beim Aufenthalt in Bad Wiessee am Tegernsee, ein Foto aus glücklichen Tagen, 1929. 29: 1929, Sophie and Julius when staying in Bad Wiessee, a reminder of happy days, 1929.

Julius’ Entlassung als Fabrikdirektor

Julius’ Dismissal as Factory Director

Die goldenen Zwanziger Jahre waren eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs der Konjunktur. Sie endeten jäh mit dem Börsenkrach vom 24. Oktober 1929 in einer weltweiten Wirtschaftskrise. In dieser Zeit hatte das Ruhrgebiet mit seiner Schwerindustrie besonders zu leiden. Das betraf auch die Zulieferbetriebe für den Bergbau wie z. B. die Flottmann AG. Julius wurde im September 1932 entlassen. Aus wirtschaftlichen Gründen mussten fast 50 Prozent der Belegschaft abgebaut werden. Davon waren auch Stellen in der Verwaltung betroffen. Flottmann war ein über060

The Golden Twenties were a time of economic boom worldwide. That ended abruptly in a global economic crisis with the stock market crash of October 24, 1929. During this time, the Ruhrgebiet’s heavy industry suffered greatly. This included the suppliers for the mining industry such as Flottmann AG. Julius was let go in September 1932. For economic reasons, 50 percent of the workforce was reduced. This also affected positions within the administration. Flottmann was a Nazi but also a tough businessman. He had hired Julius in 1926 because he was convinced of his ability,


zeugter Nazi aber gleichzeitig ein knallhart kalkulierender Unternehmer. Er hatte Julius 1926 eingestellt, weil er von seinen Fähigkeiten überzeugt war, trotz seiner jüdischen Wurzeln. Gewiss ist ihm 1932 die Entlassung nicht schwer gefallen, aber allein aus rassistischen Motiven dürfte er sich zu der Zeit noch nicht von einem fähigen Mitarbeiter getrennt haben.

despite his Jewish roots. Certainly the 1932 release was not difficult for Flottmann but we assume he did not lay off this capable staff member for religious motives alone.

The facts: The company chronicles of Flottmann Werke casually state, in regards to the end of the 1920s: “Hand in hand with political developments and uncertainties […] a severe economic crisis arose which did not come to an end Zu den Fakten: In der Firmenchronik der Flottmann Wer- until the 1930s.” ke hieß es über das Ende der zwanziger Jahre lapidar: „Hand in Hand mit der politischen Entwicklung und Unsicherheiten bahnt sich […] eine schwere Wirtschaftskrise an, die erst in den dreißiger Jahren zu Ende geht“.

30: Flottmann-Propaganda für das „Dritte Reich“. 30: Flottmann propaganda for third reich.

061


Mit keiner Silbe wurde erwähnt, dass der Firmenchef Otto Hermann Flottmann ein Nazi der ersten Stunde war. Ab 1931 war Flottmann Parteimitglied der NSDAP.¹⁷ Den Gau Westfalen-Süd und die Herner Kreisleitung der NSDAP hatte er tatkräftig unterstützt. Flottmann war von Mai 1933 bis November 1934 Kammerpräsident der Industrie- und Handelskammer zu Bochum. Am 24. Dezember 1935 wurde Otto Heinrich Flottmann Ehrenbürger der Stadt Herne. Kein Wort darüber, dass Flottmann ein NS-Musterausbildungsbetrieb war, kein Wort über die Zwangsarbeiter aus Russland, die Flottmann zur rücksichtslosen Ausbeutung übergeben wurden.¹⁸

Not a word about the fact that the head of the company, Otto Hermann Flottmann, being an ardent Nazi. From 1931, Flottmann was member of the Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), the National Socialist German Workers’ Party—known more simply as the Nazi Party.¹⁷ He was an avid supporter of the Nazi leadership in South Westphalia and Herne. From May 1933 to November 1934, Flottmann was president of the Chamber of Commerce in Bochum. On December 24, 1935, he was named an honorary citizen of Herne. No word about the fact that Flottmann was a perfect example of a Nazi; not a word about the forced laborers from Russia, who were given to Flottmann for ruthless exploitation.¹⁸

Eine folgenschwere Fehleinschätzung A momentous miscalculation Der 30. Januar 1933 war für das ganze deutsche Volk, aber insbesondere für die jüdischen Mitbürger, ein Tag mit unvorstellbarer Tragweite. Reichspräsident Hindenburg ernannte Hitler zum Reichskanzler. Die konservative Strategie, Hitler durch Einbindung in die Regierungsverantwortung zu zähmen, ging nicht auf. Das Reichsermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 schaltete das Parlament aus und setzte die Verfassung de facto außer Kraft. Bereits am 22. März 1933 wurde das erste KZ in Dachau errichtet. Zuerst traf es die politischen Gegner: Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter, aber auch Vertreter katholischer Jugendverbände. Bald folgte der Boykott jüdischer 062

January 30, 1933 was a day of unimaginable repercussions for all German people, but especially for Jewish citizens. President Hindenburg appointed Hitler as chancellor. The conservatives’ strategy to tame Hitler through checks and balances did not work. The Reichsermächtigungsgesetz (Enabling Act) of March 24, 1933 negated the power of the parliament and basically nullified the constitution. As early as March 22, 1933, the first concentration camp was built in Dachau. At first it affected only political opponents: communists, social Democrats and trade unionists—along with representatives of Catholic youth organizations. The


Geschäfte. Von vielen wurden die ersten Aktionen der Nazis nur als Nadelstiche wahrgenommen. Bis zur planmäßigen Vernichtung der Juden Europas in Auschwitz war es noch ein langer, schrittweise immer beschwerlicherer Weg.

boycott of Jewish businesses followed soon after. Many perceived these early actions of the Nazis as minor, as pinpricks. The systematic extermination of the Jews in Europe was still a long, more troublesome way off.

Chronik der Verfolgung 1933–1945

Chronology of Persecution 1933–1945

1933

1933

30. Januar

Adolf Hitler wird vom Reichspräsidenten Hin-

January 30

denburg zum Reichskanzler ernannt.

“Reichspräsident” (President of the Reich) Hindenburg elects Adolf Hitler as “Reichskanzler” (chancellor).

28. Februar

5. März

Die „Verordnung zum Schutz von Volk und Staat“

February 28

schränkt die demokratischen Grundrechte

(decree for the protection of people and state)

weitgehend ein.

significantly limits basic democratic rights.

Die NSDAP erhält trotz massiven Terrors bei den

March 5

Reichstagswahlen nicht die absolute Mehrheit. 1. April

“Verordnung zum Schutz von Volk und Staat”

Die SA führt einen Boykott gegen die Geschäfte

The NSDAP does not get a majority vote despite massive terrors.

April 1

deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens

Scheduled boycott of shops and businesses owned by Germans of Jewish faith.

durch. 7. April

22. September

Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Be-

April 7

The “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufs-

rufsbeamtentums“ schließt unter anderem

beamtentums” (Law for the Restoration of the

Deutsche jüdischen Glaubens mit Ausnahme

Career Civil Service) among others excludes

der Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges vom

Germans of Jewish faith from civil service with

öffentlichen Dienst aus.

the exception of front line soldiers of WWI.

Juden dürfen keine Medienberufe mehr aus-

September 22

Jews are excluded from media related jobs as

üben, da ihnen die hierzu notwendige Mitglied-

they do not have the necessary membership to

schaft in der „Reichskulturkammer“ verwehrt ist.

the “Reichskulturkammer” (Chamber of Culture).

063


1934 5. Februar

1934 „Nichtarier“ werden zu Prüfungen für Ärzte und

February 5

“Non-Aryans” are no longer admitted to certifi-

July 22

“Non-Aryans” are no longer admitted to certifi-

December 8

“Non-Aryans” are no longer admitted to certifi-

Zahnärzte nicht mehr zugelassen. 22. Juli

„Nichtarier“ werden zu Prüfungen für Juristen

8. Dezember

„Nichtarier“ werden zu Prüfungen für Apotheker

cation exams for doctors and dentists.

nicht mehr zugelassen.

cation exams for attorneys.

nicht mehr zugelassen.

1935

cation exams for pharmacists.

1935

25. Juli

„Nichtarier“ sind vom Wehrdienst ausgeschlossen.

July 25

“Non-Aryans” are excluded from military.

15. September

Die Nürnberger Rassegesetze nehmen den

September 15

The “Nürnberger Rassengesetze” (Nürnburg ra-

Juden ihre staatsbürgerlichen Rechte und ver-

cial laws) take away Jews’ civil rights and forbid

bieten die Eheschließung zwischen „Nichtariern“

marriage between “Non-Aryans” and “Aryans”.

und „Ariern“.

1938

1938

25. Juli

Jüdischen Ärzten wird die Zulassung entzogen.

July 25

Jewish doctors lose their accreditation.

17. August

Eine Verordnung bestimmt, dass ab dem 1.1.1939

August 17

A law is passed requiring Jewish men to carry

Juden den Vornamen „Israel“, Jüdinnen den

the middle name “Israel” and women the name

Vornamen „Sara“ zusätzlich annehmen müssen. 27. September

Jüdischen Rechtsanwälten wird die Zulassung

“Sara”. September 27

Jewish attorneys lose their accreditation.

October 5

Jewish passports are marked with a “J”.

October 27&28

18,000 Jews from Poland are deported to Ger-

entzogen. 5. Oktober

Die Reisepässe der Juden werden mit einem „J“ gekennzeichnet.

27/28. Oktober

18.000 Juden, die früher in Polen lebten, werden aus dem deutschen Reich deportiert.

064

many.


9./10. November In der Reichspogromnacht werden fast alle

12. November

November 9&10 During the “Reichsprogomnacht” (November

Synagogen in Deutschland zerstört, Tausende

Pogrom) almost all of Germany’s synagogues

Juden in Konzentrationslager verschleppt.

are destroyed and thousands of Jews are de-

Juden deutscher Staatsangehörigkeit wird eine

ported to concentration camps.

„Sühneleistung“ von 1 Milliarde Reichsmark für

November 12

die von Nationalsozialisten angerichteten Schä-

Jews are burdened with a “Sühneleistung“ (atonement) to pay for the destruction of the

den in der Reichspogromnacht auferlegt.

November Pogrom.

3. Dezember

Juden dürfen keinen Führerschein mehr besitzen.

December 3

Jews may no longer have driver licenses.

6. Dezember

Juden wird der Besuch von Theatern, Kinos, Mu-

December 6

Jews are banned from theaters, movie theaters,

seen und anderen öffentlichen Einrichtungen

museums and other venues.

verboten. 8. Dezember

Jüdische Schülerinnen und Schüler dürfen nicht

December 8

attend universities.

mehr studieren.

1939 30. Januar

1939 Hitler droht in einer Reichstagsrede zum sechs-

January 30

ten Jahrestag der Machtübernahme mit der Juden müssen ihre Radiogeräte abliefern.

1940 10.–12.Februar

Hitler threatens the “extinction of the Jewish race in Europe” during a national speech on the

„Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“. 23. September

Jewish students are no longer permitted to

6th anniversary of his office. September 23

Jews have to turn in their radios.

1940 Erste Deportationen aus dem Reich nach Polen.

1941

February 10–12

First deportation from Germany to Poland.

1941

1. September

Juden, die älter als 6 Jahre sind, müssen in der

23. Oktober

Die legale Auswanderung aus Deutschland wird

September 1

Öffentlichkeit den Judenstern tragen.

Jews over six years of age have to wear the “Judenstern” (Yellow Star) in public.

October 23

Emigration becomes illegal for Jews.

Juden verboten.

065


1942 20. Januar

Ende März

1942 Auf der Wannseekonferenz werden Einzelhei-

January 20

The Wannsee conference decides on details

ten zur „Endlösung der Judenfrage“, d. h. der

pertaining the “Endlösung der Judenfrage”

gezielten und systematischen Vernichtung der

(Final Solution for the Jews)—so the purpose-

jüdischen Bevölkerung im nationalsozialisti-

ful and systematic destruction of Jews in the

schen Machtbereich festgelegt.

national-socialist realm of power.

Massentransporte aus Deutschland und West-

late March

europa nach Auschwitz beginnen.

1945

Mass transports begin from Germany and Western Europe to Auschwitz.

1945

27. Januar

Das Konzentrationslager Auschwitz wird durch

7./8. Mai

Mit der Kapitulation der Wehrmacht endet das

January 27

The concentration camp Auschwitz is liberated

Mai 7–8

The “Third Reich” ends with the German Army’s

die Rote Armee befreit. „Dritte Reich“.

by the Red Army. unconditional surrender.

Fluchtbewegungen

Refugee movements

„Es war nie eine Auswanderung, immer nur Flucht“, beurteilte die jüdische Schriftstellerin Adrienne Thomas die Reaktion der deutschen Juden auf die NS-Verfolgung. „ Die jüdischen Emigranten aus Deutschland können nicht mit den freiwilligen Auswanderungen früherer Zeiten verglichen werden. Sie waren fast ausschließlich Flüchtlinge, ‚Heimatvertriebene‘, die meist mittellos über die Grenzen gejagt wurden.“¹⁹

“It was never emigration, but always escaping,” Jewish writer Adrienne Thomas said about the German Jews’ reaction to Nazi persecution. “… The Jewish emigrants from Germany cannot be compared with the voluntary emigrants of times past. They were almost exclusively refugees, ‘displaced people,’ who were usually destitute as they were chased across the borders.”¹⁹

Überdies waren die materiellen Schwierigkeiten der Auswanderung beträchtlich, besonders in einer Phase 066

Moreover, the economic difficulties of emigration were considerable, particularly in a period of economic uncertainties; they meant an immediate, serious financial loss:


wirtschaftlicher Unsicherheit; sie zog einen sofortigen, schwerwiegenden materiellen Verlust nach sich: der Besitz der Juden wurde immer zu niedrigen Preisen verkauft, und die Auswanderungssteuer war mörderisch. Zwar wollten die Nationalsozialisten die Juden Deutschlands loswerden, aber ihnen war daran gelegen, sie zunächst mit immer härteren Methoden ihres Besitzes zu berauben.²⁰ Eingeschränkter Kapitalverkehr existierte bereits seit 1931. Die Präsidialregierung Brüning hatte bereits eine „Reichsfluchtsteuer“ eingeführt. Mit den Nazis kamen weitere Verschärfungen hinzu. Den Landesfinanzämtern waren Devisenstellen zugeordnet, die eine maßgebliche Rolle bei der fiskalischen Ausplünderung der Juden spielten.²¹ Bis Ende 1933 war auswandernden Juden die Mitnahme von 15.000 RM Barbeträge gestattet. Ab Oktober 1934 wurden die Beträge radikal gekürzt. Lediglich 10 RM als Reisedevisen waren noch erlaubt. Einkünfte aus Renten, Pensionen, Dividenden durften nicht ins Ausland transferiert werden und wurden auf ein „Sperrmark“-Konto eingezahlt. Ab 1936 wurde Auswanderungswilligen sogar die Vollmacht über ihr Vermögen entzogen. Grundbuchämter, Gestapo und andere Dienstbehörden kooperierten, um jedes Anzeichen von Ausreisebemühungen aufzuspüren.

the properties of the Jews were always sold at low prices and the emigration tax was murderous. Although the Nazis wanted to get rid of the Jews in Germany, they were keen on robbing them of their properties with ever harsher methods.²⁰ Movement of capital had been restricted since 1931. The Brüning regime had already introduced a Reichsfluchtsteuer (flight tax). The Nazis introduced further restrictions. National tax offices were associated with foreign exchange facilities that played a significant role in the financial exploitation of Jews.²¹ By the end of 1933, emigrating Jews were allowed to take 15,000 RM (Reichsmark) in cash. After October 1934, the amount was radically reduced. Only 10 RM in traveler’s checks were still allowed. Income from annuities, pensions and dividends were not allowed to be transferred abroad but were paid into a Sperrmark (locked currency) account. After 1936, even power of attorney over their assets was taken from emigrating Jews. Land registries, the Gestapo and other service authorities worked together to uncover any sign of emigration efforts.

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Ausreisen oder Durchhalten?

Leave or stay?

Ein Exodus jüdischer Künstler und linker Intellektueller begann Anfang 1933. Julius’ und Sophies jüngster Sohn Fritz gehörte im März 1933 als Mitglied einer kommunistischen Studentengruppe zu den Ersten, die vor den Nazis ins Ausland flohen. Die SA seines Heimatortes Bochum suchte ihn bereits.²² Hitler muss man aussitzen, so dachte Julius im Jahr 1933. Seine spätere Schwiegertochter Gerda berichtete nach dem Krieg²³: „Die Eltern vom Fritz haben das anders gesehen (im Gegensatz zu Gerdas Vater Max Elias). Der Vater (Julius) hatte ein Verdienstkreuz aus dem Ersten Weltkrieg und dachte, das würde ihn vor Verfolgung schützen²⁴. Er war der Meinung, man müsse Hitler abwirtschaften lassen, und hielt sich an den Spruch: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.“

An exodus of Jewish artists and leftist intellectuals began in early 1933. Julius’ and Sophie’s youngest son Fritz, as a member of a communist student group, was among the first who fled the country to escape the Nazis. The Nazi Sturmabteilung (SA) in his hometown Bochum was already looking for him.²² “You have to wait out Hitler” was Julius’ way of thinking in 1933. His future daughter-in-law Gerda reported after the war.²³ “Fritz’s parents had a different point of view, that compared to her father Max Elias. Our father Julius had a Cross of Merit from WWI and thought that would protect him from persecution.²⁴ He believed that one needed to let Hitler try and fail, and stuck to the common saying: Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.” (It is not as bad as it looks.)

Eine Auswanderung stand im Widerspruch zum Selbstverständnis hoch assimilierter Juden. Sollte man die im 19. Jahrhundert mühsam erreichte Emanzipation aufgeben, nur weil die NSDAP mit ihrer primitiven Rassenideologie an die Macht gekommen war?²⁵ Mit dieser Ansicht stand Julius nicht allein. Der Vorstand des CV²⁶ hatte die Devise ausgegeben: „ruhig abwarten.“ Zu Beginn des NS Regimes waren Deportation und Vernich068

Emigration was a contradiction to the mindset of well assimilated Jews. Should they give up on all they had achieved in the 19th century only because the Nazis and their primitive racist ideology had come to power?²⁵ Julius was not alone in this viewpoint. The board of the Central Verein, an association of German Jews, promoted the motto: “Wait calmly.”²⁶ In the beginning of the Nazi reign, deportations and annihilation were hard to imagine.


tung schwer vorstellbar. Auch die „Reichsvertretung der Juden in Deutschland“ hatte selbst nach dem Erlass der Rassegesetze 1935 immer noch die Vorstellung, dass ein erträgliches Verhältnis zwischen dem deutschen und dem jüdischen Volk möglich wäre.²⁷ „Man hätte den Juden von jüdischer Seite her von Anfang an klar machen sollen, dass es sich hier um eine regelrechte Judenverfolgung handelte, die von höchster Stelle der Regierung organisiert wurde … Anstatt das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, hätte man alles und jeden Pfennig daransetzen sollen, die Juden ins Ausland zu bringen.“ So urteilte einer, der nach Auschwitz deportiert und am 27. Januar 1945 befreit wurde – aus der Nachkriegsperspektive. Nach der Katastrophe waren viele klüger.²⁸

Likewise, the Reichsvertretung der Juden in Deutschland (Representation of Jews in Germany) believed, even after the implementation of the 1935 racial laws, that acceptable relationships between Jews and Germans could exist.²⁷ “Jews should have warned Jews that this was a true persecution of Jews, organized by the highest authorities of the country … Instead of trying to make life as comfortable as possible, they should have put every effort and penny into allowing Jews to flee Germany.” That was a statement by somebody who was deported to Auschwitz and released on January 27, 1945—a postwar perspective. After the catastrophe, many were much wiser.²⁸

Let go from his executive position, a future career was difficult to imagine for a 61-year-old in Nazi Germany, esVom Direktorposten entlassen war eine berufliche Zu- pecially since Jews were excluded from economic life. So kunft für einen 61-Jährigen in Nazi-Deutschland schwer Julius got in contact with his old place of employment, vorstellbar, zumal Juden aus dem Wirtschaftsleben ausge- Zwickauer Maschinenfabrik. Maybe he worked there in a schaltet werden sollten. Nach der Entlassung nahm Julius consulting role for a while. We simply have a note stating Kontakt zu seiner ehemaligen Wirkungsstätte Zwickauer that the working relationship ended on March 31, 1938. Maschinenfabrik auf. Vielleicht war er dort eine Zeit lang beratend tätig. Es gibt lediglich einen Hinweis, dass diese Zusammenarbeit zum 31. März 1938 aufgekündigt wurde. 069


31: Brief der Zwickauer Maschinenfabrik. 31: Letter of “Zwickauer Maschinenfabrik”. Transcript: Dear Mr Günzburger! In conjunction with repeated conversations between you and our directors in regards to a continued working relationship, we regret to inform you that after just talking to Mr Director Hagemeier, we have to terminate your employment starting March 31, 1938. In the meantime, we will determine our financial state and ability to take into account your personal finances. With a German greeting! Zwickauer Maschinenfabrik Hagemeier Walter

Julius’ Sohn Fritz erinnerte sich nach dem Krieg: „… In der darauffolgenden Zeit (nach der Entlassung) war es meinem Vater nicht möglich, irgendwie beruflich tätig zu werden. Er hatte lediglich einige kleinere Vertretungen, die aber bei weitem nicht das Einkommen, das mein Vater vor der Machtergreifung erzielte, erbrachte. […] daher sah er sich veranlasst, unser Eigentum Bochum, Farnstraße 32, zu verkaufen.“²⁹ 070

After the war, Julius’ son Fritz remembered: “After that, it was impossible for my father to find employment. He had a few small gigs but they did not bring in close to the income my father was used to from before Hitler was in power. … that is why he felt the need to sell our property in Bochum, 32 Farnstraße.” ²⁹


Jüdischer Besitz war ab 1933 nur unter erheblichen Einbußen zu veräußern. Diese Erfahrung musste auch Julius machen. Der Verkauf seiner Immobilie an den Bergassessor Walter Vollmar gelang im Oktober 1935 mit Verlust.³⁰ Es wurde ein Kaufpreis von 25.000 RM vereinbart, davon waren ca. 6.000 RM noch verbliebene Hypotheken zu übertragen. Nach neun Jahren Nutzung ergab sich damit ein Verlust von 34 Prozent. Von der restlichen Summe von 19.000 RM wurde 1935 mit 5.000 RM und 1936 mit 10.000 RM beglichen. Die fehlenden 4.000 RM wurden als Hypothek ins Grundbuch eingetragen und sollten pro Jahr mit je 1000 RM abgelöst werden. Die Löschung dieses Grundbucheintrags erfolgte am 2. Januar 1939 als unabdingbare Voraussetzung für die Ausreise nach Amsterdam. Anfang 1936 zog die Familie Günzburger in die Goethestraße 14, erste Etage.³¹ Eigentümer dieses Hauses war bis mindestens 1940 der Kaufmann Jakob Cappel aus Wuppertal-Elberfeld.³² Gegenüber, in der Goethestraße 9, wurde später eines der Bochumer Judenhäuser eingerichtet. Im Adressbuch des Jahrgangs 1936 fand sich der Eintrag: Günzburger, Julius, Großhandel in Bedarfsartikeln, Goethestraße 14, Tel. 63814. Eine genauere Beschreibung seiner beruflichen Aktivitäten fehlt. Unter den Gewerbebetrieben der Stadt Bochum, Stichwort „Seifen und Parfümerien“, wurde Erna Günzburger, Herner Straße 76, aufgeführt.

Jews could rarely own property in 1933. Julius found this out as well. He sold his property, underpriced, to miner Walter Vollmar in October 1935.³⁰ The negotiated sales price was 25,000 RM. Of that amount, 6,000 RM went to pay off his outstanding mortgage. After nine years, the loss was 34 percent. The remaining sum was paid in increments: 5,000 RM in 1935 and 10,000 RM in 1936. The other 4,000 RM were registered as mortgage and were to be paid in annual 1,000 RM payments. However this registry entry was deleted on January 2, 1939 as a prerequisite to their emigration to Amsterdam. The Günzburger family moved to a second-floor apartment on 14 Goethe Street in the beginning of 1936.³¹ The owner of this house, until at least 1940, was businessman Jakob Cappel from Wuppertal-Elberfeld.³² Across the street, at 9 Goethe Street, a “Jewish House” was later instituted. The city directory of 1936 lists: “Günzburger, Julius, wholesaler in convenience goods, 14 Goethe Street, phone no. 63814.” We do not have any details regarding his employment. “Erna Günzburger, 76 Herner Street” was listed among the commercial businesses of Bochum under the keyword “soaps and perfumery.”

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32: Goethestraße 14 im Jahr 1909. 32: 14 Goethe Street in 1909.

Das Ha’avara-Abkommen: Waren gegen Menschenleben

The Haavara Agreement: goods for human lives

Die Wohnung in der Goethestraße war für Familie Günzburger nur als vorübergehende Station gedacht. Wohin sollte die Familie Günzburger ausreisen? Julius hatte keine Verwandten in Holland und keine Beziehungen zu dem Nachbarland wie z. B. die Eltern seiner späteren Schwiegertochter Gerda. Viele seiner Verwandten aus Emmendingen und Kehl kehrten ihrer Heimat 1936 den Rücken. Bruder Michael wohnte noch bis zu seinem Tod 1937 in Mannheim. Sohn Fritz war zu der Zeit bereits mit seiner Freundin Gerda in Rotterdam.

The apartment on Goethe Street was only meant to be a temporary home for the Günzburger family. Where should the family emigrate? Julius had no relatives in Holland or other neighboring countries as did, for example, the parents of their future daughter-in-law, Gerda. Many of Julius’ relatives from Emmendingen and Kehl left their hometown in 1936. Brother Michael lived in Mannheim until his death in 1937. Son Fritz and his girlfriend Gerda already lived in Rotterdam, Holland, at the time.

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Unmittelbar nach dem Verkauf des Hauses leitete Julius noch Ende Oktober 1935 die ersten Schritte zur Auswanderung nach Palästina ein.³³ Palästina war britisches Mandatsgebiet. Nach vorsichtigen Schätzungen verließen bis 1936 ca. 30.000 Juden Deutschland mit dem Ziel Palästina, meistens mit Hilfe der Jewish Agency, einer Art Dachorganisation der gesamten Palästina Einwanderung. Gesucht und gebraucht wurden Landarbeiter, weniger Kaufleute oder Akademiker. Die verstärkten jüdischen Einwanderungen beunruhigten die arabische Bevölkerung Palästinas. Nach den jüdisch-arabischen Unruhen 1936 wurden die Einreisemöglichkeiten für Juden aus Deutschland erheblich eingeschränkt. Die britische Verwaltung verlangte von Einwanderungswilligen einen Nachweis finanzieller Mittel. Dagegen standen aber die deutschen Devisenbestimmungen (s. o.). Es war klar, dass Deutschlands Währungs- und Devisenposition sich keiner Spannung aussetzen würde, die durch die Auswanderungsbemühungen verursacht wurden. Also versuchte man, eine Vereinbarung zwischen der Jewish Agency und dem Reichswirtschaftsministerium zu schaffen, die beiden Seiten entgegen kam. Das Ha’avara-Abkommen erlaubte nun den Ausreisewilligen, einen Teil ihres Besitzes zu transferieren.³⁴ Auswanderungswillige Juden zahlten ihr Vermögen bei einer der Transfer-Banken in Deutschland ein. Von diesem Geld kauften palästinensische Importeure Waren in Deutschland, die sie in Palästina veräußerten. Diese Erträge

Immediately after selling his house, Julius began the first steps toward emigration to Palestine as early as October 1935.³³ Palestine was under British mandate. By conservative estimates, 30,000 Jews left Germany for Palestine by 1936, most with the help of the Jewish Agency, a kind of umbrella organization of the entire Palestine immigration. Farm workers were in demand, more than merchants or academics. The increasing Jewish immigration had the Arab population of Palestine uneasy. After the Jewish-Arab riots of 1936, immigration became significantly more difficult for Jews from Germany. The British administration required anyone wanting to emigrate to show proof of financial means. But German exchange regulations (see above) made this problematic. It was clear that Germany’s currency and foreign-exchange policies would block any major money flow from emigration. Thus, an attempt was made to find an agreement between the Jewish Agency and Germany’s Ministry of Economics that would serve both parties. The Haavara Agreement allowed emigrants to transfer part of their assets.³⁴ Emigrating Jews deposited their capital at a transfer bank in Germany. With this money, Palestinian businessmen could purchase goods in Germany to sell in Palestine. When they arrived in Palestine, the immigrants would receive their money in the local currency, LP, after deductions of fees.³⁵

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erhielten die Auswanderer in Palästina nach Abzug von Kosten in der Landeswährung LP ausbezahlt.³⁵ Auch Julius bemühte sich um die Beschaffung der notwendigen Devisen. Er benötigte für sich und seine Frau Sophie einen Betrag von LP 1.000 (= 15.000 RM). Die Ausreise seiner Tochter Erna wollte er mit 12.000 RM unterstützen. Zu diesem Zweck legte er im Oktober 1935 eine Vermögensaufstellung vor. Das Haus in der Farnstraße war verkauft, damit war der größte Teil seines Vermögens – aus seiner Sicht – verfügbar gemacht.³⁶ Julius hatte Ende Oktober 1935 ein Vermögen von 14.650 RM, bis Mitte 1936 wurden zusätzlich 21.200 RM frei. Nicht einbringbar waren bis dahin eine Resthypothek von 4.000 RM des Herrn Vollmar, dem Käufer seines Hauses Farnstraße 32 und ein Betrag von 3.600 RM, der noch einzuklagen war. Julius beantragte über die Auswandererberatungsstelle Münster die Freigabe von LP 1.000 von seinem (!) Deutsche-Bank-Konto für die Auswanderung nach Palästina.³⁷ Dort wollte er sich eine neue Existenz aufbauen. Nach über vier Monaten wurde der Antrag von der zuständigen Devisenstelle genehmigt.³⁸ Julius erhielt damit die Erlaubnis, von seinem eigenen Geld einen Betrag von LP 1.000 auf das Sonderkonto der Bank der Templergesellschaft Ltd. zwecks Übertragung nach Palästina einzuzahlen. Die Überweisung auf das genannte Konto dürfte stattgefunden haben. 074

Julius sought to obtain the necessary foreign currencies. For himself and his wife Sophie, he needed a sum of LP 1,000, which equalled 15,000 Reichsmarks. He also wanted to support his daughter Erna’s departure with 12,000 RM. To this end, he provided a statement of assets in October 1935. The house on Farnstraße had been sold; that would, in his opinion, give him most of the needed funds.³⁶ At the end of October, Julius had a total of 14,650 RM; mid1936, an additional 21,200 RM became available. He was unable to include the remaining 4,000 RM mortgage of Mr. Vollmar, who bought his house on 32 Farnstraße, and an additional 3,600 RM, which should have been granted to him. Julius requested clearance of LP 1,000 from his own (!) Deutsche Bank account for the emigration to Palestine.³⁷ There, he wanted to start a new life. Four months later, the application was approved by the Foreign Exchange Board in Münster.³⁸ Julius was granted permission to transfer LP 1,000 of his own money to a special account at the bank of the Templergesellschaft Ltd. for the purpose of transferring the money to Palestine. The transfer to this account likely happened. Why, then, did they not emigrate to Palestine? We are unable to determine the reasons today.


33: Schreiben der Auswandererberatungsstelle 33: Letter of Foreign Exchange board. Transcript: To Foreign Exchange Board Münster Regarding application Julius Günzburger, Bochum, Farnstr. 32 for clearance of LP 1000.- for emigration to Palestine The former technical director Julius Günzburger plans to emigrate to Palestine to start a new life there. He requests the clearance of LP 1000.-.

34: Genehmigungsbescheid der Devisenstelle Münster 34: Approval notice of the Foreign Exchange board.

Warum wurde die Auswanderung nach Palästina nicht vollzogen? Das lässt sich heute nicht mehr klären. Tochter Erna reiste im November 1936 mit einem Touristenvisum nach Palästina und heiratete dort Herrn Arshon. Dadurch besaß sie ein Bleiberecht in Palästina. Die nicht benötigte Rückreisekarte schickte Erna an ihren Vater zurück. Selbst die Gutschrift aus der Rückgabe der Karte musste sich Julius von der Devisenstelle Münster genehmigen lassen. Mittlerweile war fast ein Jahr verstrichen. Im

Daughter Erna moved to Palestine in November 1938 with a tourist visa and married Mr. Arshon there. She therefore had legal residency in Palestine. Erna sent the no-longer-needed return ticket to her father. To receive credit for returning the ticket, Julius had to make a request with the Foreign Exchange Board in Münster. This was almost a year later. In August 1937, Julius wrote the OFD Düsseldorf to request permission to credit 285 RM to his own account, the amount he received when returning 075


August 1937 schrieb Julius an die OFD Düsseldorf und bat um die Erlaubnis, die 285 RM für die Rückgabe der Fahrkarte seinem Konto gutschreiben zu dürfen. Noch einmal ging ein ähnliches Schreiben der Deutschland-Palästina Verkehrsgesellschaft an die Devisenstelle, Herrn Günzburger den Betrag vergüten zu dürfen. Wieder verstrich wertvolle Zeit. Im Juli 1938 stellte Julius noch einmal einen Antrag bei der Devisenstelle Münster, zwecks Auswanderung 1.000 LP auf das Tempelkonto überweisen zu dürfen. Julius erhielt einen „verbindlichen Vorbescheid“, mit dem er sich bei der Palästina Treuhandstelle vormerken lassen musste. Dieser „Vorbescheid“ trat an die Stelle der Genehmigung von März 1936. Was geschah in der Sache bis November 1938? Nichts Wesentliches, was die Ausreise der mittlerweile 63 und 59 Jahre alten, auf sich gestellten Leute hätte beschleunigen können.

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the ticket. Again, the German-Palestinian management office wrote the foreign exchange board, requesting a credit to Julius Günzburger’s account. Again, valuable time passed. In July 1938, Julius send another application to the Foreign Exchange Board Münster to transfer 1,000 LP to the “Tempel” account for the purpose of emigration. Julius received a mandatory notice to register at the Palestinian Treuhandstelle. This notice was in reaction to his application from March 1936. How was the matter progressing by November 1938? Not far enough to enable emigration of Julius and Sophie, by now 63 and 59, facing the situation on their own.


35: Verbindlicher Vorbescheid 35: Mandatory notice. Transcript: Mandatory Notice In response to the application of July 26, 1938, Julius Günzburger is credited LP 1000.– to the special account I of the bank of the “Tempelgesellschaft” in Jaffa via the banks M. M. Warbug & Co., Hamburg, 75 Ferdinand Street, and A. E. Wassermann, Berlin W8, 7 Wilhelmplatz, for Julius Günzburger for the transfer to Palestine and subject to the four stipulations listed on the back of this document. Due to this mandatory notice, you have to register at the Palestinian “Treuhand-Stelle”. This Palestinian “Treuhandstelle” will give you the next steps needed for the transfer. This permission is only granted for the duration agreed upon by the Jewish transfer organization.

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Novemberpogrom 1938 Der letzte Eintrag im Adressbuch von 1938 lautete: „Günzburger, Julius, Dipl.-Ing., Maschinen-Vertrieb, Großhandlung, Goethestraße 14, Tel. 63814.“³⁹ Unter den Gewerbebetrieben der Stadt Bochum, Stichwort „Seifen und Parfümerien“, standen noch beide Günzburger – Erna Günzburger, Seifengeschäft, Herner Straße 76 und Julius Günzburger, Herner Straße 76 als Vertreter, obwohl Erna bereits seit zwei Jahren nicht mehr in Bochum wohnte.⁴⁰ Der 9. November 1938 markierte einen Wendepunkt in der Politik der Nazis gegenüber den jüdischen Mitbürgern. War das staatliche Handeln bisher durch administrative und legislative Diskriminierung geprägt, so ging man nun zu brachialer Gewalt über. Was in der Nacht vom 9. auf den 10. November und in den darauf folgenden Tagen in der Goethestraße 14 geschah, beschrieb ein Zeuge: „Ich war einige Tage später in der Goethestraße, sah, dass in der Wohnung Walter Kaminski 2 oder 3 Fenster herausgeschlagen worden waren […].⁴¹“

November pogrom 1938 The last entry we found in the 1938 directory was: “Günzburger, Julius, Dipl.-Ing sales of machinery, wholesaler, 14 Goethe Street, Tel. 63814.”³⁹ Both Günzburgers were listed in Bochum’s commercial business section under “soaps and perfumeries”—Erna Günzburger as “soap shop, 76 Herner Street” and Julius Günzburger on “76 Herner Street, as a representative” although Erna had not been living in Bochum for two years.⁴⁰ November 9, 1938 was a turning point for Jewish citizens. Before this, Nazi action was marked by administrative and legislative restrictions. Now it turned into brutality. A witness describes the events of the night between November 9 and 10 at 14 Goethe Street: “I was on Goethe Street a few days later and saw that two or three windows of Walter Kaminski’s apartment had been broken ….⁴¹”

The Günzburger apartment, located in the same house, probably looked similar. After classes ended, 14-to-18-yearold adolescents were released to storm buildings and stoBei der Familie Günzburger, die im gleichen Haus wohn- res. So, students from the nearby Goethe-Gymnasium went te, dürfte es nicht besser ausgesehen haben. Nach dem over to a neighboring building at 9 Goethe Street, which Schulunterricht wurden 14–18jährige Halbwüchsige auf later was a ‘Jewish House’. The extent of the brutality, the die Gebäude und Läden losgelassen. So zogen Schüler des humiliation and arbitrariness, in part exercised by memnahen Goethe-Gymnasiums ins Nachbargebäude Goethe- bers of the ‘Hitlerjugend’ (Hitler youth), is indescribable. A 078


straße 9, einem der späteren Judenhäuser. Das Ausmaß generation was at work who had been taught that murder is an Brutalität, an Demütigungen und Willkür, teilweise von a virtue. Julius and other Jews from Bochum were abducted Mitgliedern der Hitlerjugend verübt, ist unbeschreiblich. to Sachsenhausen.”⁴² Hier ging eine Generation ans Werk, denen man Morden als Tugend vermittelt hatte. Julius wurde mit anderen BochuGerda reported after the war: mer Juden nach Sachsenhausen verschleppt.“⁴² “His father (Julius) was brought to the concentration camp in Sachsenhausen after the 1938 Gerda berichtete nach dem Krieg: ‘Reichskristallnacht’. At his arrival, he had to pass „Der Vater (Julius) kam nach der Reichskristallthrough a gauntlet, a long row of SS-men who beat nacht 1938 ins KZ Sachsenhausen. Bei der Ankunft him as he passed by. What left an impression on musste er Spießrutenlaufen, d. h., er musste durch him was the fact that when the Jews arrived, the eine lange Kette von SS-Männern hindurch, die auf communists and social democrats were already ihn einschlugen. Was ihn beeindruckte, war, dass, there. These people showed solidarity. Sachsenals die Juden dort hinkamen, da waren die Kommuhausen requires hard labor that his father was unnisten und Sozialdemokraten schon da. Diese Leute able to do. First of all, he was not used to manual haben sich solidarisch gezeigt. Es gab einen schwelabor and secondly, he was 64 years old. Others ren Arbeitsdienst in Sachsenhausen, und das konntold him to go easy on himself and took over more te der Vater nicht. Erstens war er nicht gewöhnt, work to help him. He was very impressed by that körperlich schwer zu arbeiten, und zweitens war because he had no previous friendships with blue er auch schon 64 Jahre alt. Die anderen haben ihm collar workers. Fritz’s brother [Kurt] was taken gesagt, er solle sich zurückhalten mit der Arbeit und to Buchenwald. … We were able to get an exit visa haben damit selber mehr übernommen. Das hat ihn for both of them. At this point, people could still be sehr beeindruckt, denn er hatte vorher nie privaten released from concentration camps if they were Kontakt zu Arbeitern. Der Bruder von Fritz (gemeint able to produce an exit visa. His parents came to ist Kurt) kam nach Buchenwald. […] Für beide konnHolland, and his brother took the last ship from ten wir die Ausreisegenehmigung bekommen. Zu Germany to Chile. When war broke out, he was on diesem Zeitpunkt wurde man noch aus dem Lager the high seas.”⁴³ 079


entlassen, wenn man die Möglichkeit auszureisen nachweisen konnte. Die Eltern kamen nach Holland, und der Bruder fuhr mit dem letzten Schiff von Deutschland nach Chile. Als der Krieg ausbrach, war er gerade auf hoher See.“⁴³

Julius was one of the first to be released from the concentration camp in Sachsenhausen.⁴⁴ He returned to Bochum on November 28, 1938. In December 1938, his son Fritz acquired an immigration visa to bring his parents to Holland. Julius and Sophie applied for their departure in December 17, 1938.

Julius gehört zu den ersten, die aus dem KZ Sachsenhausen entlassen wurden.⁴⁴ Am 28. November 1938 kehrt er nach Bochum zurück. Im Dezember 1938 erhielt sein Sohn Fritz eine Einreisegenehmigung für seine Eltern nach Holland. Ihren Antrag auf Ausreise stellten Julius und Sophie am 17. Dezember 1938.

36: Liste der aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen entlassenen Bochumer Juden 36: List of Bochum’s Jews who were released from the concentration camp in Sachsenhausen

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Jahre im holländischen Exil

Years in the Dutch exile

„Ich beabsichtige, mich bei meinen Kindern zu beschäftigen, ev. Verkauf zu übernehmen“, gab der knapp 64-jährige Julius als mögliche berufliche Betätigung an. Der Umzug fand nach dem 20. Januar 1939 statt. An diesem Tag wurden Julius’ Wertpapiere von Wintershall und Mannesmann zur Tilgung der „Judenvermögensabgabe“ eingezogen. Das war eine willkürliche Sonderabgabe, die Juden in der Nazizeit leisten mussten. Der Umzug wurde am 24. Januar 1939 von einem Umzugsunternehmen aus Westfalen angezeigt.

“I plan to work for my children, possibly taking over the sales department,” the 64-year-old Julius noted as a possibility for employment. He moved after January 20, 1939. That day, his securities from Wintershall and Mannesmann were withdrawn to satisfy the “Jewish levy.” This was yet an additional payment Jews had to make in Nazi Germany. A moving company shows the date of the move as January 24, 1939.

37: Fragebogen für Auswanderer 37: Questionnaire of Emigrants. Transcript: In regards to the application from December 17, 1938. notes: The questionnaire has to be filled out, signed and handed in with the requested documents.—Applications that are missing any documents or that are not fully filled out, will be set aside. Name: Günzburger First Name: Julius Birth date: February 4, 1875 Last Address: Bochum. 14 Goethe Street Name of his wife: Sophie Günzburger, née Günzburger, born on August 18, 1879

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38: Auszug aus dem Verzeichnis des gesamten Umzugsguts 38: Partial list of the removals

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Eine umfangreiche, mehrseitige Aufstellung sämtlicher Haushaltsteile, Textilien und Gerätschaften bis zum letzten Kaffeelöffel mussten Julius und Sophie vor ihrer Ausreise abliefern. Am 1. Februar 1939 verließen Julius und Sophie ihre deutsche Heimat, ausgeplündert, bar jeder finanzieller Mittel. Sie zogen zuerst zu Fritz und seiner Frau Gerda, die im jüdischen Viertel von Amsterdam wohnten. Für kurze Zeit lebten Julius, Sophie, Fritz und Gerda in der Plantage Kerklaan 51, auch heute noch eine gute Wohnlage. Schräg gegenüber befindet sich der Eingang zum Artis Royal Zoo, einem bei den Bürgern beliebten Erholungsort.

Before departing, Julius and Sophie had to turn in a comprehensive, multipage list of all household items down to the last coffee spoon. On February 1, 1939, Julius and Sophie left their German home without any financial means. They first moved in with Fritz and his wife Gerda, who lived in a Jewish district in Amsterdam. For a short time, Julius, Sophie, Fritz and Gerda lived on 51 Plantage Kerklaan, which even today is a nice place to live. Kitty-corner from them was the entrance to the Artis Royal Zoo, a place popular among citizens.

Just around the corner, less than a hundred meters away, Gleich um die Ecke, keine hundert Meter entfernt, lag an was the Dutch Schouwburg at Plantage Middenlaan. The der Plantage Middenlaan die Hollandsche Schouwburg. Das theater was built in 1892 and was located in the center of Theater wurde 1892 erbaut und lag mitten im jüdischen Vier- the Jewish district. In 1941, the Germans renamed the the-

39: Meldeformular Amsterdam 39: List of locations

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40 & 41: Amsterdam, Plantage Kerklaan 51 im Jahr 2013 40 & 41: Amsterdam, 51 Plantage Kerklaan in 2013

42: Schouwburg, 1943 43: Schouwburg, ca. 2013 42: Schouwburg, 1943 43: Schouwburg, c. 2013

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tel. 1941 wurde das Theater von den deutschen Besatzern in Joodsche Schouwburg umbenannt. Seither durften dort ausschließlich jüdische Musiker und Künstler auftreten. Ausgerechnet diese Stätte jüdischer Kultur wurde von Juli 1942 bis Ende November 1943 zum Sammelplatz. Juden aus Amsterdam und Umgebung mussten sich dort melden oder wurden zwangsweise in die Schouwburg gebracht. Sie verbrachten von der Außenwelt abgeschlossen Stunden, Tage, manchmal Wochen und Monate, wartend auf den Transport nach Westerbork und Vught, um von dort weiter nach Osten in die Vernichtungslager transportiert zu werden. Von hier wurden auch Julius und Sophie im März 1943 nach Westerbork deportiert. Das Gebäude war nach dem Krieg vom Zerfall bedroht. Die Stadt Amsterdam errichtete an diesem Ort unermesslichen Leids eine Gedenkstätte zum Andenken an die jüdischen Opfer. 6.700 Familiennamen der 104.000 ermordeten Juden aus den Niederlanden sind an einer Wand zu lesen. Darunter auch die Namen von Julius und Sophie Günzburger. 70 Jahre nach der Deportation an diesem Ort zu stehen, hinterlässt bei jedem einen tiefen, nachhaltigen Eindruck. Einen Monat nach der Ankunft ihrer Eltern zogen Fritz und Gerda mit ihnen knapp zwei Kilometer weiter in die Oosterparkstraat 42. Dort bewohnten sie die Parterre und die 1. Etage. Die Wohnlage war bei weitem nicht mehr so gut wie am Artis Park. Fritz musste mit seinem Seifenhan-

ater Joodsche Schouwburg. After that, only Jewish artists and musicians were allowed to perform there. Of all places, this was used as an assembly point between July 1942 and November 1943. Jews from Amsterdam and surrounding area had to register there or were forcibly brought to the Schouwburg. They stayed there, isolated from society, for sometimes weeks or months, waiting to be transported to Westerbork and Vught, to then be transported further east to extermination camps. It was from there that Julius and Sophie were deported in March 1943. The building was threatened by decay after the war. The city of Amsterdam built a memorial for Jewish victims at this place of unthinkable sorrow: 6,700 family names of the 104,000 Jews from Holland are listed on a wall. Among them are the names of Julius and Sophie Günzburger. To stand at this place 70 years after their deportation leaves a significant impression one will never forget. A month after their parents’ arrival, Fritz and Gerda moved about 2 kilometers away to 42 Oosterpark Street. There, they lived on the first and second floors. The location was not nearly as nice as near the Artis Park. Fritz now had to feed four instead of two people with the income of his soap shop. Here, daughter Hanna (Hanneke), co-author of this book, was born on March 30, 1942. 085


44 & 45: Die Oosterparkstraat 42 im Jahr 2013 – eine belebte Durchgangsstraße am Oosterpark. 44 & 45: 42 Oosterparkstraat in 2013— a busy through road near Oosterpark.

del nun vier statt zwei Personen ernähren. Hier wurde die Tochter Hanna (Hanneke), Mitautorin dieses Buchs, am 30. März 1942 geboren.

In September 1941, a year after the German invasion, Julius and Sophie moved to 14 Roer Street, second floor. The street is south of the Congress Center.

Im September 1941, also ein Jahr nach dem Einmarsch der deutschen Truppen, wechselten Julius und Sophie in die Roerstraat 14, 1. Etage. Die Straße befindet sich südlich des heutigen Kongresszentrums. 086

Once again, Julius and Sophie moved. On December 2, 1942, they lived at 112 Retief Street in the Transvaal district. The building no longer exists. The now 66-year-old Julius was unable to find work in Holland. What did the two of


46: Die Roerstraat 14 im Jahr 2013. 46: 14 Roerstraat in 2013.

Noch einmal zogen Julius und Sophie um. Ab dem 2. Dezember 1942 wohnten sie im Transvaal Viertel in der Retiefstraat 112. Das Gebäude existiert nicht mehr. Der mittlerweile 66-jährige Julius konnte in Holland keiner Arbeit nachgehen. Wovon lebten die beiden und zahlten ihre Miete? Restforderungen aus Deutschland zu realisieren war hoffnungslos. Julius versuchte noch von der Goethestraße aus, später von Amsterdam, eine Forderung einzuholen, die ihm ein Herr Lück aus dem Voigtland schuldete und die Julius an Herrn Hoffmann weitergereicht hatte. Lück ließ zuerst bei der OFD Münster anfragen, wie „der Jude Günzburger an den ‚Arier‘ Hoffmann eine Forderung übertragen könne!“ Die Forderung wurde abgelehnt.

them live off of and how did they pay rent? Chasing residual claims from Germany was hopeless. First, while living on Goethe Street and later in Amsterdam, Julius made a claim to some money that a Mr. Lück from Voigtland owed him and even passed this claim to a Mr. Hoffmann. Lück first asked the OFD Münster how “the Jew Günzburger could possibly pass a claim to the ‘Aryan’ Hoffmann!” The claim was denied.

The financial situation was so tight that Julius and Sophie had to sell some of their possessions—first, their Persian carpet; then, piece by piece, their 400-piece silverware set, and their Meissen porcelain. The supply of these goods was far beyond the demand in Amsterdam at this Die finanzielle Lage war dermaßen klamm, dass die Ehe- time so sellers had to settle for a fraction of the worth of leute Julius und Sophie gezwungen waren, Teile ihres Haus- their items. standes zu verkaufen – zuerst einen 3 mal 4 Meter großen Perserteppich, dann Stück für Stück das 400-teilige Sil087


berbesteck und etliche Teile eines Meissener PorzellangeThe family of Max and Helene Elias (Gerda’s parents), schirrs. Das Angebot solcher Waren war damals in Amster- Julius and Sophie Günzburger as well as Fritz and Gerda dam weitaus größer als die Nachfrage. So mussten sich die Günzburger were all living in Holland. This is the only Veräußerer mit einem Bruchteil des tatsächlichen Werts zu- photo of these three families in Holland. frieden geben. Die Familien Max und Helene Elias (Gerdas Eltern), Julius und Sophie Günzburger sowie Fritz und Gerda Günzburger waren in Holland vereint. Dies ist die einzige Aufnahme der drei Familien in Holland.

47: Von links oben Max Elias, seine Tochter Gerda und Fritz, links unten Julius, Sophie, Helene Elias, geb. Löwenstein 47: Starting on the left Max Elias, his daughter Gerda and Fritz, left below: Julius, Sophie, Helene Elias, born Löwenstein

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48: Hanneke auf dem Arm ihrer Großmutter Sophie im Sommer 1942. 48: Hanneke on the arm of her grandmother Sophie in summer 1942.

Nach dem deutschen Einmarsch

After the German invasion

Im Mai 1940 überfiel Deutschland die Niederlande. Am 14. Mai wurde Rotterdam bombardiert, obwohl die Kapitulation schon ausgesprochen worden war. Max Elias war in einem Kino interniert und verbrannte jämmerlich. Nur an seiner goldenen Uhr konnte man ihn identifizieren. Er liegt in einem Massengrab in Rotterdam.

In 1940, Germany invaded the Netherlands. On May 14, Rotterdam was bombarded even though it had already surrendered. Max Elias was locked in a movie theater and was horribly burned to death, only identifiable by his golden watch. He is buried in a mass grave in Rotterdam.

In 1941, the first restrictions for Jews in Holland were 1941 traten die ersten Restriktionen gegen Juden in Hol- instituted. Under the registration mandate, all Jews in land ein. Sie mussten Radiogeräte abgeben und durften nur Holland were subject to arrest and deportation. They had noch zwei Stunden am Tag einkaufen. Anfang 1941 wurde to give up their radios and were only allowed to shop for mit der Meldepflicht der Juden die Grundlage für die Er- two hours a day. Starting in 1942, every month brought fassung und Deportation aller Juden aus Holland geschaf- another restriction for Jewish citizens. Starting on May 1, 089


fen. Ab 1942 brachte jeder Monat neue Restriktionen für die jüdische Bevölkerung. Vom 1. Mai 1942 wurde auch in Holland das Tragen des gelben Judensterns Pflicht. Zwei Monate später setzen die Deportationen in die Todeslager Auschwitz und Sobibór ein, geleitet von der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“, Amsterdam. Je mehr die Zahl der Verhaftungen zunahm, desto mehr Rückstellungen wurden erteilt. Damit ließ man einen Teil der jüdischen Bevölkerung in dem Glauben, bevorzugt behandelt zu werden oder eine Schonfrist erhalten zu haben. Währenddessen konnten die Funktionäre der „Endlösung“ Menschen in Ruhe deportieren.⁴⁵ Zunächst wurden junge Personen aufgefordert, sich zum „Arbeitseinsatz“ in Deutschland zu melden. Da die Resonanz auf diesen Aufruf nicht den Erwartungen entsprach, wurden Razzien auf offener Straße durchgeführt. Juden wurden wahllos auf der Straße verhaftet und verschleppt. Es gab einen spontanen Streik der Amsterdamer Arbeiter, der aber die Willkür der Besatzer nicht verhindern konnte. Die Verhafteten wurden in das Lager Westerbork im Norden Hollands etwa sieben Kilometer nördlich der Gemeinde Drente verschleppt. Das Personal in diesen Lagern bestand meist aus holländischen Nazis, die in ihrer sadistischen Haltung oft noch die deutschen Besatzer überboten. Immer mehr Transporte ausländischer Juden wurden nach Westerbork geschickt, während man die niederländischen Juden aus den Provinzen in Amsterdam konzentrierte.⁴⁶ 090

Jews in Holland were required to wear the “Jewish star.” Two months later, deportations began to the death camps Auschwitz and Sobibór, led from the Zentralstelle für jüdische Auswanderung (central office of Jewish emigration) in Amsterdam. The greater the number of arrests, the greater the number of new provisions. That gave some Jews the false impression that they were given preference or a grace period. In the meantime, functionaries of the Endlösung (Hitler’s final solution) were able to deport people without uproar.⁴⁵ First, young people were asked to register for a “labor assignment” in Germany. Because the result of this mandate did not meet expectations, public raids followed. Jews were arrested on the streets and deported. A spontaneous strike of Amsterdam workers followed but was unable to stop the German plans. Those arrested were brought to camp Westerbork in Northern Holland, about seven kilometers north of Drente. The personnel in these camps were mostly Dutch Nazis who were often more sadistic than even the German Nazis. More and more transports of Jews went to Westerbork while the Dutch Jews from the provinces were kept in Amsterdam.⁴⁶ Julius’ granddaughter Hanneke only stayed with her parents at Oosterpark for a short time after her birth. As early as 1942, she was housed in an orphanage in Utrecht under the alias “Teters.” Conditions there were miserable. As early as the end of 1942, deportations started in Julius


Julius’ Enkelin Hanneke blieb nur kurz nach ihrer Geburt bei ihren Eltern am Oosterpark. Bereits 1942 wurde sie unter dem falschen Namen Teters in einem Utrechter Waisenhaus untergebracht. Die Zustände dort waren miserabel. In der näheren Umgebung von Julius und Sophie setzten bereits Ende 1942 Deportationen ein. Eine Halbschwester ihrer Schwiegertochter Gerda, Lotte Hermann, geb. Elias, wurde am 18. November 1942 zusammen mit ihrem Mann Alfred nach Westerbork deportiert. Die beiden saßen auf gepackten Koffern und machten sich Mut. „Arbeiten können wir“, äußerte Lotte vor dem Abtransport.⁴⁷ Im August 1943 wurden beide in Auschwitz umgebracht. Ende Januar 1943 traf es die Witwe Helene Elias, Schwiegermutter des Sohnes Fritz. Sie wurde zuerst nach Westerbork verschleppt. Von dort wurde sie am 25. Mai 1943 nach Sobibór deportiert und sofort bei ihrer Ankunft umgebracht. Todesdatum war der 28. Mai 1943. Keiner ihrer Verwandten in Holland wusste damals etwas über die Existenz eines Ortes dieses Namens im Osten von Polen. Keiner hatte eine Vorstellung von dem, was sich dort in den Todeslagern im Detail abspielte. Im September 1945, vier Monate nach der Befreiung, schrieb Julius’ Schwiegertochter Gerda an Verwandte: „Der Vater (Julius) machte sich die Illusion, nach Theresienstadt zu kommen. Und das galt als besseres Altersheim. […] Die Wahrheit erfuhr man erst nach der Befreiung. Und wir hörten doch regelmäßig ausländische Sender.“⁴⁸

and Sophie’s neighborhood. Lotte Hermann (née Elias), half-sister of their daughter-in-law Gerda, was deported to Westerbork with her husband on November 18, 1942. The two of them waited with packed bags—and a courageous attitude. “We know how to work,” said Lotte at the time of her deportation.⁴⁷ In August 1943, both were killed in Auschwitz. At the end of January 1943, it was the turn of widow Helene Elias, mother-in-law of son Fritz. She was first deported to Westerbork. From there, she was deported to Sobibór on May 25, 1943 and killed upon arrival. Her date of death is May 28, 1943. None of her relatives even knew about a place of that name in Eastern Poland. Nobody had the faintest idea what took place at these death camps. In September 1945, four months after the liberation, Julius’ daughter-in-law Gerda wrote to her relatives: “Father (Julius) was under the illusion of making it to Theresienstadt, which was regarded as a better retirement home. … The truth only came out after the liberation. And we even regularly listened to foreign radio stations.”⁴⁸

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Internierung in Westerbork

Internment in Westerbork

Im M채rz 1943 wurden Julius und Sophie fr체h morgens In March 1943, Julius and Sophie were arrested early in abgeholt und 체ber die Schouwburg nach Westerbork de- the morning and deported to Westerbork via Schouwburg. portiert. Fritz und Gerda tauchten auf Anraten ihrer Freun- Fritz and Gerda went into hiding on the recommendation of de aus der kommunistischen Partei Hollands unter. friends from the communist party in Holland.

49 & 50: Die letzten Aufnahmen von Julius und Sophie sind die Fotos auf ihren Ausweisen. 49 & 50: The last photographs of Julius and Sophie are the pictures in their passports.

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Fritz schrieb nach dem Krieg über das Schicksal seiner Eltern: „Die Eltern wurden Anfang März 1943 morgens früh von zu Hause weggeholt und kamen nach Westerbork, dem holländischen Durchgangslager. Hier konnten wir sie noch bis Februar 1944 festhalten. Wir schickten regelmäßig (zweimal wöchentlich) Päckchen. Wir selber tauchten am 26. Mai 1943 unter. […] Hanneke war in einem Kinderheim in Utrecht untergebracht. Via Bekannte hielten wir Kontakt zu den lb. Eltern. Selbst nach Bergen-Belsen schickten wir im Sommer ’44 noch regelmäßig Päckchen. […] Sie (die Eltern) haben sich nicht entscheiden können, sich treiben lassen. Für mich gab es nur eines: Untertauchen […] Aber die Eltern sahen nur Schwierigkeiten und hofften auf Austausch nach Palästina. Glaubt ihr, ich hätte die Verantwortung auf mich nehmen können, wenn die Eltern beim Untertauchen geschnappt worden wären? Während sie auf der anderen Seite einen bestimmten Schutz durch ihre Papiere hatten?“⁴⁹

Fritz wrote about his parents’ fate after the war: “My parents were taken from their homes early in the morning in early March 1943 and came to Westerbork, the Dutch transit camp. Here, they held on until February 1944. We sent them packets on a regular basis (twice a month). We went into hiding ourselves in May 26, 1943. […] Hanneke was at an orphanage in Utrecht. Via acquaintances, we kept in contact with our beloved parents. We even sent packages to Bergen-Belsen on a regular basis until the summer of ’44. […] They (his parents) were unable to make up their mind, let themselves go. For me, there was only one option: to go into hiding. […] But my parents only saw complications and hoped to make it to Palestine. Do you think I could have taken responsibility if my parents were caught while trying to go into hiding? While on the other hand, they were relatively protected by their papers?”⁴⁹

Julius and Sophie received regular package while in the camp. New hope arose, as shown in a letter from WesterJulius und Sophie erhielten über Bekannte noch regel- bork, written on November 12, 1943. mäßig Päckchen ins Lager. Es keimte neue Hoffnung auf, wie ein Brief der beiden aus Westerbork vom 12. November The magic words were “Palästina-Austausch” (Palestini1943 zeigt. an exchange). The impetus for this campaign came from Himmler. In Palestine, there were about 2,000 German in093


51: Ansicht einer Barackenstraße in Westerbork. 51: View of a barrack-road in Westerbork.

Das Zauberwort hieß „Palästina-Austausch“. Der Anstoß zu dieser Aktion kam von Himmler. In Palästina gab es ca. 2.000 deutsche „Zivilinternierte“, die Himmler gegen Familienangehörige von schon in Palästina wohnenden Juden austauschen wollte. Über das Rote Kreuz konnten die Internierten ihre Angehörigen telegrafisch um die Beschaffung eines Zertifikats bitten. Dieses Zertifikat begründete die Anwartschaft auf ein Einreisevisum nach Palästina. Am wirkungsvollsten waren Dokumente mit einer Zertifikatsnummer. Julius’ und Sophies Tochter Erna hatte von Palästina aus die Registrierung für den Austausch erreicht. Nummer EL / 43 / 1431. Das teilte Julius seinem Vetter Berthold Weil aus Basel in folgendem Brief mit.

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ternees whom Hitler sought to exchange for family members of Jews already living in Palestine. Via the Red Cross, internees were able to ask their relatives via telegraph to secure a certificate. This certificate led to the entitlement of an entry visa to Palestine. Best were documents with a certificate number. Julius’ and Sophie’s daughter Erna had arranged the registration for this exchange in Palestine. Number EL / 43 / 1431. Julius mentioned this to his relative Berthold Weil from Basel in following letter.


52: Brief aus Westerbork an Berthold Weil, Vetter vierten Grades, aus Basel. Transkript: Westerbork 12.11.43, Baracke 84, Post Hooghalen bei Drente, Holland Lieber Berthold! Deine Karte, sowie Deine Zeilen aus Genf haben wir dankend erhalten. Etwas zuvor erhielten wir von Genf die Registrierung u. kannst Du Dir sicher unsere Beruhigung vorstellen. Für Deine Bemühungen noch meinen besonders herzl. Dank. Auch mit Deiner Mitteilung von der Übersiedlung uns(erer) Geschwister habe mich richtig gefreut. Hoffentlich können Hermine u. Familie auch bald folgen. Wir hoffen, daß auch für uns noch mal andere Tage kommen. Hört Ihr gar nichts von Hilda + Berthold? Max Weil sehe ab und zu er hat noch Glück gehabt. Heute habe ihn zufällig getroffen u. sollen wir Samstag zu ihm kommen. Von Kurt haben wir lange nichts gehört. … Bruder hat für eine große … Laßt Euch weiter gut gehen und Schreibt uns wieder. Herzl. Grüße für Alle Eure Sofie Meine Lieben! Deine Zeilen l. Berthold vom 25.10. trafen 2 Tage später bei uns ein, wie ein Brief vom gleichen Tage vom „Office Palestinien De Suisse“. In diesem Schreiben erhielten wir die Mitteilung, dass bezgl. des beantragten Zertifikats aus Jerusalem die telegr. Mitteilung eingetroffen sei, dass die zuständigen Instanzen in Palästina uns für den Austausch registriert haben unter Nr. EL / 43 / 1431. Wir sind nun froh, dass wir das erreicht haben. Ausser dieser Registrier No. werden wir jetzt noch die Certificat No. erhalten, die wohl auch in Bälde eintreffen wird. An Erna habe einen Rotekreuzbrief geschickt

095


(Tel-Aviv Baslerstr. 18). Wenn Ihr gelegentlich ausführlich an sie

too. Do you hear anything from Hilda and Berthold? I see Max

schreibt, könnt Ihr es ihr ja mitteilen in ausführlicher Weise. Für

Weil on and off; he was lucky. I ran into him today and we plan

Deine Bemühungen l. Berthold sage ich Dir und Deiner Familie

to visit them on Saturday. We have not heard from Kurt in a

besten Dank. Wir erhielten von Erna auch kurz hintereinander

long time. […] Best wishes and write again soon. Greetings to all,

2 Rotekreuzbriefe, den ersten vom 18.9., erhalten am 9.11. mit

Yours Sophie

der Mitteilung „Certifikat besorgt, nach Basel telegr. meldet

My dear ones! Your letter, Berthold, arrived two days after a

Euch“. Der 2te Brief dat. vom 13.7. kam am 10.11. an. Sie wird nun

letter from the same day from the “Office Palestine De Suisse.”

froh sein wenn sie hört, dass die Angelegenheit in Ordnung ist.

In this writing, we were informed that a notice was received by

Sonst weiss ich für heute nichts von Belang mitzuteilen. Hof-

telegraph from Jerusalem regarding our requested certificate,

fentlich erhalten wir bald wieder Nachricht von Euch. Grüsst

informing us that the Palestinian authorities registered us for

alle dortigen Bekannten von uns, auch Philipp u. Familie, ferner

the exchange under the number EL / 43 / 1431. We are now glad

Max und Hermine, die uns auch einmal schreiben sollen. Von

to have come this far. In addition to this registration number,

Kurt haben wir lange nichts gehört. Schreibt ihm, dass er auch

we will also receive a certificate number, which should arrive

wieder an uns denken soll u. uns ausführlich berichten möchte.

soon. I sent a Red Cross letter to Erna (Tel-Aviv, 18 Baslerstr).

Auch wegen des Certifikats könnt Ihr ihm sagen.

If you get a chance to write her extensively, you can explain

Für Euch Alle herzl. Grüße J. Günzburger

this to her in detail. I thank you and your family for your efforts, Berthold. We received two Red Cross letters from Erna, the first

52: Letter from Westerbork to Berthold Weil, a fourth cousin from

from 9 / 18, received on 11 / 9 with the notice “certificate secured,

Basel. Transcript:

telegraphed to Basel. Please write.” The second letter was

Westerbork, 11 / 12 / 43, Barack 84, post office Hooghalen near

dated 7 / 13 and arrived on 11 / 10. She will be happy to hear that

Drente, Holland

everything is in order. I don’t have anything else of substance to

Dear Berthold! We gratefully received your card from Geneva.

report today. Hopefully, we will hear back from you soon. Greet-

Just before that, we received our registration in Geneva and

ing to all of our relatives over there, including Phillip and family,

you can imagine the calming effect. We thank you wholeheart-

far-away Max and Hermine, who should write us sometime, too.

edly for your efforts. I was also glad to hear about the reloca-

We haven’t heard from Kurt in a while. Write him to think of us

tion of our siblings. Hopefully, Hermine and family can follow

and write to us extensively. Tell him about the certificate, too.

soon. We hope that better times are around the corner for us,

Greetings to you all. J. Günzburger

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Max Weil und sein Frau Lina Mai hatten kein Glück. Sie Max Weil and his wife Lina Mai had no luck. They were wurden am 18. Januar 1944 nach Theresienstadt deportiert, deported to Theresienstadt on January 18, 1944 and to am 16. Mai 1944 nach Auschwitz. Dort wurden beide umge- Auschwitz on May 16, 1944, where they were murdered. bracht.

The end in Bergen-Belsen Ende in Bergen-Belsen The Jewish elder of the Bergen-Belsen camp, Josef Der Judenälteste im Lager Bergen-Belsen, Josef Weiss, Weiss, secretly copied the deportation lists. Julius and Sohatte heimlich die Deportierten Listen abschreiben lassen. phie Günzburger were among them. Darin sind auch Julius und Sophie Günzburger aufgeführt. In front of their name, you can identify a “P”. Does it reVor den Namen der Beiden erkennt man ein „P“. Weist fer to the Palestinian Exchange? dieses „P“ auf den Status Austausch Palästina hin? On February 1, 1944, two months after the hopeful letAm 1. Februar 1944, kaum zwei Monate nachdem die ter to Switzerland, Julius and Sophie were deported to beiden ihren hoffnungsfrohen Brief Richtung Schweiz Bergen-Belsen. An internal memo spoke of a “relatively

53–55: Ausschnitte aus der Deportiertenliste aus Bergen-Belsen. 53–55: Registry of the “Star Camp” at Bergen-Belsen.

097


geschickt hatten, wurden Julius und Sophie nach Bergen-Belsen deportiert. Ein Aktenvermerk sprach von einer „ziemlich gehobenen Stimmung unter der Judenschaft“. Schließlich hatte die SS einen baldigen Austausch in Aussicht gestellt.⁵⁰ Das KZ Bergen-Belsen war ein deutsches Konzentrationslager nördlich von Hannover. In Bergen, Ortsteil Belsen, bei Celle befand sich seit 1943 ein Aufenthaltslager für jüdische Austauschhäftlinge.⁵¹ Diese wurden als Geiseln gehalten, um sie gegen deutsche „Zivilinternierte“ oder rüstungswichtige Güter im Ausland auszutauschen.⁵² Diese „Privilegierten“ erhielten besseres Essen, sie mussten keine Arbeit leisten und wurden nicht geprügelt. Der erste Austausch mit Internierten aus Palästina wurde am 28. Mai 1944 angekündigt. 222 Personen wurde am 29. Juni 1944 mitgeteilt, sich innerhalb von 24 Stunden für den Transport bereitzumachen. Schon am 10. Juli befand sich die Gruppe in „Eretz Israel“. Bei den Tausenden, die in Bergen-Belsen warteten, kam neue Hoffnung auf. Umsonst, der erste Austauschtransport war zugleich der letzte.

hopeful atmosphere among the Jews.” After all, the SS had given them hope for a soon-to-follow exchange.⁵⁰ Bergen-Belsen was a German concentration camp north of Hanover. A detention camp for Jewish Exchange prisoners had existed in Bergen, district Belsen, near Celle since 1943.⁵¹ These prisoners were kept to exchange them for civil internees or military goods in other countries.⁵² These “privileged” prisoners received better food, did not have to do work and were not beaten. The first exchange for internees from Palestine was announced on May 28, 1944. On June 19, 222 people were told to get ready for transport within 24 hours. The group was already in “Eretz, Israel” on July 10. The thousands who waited in Bergen-Belsen had new hope. To no end because this first exchange was indeed the last.

The last sign of life from Julius and Sophie was a card, written to cousin (not brother) Phillip Günzburger in Basel, postmarked December 14, 1944 in Bergen. Such cards were allowed to be sent to close relatives. It was permitted to send a sign of life and ask for packages; you were not Das letzte Lebenszeichen von Julius und Sophie war eine allowed to talk about conditions at the camp or your actual Karte, geschrieben an Vetter (nicht Bruder) Philipp Günz- well-being. burger in Basel, abgestempelt am 14. Dezember 1944 aus Bergen. Solche Karten durften an engste Familienangehörige verschickt werden. Erlaubt war, ein Lebenszeichen von sich zu geben und um Pakete zu bitten – über die Zustände 098


56 & 57: Die letzte Postkarte von Julius an Philipp Günzburger. Transkript: Lieber Bruder! Wir hoffen, dass es Euch gut geht, was ich Euch Allen auch von uns berichten kann. Pakete dürfen wir empfangen. Herzliche Grüße Julius 56 & 57: The last postcard written by Julius to Philipp Günzburger; sent from Bergen-Belsen. Transcript: Dear brother! We hope you are well as are we. We are allowed to receive packages. Greetings Julius

im Lager, über das tatsächliche eigene Befinden durfte kein Wort vermerkt werden.

A month later, on January 20, 1945, Julius died. His wife Sophie outlived him by four weeks. She died on February 18, 1945 at 11 a.m. from “poor circulation,” as was noted.

Einen Monat später, am 20. Januar 1945, starb Julius. Seine Frau Sophie überlebte ihn vier Wochen. Sie verstarb am 18. Februar 1945 um 11 Uhr an „Kreislaufschwäche“, wie vermerkt wurde. 099


58: Todesurkunde von Sophie 58: Death certificate of Sophie

In den letzten Kriegsmonaten konnte von einer „bevorzugten Behandlung“ der Austauschhäftlinge keine Rede mehr sein. Vor den heranrückenden Truppen der Roten Armee wurden die KZs im Osten evakuiert. Die berüchtigten Todesmärsche hatten u. a. Bergen-Belsen als Ziel. Es herrschten chaotische Zustände. Zuletzt vegetierten über 75.000 Menschen fast ohne Nahrung in dem völlig überfüllten Lager. Beim Eintreffen der Engländer am 15. April 1945 stießen sie auf zehntausende Leichen. Über dem gesamten Lager lag ein unerträglicher Leichengeruch.⁵³

100

During the last months of the war, privileges for the exchange prisoners were nonexistent. The concentration camps in the East were evacuated due to the approaching Red Army. The notorious “death march” was aimed toward Bergen-Belsen, among other places. The situation was chaotic: 75,000 people vegetated in this overcrowded camp without food. When the British arrived on April 15, 1945, they encountered tens of thousands of dead bodies. The stench of dead corpses was overpowering.⁵³


59: Die Schrifttafel wurde von Soldaten der 2. Britischen Armee nach der Befreiung des KZ Bergen-Belsen aufgestellt. 59: This panel was put up by the soldiers of the 2nd British army after the liberation of the concentration camp Bergen-Belsen. Transcript: This is the well known concentration camp Belsen Bergen, liberated by the second British army on April 15, 1945. 10,000 unburied corpses were found here, another 13,000 have since died as victims of the new German order in Europe and as example of the Nazi culture.

Kurz nach Kriegsende bestand noch bei Fritz und seinen Geschwistern die Hoffnung, die lb. Eltern hätten trotz allem überlebt. Im August ’45 musste Fritz seinen Geschwistern und Verwandten das traurige Schicksal der Eltern mitteilen: „Liebe Erna, lieber Kurt! Zuerst muß ich Euch leider die traurige Mitteilung machen, dass die lb. Eltern nicht mehr unter den Lebenden weilen. Der lb. Vater ist im Januar, die lb. Mutter im Februar 1945 an Schwäche gestorben. Diese Tatsache wurde mir erst auf Anfrage offiziell mitgeteilt aufgrund gefundener Listen, dann sprach ich auch zurückgekehrte Bekannte der lb. Eltern, die die lb. Mutter kurz vor ihrem Tode noch gesprochen hatten. Die Eltern waren im soge. Altersheim,

Right after the war, Fritz and his siblings still had hope that their parents survived. In August 1945, Fritz had to inform his siblings and relatives of his parents’ sad fate: “Dear Erna, dear Kurt! First, I unfortunately have to tell you the sad news that our beloved parents are no longer among the living. Our beloved father died in January and our beloved mother in February 1945 due to exhaustion. I officially found out about this when I requested information that was retrieved from found lists. Later I spoke with acquaintances of our beloved parents who spoke to our beloved mother shortly before her death. Our parents resided at the so-called old peoples home, 101


Baracke 28, untergebracht gewesen. Sie brauchten da nicht zu arbeiten und hatten auch andere kleine Entgegenkommen, die sie aber nicht vor dem Verhungern schützten. Die schlimmste Zeit haben sie nicht mehr mitzumachen brauchen. Die Zeit, wo die Evakuierten aus den anderen Lagern nach Belsen kamen und das Lager überfüllt war und schreckliche Krankheiten ausbrachen, an denen Opfer unter großen Schmerzen starben. Der Tod der Eltern – das sagen alle, die dort waren und viele so haben sterben sehen – war verhältnismäßig leicht, ein Einschlafen, keine Schmerzen, weil vorher schon ein apathischer Zustand erreicht war. Die Eltern wurden Anfang März 1943 morgens früh von zuhause weggeholt. Wir schickten regelmäßig (zweimal wöchentlich) Päckchen. Wir selbst (Fritz und Gerda) tauchten am 26. Mai ’43 unter, standen aber via Bekannte in regelmäßigem Kontakt mit den lb. Eltern. Auch nach Belsen schickten wir im Sommer ’44 noch regelmäßig Päckchen. Dies hörte aber nach den Septemberereignissen, als ein Teil Hollands befreit wurde, auf, da kein Postverkehr mit Deutschland mehr möglich war. Diesen Winter haben die lb. Eltern nun nicht mehr überlebt. Ich hoffte immer, dass sie nach Palästina ausgetauscht worden waren, aber leider war diese Hoffnung eitel.“⁵⁴ 102

barrack 28. They did not have to work there and had other small concessions, which did not, however, save them from starvation. They did not have to live through the worst of times: The time when those deported from other camps were brought to Belsen and the camp was so overcrowded that illnesses broke out, of which victims died in great pain. The death of our parents—say those who were there and saw many die in this way—was relatively easy, a falling asleep, no pain, because they had already reached a listless state. Our parents were taken from their homes in the early morning in March 1943. We sent regular (twice a week) packages. We ourselves (Fritz and Gerda) went into hiding on May 26, 1943 but stayed in contact with our parents via some friends on a regular basis. We even sent packages to Belsen on a regular basis during the summer of 1944. But this ended after the September events when part of Holland was liberated because there was no postal service between Holland and Germany. Our beloved parents did not survive this winter. I kept hoping they were exchanged to Palestine but unfortunately, there was no sense in hoping.”⁵⁴


Gedenkstätte Bergen-Belsen

Bergen-Belsen memorial

Über das Lager ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras Grass is growing again where horrible suffering took gewachsen. Dort, wo von 1941 bis 1945 furchtbares Leid ge- place from 1941 to 1945. schah, hat sich die Natur wieder ausgebreitet.

60: Standort des ehemaligen „Sternlagers“ der Austauschjuden 60: Here stood the former “Sternlager” (“Star Camp,” Bergen-Belsen) where Julius and Sophie were interned

61: Gedenkstein für Julius und Sophie Günzburger stellvertretend für die Opfer der Shoah. 61: Memorial for Julius and Sophie Günzburger representing victims of the Shoah. Transcript: In remembrance of our grandparents Günzburger 1875 Julius 1945 1879 Sophie 1945

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Erinnerung in Bochum

Remembrance in Bochum

Die letzte Adresse der Familie Günzburger in ihrer deutschen Heimat war Bochum, Goethestraße 14. Während des Novemberpogroms 1938 wurden Schüler des nahen Goethe Gymnasiums von ihrem Lehrer angestachelt, Scheiben jüdischer Mitbürger einzuwerfen und die Bewohner zu terrorisieren. 70 Jahre später weihten Schüler dieser Schule eine Stele an der Goethestraße ein, die an die jüdischen Bewohner dieser Straße erinnern soll.⁵⁵ Es ist die dritte Stele im Stationenweg „Jüdisches Leben in Bochum und Wattenscheid“ der Evangelischen Stadtakademie Bochum. Am 10. Dezember 2014 wurden am letzten Wohnort an der Goethestraße 14 Stolpersteine für Julius und Sophie verlegt.

The last address of the Günzburger family in their home country Germany was Bochum, 14 Goethe Street. During the November 1938 pogrom, Kristallnacht, students from the nearby Goethe Gymnasium were encouraged by their teachers to smash windows of Jewish homes and terrorize the residents. Seventy years later, students of the same school inaugurated a commemorative pillar on Goethe Street⁵⁵ to remember the Jewish residents of this street. It is the third stele on the path “Jewish Life in Bochum and Wattenscheid” led by the Protestant Stadtakademie Bochum. On December 10, 2014, stumpling stones (“Stolpersteine”) were set for Julius and Sophie at 14 Goethe Street.

Die Gedenkveranstaltung fand am 22. Januar 2015 im ArThe commemoration ceremony took place on January chiv Bochum statt – fast auf dem Tag genau 70 Jahre nach 22, 2015 at the Archiv Bochum—almost exactly 70 years dem Tod von Julius. after Julius’ death.

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62: Foto von der Gedenkveranstaltung in Bochum. 62: Photograph of the commemoration ceremony in Bochum.

63: Einweihung der Stele an der Goethestraße in Bochum am 27. November 2013 63: Inauguration of the stele on Goethe Street, Bochum on November 27, 2013

64: Stolpersteine Sophie und Julius Günzburger 64: Commemorative stones of Sophie and Julius Günzburger

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Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4) 5)

Lebenslauf, von Julius verfasst. Curriculum Vitae, composed by Julius. http://www.die-badner.de/artikel/badenser_loerrach%20geschichte.html http://www.dmt-kern.de/über-uns http://www.eht-werkzeugmaschinen.de/1.index.html Vgl. das „Dokument über die Familien Günzburger und Kaufmann“, Leo Baeck Institut NY. Compare to “Dokument über die Familien Günzburger und Kaufmann”, Leo Baeck Institut NY” 6) Vgl. Geburtsurkunde Kurt Günzburger. Compare to birth certificate of Kurt Günzburger. 7) Erst 1934 wurde mit dem sog. „Gleichschaltungsgesetz“ eine einheitliche deutsche Staatsangehörigkeit geschaffen. It had to become 1934 to get a unified German Nationality, enforced by the “Gleichschaltung law”. 8) http://adressbuecher.genealogy.net/entry/show/3043377 9) http://www.albert-gieseler.de/dampf_de/firmen0/firmadet1887.shtml 10) Herne liegt knapp 500 Kilometer westlich von Zwickau. Herne is about 500 kilometers West of Zwickau. 11) Piorr, R. (2015): Flottmann. Eine Geschichte des Reviers. Essen 12) http://www.albert-gieseler.de/dampf_de/firmen0/firmadet1887.shtml 13) Katasterverwaltung Bochum, Eigentumsveränderungsliste vom 28. Januar 1927. City archives Bochum. 14) RM=Reichsmark 15) Stadtarchiv Bochum, Adressbuch 1928 / 1929, Teil2 S. 120. City archives Bochum, address book 1928 / 1929, part 2, p. 120. 16) Stadtarchiv Bochum, Adressbuch 1932 S. 174. City archives Bochum, address book 1932, p. 174 17) http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Heinrich_Flottmann 18) Herne und Wanne-Eickel 1933–1945. Ein antifaschistischer Stadtführer GEW Herne 1985. 19) Benz, W. (1996): Die Juden in Deutschland 1933–1945. Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. München 106


20) 21) 22) 23) 24)

25) 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36) 37) 38) 39) 40) 41)

Friedländer, S. (2010): Das dritte Reich und die Juden 1933–1945; gekürzt von Orna Kenan. München http://de.wikipedia.org/wiki/Devisenstelle Siehe Kapitel Fritz. See Chapter Fritz. Gerda Günzburger in: „Nichts ist so schön wie …“ Klartext 1991 Interview Hanne Fischer / Ralf Piorr Solange Reichspräsident Hindenburg lebte, blieben die jüdischen Frontkämpfer noch relativ unbehelligt von restriktiven Maßnahmen. As long as President Hindenburg was alive, Jewish frontier soldiers were relatively protected from restrictive measures. Benz, W. (2001): Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert. München CV = Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens Benz, W.: S 414 Benz, W.: S 414; Hans Winterfeldt, einer der Befreiten von Auschwitz. Benz, W.: S 414; Hans Winterfeldt, one of those rescued from Auschwitz. Amt für Wiedergutmachung Eidesstattliche Versicherung vom 19.11.1955. “Amt für Wiedergutmachung” (Restitution office) Eidesstattliche Versicherung of 11/19/1955. Katasterverwaltung Bochum, Eigentumsveränderungsliste vom 1936. Cadaster of Bochum, change of ownership documentation of 1936. Stadtarchiv Bochum, Adressbuch 1936. City archives Bochum, address book 1936 Ebenda. Siehe Kapitel Ernst. See Chapter Ernst. http://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/holocaust/juedische-emigration/170.html LP = Palästinensische Pfund. LP = Palestinian Pounds. Devisenstelle L001 OFD Nr. 2889 Dokument 91. Devisenstelle L001 OFD Nr. 2889 Document 91. ebd. Ibid. ebd. Ibid. Stadtarchiv Bochum, Adressbuch 1938 Teil 1 / 2 S. 166. City archives Bochum, city directory 1938, part 1 / 2, page 166. Stadtarchiv Bochum, Adressbuch 1938 Teil 3 S. 58. City archives Bochum, city directory 1938, part 3, page 58. Schneider, Hubert: Die Entjudung des Wohnraums. S. 218f 107


42) Schneider, Hubert: KZ Sachsenhausen: Vortrag 14.11.2013 im Stadtarchiv Bochum. Schneider, Hubert: KZ Sachsenhausen: Talk on 11 / 14 / 2013 at the city archives Bochum. 43) Gerda Günzburger in: „Nichts ist so schön wie...“ Klartext 1991 Interview Hanne Fischer / Ralf Piorr S. 255 44) Schneider, H. „Judenhäuser in Bochum“ 45) Kolb, E. (1962): Bergen-Belsen. Hannover 46) Friedländer, S. : Das dritte Reich und die Juden 47) Mdl. Überlieferung von Gerda Günzburger. Orally communicated by Gerda Günzburger. 48) Siehe Kapitel Hedwig Günzburger. See Chapter Hedwig Günzburger. 49) Eine Reise ins Unbekannte: … Ralf Piorr (Hg.) – Essen: Klartext, 1998 S. 90 f 50) Kolb, E: Bergen-Belsen. Die Geschichte des „Aufenthaltslagers“ 1943–1945 51) http://de.wikipedia.org/wiki/Bergen-Belsen 52) http://de.wikipedia.org/wiki/Austauschjude 53) Foto aus: Piorr, R (Hg).: „Nahtstellen, fühlbar, hier …“ S. 231 54) Eine Reise ins Unbekannte: … Ralf Piorr (Hg.) – Essen: Klartext, 1998 S. 90 f 55) http://www.goethe-schule.de/web/index.php?id=503&tags=Geschichte,%20Stele 56) www.stadtakademie.de

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Kurt Gotthilf Günzburger

Kurt Gotthilf Günzburger

65: Zwickau 1913: Fritz 1 ¾, Kurt 16 , Erna 11 Jahre alt. 65: Zwickau 1913: Fritz 1 ¾, Kurt 16, Erna 11 years old.

Kurt wurde als ältester Sohn von Julius und Sophie Günzburger 1897 in Deutsch-Wilmersdorf geboren. Er lebte mit seinen Eltern in Aachen, München-Gladbach (Mönchengladbach) und Zwickau. Mit 15 Jahren besuchte er ein Internat in Leipzig, Jacobstraße 1. Ein Jahr später wechselte er zur Realschule in Emmendingen, die er am 11. Juni 1914 nach der UII (Untersekunda, Klasse 10) verließ. Er begann eine kaufmännische Lehre bei den Zwickauer Maschinenfabriken, in der sein Vater als

Kurt, the oldest son of Julius and Sophie Günzburger, was born in Deutsch-Wilmersdorf in 1897. He lived with his parents in Aachen, München-Gladbach (Mönchengladbach) and Zwickau. At age 15, Kurt attended a boarding school in Leipzig, 1 Jacob Street. A year later, he transferred to the Realschule (high school) in Emmendingen, graduating on June 11, 1914 after completing his UII (Untersekunda, 10th grade). Kurt began a business apprenticeship at the Zwickau machine factory where his father was the 109


Technischer Direktor wirkte. Hier lernte er seine spätere (nicht-jüdische) Ehefrau Dorothea (Dora) Hoffmann kennen. Kurt schloss seine Ausbildung 1916 erfolgreich ab. Am 11. September 1916 trat er als „Einjähriger“ Freiwilliger mit Zustimmung des Vaters in das Heer ein. Der Kanonier Kurt wurde verletzt und erhielt u. a. die Friedrich August Medaille in Silber. Am 25. Januar 1919 endete sein Dienst. Nach Anstellungen als Buchhalter u.a. bei den Horchwerken in Zwickau begann seine Arbeit für die Kaufhauskette Schocken.¹ Cottbus, Stuttgart und Waldenburg waren Zwischenstationen als Abteilungsleiter bis Kurt 1929 Büroleiter beim Schocken-Kaufhaus Freiberg wurde. Kurt und Dora heirateten 1926 in Zwickau. Ihre Tochter Eleonore wurde 1931 geboren.

technical director. Here he met his (non-Jewish) wife-to-be Dorothea (Dora) Hoffmann. Kurt successfully completed his apprenticeship in 1916. With his father’s approval, he joined the military on September 11, 1916 as an Einjaehriger (one-year) volunteer, serving as a cannoneer. Kurt was injured and received, among other honors, the silver Friedrich August medal. On January 25, 1919, he ended his military service. After working as an accountant at the Horchwerken Zwickau (among others), Kurt began working for the department store chain Schocken. Cottbus, Stuttgart and Waldenburg were stepping stones, with Kurt promoted to department head and then office manager at the Schocken’s Freiberg store in 1929. Kurt and Dora married in 1926 in Zwickau. Their daughter Eleonore was born in 1931.

66: Dora, Eleonore und Kurt 1938. 66: Dora, Eleonore and Kurt in 1938.

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Kurt hatte 1924 mit seinem Vater Julius und mit zwei Zwickauer Fabrikbesitzern eine Kommanditgesellschaft für den Betrieb einer Piano- und Harmoniefabrik gegründet, deren persönlich haftender Gesellschafter er war. Ob das Unternehmen jemals erfolgreich arbeitete, wissen wir nicht. Vier Jahre später 1928 wurde die Firma aus dem Handelsregister gelöscht. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde Kurt verhaftet und für sieben Wochen in das KZ Buchenwald verschleppt. Er wurde erst aus dem KZ entlassen, als er sich verpflichtet hatte, Deutschland umgehend – ohne Frau und Kind – zu verlassen.² 1939 floh er mit einem Visum für Chile. Vom Kriegsausbruch hörte er auf der Überfahrt nach Südamerika. In Chile angekommen, musste er in den Süden nach Temuco ziehen. Dort war er bei den deutschen Einwanderern geduldet, mehr nicht. Den Lebensunterhalt verdiente Kurt mit dem Verkauf von Geflügel und Landprodukten. Seine Frau Dora blieb bis zum Kriegsende in Freiberg. Die Tochter Eleonore wurde als „Halbjüdin“ von den nicht-jüdischen Kindern geschnitten und von allen kulturellen Veranstaltungen ausgeschlossen. Sie erlebte die Befreiung im Mai 1945, starb jedoch 1947 an einer Lungenentzündung. Kurt sah seine Tochter nie wieder. Dora folgte ihrem Mann zehn Jahre später nach Temuco. 1966 kehrten beide nach Deutschland zurück. Dort wohnten sie bis zu ihrem Lebensende in Herne in der Nähe der Familie seines Bruders Fritz. Kurt starb 1976, seine Frau Dora 1994.

In 1924, Kurt—together with his father Julius and two factory owners from Zwickau—founded a Kommanditgesellschaft (limited partnership) for a piano and harmony factory; Kurt was the personally liable shareholder. We do not know if this business was ever successful. Four years later, in 1928, the company was deleted from the commercial register. During the pogrom night on November 9, 1938, Kurt was arrested and deported to the concentration camp Buchenwald for seven weeks. He was released when he agreed to leave Germany right away, without his wife and children.² In 1939, he fled with a visa for Chile. On his journey to South America, he heard that war had broken out. After arriving in Chile, he had to move south to Temuco. There, he was merely tolerated by the German immigrants. Kurt made a living by selling poultry and produce. Kurt’s wife Dora stayed in Freiburg until the end of the war. Daughter Eleonore, being half-Jewish, was excluded by her non-Jewish peers and not allowed to participate in public events. Kurt never saw his daughter again. She lived through the liberation in May 1945 but died of pneumonia in 1947. Dora followed her husband to Temuco 10 years later. In 1966, both came back to Germany. There they lived near the family of brother Fritz in Herne. Kurt died in 1976; his wife Dora in 1994.

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Erna Günzburger

Erna Günzburger

67 & 68: Erna mit 34 bzw. 73 Jahren (1936 / 1975). 67 & 68: Erna at 34 and 73 (in 1936 / 1975)

Erna wurde 1902 in München-Gladbach geboren.³ Sie war von Geburt an stark sehbehindert. Sie ging in Zwickau zur Schule und absolvierte eine Ausbildung zur Bürokraft. 1927 zog sie mit ihren Eltern nach Bochum. Dort war sie als Lehrerin für Stenographie und Schreibmaschine tätig. Nach 1932 betrieb sie mit ihrem Vater Julius ein Seifengeschäft auf der Herner Straße in Bochum. Ende 1936 reiste Erna mit einem Touristenvisum nach Palästina. Dort heiratete sie Herrn Boris Arshon und sicherte sich somit ihre Aufenthaltsgenehmigung für Palästina. Von Haifa aus versuchte sie 1943, die Ausreise ihrer Eltern nach Palästina zu organisieren. Es gelang ihr zumindest, die notwendigen Zertifikate nach Basel zu schicken. Nach dem Tod von Boris Arshon heiratete Erna Josef Kandelmann. Nach dessen Tod 112

Erna was born in München-Gladbach in 1902.³ She was highly visually impaired from birth. She went to school in Zwickau and completed training as secretary. From there, she moved to Bochum with her parents in 1927. Erna was a skilled typist. Later she also worked as a teacher of stenography and typewriting. After 1932, she managed a soap shop with her parents on Herner Street in Bochum. In November 1936, Erna left Bochum with a tourist visa to Palestine. There, she married Boris Arshon, which secured her residency in Palestine. From Haifa, she tried to organize the emigration of her parents to Palestine in 1943. She was able to send the necessary certificates to Basel. After the death of her husband, Erna married Josef Kandelmann. After his death, she moved to Düsseldorf and stayed there


zog sie 1980 nach Düsseldorf und lebte dort bis zu ihrem Tod 1996 in dem jüdischen Altersheim Nelly-Sachs-Haus.

until her death in 1996 in the a Jewish retirement home Nelly-Sachs-Haus.

Fritz Arthur Günzburger

Fritz Arthur Günzburger

69: 1964 in Herne: Gerda, Bert, Hanneke, Fritz. 69: 1964 in Herne: Gerda, Bert, Hanneke, Fritz.

Fritz war der jüngste Sohn der Eheleute Julius und Sophie Günzburger. Er wurde am 7. September 1911 in Zwickau geboren. Zusammen mit seinen Eltern und Schwester Erna zog er 1927 nach Bochum. Dort legte er 1931 sein Abitur am Graf-Engelbert-Realgymnasium ab. Er begann ein Jura- und VWL-Studium in Berlin, Heidelberg und Köln. Als Mitglied

Fritz was the youngest son of Julius and Sophie Günzburger. He was born on September 7, 1911 in Zwickau. Together with his parents and sister Erna, he moved to Bochum in 1927. There, he graduated with his Abitur (university prerequisite) from the Graf-Engelbert-Realgymnasium. He started studying law and economics in Berlin, 113


einer kommunistischen Studentengruppe wurde er Anfang 1933 von der SA Bochum gesucht. Fritz floh nach Besançon, Frankreich, wo er Arbeit in einer Konfektionsfabrik erhielt. Seine Freundin Gerda Elias aus Herne folgte nach ihrem Abitur 1933. Sie sah keine Chance, als Jüdin ein Medizinstudium in Deutschland aufzunehmen. 1934 verlor Fritz seinen Arbeitsplatz in Frankreich und zog mit Gerda nach Rotterdam, wo die Eltern seiner Freundin bereits seit einem Jahr lebten. 1936 heirateten Fritz und Gerda in Rotterdam. In Holland absolvierte Fritz eine kaufmännische Lehre im Geschäft seines Schwiegervaters. Mit dessen Unterstützung betrieb Fritz einen Großhandel mit Seifen- und Toilettenartikeln in Amsterdam. Nach dem 10. November 1938 besorgte er seinen Eltern ein Einreisevisum für Holland. 1942 wurde Tochter Hanna (Hanneke) geboren. Bis dahin konnte Fritz sein Handelsgeschäft während der deutschen Okkupation betreiben. Im Mai 1943, nach der Deportation seiner Eltern nach Westerbork, ging er mit seiner Frau auf Anraten seiner kommunistischen Freunde in den Untergrund, während Tochter Hanneke unter falschem Namen zeitweise in einem Kinderheim untergebracht war. Fritz engagierte sich im Widerstand gegen das Nazi-Regime. Zu seinen Aufgaben gehörte das Abhören des verbotenen BBC-Senders. Die notierten Nachrichten verteilte seine Frau Gerda an Vertraute aus holländischen Widerstandsgruppen. Fritz und Gerda blieben bis zur Befreiung im Untergrund. Nach dem Mai 1945 wurde Sohn Bert Anfang 1946 in Amsterdam geboren. 114

Heidelberg and Cologne. As a member of a communist student group, he was wanted by the SA in Bochum in 1933. Fritz fled to Besancon, France, where he found work in a textile factory. His girlfriend Gerda Elias from Herne followed him after her Abitur in 1933. She was not hopeful of being able to study medicine in Germany as a Jew. In 1934, Fritz lost his job in France and moved to Rotterdam with Gerda, where his girlfriend’s parents had already lived for a year. In 1936, Fritz and Gerda married in Rotterdam. In Holland, Fritz completed a business apprenticeship in his father-in-law’s store. With his support, Fritz managed a wholesale business for soaps and toiletries in Amsterdam. After November 10, 1938, he arranged an entry visa for his parents to come to Holland. In 1942, daughter Hanna (Hanneke) was born. Fritz was able to keep his business during the early years of the German occupation. In May 1943, after his parents were deported to Westerbork, he went into hiding with his wife on the recommendation of his communist friends while daughter Hanneke was at an orphanage for a time under an alias. Fritz was an active part of the resistance against the Nazi regime. Among his assignments was monitoring the forbidden BBC channel. Wife Gerda passed the messages on to trusted members of the Dutch resistance. Fritz and Gerda stayed in hiding until the liberation. After May 1945, son Bert was born in early 1946 in Amsterdam.


Fritz war der Einzige aus den Günzburger Familien, der 1946 mit Familie nach Deutschland zurückkehrte. Dieser Schritt stieß bei vielen Verwandten, die sich vor dem Naziterror retten konnten, auf heftige Ablehnung. Fritz und Gerda vertraten die Idee, zusammen mit Freunden aus dem holländischen Exil in den Reihen der KPD / DKP / VVN an der Gestaltung eines demokratischen, friedlichen Deutschlands mitzuwirken. Diesem Anspruch fühlten sie sich ein Leben lang verpflichtet. Fritz verstarb einen Monat nach der Katastrophe von Tschernobyl Ende Mai 1986. Seine Frau Gerda überlebte ihn 24 Jahre. Sie verstarb im September 2010.

Fritz was the only one of the Günzburger family who moved back to Germany in 1946. This step was frowned upon by many family members who managed to escape the Nazi terror. Fritz and Gerda, together with their friends from the Dutch exile, and as a part of the KPD / DKP / VVN (communist parties) wanted to be a part of the configuration of a democratic, peaceful Germany. They believed this to be their life-long calling. Fritz died a month after the Chernobyl catastrophe at the end of May 1986. His wife Gerda survived him by 24 years. She died in September 2010.

70: Kurt (1976), Fritz (1986), Dora (1994), Erna (1996) und Gerda (2010) liegen auf dem Wiescher-Friedhof in Herne begraben. 70: Kurt (1976), Fritz (1986), Dora (1994), Erna (1996) and Gerda (2010) are buried at the Wiescher cemetery in Herne.

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Endnoten Endnotes 1) 2) 3)

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Schocken war die viertgrößte Kaufhauskette im Deutschland der Weimarer Zeit. Schocken was the fourth biggest department store chain in Germany during the Weimar Period. Düsing, M. (2011): „Mein Weg, Herr Oberbürgermeister, ist schon bestimmt.“ Judenverfolgung in Freiberg 1933–1945. Freiberg. Der Sohn Paul lebte nur 4 Monate. Siehe Kapitel Julius. Son Paul only lived four months. See Chapter Julius


Rosa Günzburger (1876–1940)

71: Rosa im Alter von 44 Jahren 71: Rosa at the age of 44

Rosa wurde am 25. November 1876 in Emmendingen als zweites Kind der Eheleute Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette geboren. Sie wuchs mit ihrer Familie im „Alten Ochsen“ in der Karl-Friedrich-Straße in Nieder-Emmendingen auf. Als ihr Vater starb, war sie 17 Jahre alt.

Rosa was born on November 25, 1876 in Emmendingen. She was the second child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette. Rosa grew up with her family in the “Alten Ochsen“ on Karl-Friedrich-Street in Lower Emmendingen. When her father died, she was 17 years old.

Rosa heiratete im Alter von 22 Jahren den sechs Jahre älAt the age of 22, Rosa married the six-years-older cattle teren Viehhändler Emil Dreifuss aus Nonnenweier bei Lahr, dealer Emil Dreifuss from Nonnenweier in Lahr, a small einem kleinen Ort auf halbem Weg zwischen Emmendin- town halfway between Emmendingen and Kehl. The fami117


gen und Kehl. Die Familie Emil Dreifuss lebte von 1898 bis Ende der 1920er Jahre in Nonnenweier. Anfang des 19. Jahrhunderts waren in Nonnenweier fünf jüdische Familien vermerkt, eine davon war Dreyfuß. Gehen wir von sich verändernder Schreibweise der Namen aus, dann dürfen wir annehmen, auch die Vorfahren von Emil Dreifuss lebten ebenso wie die Günzburger Familien seit über hundert Jahren in dieser Gegend. Allerdings gab es einen entscheidenden Unterschied. Im Gegensatz zu Emmendingen, der liberalen Stadt an der Elz, war das Verhältnis zwischen Juden und Christen in Nonnenweier sehr angespannt. 1846 kam es wiederholt zu Ausschreitungen gegenüber den jüdischen Mitbewohnern. Die Verhältnisse änderten sich erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts.¹ Tochter Sophie Cäcilie wurde zum Beginn des neuen Jahrhunderts, am 23. August 1900 geboren. Am 4. Februar 1902 folgte Sohn Julius Dreifuss, benannt nach Rosas älterem Bruder. Julius nahm wie einige seiner Schwäger aus der Günzburger Familie am ersten Weltkrieg teil. Vielleicht war er wie viele seiner Glaubensbrüder davon überzeugt, durch die Teilnahme am Krieg die volle Gleichberechtigung der jüdischen Mitbürger beeinflussen zu können.²

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ly Emil Dreifuss lived in Nonnenweier from 1898 to the late 1920s. In the early 19th century, five Jewish families were listed in Nonnenweier, including a family by the name of Dreyfuß. If we assume a change in the spelling of the names, we have reason to believe that the ancestors of Emil Dreifuss like the Günzburger families had also lived in the area for over a hundred years. However, there was a distinct difference. Unlike in Emmendingen, the liberal city of Elz, the relationship between Jews and Christians in Nonnenweier was very tense. In 1846, riots against Jews broke out repeatedly. The situation did not change until the end of the 19th century.¹ Rosa gave birth to Sophie Cecilia at the beginning of the new century on August 23, 1900. On April 2, 1902, son Julius Dreifuss followed, named after Rosa’s older brother. Julius, like some of his in-laws from the Günzburger family, took part in WWI. Maybe he believed—like many of his brothers in faith—that by participating in the war, he might encourage equality for Jewish citizens.²


72: Emil Dreifuss als Soldat im Ersten Weltkrieg 72: Emil Dreifuss as a soldier in WWI 1917

Julius hatte mehr Glück als sein Schwager Jakob GünzJulius was luckier than his brother-in-law Jacob Günzburger oder die Vettern seiner Frau Rosa, Arthur und Ernst burger or the cousins of his wife Rosa, Arthur und Ernst Kaufmann.³ Nach dem Krieg blieb Julius mit seiner Familie Kaufmann.³ After the war, Julius and his family stayed in bis Ende 1920 in seinem Geburtsort Nonnenweier. his birthplace Nonnenweier until the end of 1920. 119


Jahre in Kehl

Years in Kehl

Gegen Ende der 1920er Jahre zog die Emil Dreifuss Familie nach Kehl.Sie wohnte im eigenen Haus in der Gewerbestraße 1a. Ihre Tochter Sophie heiratete 1923 mit 22, im gleichen Alter wie ihre Mutter, den 34-jährigen Kaufmann Julius Bruchsaler. Auf dem Familienbild anlässlich der Hochzeit sitzen die Brauteltern Rosa und Emil in der ersten Reihe.⁴

Towards the end of the 1920s, the Emil Dreifuss family moved to Kehl.They lived in their own house on 1a Gewerbestreet. Their daughter Sophie married 34-year-old businessman Julius Bruchsaler in 1923 at the age of 22, the same age as her mother. In the family wedding picture, the bride’s parents, Rosa and Emil, sit in the front row.⁴

Julius Bruchsaler worked as a merchant in Offenburg. Julius Bruchsaler arbeitete als Handelsmann in Offenburg. Here, his son Harry Siegfried was born on September 21, Hier wurde auch sein Sohn Harry Siegfried am 21. Septem- 1923. The business was not running successfully. A serious ber 1923 geboren. Das Handelsgeschäft lief wenig erfolgreich. chronic condition impaired Julius’ business. Julius BruchEine schwere chronische Erkrankung beeinträchtigte Julius saler died in 1932 at the age of 44. Sophie, the young widow,

73: Das Hochzeitspaar im Hintergrund. In der ersten Reihe sitzen die Brauteltern Rosa (2. von rechts) und Emil Dreifuss (3. von rechts). Links neben Emil sitzt Rosas Mutter Babette Günzburger 73: The wedding couple in the background. In the front row sit the bride‘s parents Rosa (second from right) and Emil Dreifuss (third from right) To Emil’s left sits Rosa‘s mother Babette Günzburger.

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Geschäft zusätzlich. Julius Bruchsaler starb 1932 mit 44 Jahren. Sophie, die junge Witwe, zog mit ihrem Sohn Harry in die elterliche Wohnung zu Rosa und Emil Dreifuss. Emil hatte eine kleine Kutsche, mit der er die Bauernhöfe in nächster Umgebung aufsuchte. Oft konnte sein Enkel Harry ihn dabei begleiten und bekam nach Abschluss des Handels das Trinkgeld.⁵ In Kehl blieb Harry bis 1937.

Diskriminierung – Ausgrenzung – Der Anfang vom Ende

and her son Harry moved to the home of her parents, Rosa and Emil Dreifuss. Emil would do business at the nearby farms in his carriage. Grandson Harry joined him often and would receive a tip after the business transaction was made.⁵ Harry stayed in Kehl until 1937.

Discrimination—Exclusion— The Beginning of the End

On January 30, 1933, President Hindenburg appointed Adolf Hitler as Chancellor—a decision that would have Am 30. Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg drastic consequences, especially for Germans of Jewish Adolf Hitler zum Reichskanzler. Eine Entscheidung, die ins- faith. The Nazis immediately began to force Jews out of besondere für Deutsche jüdischen Glaubens einschneidende societal life. With unprecedented severity, they pursued Konsequenzen nach sich ziehen sollte. Die Nazis begannen their endeavors such as the boycott of Jewish businesses sofort, Juden aus dem gesellschaftlichen Leben zu drängen. and prohibitions for officials of Jewish faith. Overall, the Mit beispielloser Härte verfolgten sie ihre Maßnahmen wie overwhelming majority of the Jewish population did not den Boykott jüdischer Geschäfte und Berufsverbote für Be- break out in panic. It was primarily left-wing intellectuals amte jüdischen Glaubens. Im Großen und Ganzen brach bei and artists, who left the country within the first months of der überwältigenden Mehrheit der jüdischen Bevölkerung January 1933. aber keine panische Angst aus. Es waren in erster Linie linke For Jewish children, changes were noticeable immediIntellektuelle und Künstler, die in den ersten Monaten nach ately. In many cases, the nice neighborly atmosphere enJanuar 1933 das Land verließen. ded abruptly. From one day to the other, they lost their Für die jüdischen Kinder war die veränderte Lage sofort long-time friends; relationships torn overnight.⁶ Jewish spürbar. In vielen Fällen endete die nette nachbarschaft- students were no longer given awards. The new “Erzieliche Atmosphäre abrupt. Von einem Tag auf den anderen hungsgesetz” (Education Act) of 1933 was to reduce the 121


verloren sie ihre langjährigen Freunde, Beziehungen rissen über Nacht ab.⁶ Auszeichnungen durften an jüdische Schüler nicht mehr verliehen werden. Mit dem neuen Erziehungsgesetz von 1933 sollte der Anteil der „nicht-arischen“ Schüler reduziert werden. Das schloss Tausende Schüler vom Unterricht aus und zwang sie in ad hoc gebildete jüdische Schulen. Wie war die Situation in Kehl? Harry Bruchsaler, Enkel der Rosa Dreifuss, erzählte später, welche Folgen er aus der NS-Machtübernahme unmittelbar zu spüren bekam.⁷ Auf Weisung des Lehrers musste er sich sofort in die hinterste Bank setzen. Neben ihm saß ein Junge aus dem Elsass, der wegen seiner krausen Haare und seines dunklen Teints auch nicht als „reinrassig“ angesehen wurde. Auf dem Weg nach Hause wurden die beiden von HJ-Jungen angepöbelt und der Junge mit den krausen Haaren sogar verprügelt. Ihn hielt man aufgrund seines Aussehens für einen „Juden“, Harry mit den blonden Haaren konnte nur ein „Arier“ sein.⁸ Harry verließ Deutschland nicht vor 1938. Seine Mutter Sophie entschied schweren Herzens, ihren Sohn nach Palästina über die „Jugend-Aliah“ auswandern zu lassen. Mutter und Großeltern verabschiedeten sich im August 1938 von Harry. Sie sollten sich nie mehr wiedersehen.

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number of “non-Aryan” students. This excluded thousands of students from school and forced them into quickly formed Jewish schools. What was the situation in Kehl? Harry Bruchsal, grandson of Rosa Dreifuss, later reported on the consequences he noticed directly after the Nazi takeover.⁷ The teacher ordered him to immediately sit in the last row. Beside him sat a boy from the Alsace, who because of his curly hair and his dark complexion was not considered “purebred”. On the way home, the two were mobbed by Hitler Youth and the boy with the curly hair was even beaten. He was thought to be a Jew because of his appearance. Harry was not beaten apparently because his “blond hair” gave him an „Aryan“ appearance.⁸ Harry did not leave Germany until 1938. His mother Sophie decided with a heavy heart to let her son emigrate to Palestine via the “Jugend-Alijah”. Mother and grandparents said good-bye to Harry in August 1938. They would never see each other again.


74: Das letzte Bild von Rosa. Enkel Harry nahm Abschied vor der Ausreise nach Palästina im Jahr 1938. Enkel Harry, Mutter Sofie (hinten). Rosa und Emil Dreifuss 74: The last picture of Rosa. Grandson Harry saying goodbye before his journey to Palestine in 1938. Grandson Harry, mother Sofie (back row), Rosa and Emil Dreifuss

Tod in Gurs – Opfer des Nazi-Terrors

Death in Gurs—Victims of Nazi Terrors

Zwei Jahre und zwei Monate nachdem Rosa und Emil von ihrem Enkel und Sophie von ihrem Sohn Abschied genommen hatten, geschah das Unfassbare. Rosa Dreifuss, ihr Mann Emil, Tochter Sophie und Julius’ Schwester Fanny wurden Opfer der Wagner-Bürckel-Aktion, der Deportation von über 6.500 Deutschen jüdischen Glaubens.⁹ In der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1940, am Abschluss des jüdischen Laubhüttenfests, wurden sie aufgefordert, sich innerhalb kurzer Zeit (30 Minuten bis 2 Stunden) reisefertig zu machen. Sie wurden aus ihren Wohnungen getrieben

Two years and two months after Rosa and Emil said goodbye to their grandson and Sophie to her son, the unthinkable happened. Rosa Dreifuss, her husband Emil, daughter Sophie and Julius’ sister Fanny were victims of the Wagner-Bürckel campaign, the deportation of over 6,500 Germans of Jewish faith.⁹ During the night between October 21 and 22, 1940, at the conclusion of the Jewish Feast of Tabernacles, they were told to be ready for travel within a short time (30 minutes to 2 hours). They were driven out of their apartments and transported by coach 123


und mit Omnibussen abtransportiert. Der Befehl zur Deportation betraf alle „transportfähigen Volljuden“ vom Kind bis zum Greis, schließlich waren es 6.504 Deutsche jüdischer Herkunft. Gestattet war lediglich die Mitnahme von 50 Kilo Gepäck und eine Barschaft von 100 Reichsmark.¹⁰

and bus. The command for deportation was for all „transportable full Jews“ from child to old man; in the end, there were 6,504 Germans of Jewish origin. They were allowed to take only 50 kilos of luggage and 100 Reichsmark in cash.¹⁰

75: Oktober 1940. Abtransport mit Zuschauer 75: October 1940. Removal with spectators

Sieben Eisenbahnzüge aus Baden und zwei Züge aus der Pfalz fuhren mit den Deportierten über Chalon-sur-Saône ins unbesetzte Frankreich. Die Fahrt über Avignon und Toulouse dauerte drei Tage und vier Nächte, bis die Vertriebenen schließlich am Fuße der Pyrenäen in Oloron-Sainte-Marie auf Lastwagen verladen und die meisten in das französische Internierungslager Gurs am Rande der Pyrenäen gebracht 124

Seven trains from Baden and two trains from the Palatinate took the deportees over Chalon-sur-Saône to unoccupied France. The drive over Avignon and Toulouse took three days and four nights; finally the displaced crowd was loaded onto trucks at the foot of the Pyrenees in Oloron-Sainte-Marie and most were placed in the French internment camp Gurs on the edge of the Pyrenees. Some


wurden. Bereits auf der Reise waren einige ältere Menschen aufgrund der Strapazen gestorben. Am 23. Oktober meldete Gauleiter Wagner nach Berlin, sein Gau sei als erster Gau des Reiches „judenrein“. Das Internierungslager war auf die neu ankommenden etwa 6.000 Deportierten völlig unvorbereitet. Durch die schlechte Versorgungssituation, die katastrophalen hygienischen Zustände, Regen und Kälte starben viele Deportierte bald nach ihrer Ankunft in Gurs. Rosas Todesdatum wurde mit dem 20. Dezember 1940 angegeben. Ihre Schwägerin Fanny starb am 14. Januar 1941 im Alter von 55 Jahren. Emil konnte das Lager über eine Hilfsorganisation schwer erkrankt verlassen. Er verstarb, ohne noch einmal zu gesunden, in einem Pariser Hospiz am 6. Dezember 1943. Sophie Bruchsaler wurde am 10. August 1942 von Gurs nach Auschwitz deportiert und dort umgebracht.¹¹

older people already died during the trip due to the harsh conditions. On October 23, “Gauleiter” Wagner reported to Berlin that his district in Germany was “free of Jews”. The internment camp was completely unprepared for the newly arriving 6,000 deportees. The lack of provisions, the disastrous hygienic conditions, rain and cold killed many deportees soon after their arrival in Gurs. Rosa’s date of death was specified as December 12, 1940. Her sister-in-law Fanny died on January 14,1941 at the age of 55. Emil was able to leave the camp through a charity organization due to his sickness. He died, without ever regaining his health, at a Paris hospice on June 12, 1943. Sophie Bruchsal was deported on October 8, 1942 from Gurs to Auschwitz and killed there.¹¹

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76: Das Lager in Gurs 76: The camp in Gurs

77: Grabstein von Rosa Dreyfuss. 77: Gravestone of Rosa Dreyfuss

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Julius Dreifuss’ Flucht nach Palästina

Julius Dreifuss’ Escape to Palestine

78: Julius Dreifuss, enger Mitarbeiter von Martin Kaufmann ab 1923 78: Julius Dreifuss, a close colleague of Martin Kaufmann since 1923

Rosas Sohn Julius Dreifuss hatte eine Banklehre in der Mannheimer Commerzbank absolviert. Als junger Mann stieß er zu der Kehler Firma von Martin Kaufmann, einem Neffen seiner Großmutter Babette.¹² Nach seiner Flucht nach Palästina im Jahr 1937 gründete Julius zusammen mit Martin Kaufmann und anderen in Tel Aviv eine Mühle, die sich auf die Verarbeitung von Haferflocken und Graupen konzentrierte¹³. Dort empfing er seinen Neffen Harry Bruchsaler, der seinen Vornamen in Arie änderte. Julius fügte seinem römischen Vornamen den hebräischen Vornamen Joseph zu und nannte sich nun Joseph Julius.

Rosa’s son Julius Dreifuss had completed an education as a bank clerk at the Mannheim Commerzbank. As a young man, he joined the company in Kehl of Martin Kaufmann, a nephew of grandmother Babette.¹² After escaping to Palestine in 1937, Julius together with Martin Kaufmann and others in Tel Aviv founded a mill that focused on processing oats and barley.¹³ There he received his nephew Harry Bruchsaler, who changed his prename to Arie. Julius added the Hebrew name Joseph to his Roman name and was now known as Joseph Julius. 127


79: Joseph Julius Dreifuss und seine Frau Margot, geb. Schwarz am Hochzeitstag 1940 79: Joseph Julius Dreifuss and his wife Margot,née Schwarz at the wedding day in 1940

Um 1937 waren einige unserer Verwandten in Tel Aviv angekommen. Neben dem o. g. Joseph Julius Bruchsaler war Lotte Günzburger, Tochter von Ernst Günzburger aus Mannheim in Tel Aviv. Lotte hatte 1936 Arnold lehmann aus Bamberg geheiratet. Erna Günzburger, Tochter von Julius Günzburger war ebenfalls dort. Wir wissen nicht, ob die Verwandten in Tel Aviv Kontakt miteinander hatten.¹³

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By 1937, some of our relatives had arrived in Tel Aviv. In addition to the above-mentioned Joseph Julius Bruchsaler, Lotte Günzburger, daughter of Ernst Günzburger from Mannheim, arrived in Tel Aviv. Lotte married Arnold Lehmann from bamberg in 1936. Erna Günzburger, daughter of Julius Günzburger, was also there. That secured her residency. We do not know whether the relatives in Tel Aviv were in contact with her.¹³


Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4)

http://www.alemannia-judaica.de/nonnenweier_synagoge.html Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Julius. Kruse, R. (2007): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau – Unternehmer in Kehl. Kehl. Details zu Bruchsaler usw. : Günzburger, B. (Hrsg.) (2013): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau Unternehmer in Kehl. Auszug aus Kehler Familiengeschichten Bd2 (2007) Text von Kruse, R. Details about Bruchsaler etc: Günzburger, B. (Hrsg.) (2013): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau Unternehmer in Kehl. Excerpt from Kehler Familiengeschichten Bd2 (2007) Text from Kruse, R. 5) Mitteilung von Arie (Harry) 10 / 2014. Report from Arie (Harry) 10 / 2014. 6) Siehe Berichte der Kinder in den anderen Kapiteln. See reports of the children in other chapters. 7) Peter, F.: In Rosenthal, N. (2007): Hagada des 20. Jahrhunderts Kehl. 8) Siehe Endnote 4. Dort auch die Geschichte von Harry Bruchsaler und seiner Familie nach 1938. See endnote 4. Also references the story of Harry Bruchsaler and his family after 1938. 9) http://de.wikipedia.org/wiki/Wagner-B%C3%BCrckel-Aktion 10) http://mahnmal.kja-freiburg.de/ 11) Foto vom Grab von Emile Vallès, ehemaliger Präsident der Amicale du camp de Gurs 12) S.o. Endnote 3 zu Bruchsaler. See above endnote 3 about Bruchsaler. 13) Siehe Kapitel Ernst Günzburger; dort Abschnitt Arnold Lehmann. See Chapter Ernst Günzburger; paragraph Arnold Lehmann. 14) Siehe Kapitel Julius Günzburger. Dort Details zur Problematik der Auswanderung nach Palästina. See Chapter Julius Guenzburger; Details. 129


Michael Günzburger (1878–1937)

80: Michael im Alter von 47 Jahren. 80: Michael at the age of 47 years.

Michael war das dritte Kind der Eheleute Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette, geb. Kaufmann. Er wurde am 31. Juli 1878 in Emmendingen geboren. Als sein Vater Israel Samuel starb, war Michael 15 Jahre. Nach Abschluss der Schule wählte er eine kaufmännische Ausbildung. Wo und in welchem Betrieb konnten wir nicht fest130

Michael was the third child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette, née Kaufmann. He was born on July 31, 1878 in Emmendingen. Michael was 15 years old when his father died. After graduating, he chose a business education. We do not know where and with which company. The siblings of his mother Babette were suc-


stellen. Die Geschwister seiner Mutter Babette agierten als erfolgreiche Kaufleute im Getreide- und Mehlhandel in Kehl.¹ Das mag Michaels Berufswahl beeinflusst haben. Bereits vor 1901 zog er als Kaufmann nach Mannheim. Ab 1901 wohnte er bis zur Heirat am 28. Juli 1904 in F3, 13a bei Kraus. Mehrere Günzburger aus Emmendingen folgten Michael nach Mannheim. Bruder Ernst, Vetter Siegfried, Vetter Franz wohnten zeitweise dort und ein Myrtill Günzburger, der mit 28 Jahren verstarb. Myrtills Grab befindet sich auf dem neuen Friedhof Emmendingen.

cessful businessmen in Kehl, selling grain and flour.¹ That may have influenced Michael’s career choice. Even before 1901, he moved to Mannheim as a businessman. From 1901 until his wedding on July 28, 1904, he lived in F3, 13a at family Kraus. Multiple Günzburgers from Emmendingen followed Michael to Mannheim. His brother Ernst, cousin Siegfried, and cousin Franz lived there for some time as well as a certain Myrtill Günzburger who died at age 28. Myrtill’s grave is located at the new cemetery in Emmendingen.

Mannheimer Tage

Mannheimer Days

Michaels Frau Bertha stammte aus der Mannheimer Linie der Familie Richheimer. Sie war eine Tochter von Ferdinand Richheimer, dem späteren Geschäftspartner von Michaels jüngerem Bruder Hugo Günzburger, mit dem Ferdinand 1910 die Zigarrenfabrik „Günzburger & Co.“ gründete.² Über 25 Gräber auf dem jüdischen Friedhof der Stadt weisen auf die Bedeutung dieser Familie für die jüdische Gemeinde Mannheims hin. Michael und Bertha heirateten dort 1904. Vielleicht hatten die späteren Geschäftspartner Hugo Günzburger und Ferdinand Richheimer bei der Hochzeitsfeier der beiden zum ersten Mal Kontakt aufgenommen. Die Familie Michael Günzburger wohnte zuerst am Luisenring 2, nicht weit von den Großeltern entfernt. Dort wurde das erste Kind der jungen Familie, Sohn Fritz,

Michael’s wife Bertha came from the Mannheimer line of the Richheimer family. She was a daughter of Ferdinand Richheimer, later the business partner of Michael’s younger brother Hugo Günzburger, with whom Ferdinand founded the cigar factory “Günzburger & Co” in 1910.² More than 25 tombs found at the town’s Jewish cemetary hint at the importance of this family in the Jewish community of Mannheim. Michael and Bertha married there in 1904. Maybe the later business partners Hugo Günzburger and Ferdinand Richheimer first got in contact at the wedding. The Michael Günzburger family first lived at 2 Luisenring, not far from their grandparents. There, the first child of the young couple, son Fritz, was born on November 8, 1906. Daughter Lili followed two years later 131


81: Michael und Bertha 1904. 81: Michael and Bertha in 1904.

am 8. November 1905 geboren. Tochter Lili folgte zwei Jah- on June 27, 1908. Late comer Greta came into the world re später am 27. Juni 1908. Eine Nachzüglerin war Greta, die on June 29, 1920, a good month after the 70th birthday of am 29. Juni 1920 zur Welt kam, gut einen Monat nach dem grandmother Babette.³ 70. Geburtstag ihrer Großmutter Babette.³ 132


1906 wird Michael als Prokurist im Adressbuch von Mannheim erwähnt. 1912 besaß er eine eigene Firma mit dem Namen „Michael Günzburger“ für Getreide- und Futterartikel, die in der Börse im Viertel E4 untergebracht war. Mit seinem Onkel Joseph und Onkel Sigmund aus Kehl gründeten er und andere in den 1920ern eine AG für Mehlhandel.⁴ Die Töchter Lili und Greta erinnerten sich später, dass Michael an der Warenbörse in Mannheim arbeitete. Wie seine Brüder Hugo und Jakob wurde Michael im ersten Weltkrieg eingezogen. Er war in Rumänien an der Ostfront eingesetzt. Währenddessen musste sich die Familie in Mannheim bei Bombenangriffen im Luftschutzbunker zurückziehen. Über 100 Luftangriffe wurden auf Ziele in Baden 1916 von den Alliierten geflogen, davon zwölf Angriffe auf Mannheim, bei denen es neun Opfer zu beklagen gab. Lili schilderte ihre Kriegserlebnisse als Kind eindrucksvoll in ihren Memoiren. Die Familie Günzburger in Mannheim führte bis zu Beginn der Nazi-Zeit das Leben einer zwar nicht vermögenden aber wohlhabenden Mittelstandsfamilie. Sie pflegten einen engen Kontakt zu den Schwiegereltern Malchen und Ferdinand Richheimer, die nur ein paar Häuserblocks entfernt wohnten. Sonntägliche Ausflüge, Kuraufenthalte und Fahrten zu den Verwandten nach Emmendingen, Kehl, Straßburg, Hemsbach und St. Blasien gehörten zum Familienleben. Der Günzburger Clan pflegte einen regen Austausch.⁵

Michael Günzburger is listed as managing director in a 1906 Mannheim directory. In 1912, he owned a company under his own name selling grain and feed, which was categorized in section E4 in the stock exchange. With his uncle Jospeh and uncle Sigmund from Kehl as well as with others, he founded the “AG für Mehlhandel”.⁴ Daughters Lili and Greta later remembered that Michael worked at a commodity exchange in Mannheim. Michael was drafted like his brothers Hugo and Jakob. He was stationed in Romania at the Eastern front. In the meantime, the family in Mannheim had to hide from bombings in an air raid shelter. More than 100 air raids of the allies were targeted towards Baden in 1916, twelve of which were towards Mannheim, claiming nine victims. Lili describes her childhood memories of the war in detail in her memoirs. The Günzburgers in Mannheim lived a prosperous though not wealthy middle class life until the beginning of the Nazi era. They were in close contacts with their inlaws Malchen and Ferdinand Richheimer who only lived a few blocks away. Sunday excursions, spas, and travel to relatives in Emmendingen, Kehl, Strasbourg, Hemsbach and St. Blasien were part of family life. The Günzburger clan was in close communication.⁵

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Von 1933 bis zur Flucht nach England

From 1933 until the Escape to England

Schon 1933 verbot der damalige Oberbürgermeister Carl Renninger (NSDAP) die Auftragsvergabe an jüdische Firmen.⁶ Jüdische Dozenten der ansässigen Handelshochschule wurden beurlaubt, das Mannheimer Nationaltheater entließ jüdische Schauspieler und jüdischen Ärzten wurde die Kassenzulassung entzogen. Viele Familien emigrierten ins Ausland, insbesondere in die USA. Nach der Verwüstung der drei Mannheimer Synagogen 1939 wurden 1940 rund 2.000 und damit fast alle verbliebenen Juden nach Gurs deportiert. Die meisten wurden von dort in die deutschen Konzentrationslager im besetzten Polen verschleppt und ermordet.⁷ Mit dem Auftauchen der Nazis fand die oben geschilderte Idylle ein abruptes Ende. Gerade die Kinder spürten als erste die Ausgrenzungen in einer antisemitisch ausgerichteten Welt. Ähnlich wie ihre Kusine Lore aus Emmendingen war Greta angewidert von diesen Ausgrenzungen.⁸ Während Lili und ihr Mann Hugo Grumbach in Deutschland keine Zukunft mehr sahen und ihrem Bruder Fritz (Fred) nach England folgten, blieben Michael und seine Frau Bertha in Mannheim zurück. Wie in vielen jüdischen Familien gab es auch bei den Günzburger in Mannheim keine einheitliche Beurteilung der Gefahren, die von Hitler und den Nazis ausgingen. Greta beschloss, ihrer Schwester von Mannheim nach England zu folgen. Ihren Vater Michael traf sie 1936 zum letzten Mal in England. Zu seiner Beerdigung im Jahr 1937 konnte sie nicht 134

As early as 1933, mayor Carl Renninger (NSDAP) forbade contracts with Jewish companies.⁶ Jewish lecturers at the local business school were put on leave, the Mannheim theater let Jewish actors go, and Jewish doctors went without health insurance. Many families emigrated to other countries, especially the USA. After the destruction of the three Mannheimer synagogues in 1939, about 2,000—so practically all—Jews were deported to Gurs in 1940. From there, most of them were transported to German concentration camps in occupied Poland and killed there.⁷ The emergence of the Nazis put an abrupt end to the idyllic life described above. The children especially were the first to sense the marginalization in an anti-Semitic world. Like her cousin Lore from Emmendingen, Greta was disgusted by this marginalization.⁸ While Lili and her husband Hugo Grumbach no longer saw a future in Germany and followed their brother Fritz (Fred) to England, Michael and his wife Bertha stayed in Mannheim. Like in many Jewish families, the Günzburgers were not united in their estimation of the danger of Hitlers and the Nazis. Greta decided to follow her sister from Mannheim to England. She saw her father Michael for the last time in England in 1936; he died suddenly the next year, but she was unable to return to Germany for his funeral. In Manchester, Greta learned English quickly, and graduated from high school


mehr nach Deutschland zurückkehren. Sie behauptete sich im englischen Exil, lernte schnell die Sprache und absolvierte 1938 die High-School. Eine Arbeitserlaubnis erhielt sie nicht, weil sie von ihren Verwandten – Schwester Lilli und Schwager Hugo Grumbach – unterstützt wurde. 1938 reisten alle drei nach Amerika, wo Greta ihren späteren Mann Paul Friedhoff kennenlernte, den sie 1941 heiratete.

in 1938. She did not receive a work permit because she was supported by her relatives, sister Lili and brother-in-law Hugo Grumbach. In 1938, the three of them moved to America where Greta met her future husband Paul Friedhoff, whom she married in 1941. In the case of the Michael Günzburger family, we are fortunate to have the memories of daughter Lili and daughter Greta.⁹

Im Fall der Familie Michael Günzburger haben wir das große Glück, uns auf die Lebenserinnerungen seiner Tochter Lili und seiner Tochter Greta stützen zu können.⁹

Lili’s memoirs

Lilis Memoiren

Memories of Mannheim

Erinnerungen an Mannheim „Mein Geburtsort war Luisenring 2, nicht weit entfernt von der Wohnung meiner Großeltern in C7, 7b.¹⁰ Von dort zogen wir in ein moderneres Viertel nach M7, 9a. Auf der Rückseite des Hauses war ein großes Autoverkaufshaus und die Landmanns Lithografie Fabrik. Es war großartig für uns, die Bilder zu bekommen, die man auf Dosen oder auf Zigarrenkisten klebte. Die Jahre dort waren glücklich und meine Eltern hatten gute Freunde. Das Apartment war geräumig und hatte einen Balkon, den ich liebte. Mutter Bertha ging täglich zu ihren

“My birthplace was Louisenring 2, not far from where my grandparents lived in C7, 7b.¹⁰ From there we moved to more modern quarters in M7, 9a. In back of it was a big car sales shop and the Landmanns’ factory, Lithographie. It was terrific for us to get these pictures that one puts on cans and cigar boxes. The years were happy there and my parents had good friends. The apartment was spacious and had a balcony I liked. Mother [Bertha] walked daily to her parents, especially since she loved her father. He heard her come when she whistled. Saturdays we usually went to synagogue 135


82: Lili vor dem Elternhaus in Mannheim. 82: Lili in front of her parents’ house in Mannheim.

Eltern, zumal sie ihren Vater liebte. Er hörte sie kommen, wenn sie pfiff. Samstags gingen wir normalerweise zur Synagoge und trafen uns alle hinterher, auch Ullmans und Landmanns, meist bei meinen Großeltern. Als der Krieg [1. Weltkrieg, 1914–1918] ausbrach, ging es uns schlecht. Sobald wir die Flugzeuge hörten, mussten wir in den Keller gehen. Glücklicherweise waren wir eine kleine Gruppe Menschen mit Humor, besonders Willem Landmann, der Paulche Lussheimer liebte und froh war, sie auf diesem Weg zu treffen. Wir wohnten zwischen ihnen und 136

and we all assembled afterwards, Ullmans and Landmanns as well, mostly at the grandparents. When war [WWI] broke out, it got bad. As soon as we heard the airplanes, we had to go down to the cellar. Luckily, we were quite a few people with humor, especially Willem Landmann, who loved Paulche Lussheimer and was glad to meet her this way. We lived in between and mother was the cupid. I looked pale and frightened and wore a green knit coat in the cellar and they called me Froschle [little frog]. Father had to go to Romania. He could send big boxes of flour, etc. and Fritz and


Mutter versuchte, sie zu verkuppeln. Ich sah blass und erschrocken aus und trug einen grünen Strickmantel im Keller und sie nannten mich ‚Fröschle‘! Vater musste als Soldat nach Rumänien. Er konnte große Pakete mit Mehl etc. schicken, und Fritz und ich holten sie am Bahnhof mit dem Leiterwagen ab. Dann begannen wir, den Sommer mit der Familie Wipfler aus Neckarsteinach zu verbringen, und das war himmlisch. Fritz und ich wanderten nach Dielsberg, um frische Milch zu holen. Mutter brachte uns bei, im Neckar auf einem selbstgemachten Floß zu schwimmen. Dann kam Vater nach Hause. Er war ganz verlaust und sah schlecht aus. Eine Ferienzeit verbrachten wir mit ihm über Passah 1919 in Homberg. Da wurde Fritz [später Fred] mit Lungenentzündung todkrank, und das Hotelpersonal betete für ihn. Er erholte sich nach einer Krise. Das war der Augenblick, in dem die Eltern sich zu einem weiteren Kind entschlossen – Schwester Greta. Bevor sie geboren wurde, sah Mutter sehr dick aus, saß auf ihrem Balkon an meinem Geburtstag und wünschte sich, Greta würde kommen. Als das Baby ankam, bekam ich eine kleine Feier. Wir alle waren glücklich. Ich sagte: ‚Ich gehe nie alleine aus, ich habe jetzt eine kleine Schwester.‘ Aber in Mari-

I went to get them at the train station with a ‘Leiterwagen’ [small wooden wagon]. Then we started to spend the summers with the Wipfler family in Neckarsteinach and this was heavenly. Fritz and I walked up to Dilsberg to get fresh milk. Mother taught us how to swim in the Neckar on some self-made raft. Then father came back home but all louse-ridden and looking bad. One vacation time was spent with him, then in Homburg over Passover, and this is when Fred got deadly sick with pneumonia and the hotel prayed for him and he recuperated after a crisis. This is when they promised each other another child that was Greta! Before she was born, mother looked very heavy, sat on her balcony on my birthday and wished she would come. When the baby arrived, I had a little party. We all were happy. I said: I never go out alone, I have a baby sister now. But in Marienbad I wished sometimes I could have gone out alone. In between, Aunt Nanny had her divorce [ from Alfred Odenheimer], which was terrible, especially for Grandma [Malchen], and she had to live for the year with us. She got her room and phone and, since she had Fredl [Braun] already, there was lots going on. 137


enbad hätte ich mir manchmal gewünscht, ich hätte allein ausgehen können. Inzwischen war Tante Nanny von Alfred Odenheimer geschieden. Das war furchtbar, besonders für Großmutter [Malchen], und Nanny musste für Jahre mit uns leben. Sie bekam ihr Zimmer und Telefon, und da sie schon ihren Partner Fredl [Braun] hatte, war einiges bei uns los. Jahre vergingen irgendwie für mich mit Schule und Radfahren. Als ich in St. Blasien wohnte, kamen die Eltern gerne mit Gretel und machten Ferien und Wanderungen dort.¹¹ Aber dann trafen wir uns in Karlsruhe, um ihnen mitzuteilen, wir würden das Land verlassen und besonders Vater konnte das nicht verstehen. Er dachte, wir wären sicher, dort wo wir waren. 1936 war Vaters letzter Sommer in England, bevor er mit Bertha nach Hause ging, um uns alle zu verlassen. [Michael starb im Juni 1937.] Die Mutter kam nach diesem Sommer [1937] zurück, vollkommen in schwarz gekleidet und schrecklich unglücklich. Am schlimmsten war es am Neujahrsabend, als wir Freunde da hatten, und die arme Mutter die Kontrolle über ihre Nerven verlor. Später fand sie wieder zu sich und konnte weiterleben, zumal Großmutter Malchen noch versorgt werden musste. 138

Years went on with school and bicycle for me anyway. When I lived in St. Blasien, the parents loved to come with Gretel and had vacation and walks there.¹¹ But then we met in Karlsruhe to tell them we would leave the country and especially father could not understand and figured we would be safe where we were. Well, at least they could always come and visit. And 1936 was father’s last summer in England before he went home to leave us all. Mother came back that summer, dressed completely in black and awful unhappy. The worst was one New Year’s Eve when we had friends in and poor Mother lost control of her nerves. Later she found herself and could go on living, especially since Grandmother (Malchen) was still to be considered. But then the ‘Kristallnacht’ and all her belongings were thrown out of the window. I met the two in Holland. Tillburg was ice cold. The Weils luckily had an apartment and kosher meal for them and later they went to the USA and Lien Street [Toms River, NJ] and Gustav [Hugo’s father] lived with them.¹² Well, this is part of what I remember right now. And the time when we were in Strasburg to get Gretel and what a heartbreak it must have been for them to let her go.”


Aber dann kam die ‚Kristallnacht‘, und all unser Besitz wurde aus dem Fenster geworfen. Ich traf die beiden in Holland. Tilburg war eiskalt. Die Weils hatten glücklicherweise ein Apartment und für sich koscheres Essen und sie gingen später in die USA nach Toms River, Liens street und Gustav (mein Schwiegervater) lebte mit ihnen.¹² Nun, das ist der Teil, an den ich mich im Moment erinnere. Und die Zeit, als wir in Straßburg waren, um Gretel abzuholen und was für ein Herzschmerz es ( für meine Eltern) gewesen sein muss, sie gehen zu lassen.“

Lili und Ludwig Topf Mit Lilis Hilfe schrieb Gretas Mann Paul Friedhoff 1995 die folgenden Zeilen.¹³ Gretas Mutter hatte ein schlimmes Knie und der Arzt empfahl ihr, nach Marienbad zu gehen, um in den berühmten Bädern einzutauchen und die „Wasser“ zu trinken. Marienbad war ein Bad in der Tschechoslowakei, wo die „Society“ hinging, um ihre Krankheiten und Schmerzen zu heilen. Gretel, wie sie damals genannt wurde, war gerade sechs Jahre alt und begleitete ihre Eltern und ihre 18-jährige Schwester Lili. Sie war eine Schönheit in ihrem Bekanntenkreis in Mannheim und es brauchte nicht viel Zeit, bis man sie in Marienbad wahrnahm. Ein Foto in schwarz-weiß zeigte sie

Lili and Ludwig Topf With help from Lili, Greta’s husband Paul Friedhoff wrote this article in 1995.¹³ Greta’s mother had a bad knee, and the doctor recommended that she go to Marienbad to soak in its prestigious baths and drink “the waters.” Marienbad was a famous spa in Czechoslovakia where society went to heal its aches and pains. Gretel, as she was known then, just 6 years old, accompanied her parents and her sister Lili, 18. Lili was the beauty in her circle of friends in Mannheim, and it didn’t take long until she was noticed in Marienbad. A blackand-white photo shows her in a sporty suit with a fox fur around her shoulders, the tail hanging over one shoulder and the head over another. Her hair jauntily covers her forehead. Standing next to her in the photo is a well-dressed young man. He wears a broad-rimmed hat—fashionable in those days—and a two-button suit with a handkerchief tucked into his breast pocket. He is handsome and impeccably groomed. They were a stunning couple. The young man was Ludwig Topf, part-owner of the company J. A. Topf & Söhne in Erfurt in the eastern part of Germany. He told Lili they had a heating manufacturing company and were most successful. His appearance and the fact that he stayed in the most expensive hotel bore it out. Lili learned that Ludwig had 139


83: Lili und Ludwig Topf in Marienbad 1926. 83: Lili and Ludwig Topf in Marienbad 1926.

in einem sportlichen Mantel mit einem Fuchspelz um ihre Schultern, der Fuchsschwanz hing über der einen Schulter und der Kopf über der anderen. Ihr Haar bedeckte munter ihre Stirn. Neben ihr auf dem Foto war ein gut angezogener junger Mann. Er trug einen breit umrandeten Hut – modisch in der Zeit – und einen Anzug mit zwei Knöpfen und einem Taschentuch, versteckt in seiner Brusttasche. Er war schön und tadellos gepflegt. Sie waren ein atemberaubendes Paar. Der junge Mann war Ludwig Topf, Teilhaber der Gesellschaft J. A. Topf & Söhne in Erfurt aus Ostdeutschland. Er erzählte 140

come to the spa with a nurse to recover from an automobile accident. He and Lili had met in the Kurgarten where Marienbad visitors gathered to listen to the afternoon concert, watch the young people dance and eat all kinds of fruit pies and tarts smothered in whipped cream. Ludwig had asked Lili to dance after introducing himself to her parents and getting their permission. Soon, the two were an “item”. Ludwig would join the family every afternoon or stroll with Lili through the gar-


Lili, sie hätten eine Firma für Heizungsbau und wären sehr erfolgreich. Seine Erscheinung und die Tatsache, dass er in dem teuersten Hotel wohnte, ließen daran nicht zweifeln. Lili erfuhr, Ludwig wäre in das Bad mit einer Krankenschwester gekommen, um sich von einem Autounfall zu erholen. Er und Lili trafen sich im Kurgarten, wo Besucher sich versammelten, um das Nachmittagskonzert zu hören, junge Menschen tanzen zu sehen und um alle Arten von Obsttorten und Kuchen mit viel Sahne zu essen. Ludwig forderte Lili zu einem Tanz auf, nachdem er sich bei ihren Eltern vorgestellt und ihre Erlaubnis erhalten hatte. Bald waren die beiden ein Hingucker. Ludwig pflegte die Familie jeden Nachmittag zu besuchen oder mit Lili durch die Gärten zu spazieren. Aber niemals allein. Wenn die Familie nicht anwesend war, dann hatten sie einen ‚Aufpasser‘ – Klein Gretel. Die Familie, aufrechte Juden, wohnten in einem jüdischen Hotel. Die Eltern waren nicht glücklich über die Liaison zwischen Lili und Ludwig. Er war schließlich kein Jude und kam aus der ‚High Society‘. Sie müssen Lili gesagt haben, dass eine dauernde Verbindung nicht in Frage käme, aber das hielt Lili nicht davon ab, Ludwig jeden Tag zu sehen. Gretel war immer im Schlepptau mit der strikten Anweisung ihrer Mutter, sie nicht aus dem Auge zu lassen. Lili wurde nur erlaubt, Ludwig am Tage zu treffen. Die drei Wochen vergingen schnell und Lilis Familie kehrte nach Mannheim zurück zu ihrer täglichen Routine.

dens. But never alone. If the family wasn’t around, they had a chaperone—little Gretel. The family, observant Jews, stayed in a Jewish hotel. The parents were not happy with the attraction between Lili and Ludwig. He was, after all, not Jewish and from high society. They must have told Lili that a permanent relationship was out of the question, but it didn’t stop her from seeing Ludwig every day. Gretel was always in tow, with strict instructions from mother not to lose sight of them. Lili was allowed to meet Ludwig only in the daytime. The three weeks passed quickly and Lili’s family returned to Mannheim, back to their daily routine. The romance was over. Well, not quite. Lili corresponded with Ludwig for more than a year. Then she met Hugo on the Mannheim tennis courts in 1930. They were married and moved to St. Blasien in the Black Forest, where Hugo and his father had a department store. Lili saw Ludwig once more. Hugo had to make a business trip to Berlin and took her along. The train would be stopping in Erfurt for a short while. Lili had written Ludwig they were passing through, and he came to the railroad station to meet them. Within two years, Hitler was on the scene. Lili and her family managed to flee Germany in 1933, first to Switzerland, then to England and the United States. Marienbad and Ludwig were long forgotten until Greta and Lili, 3,000 miles separating them, both spotted the 141


Die Romanze war vorbei. Nun, nicht ganz. Lili korrespondierte mit Ludwig mehr als ein ganzes Jahr. Dann traf sie 1930 Hugo auf den Mannheimer Tennisplätzen. Sie heirateten und zogen nach St. Blasien im Schwarzwald, wo Hugo und sein Vater ein Kaufhaus führten. Lili sah Ludwig noch ein letztes Mal. Hugo musste eine Geschäftsreise nach Berlin machen und nahm sie mit. Der Zug hielt in Erfurt für eine kurze Zeit. Lili hatte Ludwig geschrieben, dass sie durch Erfurt führen und er kam zum Bahnhof, um beide zu treffen. Innerhalb von zwei Jahren war Hitler da. Lili und ihrer Familie gelang es, Deutschland 1933 zu verlassen, zuerst in die Schweiz, dann nach England und den USA. Marienbad und Ludwig waren längst vergessen bis Greta und Lili, 3.000 Meilen voneinander getrennt, beide 1994 den Los Angeles Times Artikel sichteten. Er besagte, dass ein Mitglied der Topf-Familie versuchte, die Fabrik der Familie und die Villa zurück zu bekommen, jetzt wo Ost- und Westdeutschland vereinigt und der Kommunismus dort untergegangen war. Durch den Artikel erfuhr Lili, das J. A. Topf & Söhne nicht nur Heizungsanlagen bauten, wie Ludwig ihr erzählt hatte. Die Firma hatte später die Krematorien produziert, in denen die Ermordeten von Auschwitz, Dachau und Buchenwald verbrannt wurden. Die Topfs behaupteten, dass sie nicht an den Morden teilgenommen hätten – sie produzierten die Öfen nur, um die Leichname zu verbrennen. Der Artikel verriet auch, dass Ludwig Topf, der elegante junge Mann 142

Los Angeles Times article. It said that a member of the Topf family was trying to get back the family’s factory and mansion now that East and West Germany were unified and communism there had died out. Through that article, Lili learned that J. A. Topf & Söhne had not manufactured merely heating equipment, as Ludwig had told her. It later had manufactured the crematoria that disposed of the murdered bodies at Auschwitz, Dachau and Buchenwald. The Topfs asserted that they did not take part in the murders; they made the ovens only to cremate dead people. The article also mentioned that Ludwig Topf, the dapper young man in the two-button suit, committed suicide shortly after World War II. One can only wonder what motivated him to do that. “Visitors to the Holocaust Memorial site at Buchenwald can see the ovens,” the article says, “the doors handsomely emblazoned with the name TOPF in Gothic brass letters.” The former factory lot of the Topf & Söhne company features a memorial for Jewish victims since January 27, 2011.¹⁵


im Zwei-Knopf-Anzug kurz nach dem Zweiten Weltkrieg (Ende Mai 1945) Selbstmord begangen hatte. „Besucher des Holocaust Denkmals in Buchenwald können die Öfen sehen“ sagt der Artikel „auf deren Türen der Name TOPF in Messing Buchstaben prangte“.¹⁴ Auf dem ehemaligen Fabrikgelände der Firma Topf & Söhne ist am 27. Januar 2011 eine Erinnerungsstätte für die jüdischen Opfer entstanden.¹⁵

Gretas Geschichte Mannheim „Ich wurde in Mannheim am 29. Juni 1920 geboren.¹⁶ Mein Vater Michael wollte mich Margareta nennen, aber der Standesbeamte sagte, Margareta Günzburger wäre zu lang, um in das Formular zu passen. So nannten sie mich stattdessen Gretel. Ich wurde an einem sehr heißen Tag geboren. Meine

Greta’s Story Mannheim “I was born in Mannheim, Germany, on June 29,1920.¹⁶ My father, Michael, wanted to name me Margareta but the clerk at the registration office said Margareta Günzburger was too long to fit on the form. So they named me Gretel instead. I arrived on a very hot day. My mother, Bertha, told me she was so uncomfortable that they moved her into the hospital hallway to cool off. Remember, there was no air-conditioning back then!When I was born, my brother Fritz was 13 years old and my sister Lili was 12 so I was really the baby of the family, Why did my parents want another child? The reason is that on a Passover vacation in Hamburg, Fritz got very, very sick

84: Greta im Alter von 3 Jahren. 84: Greta at the age of 3.

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Mutter Bertha erzählte mir, sie fühlte sich so unbehaglich, dass man sie in den Krankenhausflur verlegt hatte, damit sie abkühlen konnte. Man muss bedenken, dass es damals keine Klimaanlagen gab! Als ich geboren wurde, war mein Bruder Fritz 13 Jahre und meine Schwester Lili 12 Jahre alt, so war ich wahrhaftig das Baby der ganzen Familie. Warum wollten meine Eltern noch ein Kind? Der Grund dafür war, dass Fritz während eines Passah Urlaubes in Homberg sehr heftig an einer Lungenentzündung erkrankte. Sogar die Hotelangestellten beteten für ihn. Fritz erholte sich, aber zu diesem Zeitpunkt entschieden sich meine Eltern für ein weiteres Baby – für mich! […] Ich wurde ein Jahr und einen Tag nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags von Versailles, der den Krieg beendete, geboren. So sah die Welt 1920 aus, als ich geboren wurde: In den Vereinigten Staaten war Woodrow Wilson Präsident und Frauen bekamen das Recht zu wählen. In England saß King George V auf dem Thron, dessen Enkelin Elizabeth heute Königin ist. Und im Nachkriegsdeutschland übernahm ein Mann namens Adolf Hitler die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, besser bekannt als die Nazis. 144

with pneumonia. Even the hotel staff prayed for him. Fritz recuperated, but that is when my parents decided to have another baby—me! […] I was born one year and one day after a peace treaty was signed in Versailles, ending the war. Here is what the world looked like in 1920, when I was born: In the United States, Woodrow Wilson was president and women got the right to vote. In England, King George V sat on the throne; his granddaughter, Elizabeth, is queen today. And in postwar Germany, a man named Adolf Hitler took over the National Socialist German Workers Party, known better as the Nazis. Mannheim is a large city in southwest Germany, in the state of Baden-Württemberg; the Rhine and Neckar rivers meet there. We lived in a nice-sized apartment house, about five stories high. Our apartment was on the third floor and included a salon with beautiful upholstered furniture, a front balcony, a dining room, three bedrooms and two bathrooms, plus an extra room on the fifth floor where our maid could sleep. Mannheim was organized in alphabetical and numerical order. We lived at M7, 9a; my maternal grandparents lived at C7, 7b, about a 10-minute walk from our house.


85: 1922 ein Familienausflug mit: (von links) Kindermädchen Francisca, Lili, Mutter Bertha, Fritz und, Greta haltend, Vater Michael. 85: 1922 family outing with (from left) nanny Francisca, my sister Lili, my mother Bertha, brother Fritz and, holding me, my father Michael.

Mannheim ist eine große Stadt im Südwesten von Deutschland, im Bundesland Baden-Württemberg; der Rhein und der Neckar kommen hier zusammen. Wir lebten in einem schön geschnittenen Wohnhaus, ungefähr fünf Stockwerke hoch. Unsere Wohnung war im 3. Stock und enthielt ein Wohnzimmer mit schön gepolsterten Möbeln, einen Balkon, einen Essraum, drei Schlafräume und zwei Bäder und einen zusätzlichen Raum auf der fünften Etage, in dem unser Dienstmädchen schlafen konnte. Mannheim war aufgeteilt in alphanumerischer Ordnung. Wir wohnten in M7, 9a; meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in C7, 7b, etwa 10 Minuten Fußweg von unserer Wohnung entfernt. Jüdische Bräuche waren ein wichtiger Teil unseres Lebens. Wir besuchten Sabbat Gottesdienste in der schönen Hauptsynagoge. Unser Rabbi war Max Grünewald. Jahrzehnte später, als wir alle

Judaism was an important part of our lives. We attended Sabbath services at the beautiful Hauptsynagogue (main synagogue). Our rabbi was Max Grünewald. Decades later, when we were all refugees in the United States, he married Paul and me in New York; and more decades later, he married our daughter Lynn and her husband David Feigenbaum. As a child in Mannheim, I remember that on Saturday afternoons, after services, we often had Shabbat dinner with my Oma Malchen and Opa Ferdinand, my mother’s parents. The table was always set beautifully. A typical dinner was salad, pot roast, potatoes and vegetables, and fruit for dessert. Later in the afternoon, we would have one of Oma Malchen’s special cakes—Apfelkuchen (apple cake), Zwetschekuchen (plum 145


Flüchtlinge in den Vereinigten Staaten waren, traute er Paul und mich in New York; und weitere Jahrzehnte später traute er unsere Tochter Lynn und ihren Mann David Feigenbaum.

cake)—whatever was in season; she was a good baker. Opa Ferdinand had a cute white beard; he had a distillery in Mannheim that sold liquor and cigarettes.

Als Kind in Mannheim erinnere ich mich, dass wir oft samstags nachmittags nach dem Gottesdienst Sabbat Essen bei meiner Oma Malchen und meinem Opa Ferdinand, den Eltern meiner Mutter, hatten. Der Tisch war immer wunderschön gedeckt. Ein typisches Essen war Salat, Bratkartoffeln und Gemüse und Obst zum Nachtisch. Später am Nachmittag gab es Oma Malchens speziellen Kuchen – Apfelkuchen, Zwetschgenkuchen – was immer es in der Saison gab; sie war eine gute Bäckerin. Opa Ferdinand hatte einen niedlichen weißen Bart; er hatte eine Brennerei in Mannheim, die alkoholische Getränke und Zigaretten verkaufte.

My education in Mannheim began with a private kindergarten run by Herr Stiefel. After that, from first to fourth grade, I went to a Volkschule, a public elementary school. First I went to the Elizabeth-Schule but then I transferred to a better school, the Liselotte-Schule. After that I went to Hochschule, high school. (Gymnasium was a high school for students going on to college to study law, medicine or other professions.) Boys and girls were together in class. I was an average student. We studied Latin, French, history, arithmetic and science. Two or three afternoons a week, we had religion classes in the school. Christian students went to Christian classes and we Jewish students went to our own classes. For Hebrew lessons, we had classes with the rabbi. Mannheim had beautiful parks and my parents often took me there. We would have coffee and cake in a restaurant and meet friends. The Luisenpark had a playground where we could swing and climb. In the winter, there was a skating rink; we had plenty of snow in

Meine Ausbildung in Mannheim begann in einem privaten Kindergarten, geführt von Herrn Stiefel. Danach ging ich von der ersten bis zur vierten Klasse in die Volksschule, eine öffentliche allgemeine Schule. Zuerst besuchte ich die Elizabeth-Schule, aber dann wechselte ich auf eine bessere Schule, auf die Liselotte-Schule. Danach kam ich zum Gymnasium. (Gymnasium war eine Schule für Schüler, die Jura, 146


86: Ferdinand und Malchen Richheimer. 86: Ferdinand and Malchen Richheimer.

Medizin oder andere Fächer studieren wollten.) Jungen und Mädchen gingen gemeinsam in eine Klasse. Ich war eine durchschnittliche Schülerin. Wir lernten Latein, Französisch, Geschichte, Arithmetik und Naturwissenschaften. Zwei oder drei Nachmittage pro Woche hatten wir Religionsunterricht in der Schule. Die christlichen Schüler gingen in einen christlichen Religionsunterricht und wir jüdischen Schüler gingen in unsere eigenen Klassen. Für den hebräischen Unterricht hatten wir einen Rabbi.

Mannheim. My father didn’t have a car. We traveled by train, trolley car, taxi or bus or on foot. My friends and I used bicycles to get to most places. The railroad station was a 10-minute walk from our house. For vacations, we took the train to Heidelburg, where we enjoyed hiking in the mountains, or to Schwetzingen, a small town that my mother liked because they had the best asparagus in the area. We always brought some home with us. 147


Mannheim hatte wunderschöne Parks und meine Eltern führten mich oft dorthin. Wir bestellten Kaffee und Kuchen in einem Restaurant und trafen Freunde. Der Luisenpark hatte einen Spielplatz, wo wir schaukeln und klettern konnten. Im Winter war dort eine Schlittschuhbahn; wir hatten viel Schnee in Mannheim. Mein Vater hatte kein Auto. Wir reisten mit dem Zug, der Straßenbahn, dem Taxi, dem Bus oder gingen zu Fuß. Meine Freundinnen und ich benutzten Fahrräder, um zu den meisten Plätzen zu kommen. Der Bahnhof lag 10 Minuten Fußweg von unserem Haus entfernt. Um Urlaub zu machen, nahmen wir den Zug nach Heidelberg, wo wir in den Bergen wanderten, oder nach Schwetzingen, einem kleinen Ort, den meine Mutter liebte wegen des besten Spargels in der Gegend. Wir brachten immer welchen mit nach Hause. Wir fuhren auch nach Emmendingen, der Heimatstadt meines Vaters Michael, dort war sein Vater Israel Bauer.¹⁷ Es war im Schwarzwald. Ich wohnte bei seiner Mutter, meiner Oma Babette. Ich traf nie meinen Großvater Israel, weil er starb, als Michael erst 15 Jahre alt war. Babette lebte in einem kleinen Haus mit einem hölzernen Balkon oder Veranda drum herum und ich fürchtete mich, wenn ich nachts ins Bad musste, weil man nach draußen musste auf den Balkon, um es zu benutzen. Es war 148

We also traveled to Emmendingen, my father Michael’s hometown, where his father Israel had been a farmer.¹⁷ It was in the Schwarzwald, the Black Forest. I stayed with his mother, my Oma Babette. I never met my Opa Israel because he died when Michael was only 15. Babette lived in a small house with a wooden balcony or porch around it and I dreaded having to go to the bathroom at night because you had to go outside, on the balcony, to use it. It was so dark! I usually just used the chamber pot in my room. My mother’s brother, Henry Richheimer, also lived in Emmendingen with his wife Zoë and their sons Walter and Harvey. We were close in age so I always had a good time visiting with them. Walter, who was a year younger than me, recalls me giving him advice on girls! My father was one of eight children; after his dad Israel died, he and his brothers and sisters had to help their mother, who didn’t have much money. Fortunately, my Uncle Henry had a small but successful tobacco factory and gave jobs to my uncles.¹⁸ Oma Babette herself converted the living room in her house into a little store that sold milk, bread, yarn and other things that people needed.


so dunkel. Ich nahm gewöhnlich nur den Nachttopf in meinem Zimmer. Der Bruder meiner Mutter, Henri Richheimer, lebte auch in Emmendingen mit seiner Frau Zoë

87: Greta mit Walter und Heinz. 87: Greta with Walter and Heinz.

und ihren Söhnen Walter und Heinz. Wir waren fast gleichaltrig, so hatte ich immer eine gute Zeit, wenn wir sie besuchten. Walter, der ein Jahr jünger war als ich, erhielt von mir Ratschläge zum Thema Mädchen! Mein Vater war einer von acht Kindern; nachdem sein Vater Israel starb, mussten er und seine Brüder und Schwestern ihrer Mutter, die nicht genug Geld hatte, helfen. Zum Glück hatte mein Onkel Henri eine kleine aber erfolgreiche Tabakfabrik und meine 149


Onkel konnte bei ihm arbeiten.¹⁸ Oma Babette verwandelte das Wohnzimmer in ihrem Hause in einen kleinen Laden, wo sie Milch, Brot, Garn und andere Dinge, was die Leute brauchten, verkaufte. Ich kann mich nicht erinnern, wie mein Vater von Emmendingen nach Mannheim kam und weiß nicht viel über seine Arbeit. Er war ein Börsenmakler oder vielleicht ein Händler. Sein Büro in Mannheim war in dem Haus, in dem meine Großeltern, (seine Schwiegereltern) lebten in C7, 7b. Und er arbeitete mit der Börst, der deutschen Börse.¹⁹ Meine Mutter Bertha war eine Hausfrau. Bertha kochte und backte und kaufte mit Hilfe eines Dienstmädchens auf dem Markt ein. Unser Haus war gut ausgestattet. Wir hatten einen Eisschrank (Der Eismann brachte zum Kühlen regelmäßig Eisblöcke), einen Gasherd und einen Ofen, elektrisches Licht, Waschbecken und eine Badewanne mit fließendem Wasser und einem speziellen Gerät im Badezimmer, um das Wasser für mein wöchentliches Bad anzuheizen. Wir hatten unsere Hauptmahlzeit mittags, wenn ich von der Schule nach Hause kam. Meine Mutter war auch Mitglied einer jüdischen, sozialen Frauengruppe, der Lamei Hütte. Sie trafen sich nachmittags und unterhielten sich und spielten miteinander Karten. 150

I don’t remember how my father got from Emmendingen to Mannheim or even much about his work. He was a stockbroker or maybe a commodities broker. His office, in Mannheim, was in the house where my grandparents (his in-laws) lived at C7, 7b. And he worked with the Börst, the German stock exchange.¹⁹ My mother Bertha was a ‘Hausfrau’( homemaker). Bertha cooked and baked and went shopping at the outdoor market, with the help of a maid. Our house was well-equipped. We had an ice box (the ice man regularly delivered blocks of ice to keep it cold), a gas stove and oven, electric lights, sinks and tubs with running water and a special gadget in the bathroom to heat water for my weekly bath. We had our big meal at noon, when I came home from school. My mother also belonged to a Jewish women’s social group, the Lamei lodge. They met in the afternoon and talked and played cards together. We weren’t wealthy but we were comfortable; my mother dressed well and Lili was always fashionable. Their clothes were made by a dressmaker who came to our house once a week. My mother would find a pattern she liked; and when business was good for my father, she would tell the dressmaker to go ahead and make the dress. The


Wir waren nicht reich, aber wir kamen gut zurecht. Meine Mutter war gut gekleidet und Lili war immer modern angezogen. Ihre Kleidung wurde von einem Schneider genäht, der einmal in der Woche in unser Haus kam. Meine Mutter suchte Schnittmuster, die sie mochte; und wenn die Geschäfte meines Vaters gut liefen, gab sie dem Schneider den Auftrag, die Kleidung zu nähen. Der Schneider machte auch meine Kleidung, aber sie war abgelegt, hergestellt von den Kleidungsstücken, aus denen Lili herausgewachsen war. Es machte mir nichts aus, ich sah immer gut aus. Ich hatte eine sehr schöne Kindheit. Meine beste Freundin Gertz (Gertrude) und ich waren Nachbarn. Jeden Morgen kamen unsere Freundinnen Magda und Edith auf ihren Fahrrädern, und wir fuhren zusammen zur Schule. Gertz und ich hatten keine Geheimnisse voreinander und wir hatten eine großartige Zeit. Gertz hatte zwei ältere Brüder, Wolfgang und Hans Joachim. Ihre Mutter starb jung und ihr Vater war sehr krank. Ihre Großmutter und ihre Tante betreuten sie. Gertz Familie war evangelisch. Wir haben gerne beim anderen gegessen. Gertz mochte unsere koschere Kost und ich liebte nichts mehr als ein Schinkenbutterbrot in ihrem Haus. Religion war für uns kein Problem. Das kam später unter Hitler.

dressmaker also made my clothes, but they were hand-me-downs, made from the ones that Lili had outgrown. I didn’t mind. I always looked nice. I had a very nice childhood. My best friend, Gertz (Gertrude), and I were neighbors. Every morning our friends Magda and Edith came on their bikes and we went to school together. Gertz and I had no secrets from each other and we had a great time. Gertz had two older brothers, Wolfgang and Hans Joachim. Her mother died young and her father was very sick. Her grandmother and aunt came to take care of them. Gertz’s family was Protestant. We enjoyed eating in each other’s homes. Gertz liked our kosher food and I liked nothing better than a ham sandwich at their house. Religion was no problem for us. That came later under Hitler. My family belonged to a swimming club, on the Rhine. We weren’t allowed outside of the pool area but my friends and I sometimes snuck out and jumped into the river. When we had a chance, we pulled ourselves onto a boat going slowly against the current. The boats were filled with cargo so they rode low on the water. Still, it was very dangerous. One boy would go first and then pull the next one on and so on. We’d stay on the boats for 151


Meine Familie war Mitglied in einem Schwimmverein am Rhein. Es war uns nicht erlaubt, uns außerhalb des Schwimmbereiches aufzuhalten, aber meine Freundinnen und ich schlichen uns manchmal raus und sprangen in den Rhein. Wenn wir die Chance hatten, kletterten wir auf ein Boot und fuhren langsam gegen die Strömung. Die Boote waren mit einer Fracht beladen, darum lagen sie tief im Wasser. Doch es war sehr gefährlich. Ein Junge zog sich zuerst hinauf, dann zog er den nächsten und so weiter und so weiter. Wir blieben 10–15 Minuten auf dem Boot oder bis wir runter gejagt wurden, und dann mussten wir mit der Strömung zurückschwimmen. Als ich 12 oder 13 war, trat ich dem Hashomer HaTza’ir, einer zionistischen Jugendgruppe, bei, deren Ziel es war, jüdische Jugendliche auf ein Leben in Palästina vorzubereiten. Das war mehr als 15 Jahre vor der Gründung von Israel. Ich kam damals nicht nach Palästina oder Israel, aber ich traf meinen ersten Freund auf unseren Treffen. Sein Name war Joseph Rennert; alle nannten ihn Seppel. Seine Familie war reich und kam aus Ostdeutschland nach Mannheim. Unser Verhältnis war mehr eine Freundschaft als eine Romanze; ich kann mich nicht einmal daran erinnern, ihn geküsst zu haben. Ich glaube Seppel, seine Eltern und Schwestern sind eventuell in die USA 152

10–15 minutes, or until we were chased off, and then we’d swim back on the current. When I was 12 or 13, I joined the Hashomer HaTza’ir, a Zionist youth group whose aim was to prepare Jewish youth for life in Palestine. This was more than 15 years before the founding of Israel. I didn’t get to Palestine or Israel back then but I did meet my first boyfriend at our meetings. His name was Joseph Rennert; everyone called him Seppel. His family was wealthy and had come to Mannheim from East Germany. Our relationship was more of a friendship than a romance; I don’t even remember kissing him. I think Seppel and his parents and sisters eventually emigrated to the United States, but I don’t know for sure; we lost touch with each other. My brother Fritz (he changed his name to Fred when he moved to England) worked for a big international company that sent him to England when I was very young and we only saw him when he came to visit. Lili was the most beautiful girl in her age group and very popular, invited to a lot of parties. I don’t know much about her life because she was 12 years older than me. I believe she met her future husband, Hugo Grumbach, at her tennis club. They married and moved to St. Blasien in the


emigriert, aber ich weiß das nicht sicher; wir verloren den Kontakt. Mein Bruder Fritz (er änderte seinen Namen in Fred, als er nach England zog) arbeitete für eine große internationale Gesellschaft, die ihn nach England schickte, als ich sehr jung war, und wir sahen ihn nur, wenn er zu Besuch kam. Lili war das hübscheste Mädchen ihrer Altersgruppe und war sehr beliebt und wurde auf viele Feiern eingeladen. Ich weiß nicht viel über ihr Leben, weil sie 12 Jahre älter war als ich. Ich glaube, sie traf ihren zukünftigen Mann Hugo Grumbach in ihrem Tennisclub. Sie heirateten und zogen nach St. Blasien im Schwarzwald, wo Hugo geboren wurde und aufwuchs. (Der Schwarzwald wurde nach seinen Kiefern, die dort wuchsen, benannt. Sie sahen von Weitem dunkel aus.) Ihre erste Tochter, meine kleine Nichte Ellen, wurde 1931 in dem nahegelegenen Freiburg geboren. Ich liebte es, sie in St. Blasien zu besuchen. Es war eine wunderschöne kleine Stadt, sehr beliebt zum Urlaubmachen wegen seines Tuberkulose-Sanatoriums, das ich vom Fenster des Zimmers sehen konnte, in dem ich während des Aufenthalts in ihrem Haus wohnte. Hugos Familie besaß ein Kaufhaus in St. Blasien, das Kaufhaus Grumbach, welches Zweigstellen in anderen Städten hatte. Darum reiste er viel.

Black Forest, where Hugo was born and brought up. (The Black Forest was named for the pine trees that grew there; they looked dark from a distance.) Their first daughter, my little niece Ellen, was born in nearby Freiburg in 1931. I loved visiting them in St. Blasien. It was a beautiful little town, very popular for vacationing and for its tuberculosis sanatorium, which I could see from the window of the room where I stayed at their house. Hugo’s family owned a department store in St. Blasien, the Kaufhaus Grumbach, which had branches in other towns. So he had to travel a lot. Next to the store was a pharmacy, a drogerie. The owners’ daughter and I become close friends and we often went hiking on the Feldberg, a mountain behind the stores. We especially loved to go up there in the winter, when it was covered in snow. Warmly dressed in coats, pants, long woolen socks and knee-high leather boots, we hiked up and then rolled down the mountain! We had such a good time that we did that for hours. With all the snow, I became a very good skier. Sometimes it was the only way to get around because the buses couldn’t run. When we were in St. Blasien, we went to concerts and lectures in Freiburg. It was a well153


88: Bereit für eine Fahrt im Auto des Schwagers Hugo (1931). 88: Ready for a ride in my brother-in-law Hugo’s car (1931).

Neben dem Geschäft war eine Drogerie. Die Tochter der Besitzer und ich wurden enge Freundinnen und wir wanderten oft auf den Feldberg, einem Berg hinter den Geschäften. Wir mochten es besonders im Winter hinaufzugehen, wenn alles mit Schnee bedeckt war. Warm gekleidet in Mantel, Hosen, langen wollenen Strümpfen und kniehohen 154

known university town and a tourist attraction. People would stay there and visit other towns in the Black Forest. They would say these towns were ‘ein oder zwei Stationen von Freiburg’—one or two (or whatever) stations from Freiburg. With my sister married and my brother living in England, I was like an only child. My parents gave


Lederstiefeln stiegen wir hinauf und rollten den Berg hinab! Wir hatten so eine gute Zeit, dass wir das stundenlang machten. Mit all dem Schnee wurde ich eine sehr gute Skifahrerin. Manchmal war das die einzige Möglichkeit, sich fortzubewegen, weil die Busse nicht fahren konnten. Wenn wir in St. Blasien waren, besuchten wir Konzerte und Vorträge in Freiburg. Es war eine bekannte Universitätsstadt und eine Touristenattraktion. Viele Leute wohnten dort und besuchten andere Orte im Schwarzwald. Sie sagten, diese Orte sind ‚ein oder zwei Stationen von Freiburg‘. Da meine Schwester heiratete und mein Bruder in England wohnte, war ich wie ein Einzelkind. Meine Eltern schenkten mir ihre volle Aufmerksamkeit; sie haben mich sicherlich verwöhnt. Ich konnte nichts falsch machen. Wir wohnten sehr nah bei meinen Großeltern, meinem Onkel Max, meiner Tante Pia und meinem Cousin Ernst. Wir hatten viele Freunde und Verwandte in Mannheim und wir hatten ein gutes Leben. Das alles änderte sich, als ich 15 wurde. Der Besitzer des Schwimmvereins, Herr Herweck, war ein alter Freund der Familie – und es gab dort keinen Antisemitismus. Trotzdem hörten wir Gerüchte, dass die Nazis ihn bedrängten, alle jüdischen Mitglieder loszuwerden. Wochenlang pas-

me all their attention; they surely spoiled me. I could do nothing wrong. We were very close to my grandparents and my Uncle Max, my Aunt Pia and my cousin Ernst. We had lots of friends and relatives in Mannheim and we had a good life. That all changed when I turned 15. The owner of the swimming club, Mr. Herweck, was an old friend of the family—no anti-Semitism there. However, we heard rumors that the Nazis were after him to get rid of all the Jewish members. Nothing happened for weeks until one hot June day, my girlfriends and I went to the pool as usual for our swim. Suddenly we heard loud noises and saw a lot of men and boys enter, yelling: ‘Alle Juden, heraus! Alle Juden, heraus!’ ‘Out with the Jews! Out with the Jews!’ A few were high school boys from Mannheim. This happened on my 15th birthday, June 29, 1935. I bicycled home feeling very upset and could hardly wait to see my parents. On the way home, I made up my mind to leave Germany. I told my parents what happened and how frightened I was. And how these men entered the ladies’ locker room and took whatever they wanted. I told them I wanted to join my family in England. By then, Lili, Hugo and Ellen had also left Germany and 155


sierte nichts bis zu einem heißen Junitag. Meine Freundinnen und ich gingen wie üblich ins Wasser, um zu schwimmen. Plötzlich hörten wir lautes Geschrei und sahen viele Männer und Jungen grölen:

moved to England. My mother wrote to my sister the next day, asking her how we should handle the situation. A few weeks later, we all met in Strasbourg, France. Even my grandmother, Oma Mal-

89: Greta 1935: ihr letztes Jahr in Deutschland. 89: Greta in 1935: her last year in Germany.

‚Alle Juden, heraus! Alle Juden, heraus!‘ Einige waren Gymnasiasten aus Mannheim. Das passierte auf meinem 15. Geburtstag am 29. Juni 1935. Ich radelte nach Hause und fühlte mich sehr aufgebracht und konnte es kaum erwarten, meine Eltern zu sehen. Auf dem Weg nach Hause beschloss ich, Deutschland zu verlassen. Ich erzählte meinen Eltern, was passiert war und wie ich mich gefürchtet habe. Und wie diese Männer in den Damenankleideraum kamen und sich nahmen, was immer sie wollten. Ich erzählte ihnen, dass ich zu meinen Verwandten nach England wollte. Außerdem hatten Lili, Hugo und Ellen auch schon Deutschland 156

chen, came along. A few days later, my parents and Malchen returned to Mannheim. I went with Lili and Hugo to Manchester, an industrial city in northern England. It was a sad separation. When would I see my parents again?”


verlassen und zogen nach England. Meine Mutter schrieb meiner Schwester am nächsten Tag und fragte sie, wie wir vorgehen sollten. Einige Wochen später trafen wir uns alle in Straßburg, Frankreich. Sogar meine Großmutter, Oma Malchen, kam mit. Einige Tage später fuhren meine Eltern und Oma Malchen nach Mannheim zurück. Ich fuhr mit Lili und Hugo nach Manchester, einer Industriestadt in Nordengland. Es war eine traurige Trennung. Wann würde ich meine Eltern wiedersehen?

England „Im Jahre 1935 zog ich nach Manchester, England. Lili und Hugo wohnten im Didsbury Viertel in der Barlow Moor Road 153 in einem dreistöckigen Klinkerhaus mit einem großen Garten. Hugos Vater, Gustav Grumbach, hatte ein Zimmer im 2. Stock. Lilis Freundin Ruth Jaeger (später Ruth Cherry) wohnte im dritten Stock, und ich teilte viele Jahre ein Zimmer mit ihr. Wir wurden gute Freundinnen. Ruth half Lili, auf das Haus und auf Ellen, die nun 4 Jahre alt war, aufzupassen. Ein Jahr später bekam Ellen ein Schwesterchen, Doreen (Dodi). Einen Tag nachdem ich ankam, fuhren Lili und ich mit dem Nahverkehrszug in die Stadt Manchester zu einem Treffen mit Henry Marsden, dem Schulleiter der

England “In 1935 I moved to Manchester, England. Lili and Hugo lived in the West Didsbury section, at 153 Barlow Moor Road, in a three-story brick house with a large garden. Hugo’s father, Gustav Grumbach, had a room on the second floor. Lili’s friend Ruth Jaeger (later Ruth Cherry) lived on the third floor and I shared a room with her for many years; we became good friends. Ruth helped Lili take care of the house and Ellen, who was now 4 years old. The next year, Ellen got a baby sister, Doreen (Dodi). The day after I arrived, Lili and I took the commuter train to downtown Manchester for a meeting with Henry Marsden, the headmaster of the Manchester High School of Commerce. I was very impressed that he spoke a perfect German. I didn’t speak a word of English, so he suggested that I join an English class for foreigners. He introduced me to an English girl, Audrey Kersey, who lived near us and who picked me up the next morning for our trip to school. Mr. Marsden took me to the class for foreigners, introducing me to the teacher and 10 or 12 students. It took me about two weeks of hard work to learn a very basic English. Everybody helped me, especially Audrey. 157


90: Greta 1935 in England. 90: Greta 1935 in England.

Manchester Handelsschule. Ich war sehr beeindruckt, weil er ein perfektes Deutsch sprach. Ich sprach nicht ein Wort Englisch, darum schlug er vor, in die Klasse Englisch für Ausländer zu gehen. Er stellte mich Audrey Kersey vor, einem englischen Mädchen, das bei uns in der Nähe wohnte. Sie holte mich am nächsten Morgen ab, um mit mir in die Schule zu fahren. Mr. Marsden brachte mich in die Klasse für Ausländer, stellte mich dem Lehrer und 10 oder 12 Schülern vor. Ich brauchte zwei Wochen harte Arbeit, um die Grundlagen der englischen Sprache zu erlernen. Alle halfen mir, vor allem Audrey. Mein Lehrer hieß Mr. Young und er forderte mich auf, einen kurzen Aufsatz über meine ersten Eindrücke in England und meine neuen Freunde zu schreiben. Audreys Mutter lud mich an einem Sonntag nach Hause zum Essen ein. Wie stolz war ich, als 158

My teacher’s name was Mr. Young and he asked me to write a short essay about my first impression of England and my new English friends. Audrey’s mother invited me on a Sunday for a visit to their home and dinner. How proud I was to understand them when they spoke slowly. I don’t know who was prouder—the Kerseys or I. When I returned to my class the next day, the other students wanted to hear all about my weekend. I told them about my visit with the Kerseys and the delicious meal I had with them—a typical English menu: first a vegetable soup, then roast beef with baked potatoes and boiled carrots and a salad. For dessert Audrey’s mother served an apple pie for which she was well-known and, of course, tea, which they served the British way,


ich sie verstand, wenn sie langsam sprach. Ich weiß nicht, wer stolzer war, – die Kerseys oder ich. Als ich am nächsten Tag in meine Klasse zurückkam, wollten die anderen Schüler alles über mein Wochenende wissen. Ich erzählte ihnen von meinem Besuch bei den Kerseys und dem köstlichen Mahl, das ich bei ihnen hatte – einem typischen englischen Menu: zuerst eine Gemüsesuppe, dann Roastbeef mit Ofenkartoffeln und gekochte Möhren und einen Salat. Zum Nachtisch servierte Audreys Mutter einen Apfelkuchen, für den sie sehr bekannt war, und natürlich Tee, den sie in einer englischen Art servierte, indem sie zuerst Milch und Zucker in eine Tasse gab. Etwas später brachte Audrey mich nach Hause. Nach sechs Monaten hatte ich genug Englisch gelernt, um in eine Regelklasse zu kommen. Es war eine schwierige Umstellung. Ich musste härter arbeiten als alle anderen. Aber ich liebte England. Ich hatte eine nette Gruppe Freundinnen und gehörte einem Wanderclub an. Wir hatten dort auch Familie: mein Bruder Fred und seine Frau Ruth und Hugos Schwester Gertrude, die Dave Jakobi heiratete. Und da war Meinhard Weil, mein Freund. Er war der Bruder meiner Schwägerin Ruth. Das erste Mal traf ich Meinhard in Mannheim bei der Hochzeit von Fred und Ruth. Jetzt lebte er auch in Manchester, er arbeitete mit Fred und Hugo. Meinhard

putting milk and sugar into the cup first. After a while, Audrey walked me home. In six months, I had learned enough English to join the regular class. It was a difficult adjustment. I had to work harder than everyone else. But I loved England. I had a nice group of friends and belonged to a hiking club. We also had family there: my brother Fred and his wife, Ruth; and Hugo’s sister Gertrude, who married Dave Jakobi. And there was Meinhard Weil, my boyfriend. He was the brother of my sister-in-law, Ruth. I first met Meinhard in Mannheim at the marriage of Fred and Ruth. Now he too lived in Manchester, working with Fred and Hugo. Meinhard and I went for a walk every day after school along the River Mersey. We’d sit on a bench and hold hands. My family didn’t approve. They thought I was too young for a serious boyfriend. He was several years older than me. Also, Lili didn’t get along with Ruth and didn’t want another Weil in the family. Meinhard’s parents lived in Switzerland so he lived in Manchester with a couple named Behrens. They were wonderful people; they treated him like a relative and us like an engaged couple. Two important things happened after that: In 1937, when I was 17, my father Michael got sick and died in Germany. I think he had a stroke or 159


und ich gingen jeden Nachmittag nach der Schule am Fluss Mersey spazieren. Wir saßen auf einer Bank und hielten Händchen. Meine Familie billigte das nicht. Sie meinten, ich wäre zu jung für einen richtigen Freund. Er war einige Jahre älter als ich. Außerdem lag Lili mit Ruth quer und wollte nicht noch einen Weil in der Familie. Meinhards Eltern lebten in der Schweiz, während er mit einem Paar namens Behrens in Manchester lebte. Sie waren sehr nette Leute und sie behandelten ihn wie einen Verwandten und uns wie ein verlobtes Paar.

a cerebral hemorrhage. By then, because of Hitler and his Nazis, we could not even go to his funeral. What I remember about my father is that he was a quiet, thinking man—kind-hearted, and completely under the influence of my mother. Bertha did not henpeck him. But she guided their lives in a quiet way. Then, in 1938 I think, Hugo and Lili began making plans to move to America. Hugo had lived there and loved it. My mother and grandmother

91: Mannheim, Hauptfriedhof, jüdischer Teil. 91: Mannheim, main cemetery, jewish section.

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Zwei wichtige Ereignisse passierten dann: 1937, als ich 17 war, wurde mein Vater Michael krank und starb in Deutschland. Ich glaube, er hatte einen Herzinfarkt oder einen Gehirnschlag. Natürlich konnten wir wegen Hitler und seinen Nazis nicht einmal zu seiner Beerdigung. Wenn ich mich an meinen Vater erinnere, denke ich an einen ruhigen und nachdenklichen Mann – gutherzig und total unter dem Einfluss meiner Mutter. Er stand nicht unter ihrem Pantoffel. Aber sie bestimmte das Leben der beiden in einer ruhigen Art. Etwa 1938 begannen Hugo und Lili Pläne zu machen, nach Amerika auszuwandern. Hugo hatte dort gewohnt und liebte es. Meine Mutter und Großmutter erlaubten mir, mit ihnen zu ziehen. Ich wollte eigentlich nicht, aber ich hatte keine Chance. Ich machte im Juni 1938 meinen Highschool-Abschluss. Ich konnte in England keine Arbeit finden; mir wurden Arbeitspapiere verweigert, weil Lili und Hugo reich genug waren, um mich zu unterstützen. Meinhard und ich kamen uns immer näher. Wir sprachen über Liebe und Hochzeit. Aber er musste in England bleiben, um seine Eltern zu unterstützen. Ich wollte bei Meinhard bleiben, aber ich wäre für ihn nur eine Belastung gewesen. Außerdem wollte ich bei meiner Familie sein. Das war für mich eine schwierige Zeit. Während ich versuchte, eine Ent-

agreed to move with them. I didn’t want to go but I didn’t really have a choice. I graduated from high school in June 1938 but I couldn’t get a job in England; I was refused working papers because Lili and Hugo were wealthy enough to support me. Meinhard and I got closer and closer. We talked about love and marriage. But he had to stay in England to help support his parents. I wanted to stay with Meinhard, but I would just have been a burden on him. Also, I wanted to be with my family. It was a difficult time for me. While I was trying to decide, Hugo and Lili left for the United States with their young daughters. My mother and grandmother, Bertha and Malchen, went separately, from Germany. Only Hugo’s father Gustav and I were left in England; his daughter Gertrude had settled there. But finally we decided to join the family in America. We took the Queen Mary. Though I was sad to leave Meinhard, I decided to make the best of the situation and had a good time on the voyage. It was my first big trip on a ship. I went swimming in the ship pool every day, the food was delicious and I met interesting people. Meinhard’s story ends very sadly. After I left England, he joined the British army. World War II broke out in 1939 and he was killed in Belgium. I was 161


scheidung zu treffen, wanderten Hugo und Lili mit ihren jungen Töchtern in die USA aus. Meine Mutter und Großmutter, Bertha und Malchen, fuhren unabhängig davon von Deutschland aus dorthin. Onkel Gustav und ich blieben in England; seine Tochter Gertrude hatte sich dort niedergelassen. Aber zum Schluss beschlossen wir, zu unserer Familie nach Amerika zu fahren. Wir nahmen die Queen Mary. Obwohl ich traurig war, weil ich Meinhard verlassen musste, entschied ich mich, das Beste aus der Situation zu machen, und ich hatte eine schöne Zeit auf der Reise. Es war meine erste große Reise auf einem Schiff. Ich schwamm jeden Tag im Schiffspool, das Essen war köstlich und ich traf interessante Leute. Meinhards Geschichte endete sehr traurig. Nachdem ich England verlassen hatte, kam er zur Britischen Armee. Der 2. Weltkrieg brach 1939 aus und er fiel in Belgien. Ich war sehr traurig, aber was konnte ich tun? Da war nichts, was ich hätte ändern können.“

Amerika „Zum Glück verließen viele andere Familienmitglieder Deutschland und entkamen dem Nazi-Holocaust. Früher lebten alle meine Cousins und Cousinen, Tanten und Onkel in Mannheim in Fußweite 162

heartbroken, but what could I do? There was nothing I could have changed.”

America “Fortunately, many other members of my family also left Germany and avoided the Nazi Holocaust. Once, my cousins and aunts and uncles had all lived in walking distance from each other in Mannheim, or at least lived in nearby German towns or cities. Now, we were dispersed around the world. My uncle Max, Bertha’s brother and the father of my cousins Ernesto and Liesel, had been in business with Spanish-speaking countries and the family often vacationed in Spain. Perhaps that is why they eventually settled in Mexico. Now we have many cousins there, most with Spanish first names like Pedro and Roberto. Other relatives moved to South America, Australia and Israel. I arrived in America in 1938. Lili and Hugo had an apartment in Kew Gardens, the Queens section of Long Island, NY, and a house in Toms River, NJ, where my mother and grandmother lived. Toms River was very rural and many of my cousins had settled there and become chicken farmers. I stayed at the Toms River house. But I had no desire to work with chickens and there were no secretarial


voneinander oder wohnten wenigstens in nahegelegenen Orten oder Städten in Deutschland. Nun waren wir verstreut über die ganze Welt. Mein Onkel Max, Berthas Bruder und der Vater von meinen Cousins Ernesto und Liesel, hatten Geschäftsverbindungen mit spanisch sprechenden Ländern und die Familie machte oft Urlaub in Spanien. Vielleicht wanderten sie deshalb nach Mexico aus. Nun haben wir dort eine Menge Cousins, meist mit spanischen Vornamen wie Pedro und Roberto. Andere Verwandte zogen nach Südamerika, Australien und Israel. Ich kam 1938 in Amerika an. Lili und Hugo hatten ein Appartement in Kew Gardens, dem Queens Viertel von Long Island, NY, und ein Haus in Toms River, NJ, wo mein Bruder und meine Großmutter lebten. Toms River war sehr ländlich und viele meiner Cousins ließen sich dort nieder und wurden Hühnerfarmer. Ich wohnte in dem Haus in Toms River. Aber ich hatte keine Lust, mit Hühnern zu arbeiten und es gab dort keine Bürojobs für mich. Zum Glück wurde ich von Freunden meiner Eltern, den Goetzes, die in Philadelphia wohnten, gerettet. Sie boten mir an, ein Zimmer mit einer ihrer Töchter zu teilen. Durch meine kaufmännische Ausbildung an der Manchester High School bekam ich einen Job im Büro in Philadelphia. Eine von meinen Mitarbeiterinnen, Margrit Haas, wie ich eine deutsche

jobs for me there. Fortunately, I was ‘rescued’ by friends of my parents, the Goetzes, who had settled in Philadelphia. They offered to let me share a room with one of their daughters. With my clerical training from the Manchester high school, I got an office job in Philadelphia. One of my co-workers, Margrit Haas, like me a German immigrant, became a close friend. I started going to parties and meeting people. One day I was invited to Margrit’s house for dinner. She lived in Philadelphia’s Germantown with her extended family—her grandparents, her widowed mother Lora, who had a beauty salon, her brothers and her uncle. Her uncle, Paul Friedhoff, was a photographer in addition to his regular job at Bayuk Cigars, so I planned to ask him to take a photo of me that I could send to Meinhard. Paul has often told the story about how his first sight of me was my rear end. That’s because I was bent over, looking at his photos floating in rinse water, when he walked in. Paul became my friend and ‘father-confessor’. I would talk to him about my boyfriends. But that’s all. Here is what Paul wrote about our relationship back then: ‘The more I saw of Greta, the more I liked her. I thought her too young for me—she was 19, I was 32. And there was that boyfriend in England. I hung a big 163


Immigrantin, wurde eine enge Freundin. Ich begann, auf Partys zu gehen und Leute zu treffen. Eines Tages wurde ich zum Essen in Margrits Haus eingeladen. Sie wohnte in Philadelphias Germantown mit ihrer großen Familie – ihren Großeltern, ihrer verwitweten Mutter Lora, die einen Damensalon hatte, ihren Brüdern und ihrem Onkel. Ihr Onkel Paul Friedhoff war ein Fotograf neben seiner regulären Arbeit bei Bayuk Cigars, deshalb plante ich, ihn zu fragen, ob er von mir ein Foto machen könnte, um es Meinhard zu schicken. Paul hat oft die Geschichte erzählt, wie seine erste Sicht auf mich war. Er sah mein Hinterteil! Das lag daran, weil ich mich über die Fotos beugte, die im Entwickler schwammen, als er eintrat. Paul wurde mein Freund und ‚Beichtvater‘. Ich sprach mit ihm über meine Freunde. Aber das war alles. Dies sagte Paul später über unser Verhältnis: ‚Je mehr ich von Greta sah, desto mehr liebte ich sie. Ich fand sie zu jung für mich – sie war 19, ich war 32. Und da war der Freund in England. Ich hängte eine riesige Vergrößerung von ihrem Foto in meiner Dunkelkammer auf und schaute es mir oft an. Wir trafen uns auf Partys und deutschen Clubtreffen, sprachen viel über ihr Leben und ihre Freunde, aber ich bat sie nie um ein Date.‘ Als mein Schwager Hugo einen neuen Job anfing, zog ich nach New York, um für ihn als Sekretärin zu 164

enlargement of her photo in my darkroom and looked at it quite often. We met at parties and at [German Club] functions, talked a lot about her life and friends, but I never asked her for a date.’ When my brother-in-law Hugo started a new business, I moved to New York to work for him as a secretary. But I saw Paul again in Philadelphia when I went there for Margrit’s wedding. Paul was still working for Bayuk Cigars and the company had sent him to New York to deal with a bad tobacco shipment. After the wedding, Paul offered to drive me back to New York. That was a life-changing ride! Here is what Paul wrote about it: ‘Somewhere on the road I leaned over and kissed her. It was a quick kiss—the traffic light changed too quickly. Why did you do that? she asked. I answered, without hesitation, that I had to know how my future wife would kiss. Greta looked at me, surprised. It was the beginning of a short courtship.’ It was short because I was living with Lili and Hugo in Long Island, and Paul was in a rented room on Staten Island. That was one long drive then, including a ferry between Staten Island and Manhattan. On June 29, my 21st birthday, Paul invited me to dinner. On our next date, he proposed. We got married on Aug. 4, 1941.“


arbeiten. Aber ich sah Paul wieder in Philadelphia, als ich dorthin zu Margrits Hochzeit fuhr. Paul arbeitete immer noch für Bayuk Cigars und das Unternehmen schickte ihn nach New York, um wegen einer schlechten Tabaklieferung zu verhandeln. Nach der Hochzeit bot Paul mir an, mich mit dem Auto zurück nach New York zu fahren. Diese Fahrt veränderte unser Leben. Dies schrieb Paul darüber: ‚Irgendwo auf der Strecke lehnte ich mich über sie und küsste sie – die Ampel sprang zu schnell um. Warum hast du das gemacht? fragte sie. Ich antwortete ohne zu zögern, dass ich wissen wollte, wie meine zukünftige Frau küsst. Greta sah mich überrascht an. Das war der Anfang einer kurzen Werbung.‘ Sie war kurz, weil ich mit Lili und Hugo in Long Island und Paul in einem gemieteten Zimmer auf Staten Island wohnte. Das war damals eine lange Fahrt und schloss eine Fahrt mit der Fähre zwischen Staten Island und Manhattan mit ein. Am 29. Juni, meinem 21. Geburtstag, lud mich Paul zu einem Essen ein. Bei unserem nächsten Treffen machte er mir einen Antrag. Wir heirateten am 4. August 1941.“

Greta and Paul grew up in Germany. They lived less than 50 kilometers away from one another but first met when they had found a new home in the USA.

Greta und Paul wuchsen in Deutschland auf. Sie lebten keine 50 Kilometer voneinander entfernt aber sie trafen

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92: Greta Günzburger aus Mannheim, Paul Friedhoff aus Rülzheim. 92: Greta Günzburger from Mannheim, Paul Friedhoff from Rülzheim.

sich erst, als sie in den USA eine neue Heimat gefunden hatten.

Die Jahre in Toms River Juden begannen mit der Landwirtschaft in New Jersey im späten 19. Jahrhundert. Aber erst in den späten 1930er und frühen 1940er Jahren stießen die deutschen Einwanderer zu dieser Gemeinschaft: „Sie waren älter und besser ausgebil166

The years in Toms River Jews began farming in New Jersey in the late 1800s. But it wasn’t until the late 1930s and early 1940s that German immigrants joined this community: “They were older and better educated and, in their native Germany, had lived middle-class lives. Unlikely farmers, they rolled up their sleeves, worked hard, and succeeded.”²¹


93: Greta (links) and Bertha in der Lien Street 26, Philadelphia. 93: Greta (left) and Bertha at 26 Lien Street, Philadelphia.

det und in ihrem Heimatland Deutschland lebten sie ein Mittelklasse-Leben. Nicht gewohnt an der Farmarbeit krempelGreta and Paul’s daughter Lynn looked back at these early ten sie die Ärmel hoch, arbeiteten hart und hatten Erfolg.“²¹ days in the United States: “Our relatives were part of this immigrant moveLynn, Gretas und Pauls Tochter, blickte zurück auf die Anment, settling in the rural town of Toms River, NJ, fänge in den Vereinigten Staaten: in 1939. Once they had been merchants or brokers. „Unsere Verwandten waren Teil dieser EinwanNow they hoped to find a new life and vocation as dererbewegung und ließen sich in der ländlichen farmers—in this case, chicken farmers. Or they simply looked for a place where they could put Stadt Toms River, New Jersey, im Jahre 1939 nieder. Früher waren sie Händler oder Makler. Jetzt hofffood on their tables during the tough war years. ten sie, ein neues Leben und einen neuen Beruf als Either way, it was indeed a life of hard work. GreFarmer, in diesem Fall als Hühnerfarmer, zu finden. ta wrote later of her Toms River cousins: ‘In the 167


Oder sie suchten einfach nach einem Ort, wo sie sich in den schwierigen Kriegsjahren ernähren konnten. So oder so, es war in der Tat ein hartes Leben. Greta schrieb später über ihre Toms River Vettern: ‚Am Anfang hatte keiner der neuen Bauern Zeit oder Geld, unter die Leute zu gehen. Wenn jemand ein Jahresgedächtnis hatte, wurde eine »Minyan« (zehn Männer für den Gottesdienst) zusammengerufen, später servierte man Kaffee und Kuchen und das war der große Ausflug der Woche‘. Oma Bertha kam im Februar 1939 in die Vereinigten Staaten, begleitet von ihrer Mutter Malchen Richheimer. Sie ließen sich in Toms River nieder. Ich frage mich, ob Bertha ihr Heimatland Deutschland verlassen hätte, wenn ihr Mann Michael, mein Großvater, nicht zwei Jahre zuvor gestorben wäre. Trotz Naziunterdrückung hätte er darauf bestanden, zu bleiben, wie es viele deutsch-jüdische Männer taten, obwohl sie befürchten mussten, ihre Arbeit und ihr Einkommen zu verlieren. Bertha zog in eine Stadt, wo sie von Vettern umgeben war. Oskar und Ferdinand Ehrmann²² waren die ersten, die sich in Toms River niederließen. Aber es gab auch viele andere von beiden Seiten der Familie, unter ihnen: Günzburgers (Ernst und Hilde, Heinz und Ruth), Richheimers (Henry und Zoë), Landmanns (Louis und Käte) und Lehmanns (Arnold und 168

beginning none of the new farmers had time or money to do much socializing. If somebody had a Jahrzeit, a Minyan was called—coffee and cake was served afterwards and that was the big outing of the week.’ Oma Bertha arrived in the United States in February 1939, accompanied by her mother Malchen Richheimer They settled in Toms River. I wonder if Bertha would have left her native Germany if her husband Michael, my grandfather, hadn’t died nearly two years earlier. Despite Nazi oppression, would he have insisted on staying, as many German-Jewish men did … reluctant to lose their businesses and income? Bertha was moving to a town where she would be surrounded by cousins. Oskar and Ferdinand Ehrmann had been the first to settle in Toms River.²² But there were many others from both sides of the family, among them: Günzburgers (Ernest and Hilde, Heinz and Ruth), Richheimers (Henry and Zoë), Landmanns (Louis and Käte) and Lehmanns (Arnold and Lotte). A month later the Grumbachs arrived: Bertha’s older daughter Lili her husband Hugo and their children Ellen and Dodi, arriving from England with their nanny / friend Ruth Jaeger.²³ They had left Germany years earlier and settled in Manchester, where Dodi was born. Hugo’s father Gustav stayed behind—reluctant to leave


Lotte). Einen Monat später kamen die Grumbachs: Berthas ältere Tochter Lili, ihr Mann Hugo und ihre Kinder Ellen und Dodi.²³ Sie kamen von England mit ihrem Kindermädchen / Freundin Ruth Jaeger. Sie hatten Jahre zuvor Deutschland verlassen und in Manchester, wo Dodi geboren wurde, gelebt. Hugos Vater Gustav blieb zurück – er wollte nur ungern seine Tochter Gertrude zurücklassen; sie hatte sich in England mit ihrem Mann David Jakobi niedergelassen. Schließlich war da meine Mutter Greta, die in Manchester mit ihrer Schwester Lili und Familie gelebt hatte. Begleitet von Gustav, der schließlich beschlossen hatte, auszuwandern, überquerte sie den Atlantik auf der RMS Queen Mary und ließ sich auch in Toms River nieder, allerdings nur kurz. Unfähig, einen Job zu finden, und nicht am Leben auf dem Bauernhof interessiert, zog sie nach Philadelphia. Gustav blieb und teilte sich ein Haus auf der Lien Straße 26 mit Bertha. Es gibt keine einfachen Geschichten in unserer Familie. Schließlich ist die Diaspora ein Zick -Zack, keine gerade Linie. Hugo besaß eine Hühnerfarm, er heuerte jemanden an, um sie zu führen. Für eine Zeit zog er auch in eine Wohnung zu der Familie in Kew Gardens, in den Queens Abschnitt von New York und

behind his daughter Gertrude; she had settled in England with her husband David Jakobi. Lastly there was my mother, Greta, who had lived in Manchester with her sister Lili and family. Accompanied by Gustav, who finally decided to emigrate, she crossed the Atlantic on the RMS Queen Mary and also settled in Toms River— though just briefly. Unable to find a job, and not attracted to farm life, she moved to Philadelphia. Gustav stayed and shared a house on 26 Lien Street with Bertha. There are no simple stories in our family. After all, the diaspora is a zig-zag, not a straight line. Hugo owned a chicken farm, hiring someone to run it. For a time he also moved the family to an apartment in Kew Gardens, in the Queens section of New York; and later to Los Angeles. But cancer cut short his dreams of a new life and business out west. Hugo died in 1947. Eventually Lili (a widow at age 39), Dodi, Bertha and other cousins (Richheimers and Günzburgers) settled in California. Ellen lived there briefly but came back east, living for a time with us in New Jersey, so she could be close to her boyfriend Harvey Gladstone. We Friedhoffs never really lived in Toms River but frequently visited when I was very young. In fact, 169


später nach Los Angeles. Aber Krebs kürzte seine Träume von einem neuen Leben und einem Geschäft im Westen ab. Hugo starb 1947. Schließlich zogen Lili (eine Witwe im Alter von 39), Dodi, Bertha und andere Vettern (Richheimers und Günzburgers) nach Kalifornien. Ellen lebte dort kurz, kam aber zurück in den Osten, lebte für eine Zeit bei uns, so dass sie in der Nähe ihres Freundes Harvey Gladstone sein konnte. Wir Friedhoffs (Greta und Paul) lebten nie wirklich in Toms River. Aber wir waren dort häufig zu Besuch, als ich sehr jung war. In der Tat, behauptete Oma Bertha, hätte ich mein Startkapital dort während eines Besuchs bei meinen Eltern bekommen! Etwas wie einen Glückscent unter dem Bett! Die letzten Fotos von unserem Toms River Aufenthalt sind vom Jahr 1946. Meine Erinnerungen daran sind vage, aber verinnerlicht: Der Anblick von einem Huhn, das umherrennt, nachdem ihm der Kopf ab-

Oma Bertha claims I got my start there during a visit by my parents! Something about a lucky penny under the bed … The last photos of our Toms River stays are dated 1946. My memories of it are vague but visceral: The sight of a chicken running around after getting its head lopped off! And Oma Bertha plucking and gutting chickens to make her wonderful soup.”

94: Lotte Lehmann, geb. Günzburger und Friedl Ehrmann 1989 Toms River. 94: Lotte Lehmann, née Günzburger and Friedl Ehrmann 1989 Toms River

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gehauen wurde! Und Oma Bertha beim Rupfen und Ausnehmen der Hühner, um ihre wunderbare Suppe zu machen.“

Oma Malchen died in 1941. Her husband Ferdinand already died in 1932 in Mannheim and was buried at the Mannheim cemetery.²⁴ Bertha survived her husband by 39 Oma Malchen starb 1941. Ihr Mann Ferdinand starb be- years and died in 1976 in Los Angeles. She was a wonderreits 1932 in Mannheim und wurde auf dem Mannheimer ful person, loved by young and old alike, wrote daughter Friedhof begraben.²⁴ Bertha überlebte ihren Mann 39 Jah- Greta. re und starb 1976 in Los Angeles. Sie war eine wunderbare Person, bei Jung und Alt gleichermaßen beliebt, schrieb Lili Günzburger died in Juli 2010 at the blessed age of ihre Tochter Greta. 102. Her daughter Doreen (Dodi) still lives with her husband Murray Fromson in Los Angeles. Lili Günzburger starb im Juli 2010 im gesegneten Alter Greta and her husband Paul lived in various states in von 102 Jahren. Ihre Tochter Doreen (Dodi) lebt mit ihrem the USA.²⁵ In the end, they lived with their daughter Lynn Mann Murray Fromson in Los Angeles. Feigenbaum. Journalist Lynn was married to marine biolGreta und ihr Mann Paul lebten in verschiedenen Städ- ogist David Feigenbaum and lives in Virginia Beach. David ten der USA.²⁵ Zuletzt wohnte sie bei ihrer Tochter Lynn passed away in 2002, one year after Paul died. Feigenbaum. Die Journalistin Lynn war mit dem Meeresbiologen David Feigenbaum verheiratet und lebt in Virginia Greta died in May 2013. Beach. David starb 2002, ein Jahr nach Paul. Greta Günzburger Friedhoff Born June 29th, 1920 in Mannheim Greta starb im Mai 2013. Departed May 5th, 2013 in Virginia Beach VA Greta Günzburger Friedhoff Service: Tuesday, May 7, 2013 Geboren am 29. Juni 1920 in Mannheim Cemetery: Williamsburg Memorial Park Gestorben am 5. Mai 2013 in Virginia Beach VA Messe Dienstag, 7. Mai 2013 Lynn and David have two children, Nancy and John, and Friedhof: Williamsburg, Memorial Park five grandchildren who all live in Virginia. In 2013, we (the authors) were brought in contact with Lynn through Lore Aron. We found a great new friend in her, with whom we 171


Lynn und David haben zwei Kinder, Nancy und John, und fünf Enkel, die ebenfalls in Virginia wohnen. 2013 haben wir (die Autoren) durch Lore Aron den Kontakt zu Lynn geknüpft. Mit ihr haben wir eine großartige neue Freundin gefunden, mit der wir uns intensiv austauschen. Lynn steht uns bei der Anfertigung dieses Buchs über die Günzburger aus Emmendingen beratend zur Seite. Wir trafen sie und ihren Sohn John Anfang September 2014 in Emmendingen. Wir hatten zwei unvergessliche gemeinsame Tage auf der Spur unserer Vorfahren und Verwandten.

had extensive dialogues. Lynn has taken on an advisory role in the completion of this book about the Günzburgers from Emmendingen. We spent two unforgettable days together researching our ancestors and relatives.

95: Besuch in Rülzheim Anfang September 2014. Von links: Herr Geeck, Historiker aus Rülzheim, Hanna (Hanneke) Schmitz, geb. Günzburger, John Feigenbaum, Lynn Feigenbaum, Peter Schmitz, Herr Hör, Rülzheims Bürgermeister. 95: Visit to Rülzheim in early September 2014. From the left: Mr. Geeck, historian from Rülzheim, Hanna (Hanneke) Schmitz, née Günzburger, John Feigenbaum, Lynn Feigenbaum, Peter Schmitz, Mr. Hör, mayor of Rülzheim.

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Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

Kruse, R. (2007): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau Unternehmer in Kehl. Kehl Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Hugo Siehe S. 41. See p. 41. S. o. See above. Darauf weist Greta in ihren Erinnerungen 1978 hin. Greta’s memories of 1978 hint at this. S. u. Gretas Geschichte. See below: Greta’s story http://de.wikipedia.org/wiki/Mannheim#Juden Siehe Kapitel Hugo. See chapter Hugo. Dank an Lynn Feigenbaum, Dodi Fromsen und alle Nachfahren Michaels für das überlassene Material. Thanks to Lynn Feigenbaum, Dodi Fromsen and all descendants for allowing us to use these materials. 10) Von Lili (Günzburger) Werth , 21. Februar 1991. By Lili Werth, Feb 21. 1991. 11) Lili heiratete Hugo Grumbach aus St. Blasien. Lili married Hugo Grumbach from St. Blasien. 12) Weil war die Familie von Ruth Weil, der Frau von Bruder Fritz. The Weils were the family of Ruth Weil, the wife of brother Fritz. 13) Artikel von Paul Friedhoff, dem Mann von Lilis Schwester Greta. St. Petersburg (Florida) Times, Feb. 1, 1995. Article by Paul Friedhoff, the husband of Lili’s sister Greta. St. Petersburg (Fla.) Times, Feb. 1, 1995. 14) Der im Text erwähnte Artikel steht hier in der Los Angeles Times vom 2. September 1994; http://articles.latimes. com/1994-09-02/news/mn-33857_1_east-germany. This mentioned article appeared in the Los Angeles Times on September 2, 1994 http://articles.latimes.com/1994-09-02/news/ms-33857_1_east-germany. 15) http://www.topfundsoehne.de/cms-www/index.php?id=102 173


16) 17)

18) 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25)

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Diktiert von Greta, aufgeschrieben von ihrer Tochter Lynn. Dictated by Greta, written down by daughter Lynn Hier irrt Greta: Nur Onkel Albert arbeitete anfänglich für Günzburger & Co. Die Firma war Marktführer in Deutschland bis 1936. Greta is wrong here: Only uncle Albert worked for Günzburger&Co. at first. This was a leading company in Germany until 1936. Siehe Kapitel Hugo. See chapter Hugo. Gemeint ist eine Warenbörse in Mannheim. She meant a commodity exchange in Mannheim. Siehe oben: Lilis Memoiren. See above: Lily’s memoirs. “The Land Was Theirs: Jewish Farmers in the Garden State”, Gertrude Wishnick Dubrovsky. Rohtabakhändler der Firma Günzburger & Co. aus Emmendingen. Merchant for tobacco of the Günzburger & Co. company from Emmendingen. Lili und Hugos erste Reise in die USA war im April 1938. Sie kamen im März 1939 zurück mit dem Rest der Familie. Lili and Hugo first traveled to the U.S. in April 1938, returning in March 1939 with the rest of their family. Siehe oben Grab Michael Günzburger, Mannheim. See above: Michael Günzburger’s grave, Mannheim. Gretas Tochter Lynn Feigenbaum schildert das Leben ihrer Eltern in mehreren Texten. Greta’s daughter Lynn Feigenbaum described the lives of her parents in many publications.


Albert Günzburger (1880–1954)

96: Albert im Alter von 40 Jahren. 96: Albert at the age of 40 years.

Albert Günzburger wurde am 15. Mai 1880 als viertes Kind der Eheleute Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette geboren. Er besuchte die Schule in Emmendingen. Als sein Vater 1893 unerwartet starb, war er 13 Jahre alt. Albert war der Einzige unter seinen Brüdern, der den Beruf des Vaters fortsetzte. Er war Viehhändler in Emmendingen und

Albert Günzburger born May 5, 1880 was the fourth child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette. He attended school in Emmendingen. When his father died unexpectedly in 1893, he was 13 years old. Albert lived in the “Alten Ochsen” with his mother Babette. He was the only one among his brothers to continue his father’s occupation. 175


wohnte im „Alten Ochsen“ wie seine Mutter Babette. Von hier aus betrieb er ab 1903 seinen Viehhandel. In der Frühphase der Zigarrenfirma Günzburger & Co. fuhr Albert mit seinem Ochsenkarren die Waren zum Bahnhof. Albert war 1925 Mitglied im Synagogenrat der jüdischen Gemeinde Emmendingen, ab 1929 gleichzeitig Mitglied im Bürgerausschuss.¹ Albert heiratete Jeanne Kahn, geboren am 25. April 1885 in Basel.² Jeanne stammte aus einer elsässisch-jüdischen Familie. Eine Verwandtschaft mit Zoë Kahn, Ehefrau des Henri Richheimers können wir weder bestätigen noch ausschließen. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Walter, geboren am 2. Oktober 1910, Ruth, geboren am 4. Dezember 1911 und der Nachzügler Hugo, geboren am 5. September 1931 in Freiburg.

From 1903 he ran the family cattle trade business. During the early years of Günzburger & Co., Albert transported the product to the railway station in his oxcart. Albert became a member of the synagogue council of the Jewish Community of Emmedingen in 1925. He became a member of the Emmendingen citizens committee in 1929.¹ Albert married Jeanne Kahn, born on April 25, 1885 in Basel.² Jeanne came from an Alsatian Jewish family. “Family relationship” with Zoë Kahn, wife of Henri Richheimer cannot be verified. The marriage produced three children. Walter, born on October 2, 1910, Ruth, born on December 4, 1911 and the latecomer Hugo, born September 5, 1931 in Freiburg.

97: Jeanne im Alter von 35 Jahren. 97: Jeanne at the age of 35 years.

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Vom Berufsverbot zur Auswanderung

Occupational Ban to Emigration

Bereits ab März 1933 machte sich auch in Emmendingen der Einfluss der NSDAP verstärkt bemerkbar.³ Per Gesetz wurden der Stadtverwaltung zwei Kommissare aus der NSDAP beigeordnet, die Einblick in sämtliche Verwaltungsangelegenheiten hatten und denen die Teilnahme an sämtlichen Sitzungen mit beratender Stimme zustanden. Damit war die nationalsozialistische Ausrichtung der Entscheidungen abgesichert. Der reichsweit angeordnete Boykott jüdischer Geschäfte wurde auch in Emmendingen angeordnet. Dazu veröffentlichte die örtliche NSDAP ein „Verzeichnis der jüdischen Handels- und Gewerbetreibenden“. Neben der Zigarrenfabrik Günzburger & Co. wurde auch die Viehhandlung Albert & Hermann Günzburger aufgeführt. Ab 1931 führte Albert zusammen mit seinem Vetter Hermann Günzburger das Geschäft in der Karl-Friedrich-Straße 40. Hermann war ein Sohn des Jonas Samuel Günzburger, einem Bruder von Alberts Vater Israel Samuel. Ab 1937 wurde der Handel um 50 Prozent beschränkt und kam ein Jahr später ganz zum Erliegen. Albert wurde am 10. November 1938, als die Emmendinger Synagoge schon brannte, nach Dachau deportiert. Dort blieb er bis zum 22. Dezember 1938 interniert.

As early as March of 1933, the influence of the NSDAP became more noticeable in Emmendingen.³ By law, the city administration was assigned two Nazi commissioners who were let in on all administrative matters and given an advisory role at various committee meetings. So the Nazi orientation of the decisions was assured. The national boycott of Jewish businesses was ordered in Emmendingen as well. To this purpose, the local NSDAP published a “Verzeichnis der jüdischen Handels- und Gewerbetreibenden” (list of Jewish trade- and commercial businesses). Among the Jewish businesses listed on the NSDAP published boycott list were the cigar manufacturers Günzburger & Co. and the cattle dealers Albert and Hermann Günzburger. Since 1931, Albert along with his cousin Hermann Günzburger managed this business at 40 Karl-Friedrich-Street. Hermann was the son of Jonas Samuel Günzburger, a brother of Albert’s father Israel Samuel. By 1937, their trade was restricted by 50 percent and a year later, it came to a complete halt. On November 10, 1938 (Kristallnacht), the Emmendinger synagogue already burning, Albert was deported to Dachau. There he was detained until December 12, 1938.

Im November 1939 startete Albert mit seiner Frau Jeanne und Sohn Hugo die Ausreise.⁴ Bevor er mit seiner Familie das Land verlassen konnte, musste er wie alle flüchtenden

In November 1939, Albert started the plans to emigrate with his wife Jeanne and son Hugo.⁴ Before he could leave 177


Deutschen jüdischen Glaubens zuerst eine „Judenvermögensabgabe“ leisten, seine Außenstände aus dem Viehhandel konnte er nicht mehr realisieren, sein Schmuck, seine Wertsachen wurden ersatzlos eingezogen, das Restkonto wurde ihm entzogen, seine Lebensversicherung musste er zwangsweise zurückkaufen. Das Grundstück Karl-Friedrich-Straße 40 musste – unter Wert – zwangsweise verkauft werden. Zu allem Übel ging sein Lift im Seehafen verloren.⁵ Und dennoch war diese Flucht die Rettung. Ein Jahr später wäre die Familie Albert Günzburger wie sein Vetter und Geschäftspartner Hermann Günzburger der Wagner-Bürckel Aktion zum Opfer gefallen.⁶ Albert, Jeanne und Hugo flohen zuerst nach Buenos Aires zur Familie ihrer Tochter Ruth,

the country with his family, he first had to pay the „Judenvermögensabgabe“ (Jewish capital levy) like all Germans of Jewish faith fleeing the country: He was unable to liquidate the remainder of his cattle business, his jewelry and other valuables were taken from him without compensation, the remaining money was taken from him, and he was forced to buy back his life insurance. The land of 40 Karl-FriedrichStreet had to be sold—under price. Making matters worse, his “Lift” was lost at the docks.⁵ And yet, this escape was their rescue. If the family of Albert Günzburger had not been able to leave Germany at the time they did, the family would have become victims like Albert’s cousin and business partner Herman Günzburger who became victims

98: Im Büro der Firma Günzburger & Co. Rechts neben dem Pfeiler stehend Walter Günzburger; unten rechts am Schreibtisch Hans Brandt, sein späterer Schwager 98: In the office of Günzburger & Co.: to the right of the pillar stands Walter Günzburger; bottom right at the desk is Hans Brandt, who later became his brother-in-law

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die bereits mit ihrem Mann Hans Brandt dort weilte. Nach einem Jahr zog Albert nach Montevideo. Er starb dort im Alter von 74 Jahren am 11. November 1954. Jeanne zog zu ihrer Tochter Ruth nach Buenos Aires und starb dort im Alter von 85 Jahren am 13. Juli 1970.

Walter Günzburger Walter, der älteste Sohn von Albert und Jeanne besuchte die Volksschule in Emmendingen und wechselte auf die Oberrealschule am Ort.⁷ Am Ende der Obersekunda – heute Klasse 11 – verließ er 1927 die Schule. Er begann eine Banklehre, die er am 31. Oktober 1929 erfolgreich absolvierte. Noch zwei Monate blieb er dort als Bankangestellter. Von Anfang 1930 bis Mitte März 1931 war er als Volontär bei einer Basler Firma beschäftigt. Danach arbeitete er in der Zigarrenfabrik Günzburger & Co., die sein bereits verstorbener Onkel Hugo gegründet hatte.⁸ Walter brachte sich wie sein Vater Albert aktiv ins Gemeindeleben ein. Er verwaltete die Kasse im Jüdischen Jugendbund, Emmendingen. Nach der „Arisierung“ der Zigarrenfirma am 1. Februar 1936 wurde er noch bis Oktober 1936 vom Nachfolger geduldet. Am 17. November 1936 wanderte Walter nach Uruguay aus. Dort war er zuerst einmal arbeitslos, konnte aber am 17. Februar 1937 als Angestellter einer Firma seinen Lebensunterhalt verdienen. Walter siedelte 1950 nach Buenos Aires, Condarco 879 über. Zweimal war Walter verheiratet. Beide Ehen blieben kinderlos.

during the Wagner-Bürckel campaign.⁶ Albert, Jeanne and Hugo first fled to Buenos Aires to the family of their daughter Ruth, who had already been living there with her husband Hans Brandt. After a year, Albert moved to Montevideo. He died there at the age of 74 on November 11, 1954. Jeanne moved back to her daughter Ruth to Buenos Aires, where she died at the age of 85 on July 13, 1970.

Walter Günzburger Walter, Albert’s and Jeanne’s oldest son, attended elementary school and secondary school in Emmemdingen.⁷ At the end of the “Obersekunda” (today’s 11th grade), he left the school in 1927. He started an apprenticeship as a bank clerk, which he successfully completed on October 31, 1929. He stayed there for two months as a bank clerk. From early 1930 to mid-March 1931, he volunteered at a branch in Basel. He then worked in the cigar factory Günzburger & Co., founded by his late uncle Hugo.⁸ Like his father Albert, Walter was active in the Jewish community. He managed the funds for the Jewish youth of Emmendingen. After the “aryanization” of the cigar company on January 2, 1936, he was still kept on by the successor until October 1936. On November 17, 1936, Walter emigrated to Uruguay. There, he was unemployed at first but on February 17, 1937, he was hired at a company. Walter moved to Buenos Aires in 1950, 879 179


Noch einmal besuchte er seinen Heimatort. Emmendingen lud 1999 die noch lebenden ehemaligen Bürger jüdischen Glaubens ein. Auch Walter kam und traf dort auf seine Kusine Lore sowie auf seine angeheiratete Kusine Gerda Günzburger, geb. Elias, der Frau seines Vetters Fritz. Walter starb 2007 mit 97 Jahren.

Condarco. Walter was married twice. Both marriages were childless. He visited his hometown once more. In 1999, Emmendingen invited all living former citizens of Jewish faith. Walter came and met his cousin Lore as well as his cousin-in-law Gerda Günzburger, born Elias, the wife of his cousin Fritz. Walter died in 2007 at age 97.

Ruth Günzburger Ruth Günzburger Ruth besuchte zuerst die Volksschule und danach die Realschule in Emmendingen. Nach der Untertertia – heute Klasse 8 – wechselte sie zur höheren Handelsschule Freiburg, die sie zwei Jahre lang besuchte. 1929 begann sie als kaufmännische Angestellte in der Textilschuhfabrik Pionier GmbH in Emmendingen. Am 31. Juli 1934 wurde sie aus dem „arischen Betrieb“ entlassen. Unter dem Druck der zunehmenden Repressalien gegen Deutsche jüdischen

Ruth first attended the elementary school and then secondary school in Emmendingen. After the “Untertertia” (today’s 8th grade), she transferred to the “Handelschule Freiburg”, which she attended for two years. In 1929, she started as a clerk at the shoe factory Pioneer GmbH in Emmendingen. On July 31,1934, she was let go from the “Aryan operation”. Under the pressure of increasing repri-

99: Ruth, vierte von links. 99: Ruth, forth from left.

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Glaubens entschloss sich Ruth, 1937 nach Argentinien auszuwandern. Zuerst war sie dort als Heimarbeiterin beschäftigt. Sie heiratete am 4. März 1937 ihren aus Emmendinger Zeiten bekannten Freund Hans Brandt. Im Frühjahr 1943 gab sie ihre Berufstätigkeit auf. Sie wollte sich ganz auf die Geburt ihres ersten Kindes, der Tochter Sylvia, konzentrieren. Erst nach dem frühen Tod ihres Mannes im Jahr 1950 nahm sie wieder eine Arbeit an. Diese Beschäftigung sicherte ihr keine ausreichende Lebensgrundlage. Die Witwe war auf die Hilfe ihrer Familie angewiesen. Ruth starb am 21. Oktober 2004 im Alter von fast 93 Jahren.

sals against Germans of Jewish faith, Ruth decided to emigrate to Argentina in 1937. At first, she worked on a homebased job. On March 4, 1937, she married Hans Brandt, her boyfriend from Emmendingen. In the spring of 1943, she gave up her profession. She wanted to focus completely on the birth of their first child, daughter Sylvia. Ruth did not resume working outside of the home until the untimely death of her husband in 1950. Her employment did not secure a sufficient livelihood. The widow was reliant on the help of her family. Ruth died on October 21, 2004 at the age of almost 93.

Hans Brandt – Ruths Gatte Hans Brandt—Ruth’s husband Hans Brandt wurde am 5. Juni 1909 in Odenheim bei Bruchsal geboren.⁹ Der Ort liegt ca. 160 Kilometer nördlich von Emmendingen zwischen Karlsruhe und Heidelberg. Seine Vorfahren waren vor 1800 hierher gezogen. Hans absolvierte eine kaufmännische Lehre vom 1. April 1924 bis zum 1. April 1927. Ausbildungsstätte war eine Zweigstelle der Bruchsaler Zigarrenfirma Reiss in der Schulstraße, Odenheim. Er blieb in diesem Betrieb bis 1932 beschäftigt und war im Lohn- und Versicherungswesen tätig.

Hans Brandt was born on June 5, 1909 in Odenheim near Bruchsal.⁹ The town is located about 160 kilometers north of Emmendingen between Karlsruhe and Heidelberg. His ancestors had moved here before 1800. Hans completed an apprenticeship between April 1, 1924 and April 1, 1927. The school was a branch of the Bruchsal’s cigar company Reiss, located on Schul Street, Odenheim. He stayed with this company until 1932 and was employed in the payroll and insurance department.

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100: Martin, Sohn von Ruth und seine Frau Marta Brandt vor dem Haus seines Vaters Hans in Odenheim. 100: Martin, son of Ruth, and his wife Marta Brandt in front of the house of his father Hans in Odenheim.

Zum 18. Oktober 1932 wechselte Hans nach Emmendingen zu Günzburger & Co. Dort übernahm er eine Führungsposition als Prokurist. Er war u. a. für folgende Geschäftsbereiche zuständig: Fertigung und Kontrolle in sieben Filialbetrieben, Aufsicht über Lager- und Zollarbeiten, Verhandlungen mit den Belegschaften der Filialbetriebe und Einkauf von Rohtabak. Hans wurde 1933 oder 1934 von Henri Richheimer, dem Mitinhaber der Firma Günzburger und Co., nach USA geschickt, um den Entwicklungsstand der amerikanischen Zigarrenindustrie zu studieren.¹⁰ Hans sollte erkunden, ob dort ein neuer Anfang in der Tabakindustrie für Richheimer möglich wäre. Die Erkenntnisse aus Übersee waren ernüchternd. Die amerikanische Zigarrenfabrikation war der deutschen weit voraus. Längst hatte man auf maschinelle Herstellung der Zigarren umgestellt. Für einen Einstieg in das Geschäft fehlten Richheimer sowohl die nötigen finan182

On October 18, 1932, Hans transferred to Emmendingen’s Günzburger & Co., where he assumed a leadership position as general manager. Among other things, he was responsible for the following divisions: Production and control in seven branch operations, overseeing warehousing and customs work, supply negotiations with the workers at the branch offices and purchase of raw tobacco. In 1933 or 1934, Hans was sent to the USA by Henri Richheimer, the co-owner of Günzburger & Co., to study the American cigar industry.¹⁰ Richheimer wanted Hans to explore the possibility of setting up a cigar factory in the USA. The findings from overseas were sobering. The American cigar industry was far ahead of the German one. They had long since changed to mechanical production of cigars. To get into the business, Richheimer lacked both the financial means and the necessary expertise in the mechanical pro-


ziellen Mittel als auch das notwendige Fachwissen in der maschinellen Herstellung von Zigarren. Ganz abgesehen von den sprachlichen Barrieren, die es bei der Aquise von Kunden zu überwinden galt.

duction of cigars. That is apart from the language barrier he would have needed to overcome to acquire customers.

Hans’ Escape from Emmendingen

Hans Flucht aus Emmendingen

Like his future brother-in-law Walter, he was dismissed by the “aryanizer” of Günzburger & Co, the successor BurWie sein zukünftiger Schwager Walter wurde er im Ok- ger, in October 1936. Hans Brandt lived in Emmendingen tober 1936 vom „Ariseur“ der Firma Günzburger & Co., near the synagogue. His neighbors were the (Catholic)

101 & 102: Zwei Seiten aus dem argentinischen Ausweis von Hans Brandt. 101 & 102: Two pages oft he Argentine passport of Hans Brandt.

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dem Nachfolger Burger, entlassen. Hans Brandt wohnte in Emmendingen in der Nähe der Synagoge. Seine Nachbarn waren eine (katholische) Familie Held. Eines Tages im Jahr 1936 kamen SA-Leute mit der Drohung zu Held, man wisse, dass nebenan ein Jude wohne. Sollte der morgen noch da sein, dann werde man ihn holen. Die Familie Held warnte Hans, der daraufhin mit seinem PKW aus Emmendingen fliehen wollte. Auf der Flucht baute er einen Unfall. Ein Polizist wurde gerufen und der gab Hans den Rat, schnell weiter zu fahren. So hatte er zum Schluss Glück im Unglück.¹¹ Noch vor seiner Freundin Ruth verließ er Emmendingen. Er entschloss sich zur Ausreise nach Argentinien, weil bereits 1869 ein Vorfahre mit seiner Familie dahin ausgewandert war. Diese verwandtschaftlichen Beziehungen nutzten ihm beim Neustart in Buenos Aires. Hans nannte sich fortan Juan. Seine alte Heimat besuchte Hans nicht mehr. Er starb mit 54 Jahren im Jahr 1950. Sein Sohn Martin war zu der Zeit knapp ein Jahr alt.

family Held. One day in 1936, SA people came to the Held family, saying that they knew there was a Jew living next door. Should he still be there tomorrow, he would be deported. The Held family warned Hans, who then tried to escape by car from Emmendingen. While escaping, he got into an accident. A policeman was called and counseled Hans to continue on his way quickly. That was his blessing in disguise.¹¹ He left Emmendingen before his girlfriend Ruth did. He decided to emigrate to Argentina because an ancestor had emigrated there with his family in 1869. The family members helped him with his new start in Buenos Aires. Hans changed his name to Juan. He did not visit his hometown again. He died at age 54 in 1950; his son Martin was just under a year old at the time.

His daughter Sylvia is married to Fernando Beverstein and lives in Buenos Aires with her family. Son Martin and his wife Marta and daughter Lorena live a few streets down. Seine Tochter Sylvia ist mit Fernando Beverstein verhei- Martin has visited Germany several times with his wife, in ratet und lebt in Buenos Aires mit ihrer Familie. Sohn Mar- particular Odenheim but also Emmendingen. Even today, tin mit Ehefrau Marta und Tochter Lorena wohnen ein paar he is friends with the descendants of the Held family, who Straßen entfernt. Martin besuchte mehrmals mit seiner had warned his father Hans of the impending SA arrest Frau Deutschland, insbesondere Odenheim aber auch Em- in 1936. mendingen. Noch heute ist er mit den Nachfahren jener Familie Held befreundet, die seinen Vater Hans 1936 vor dem Zugriff der SA gewarnt hatte. 184


103: Von rechts: Martin, Marta, Lorena, Peter und Hanna (Hanneke) Schmitz. Familie Brandt in Köln; Juli 2013 103: From the right: Martin, Marta, Lorena, Peter and Hanna (Hanneke) Schmitz. Brandt family in Cologne; July 2013.

Hugo

Hugo

Hugo war in Freiburg geboren, aber seine Eltern wohnten noch in der Karl-Friedrich-Straße in Emmendingen.¹² 1937 war er im schulpflichtigen Alter. Zu der Zeit war Kindern jüdischer Herkunft der Schulbesuch in einer öffentlichen Schule verwehrt. Er musste in die einzig erreichbare jüdische Schule nach Freiburg. Das bedeutete eine tägliche Zugreise von einer halben Stunde Dauer zwischen seinem Wohnort und dem Standort seiner Schule. Eine Herausforderung für ein Kind, auch wenn der Bahnhof in Emmendingen in Fußgehweite lag. Wie mag dem Kleinen zumute gewesen sein? Es war nicht nur der beschwerliche Schulweg.

Hugo was born in Freiburg but his parents were still living on Karl-Friedrich-Street in Emmendingen.¹² In 1937, he was of school age. At the time, children of Jewish origin were denied access to public school. He attended the only closeby Jewish school in Freiburg. That meant a daily one hour train ride from his residence to his school. A challenge for a child, even though the train station in Emmendingen was within walking distance. How may the young boy have felt? It was not only the arduous trip to school. Even harder was the feeling of being excluded, the daily confrontation 185


Schwerer wog das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, die tägliche Konfrontation mit älteren oder gleichaltrigen Kindern, die ihn wegen seiner jüdischen Herkunft mobbten. Hugo floh im Alter von knapp acht Jahren mit seinen Eltern – siehe oben – nach Montevideo. Aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten konnte er dort nur eine Volksschule besuchen. Nach Abschluss der Schule nahm er eine Bürotätigkeit an. Als Hugo 23 Jahre alt war, starb sein Vater. Jetzt war er auch für den Unterhalt seiner Mutter Jeanne verantwortlich. Hugo heiratete Raquel Dolfin, die am 19. August 1940 in Montevideo geboren wurde. Am 25. November 1965 wurde dort die gemeinsame Tochter Mariela geboren. 1982 zog er mit seiner Familie nach Israel. Hugo starb dort 1988 im Alter von 56 Jahren. Seine Frau Raquel wie die Familie seiner Tochter Mariela, verheiratet mit Moshe Tzafati, leben heute dort.

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with older or same-aged children who bullied him for being Jewish. Hugo fled at the young age of eight with his parents—see above—to Montevideo. Due to language difficulties, he was not able to attend school at a high school level. After finishing school, he worked in an office. When Hugo was 23 years old, his father died. Now he was also responsible for the livelihood of his mother Jeanne. Hugo married Raquel Dolfin, born on August 19, 1940 in Montevideo. On November 25, 1965, their daughter Mariela was born. In 1982, he and his family moved to Israel. Hugo died there in 1988 at the age of 56. His wife Raquel and the family of his daughter Mariela, who married Moshe Tzafati, still live there today.


Endnoten Endnotes 1) 2)

Adressbuch der Stadt Emmendingen 1929. 1929 Emmendinger address book. Details aus: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24. Details taken from: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24. 3) „Es geschah vor 50 Jahren“; Stadtarchivar E. Hetzel in der Badischen Zeitung 4) Vgl. Kapitel Julius; dort die Problematik der Auswanderung. Compare Chapter Julius; discusses the problem of emigration. 5) Lift = Gepäckcontainer. Lift = container of luggage 6) Siehe Kapitel Rosa. See Chapter Rosa. 7) Details aus: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24. from: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24. 8) Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Hugo. 9) Krapp, E. (2013): Die Geschichte der Juden in Odenheim. Odenheim 10) Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Hugo. 11) Mündliche Mitteilung von Martin Brandt 2013. Verbal communication from Martin Brandt 2013. 12) Details aus: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24. Details from: HStA Stuttgart, Bestand Jüdische Einzelschicksale, EA 99 / 01, Bü 24.

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Hugo Günzburger (1881–1928)

104: Hugo 1926 im Alter von 45 Jahren. 104: Hugo in 1926 at the age of 45.

Hugo wurde am 17. November 1881 in Emmendingen als fünftes Kind der Eheleute Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette geboren. Er wuchs mit seiner Familie im „Alten Ochsen“ in der Karl-Friedrich-Straße in Nieder-Emmendingen auf. Hugo besuchte zuerst die Volksschule, später die Realschule am Ort, die kaum 200 Meter von seiner Wohnung entfernt war. Nach dem Schulbesuch musste sich Hugo für einen Beruf entscheiden. Welche Alternativen standen ihm offen?

Hugo was born on November 17, 1881 in Emmendingen, the fifth child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette. He grew up with his family in the “Alten Ochsen” on Karl-Friedrich-Street in Lower Emmendingen. Hugo first attended the “Volksschule” (elementary school) and later the town’s “Realschule” (5th through 10th grade) located a mere 200 meters from his home. After this schooling, Hugo had to decide on a career. What were his options?

In the 19th century, Emmendingen took advantage of its Emmendingen zog im 19. Jahrhundert Nutzen aus sei- proximity to the North-South trade route. A considerable ner verkehrsgünstigen Lage an der Nord-Süd-Handels- industrial boom sparked a significant population growth. route. Ein beachtlicher industrieller Aufschwung löste ein In addition to a textile company called “Ramie”, there was a 188


sprunghaftes Bevölkerungswachstum aus. Neben einem Textilunternehmen namens Ramie gab es metallverarbeitende Industrie und zwei Zigarrenfabriken – wenig erstaunlich angesichts der umliegenden Tabakanbaugebiete. Beide Firmen gehörten jüdischen Fabrikanten. Kein Zufall, denn die Stadt Emmendingen galt seit Jahrhunderten als liberal und offen für jüdische Zuwanderer. Der Tabakanbau in Süddeutschland hatte eine über 400 Jahre alte Tradition vorzuweisen. Ab Anfang des 20. Jahrhunderts wurde für die kleinbäuerliche Landwirtschaft insbesondere in Baden und der Südpfalz Tabak eine der wichtigsten Einnahmequellen. Tabak bot vielen Landwirtsfamilien und Tagelöhnern Arbeit und Einkommen, nachdem ein Beimischungszwang für heimischen Tabak in Zigarren und Zigaretten in Deutschland eingeführt worden war. In Baden war für die Juden neben dem Kornhandel und dem Handel mit anderen landwirtschaftlichen Produkten die Tabakfabrikation wesentlich.¹

metal-processing factory and two cigar factories—not surprising given the surrounding tobacco fields. Both companies belonged to Jewish industrialists. That was not a coincidence as the city of Emmendingen had been liberal and open to Jewish immigration for centuries. Cultivation of tobacco was a 400-year-old tradition in Southern Germany. Since the early 20th century, tobacco was one of the most important sources of income for small agricultural businesses in particular in Baden and the Suedpfalz. The tobacco industry offered many farming families and day laborers work and income, especially after a law was passed requiring domestic tobacco to be mixed in with all cigars and cigarettes produced in Germany. Besides the grain and other agricultural trade, the tobacco industry was essential for the Jews in Baden and the Südpfalz (Southern Palatinate).¹

Hugo decided on an education in the tobacco industry. He began an apprenticeship with the tobacco company Max Hugo entschied sich für eine Ausbildung im Tabakgewer- Bloch in Emmendingen on September 10, 1896 at the age of be. Er begann am 10. September 1896 im Alter von 15 Jahren 15 years. After four years, he completed his apprenticeship eine Lehre bei der Tabakfirma Max Bloch aus Emmendin- successfully. He remained with the company until 1906, as gen. Nach vier Jahren schloss er die Lehre erfolgreich ab. Er his certificate shows. blieb noch in der Firma bis 1906, wie sein Zeugnis zeigt.

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105: Zeugnis der Emmendinger Cigarrenfabrik. Transkript: Emmendingen, den 10. Februar 1906 Zeugniss: Herr Hugo Günzburger von Emmendingen trat am 10. September 1896 als Lehrling bei uns ein. Nach beendeter Lehrzeit war er als Comis und seit 1. Januar 1900 als Buchhalter & Transportant² bei uns tätig. Mit Bedauern sehen wir Herrn Günzburger heute aus seiner Stellung scheiden, wusste er doch während seiner ganzen Tätigkeit durch seinen Fleiß, Pünktlichkeit & besonders seinen Fähigkeiten unsere vollste Zufriedenheit zu erwerben. Sein Austritt erfolgt auf eigenen Wunsch, um einen selbstständigen Posten zu übernehmen & wünschen wir ihm alles Gute auf seinen ferneren Wegen. Max Bloch &Co 105: Certificate of Emmendinger Cigarrenfabrik. Transcript: Emmendingen, February 10, 1906 Certificate: Mr. Hugo Günzburger from Emmendingen started his apprenticeship with us on September 10, 1896. After completing the apprenticeship, he worked as a Comis (clerk) and since January 1, 1900 as an accountant & courier². We regret seeing Mr. Günzburger leave his position today as he has earned our full satisfaction by his diligence, punctuality and especially his capabilities during the time of his employment with us. He is leaving today at his own request to become self-employed and we wish him all the best for his future. Max Bloch & Co

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Um weitere Berufserfahrungen zu sammeln, wechselte Hugo am 13. Februar 1906 nach Metz-Sablon in Lothringen, das damals noch zum „Deutschen Reich“ gehörte. Dort arbeitete er bei der Firma M. Rosenkranz, die u.a. den Vertrieb von Jasmatzi Zigaretten aus Dresden betrieb. Am 29. November 1909 erhielt Hugo auch hier ein hervorragendes Zeugnis.

In order to gain further professional experience, Hugo transferred to Metz Sablon in Lothringen on February 13, 1906—at the time this region was still a part of the “German Reich”. There he worked at the company of M. Rosenkranz, which among other things sold Jasmatzi cigarettes from Dresden. On November 29, 1909 Hugo received an excellent certificate here.

106: Zeugnis der Firma M. Rosenkranz. Transkript: Sablon, den 29. Novbr. 1909 Zeugniss Herr Hugo Günzburger war vom 13. Februar 1906 bis heute in meiner Firma tätig. Ich kann demselben das Zeugnis eines außerordentlichen gewissenhaften Kaufmanns, der auf allen Gebieten der Cigarrenfabrikation als ein erstklassiger Fachmann bezeichnet werden kann, ausstellen. Seine hervorragenden Eigenschaften in allen Zweigen eines kaufmännischen Betriebes, sei es auf dem Büro, auf der Reise oder in der Fabrikation sichern ihm eine vielversprechende Zukunft in seinem neuen Wirkungskreise, wohin ihn meine besten und aufrichtigsten Wünsche begleiten. M. Rosenkranz 106: Certificate of M. Rosenkranz factory. Transcript: Sablon, November 29 1909 Certificate: Mr. Hugo Günzburger worked at my company from February 13, 1906 until today. He is an extraordinarily diligent businessman who may be described as a first class expert in all areas of cigar manufacturing. His excellent qualities in all branches of a commercial operation, whether in the office, traveling or in the factory secure him a promising future in his upcoming sphere of influence, where my best and most sincere wishes accompany him. M. Rosenkranz

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Die Anfänge der Firma Günzburger & Co.

The Beginnings of Günzburger & Co. 107: Fabrik in Wyhl 107: Manufacturing house in Wyhl

Am 1. Januar 1910 begann Hugo Günzburger die Fabrikation von Zigarren in der Wirtschaft Zum Adler in Wyhl; die dazu notwendige Tabakentfeuchtungsanlage wurde in der Kegelbahn der Gaststätte eingerichtet. Arbeit gab es vorerst für 30 bis 40 Personen.³

On January 1, 1910, Hugo Günzburger began the manufacturing of cigars in the former restaurant “Zum Adler” in Wyhl with the required dehumidification facility set up in the bowling alley of the guest house. They initially had work for 30 to 40 people.³

108: Alter Ochse in Emmendingen. Gründungsstätte. Büro / Sortierraum 108: Alter Ochse in Emmendingen. Headquarter. Shipping, sorting and packaging.

Hugos Partner war Ferdinand Richheimer, der aus Hugo’s partner was Ferdinand Richheimer who came Mannheim stammte und seit 1879 im saarpfälzischen Neu- from Mannheim and since 1879 operated a small cigar fac192


lussheim und später im nordbadischen Ketsch eine kleine tory in Saar-Palatinate Neulussheim and later in Ketsch Zigarrenfabrikation betrieb. Mannheim lag ca. 200 Kilome- in northern Baden. Mannheim was about 200 kilometers ter nördlich von Emmendingen. north of Emmendingen. Der kaufmännische Sitz der Firma befand sich im „Alten Ochsen“, wo auch Versand, Sortiererei und Packraum untergebracht waren. Hier arbeitete vorerst Hugo mit einem Lehrling und einem Faktor.⁴ Im weiteren Verlauf konzentrierte sich Hugo auf die produktionstechnische Seite, während Ferdinand Richheimer sich um den Vertrieb kümmerte. Mit zunehmender Produktion änderten sich auch die Transportmethoden. Die Ware wurde zuerst von einem Arbeiter mit dem Handkarren von der Karl-Friedrich-Straße zum Bahnhof gebracht. Später übernahmen diese Arbeit Ochsengespanne des Fuhrunternehmers Albert Günzburger, noch später der firmeneigene Lastwagen. Albert war Hugos Bruder und wohnte ebenfalls wie Mutter Babette im „Alten Ochsen“.

The company’s commercial headquarters was in the “Alten Ochsen”, and also housed the shipping, sorting and packing room. Here, Hugo initially worked with an apprentice and a “faktor”.⁴ As time went on, Hugo concentrated on the production end of the business while Ferdinand Richheimer took care of distribution. With increasing production, the methods of transport also changed. The product was first delivered from Karl-Friedrich-Street to the train station by a worker using a push cart. Later a team of oxen from hauler Albert Günzburger took over this work; later yet, the company acquired its own truck. Albert was Hugo’s brother and also lived in the “Alten Ochsen” with mother Babette.

109: Erster LKW der Firma Günzburger, 1911. 109: First truck of the Günzburger company, 1911.

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Die gesamte Produktion des Betriebs in Wyhl wurde in Mannheim abgesetzt. Dabei profitierte das junge Unternehmen von Ferdinands früherem Kundenstamm. Es war diesem Verkaufstalent zu verdanken, dass 16 Monate nach Firmengründung bereits in Wyl ein eigener Fabrikneubau errichtet werden musste, der nach relativ kurzer Zeit erweitert wurde.

The entirety of the production in Wyhl was distributed in Mannheim; and thereby the young company profited from Ferdinand’s former customer base. Thanks to this sales genius, a new factory building had to be build and soon expanded in Wyhl just 16 months after the founding of the company.

Familie Hugo Günzburger

Family of Hugo Günzburger

110–112: Philipp Günzburger liegt auf dem neuen jüdischen Friedhof von Emmendingen begraben. 110–112: Grave of Philipp at the new Jewish cemetery

Hugos Vater Israel Samuel hatte einen Bruder Philipp Samuel Günzburger, verheiratet mit Lina Haas. Philipp war Fabrikant einer Sackfabrik Günzburger & Haas in der Steinstraße. Philipp war im Jahr 1903 als Mitglied des Bürgerausschusses ausgewiesen, 1912 war er Gemeinderat. Er lebte mit seiner Familie in der Romaneistraße, 500 Meter vom „Alten Ochsen“ entfernt. Philipp hatte eine Tochter na194

Hugo’s father Israel Samuel had a brother named Philipp Samuel Günzburger, who was married to Lina Haas. Philipp was a manufacturer at the packing company “Sackfabrik Günzburger & Haas”, located on Steinstreet. Philipp was a reported member of the citizens’ committee in 1903, and he was on the municipal council in 1912. He and his family lived on Romaneistreet, 500 meters from the „Alten Och-


mens Marta. Nach dem Tod von Philipp 1916 musste die Fabrik schließen, weil der Sohn Franz im Krieg war. Erst 1918 öffnete Franz wieder. Neuartige Imprägnierungsmethoden führten zu Geruchsbelästigungen. Daher musste die Anlage geschlossen werden, die Arbeiter wechselten zur Zigarrenfabrik Günzburger & Co.

sen“. Philipp had a daughter named Marta. After the death of Philipp the factory had to be closed because Philipp’s son Franz was in war. After 1918 Franz reopened the factory. New engraving methods led to odor complaints. Therefore, the facility had be closed down, and workers transferred to the cigar factory Günzburger & Co.

Hugo und seine Kusine Marta kannten sich von Kindesbeinen an. Zärtlich formulierte Briefe lassen auf ein inniges Verhältnis zwischen dem jungen Mann und der 16-jährigen schließen. Hugo und Marta heirateten am 11. Februar 1911 in Emmendingen. Die erste Tochter Käte wurde am 4. Januar 1912 in Emmendingen geboren, die zweite Tochter Lore am 27. Mai 1919 in Freiburg. Es war eine Liebesheirat und keine durch einen Vermittler arrangierte Beziehung. Der Enkel des Patriarchen Samuel Kaufmann vertrat einen jüdischen Liberalismus, geprägt von religiöser Toleranz. Die religiöse Praxis überließ man der „gewissenhaften Überzeugung“ jedes Einzelnen.⁵ Tochter Lore erinnerte sich im Jahr 2011, dass ihr Vater Hugo gerne Gedichte verfasste. Während seiner Zeit in Metz-Sablon von 1906 bis 1909 schrieb Hugo seiner lieben Marta Briefe in Gedichtform. Wir geben hier ein paar seiner Briefe an Marta im Original wieder und stellen jeweils die Übersetzung daneben.

Hugo and his cousin Marta knew each other from childhood. Affectionately worded letters suggest an intimate relationship between the young man and the 16-year-old. Hugo and Marta were married on February 11, 1911 in Emmendingen. Their first daughter Käte was born on January 4, 1912 in Emmendingen; their second daughter Lore was born on May 27, 1919 in Freiburg. They married for love; their marriage was not arranged. The grandson of the patriarch Samuel Kaufmann took a stance of Jewish liberalism, characterized by religious tolerance. The religious practice was left to the “conscientious conviction” of each individual.⁵ Daughter Lore recalled in 2011 that her father Hugo liked to write poems. During his time in Metz-Sablon between 1906 and 1909, Hugo wrote his love letters to Marta in the form of poems. We will show copies of his original letters to Marta with the respective translation next to it.

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113: Brief, 22. Januar 1907. Transkript: Zum 22. Januar 1907

113: Letter, January 22, 1907. Transcript: On January 22, 1907

Morgen ist’’ –, noch süss du schlummerst,

Morning it is—you are still sweetly asleep,

Als schon Gaben, all’ für dich,

As gifts—all for you

Reihenweise, schön und praktisch,

Row-by-row, beautiful and practical have

Traget der Geburtstagstisch.

Taken over the birthday table.

Allen würd’ zuvor ich kommen,

All preceding

Gerne dir das Schönste weih’n,

Glady would I give you the best

Unterdessen müsste aber,

Unfortunately, it would need to first be

Erst der „Erste“ nochmals sein.

Essentially the “1st“ again.

Nun so nahe ich mich heute,

Now I’m coming to your house,

Zwar mit leeren Händen dir,

Zooming but with empty hands,

Bringe aber beste Glückwünsch’,

Bringing though the best of wishes and the,

Und von Herzen Grüss dafür.

Usual heartfelt greetings.

Rechtes Glück und stete Freuden,

Repeated fortune and joy always,

Gebe Dir dein Genius,

Given by your genius,

Einen Mund – das wäre alles –,

Else a mouth—that would be good

Reich’ ich, zum Geburtstagskuss.

Reaching for a birthday kiss

Metz-Sablon

Metz-Sablon

Hugo Günzburger

Hugo Günzburger

MARTA GUENZBURGER ergaben die AnfangsbuchstaThe acrostic of this love letter read: MARTA GUENZBURben dieses Liebesbriefs. GER.

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Marta wechselte 1907 auf ein Internat. Hugo schrieb zu diesem Anlass folgende Zeilen: 114: Brief zum Abschied. Transkript:

Marta transferred to a boarding school in 1907. Hugo wrote her the following letter on this occasion:

114: Saying goodbye. Transcript:

Zum Abschied.

Saying Good-bye

Du ziehst fort jetzt in die Ferne,

You are moving far away,

Verläßt das Heim für längere Zeit,

Leaving home for quite some time,

Wo deine Eltern stets so gerne,

Though you parents if they may,

In Liebe schützten dich vor Leid.

In love make sure that you are fine.

Du sollst noch lernen – weiter bilden

You will gain more education—learning,

Und neue Eindrück’ nehmen auf;

New impressions, dear,

Du wirst auch Gutes, Schönes finden,

Beauty and goodness discerning,

Und übers Jahr kehrst du nach Haus.

Until you return home in a year.

Wenn dann durch fremde Umgangssitten,

While you are out on this task

Du äusserlich verändert bist,

Your appearance may change a bit,

So möcht’ ich doch um „Eines“ bitten:

Only one thing I ask,

Dein innerer Kern bleib’ wie er ist.“

The inward change you please omit.

Metz Ende August 1907

Metz End of August 1907

Hugo Günzburger

Hugo Günzburger

197


Zu Martas 17. Geburtstag schrieb Hugo erneut einen Brief, dessen Anfangsbuchstaben ergaben: MEINEM LIEB GEWIDMET:

For Marta’s 17th birthday, Hugo wrote another letter in acrostic form, this time spelling: “Meinem Lieb Gewidmet” (dedicated to my love):

115: Brief, 22. Januar 1908. Transkript:

198

115: Letter, January 22, 1908. Transcript:

Zum 22. Januar 1908

On January 22, 1908

Meinem Liebchen will ich heute,

My dear on this day,

Einen Gruss poetisch weih’n,

Escapes a poetic greeting,

Immer kleiden sich am Besten,

In as much it so well,

Noch die Wünsch’ in Versen ein.

Names my wishes in verses.

Es ist zwar ganz überflüssig,

Even though it’s unnecessary,

Meine Wünsch’ zu zählen auf,

My wishes to recount to you,

Liessen alle sich erfüllen,

Let all of them come true, what

Ja dann wärst du fein heraus.

Joy that would be.

Erst Gesundheit die für All,

Everyone on earth good health,

Berget doch Das höchste Gut,

Best asset is it after all,

Glück dann, das man auch nicht minder,

Good luck next, that is secondarily

Erst recht oft gebrauchen thut.

Ever so useful.

Was ich sonst noch wünsch’ & hoffe,

What other things I hope and wish,

Ja das wäre einzig schön,

Just wonderful it would be,

Denke doch schon seit sechs Monden,

Dreaming now for six moon’s time,

Möchte ich dich wiederseh’n

May I see you very soon. As an

Eine Losung schreib ich nieder,

Exercise I write this,

Teure komme ja bald wieder.

Treasure, come home soon.

Metz 21. Januar 1908

Metz January 21, 1908 Hugo

Hugo


Der Erste Weltkrieg

World War I

Während des Ersten Weltkrieges profitierte die Firma Günzburger & Co. wie fast alle Zigarrenfabrikanten Deutschlands vom Kriegsboom. Die damit verbundene Produktionsausweitung führte sogar dazu, dass die Belegschaft der Emmendinger Sackfabrik Günzburger & Haas übernommen werden konnte. Von den Weltmärkten isoliert, wurden fast ausschließlich Inlandstabake verarbeitet.

During World War I, Günzburger & Co.—like almost all cigar manufacturers in Germany—benefited from the war boom. The increase in production associated with this even meant that the workforce of the Emmendinger “Sackfabrik Günzburger & Haas” was completely taken over. Isolated from the world market, they almost exclusively processed domestic tobacco.

Der Erste Weltkrieg ebnete zuerst alle innenpolitischen Differenzen ein. Über alle Klassen- und Glaubensgegensätze stimmten die Deutschen im Siegesjubel überein. Als der Vormarsch zum Stehen kam, brachen die alten Vorurteile wieder auf. Juden wurden von rechten, völkischen Kreisen als Schieber dargestellt, die sich am Handel mit knappen Lebensmitteln bereicherten. Den Höhepunkt bildete die „Judenzählung“ 1916, die Juden als Drückeberger brandmarken sollten. Die Hoffnung vieler jüdischer Mitbürger, der Krieg werde sie zu vollwertigen Mitgliedern der deutschen Gesellschaft machen, blieb unerfüllt.

WWI first put all domestic political differences on hold. Regardless of class or religious antagonisms, all Germans rejoiced over victories. As their military advance came to a halt, the old prejudices came up again. The right-wing, folkish groups portrayed Jews as smugglers, who helped themselves to scarce food during trades. The low point was the “Jew count” in 1916, which branded the Jews as shirkers. The hope of many Jewish citizens, that the war would make them equal members of German society, remained unfulfilled.

Hugo was drafted in 1916 and therefore Ferdinand RichDer Firmengründer Hugo wurde 1916 eingezogen und so heimer had to manage the company alone. His daughter musste die Firma von Ferdinand Richheimer allein weiter- Lore said in 2013: My father was a part of WWI. He was geführt werden. Tochter Lore erzählte 2013: Mein Vater war very patriotic. im ersten Weltkrieg. Er war sehr patriotisch. 199


Hugo war seit Mitte 1916 im Militärdienst der WürttemHugo was in military service with the Württemberg army bergischen Armee, wie aus seiner Feldpost an Mutter Ba- since mid-1916, as we can see from his letters to his mother bette hervorgeht. Hier einer seiner Briefe aus dem Jahr 1917. Babette. Here is one of his letters from the year 1917. Hugo is Die Friedenssehnsucht formuliert Hugo deutlich. clearly longing for peace. 116: Brief an Babette. Transkript: 20.2.17 Meine liebe Mutter! Gestern erhielt ich deine guten Brödchen, die mich sehr erfreuten & die großartig schmecken. Besten Dank für das feine Paket. Über mein sonstiges Wohlergehen hörst du ja stets von Martha. Es gibt nicht viel Neues, nur viel Druck gibt es jetzt hier wieder. Ich wollte, ich könnte dir mal schreiben, daß der Friede bald kommt, daß man mal wieder anderer Stimmung sein könnte. Vorerst sieht es aber noch nicht danach aus. Für heute herzl. Grüße für dich, Jeanne & Kinder & Reni Dein Hugo 116: Letter to Babette. Transcript: 2/20/17 My dear mother! Yesterday, I received your rolls which were delightful and tasted great. Thank you very much for the care packet. Martha has filled you in on how I am doing otherwise. There is nothing new but lots of pressure. I wish I could tell you that peace is just around the corner, that the atmosphere is about to change. But it doesn’t look like it at this time. For now, best wishes to you, Jeanne & the kids & Reni. Yours, Hugo

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Ferdinand Richheimer übergab seine Anteile am 4. März 1919 an seinen 31-jährigen Sohn Henri, der schon seit einigen Jahren im Außendienst der Zigarrenfabrik Günzburger mitgearbeitet hatte. Zu dieser Zeit heiratete Henri Richheimer Sofie (Zoë) Kahn, die 1893 in Freiburg geboren wurde und einer jüdisch-elsässischen Familie aus Mühlhausen entstammte. Henri hatte nicht am Ersten Weltkrieg teilgenommen, seine politische Einstellung war weniger national, eher liberal ausgerichtet. Diese Haltung bekam später noch eine große Bedeutung. Die beiden Familien Richheimer und Günzburger waren nicht nur geschäftlich miteinander verbunden. Hugos älterer Bruder Michael hatte Henris Schwester Bertha Richheimer bereits im Jahr 1904 in Mannheim geheiratet.⁶ Im Jahr 1922 / 23 kamen neue Filialen in Malterdingen und Nimburg hinzu und in Emmendingen zog die Firma aus dem zu eng gewordenen „Alten Ochsen“ aus. An der Schwarzwaldstraße 2 und 9 hatte die Zigarrenfabrik Grundstücke gefunden, die genügend Platz für Büros, Tabaklager, Packerei und Versand boten. In den Jahren 1924 bis 1928 konnten die bestehenden Filialen weiter vergrößert werden. Der Absatz beschränkte sich längst nicht mehr auf den Raum Mannheim. Günzburger Produkte wurden nun in fast allen Teilen Deutschlands vertrieben. Im Sommer 1926 waren die Familie Hugo Günzburger glücklich, wie diese Bilder vom Ferienort Westerland auf Sylt zeigen.

On March 4, 1919, Ferdinand Richheimer passed on his shares of the company to his 31-year old son Henri, who had done fieldwork for the cigar factory Günzburger for several years. At this time, Henri Richheimer married Sofie (Zoë) Kahn, born in 1893 in Freiburg and raised in a Jewish Alsatian family in Mühlhausen. Henri was not a part of WWI as his political views were liberal rather than patriotic. This attitude was going to be of importance later on. These two families Richheimer and Günzburger were not only in business together. Hugo’s older brother Michael⁶ had married Henri’s sister Bertha Richheimer back in 1904 in Mannheim. In 1922 / 23, new stores were added in Malterdingen and Nimburg; and in Emmendingen, the company moved out of the now-too-small “Alten Ochsen”. The company had found a property at 2 and 9 Schwarzwaldstreet with sufficient space for offices, tobacco storage, packing and shipping. In the years 1924 to 1928, the existing branches were able to expand. Their distribution had long surpassed the Mannheim area. Günzburger products were now marketed to almost all parts of Germany. In the summer of 1926, these four Günzburgers were a happy family, as the following pictures from the resort Westerland on the island Sylt show.

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117: Die Familie Hugo Günzburger im Jahr 1926 beim Spaziergang am Meer auf der Insel Sylt. 117: The Hugo Günzburger family in 1926 taking a walk by the ocean on the island of Sylt.

118: Die angesagte Bademode im Sylter Sommer von 1926: Käte (14), Hugo (45), Lore (7) und Marta (35) 118: The trendy swimwear of Summer 1926: Käte (14), Hugo (45), Lore (7) and Marta (35)

119: Familie Günzburger auf der Promenade von Westerland. Noch heute (2013) steht das Hotel im Hintergrund. 119: Family Günzburger on the promenade of Westerland. Even today (2013) the hotel in the background still stands.

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Der Bäderantisemitismus vor 1933

“Resort anti-Semitism” before 1933

„Bäderantisemitismus“ ist die Bezeichnung für die weit verbreitete Ausgrenzung und Diskriminierung von jüdischen Gästen in deutschen Kur- und Badeorten, vor allem für die Zeit vor dem Nationalsozialismus.⁷ Der Begriff entstand bereits im 19. Jahrhundert. Dieses Phänomen war jedoch nicht auf Deutschland beschränkt. In Österreich ist der Begriff „Sommerfrischen-Antisemitismus“ bekannt, und auch in den USA gab es einen „Resort Antisemitism“. Ende des 19. Jahrhunderts warben zahlreiche Bäder damit, „judenfrei“ zu sein, nachzulesen z. B. in einem Inselführer für Borkum aus dem Jahr 1897. Man ersann das „Borkumlied“, das täglich von der Kurkapelle gespielt und von den Gästen gesungen wurde, und in dem es u. a. hieß: „An Borkums Strand nur Deutschtum gilt nur deutsch ist das Panier. Wir halten rein den Ehrenschild Germania für und für! Doch wer dir naht mit platten Füßen, mit Nasen krumm und Haaren kraus, der soll nicht deinen Strand genießen, der muß hinaus, der muß hinaus!“

“Bäderantisemitismus” (resort anti-semitism) is the name of the widespread exclusion and discrimination of Jewish guests at German spa and seaside resorts, especially for the period prior to Nazi-Germany.⁷ The term originated in the 19th century. This phenomenon was not limited to Germany. In Austria, the term was “Sommerfrischen-Antisemitismus” (summer-fresh anti-semitism), and in the USA it was “resort anti-semitism”. At the end of the 19th century, many resorts advertised that they were “free of Jews”, as you read, for example, in the 1897 island guide for Borkum. The “Borkum song” was played daily at the resort chapel and sung by visitors. Part of the lyrics was: “At Borkum beach only Germanness, only German is the banner. We keep the honor pure, Germania for ever and ever! But if someone approaches with flat feet, with crooked noses and curly hair, they shall not enjoy your beach; he must go, he must go!”

Als „judenfreundlich“ galten nur die Traditionsbäder NorThe “Jew friendly” resorts were the traditional baths Norderney, Helgoland, Westerland, Wyk auf Föhr und Herings- derney, Helgoland, Westerland, Wyk at Foehr and Heringsdorf, die antisemitische Reklame nicht nötig hatten. Es gab dorf as they didn’t need anti-semitic advertising. There 203


auch – zumindest inoffiziell – das Prädikat „Judenkurort“, was also—at least unofficially—the predicate “Jewish reals solcher galt beispielsweise Königstein im Taunus, wo sich sort”; such, for instance, was Königstein in Taunus, where auch Sommersitze namhafter jüdischer Bürger befanden. renowned Jewish citizens were summer residents.

Dunkle Wolken über dem Hause Günzburger

Dark Clouds Over the Günzburger House

120: Vater und Tochter Lore bei der Fasenacht 1927 in Emmendingen. 121: Käte (15) auf dem Schoß ihres geliebten Vetters Fritz (16). 120: Father and daughter Lore on Shrove Tuesday 1927 in Emmendingen. 121: Käte (15) on the lap of her loved cousin Fritz (16).

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122: Damals: Molktestraße 20. 123: Heute: Am Himmelreich 6. 122: Back then: Molktestraße 20. 123: Today: “Am Himmelreich 6”(the street name means “At the Kingdom of Heaven”)

1927 war die Welt im Hause Hugo Günzburger noch in Ordnung. Aus dem Sohn des Viehhändlers Israel Samuel war inzwischen einer der bedeutendsten Zigarrenfabrikanten Deutschlands geworden. Mit Frau Marta und den beiden Töchtern Käte und Lore verbrachte Hugo glückliche Tage in seiner Villa an der Molktestraße. Noch ahnte keiner etwas von den drohenden Katastrophen der nächsten Jahre.

In 1927, the world in the house of Hugo Günzburger was still okay. The son of cattle dealer Israel Samuel had become one of the leading cigar manufacturers in Germany. With wife Marta and their two daughters, Käte and Lore, Hugo spent his days happily in his villa on Molktestreet. Nobody had an inkling of the impending disasters of the coming years.

Im Juni 1928 fuhren Hugo und Marta zur Erholung in das französische Heilbad Vichy. Es sollte Hugos letzte Reise werden. Von hier aus schrieb er seiner Tochter Lore einen Brief. Die neunjährige Lore wohnte vorübergehend bei ihrer Oma Lina in der Romaneistraße 9. Die Wohnung hatte die Witwe Lina Günzburger von Richheimers übernommen.

In June 1928, Hugo and Marta went on vacation to the French spa Vichy. It was Hugo’s last trip. From here, he wrote his daughter Lore a letter. The nine-year-old Lore temporarily stayed with her grandmother Lina at 9 Romaneistreet. The widow Lina Günzburger took over the apartment from the Richheimers. 205


124 & 125: Brief an Lore Günzburger. Transkript: Vichy 10. Juni 1928 Sonntag! Mein liebes Lorle! Gestern haben wir deinen lieben Brief und die Zeilen der lieben Großmutter erhalten und uns damit sehr gefreut. Wir hören besonders gerne, dass es dir und Großmutter gut geht, daß du brav bist & folgsam & daß du immer schönen Appetit hast. Auch mir geht es weiter gut, wir trinken Vichys Wasser und Mutter lässt sich massieren, damit sie abnehmen soll, denn sie wiegt 119 Pfd. Tante Annelie müsste dir eigentlich noch einmal Eis bezahlen, für das Mädchen, das du ihr besorgt hast. Wie geht es in der Schule? Habt ihr Noten bekommen? Gibt es sonst was Neues? Schreibe mir bald wieder. In 14 Tagen sind wir wieder bei dir. Gruß & Kuss dir, Käte und der Großmutter Dein Vater 124 & 125: Letter to Lore Guenzburger. Transcript: Vichy, June 10, 1928 Sunday! My dear Lorle! Yesterday, we received your lovely letter and the lines from your dear grandmother, and they made us very happy. We particularly liked hearing that you and grandmother are doing well, that you‘re good & obedient & that you keep a great appetite. I am also doing well; we are drinking Vichy water and mother is getting massages in order to lose weight because she weighs 119 lbs. Aunt Annelie should buy you ice cream one day for the maid you got her. How is school? Have you received your grades yet? Are there any other news? Write me again soon. In 14 days, we will be back home with you. Greeting & kisses to you, Käte and grandmother. Your father

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Einen guten Monat später, am 19. Juli 1928, starb Hugo. Er hinterließ eine damals 37-jährige Frau mit zwei Töchtern: Käte (16) und Lore (9). Tochter Lore erinnerte sich 2013: „Mein Vater hatte Nierensteine, die ihm starke Schmerzen verursachten. Man hatte gesagt, dass es eine neue Behandlungsmethode gäbe, sie los zu werden. Die würden zertrümmert und er würde keine Operation nötig haben. Meine Mutter und Vater riefen den Schwager Dr. Langer an, um ihn nach seiner Meinung zu fragen. Er sagte, es sei ok. Am Tag vor der Einweisung ins Krankenhaus hatten wir ein Essen im Garten unserer Villa. Vater meinte, das sei seine Henkersmahlzeit. Die Ärzte verpfuschten den Eingriff und töteten dadurch meinen Vater! Meine Mutter war am Boden zerstört und ich denke, das war der Grund, warum Henri entschied, sie in der Firma mitarbeiten zu lassen. Er wollte ihr in ihrem Kummer helfen.“

About a month later, on July 19, 1928, Hugo died. He left behind a 37-year-old wife with two daughters, Käte (16) and Lore (9). Daughter Lore recalled in 2013: “My father had kidney stones, which caused him severe pain. He was told that a new treatment had been found to get rid of them. They would be smashed and he would not need surgery. My mother and father called their brother-in-law, Dr. Langer, to ask him for his opinion. He said it was ok. On the day before admission to the hospital, we had a meal in the garden of our villa. Father said it was his “last meal”. The doctors botched the procedure and thereby killed my father! My mother was devastated and I think that was the reason why Henri decided to let her work at the company. He hoped to help her in her grief.”

In the 25th Anniversary company chronicles (more on this later), Zoë Richheimer praised Hugo’s human qualiZoë Richheimer lobte in der später noch näher erwähn- ties—his social engagements and his exemplary conduct ten Firmenchronik zum 25-jährigen Jubiläum Hugos towards the workforce.⁸ His hard work, his exhaustive menschliche Eigenschaften, seine soziale Einstellung und knowledge, and his consistent reliability provided the solid sein vorbildliches Einvernehmen mit der Belegschaft.⁸ Sei- foundation for the company. ne große Arbeitskraft, seine gründlichen Kenntnisse und seine sprichwörtliche Zuverlässigkeit lieferten das solide Fundament für das Unternehmen. 207


126: Hugos Grab auf dem neuen jüdischen Friedhof, Emmendingen. Transkript: Hugo Günzburger Fabrikant Geb. 17.11.1881. Gest. 19.7.1928 126: grave of Hugo Günzburger at the new Jewish cemetery, Emmendingen. Transcript: Hugo Günzburger Manufacturer Born 11 / 17 / 1881. Died 7 / 19 / 1928

Marta Günzburger trat an Stelle ihres Mannes in die Unternehmensleitung ein, wobei unverkennbar war, dass die Hauptverantwortung von nun an auf Henri Richheimer wechselte, während sie zwischen 1919 und 1928 eher auf der Günzburger Seite gelegen hatte. Dem entsprachen auch die Beteiligungsverhältnisse an der Firma: Henri Richheimer hielt nun 70 Prozent des Kapitals und Marta Günzburger 30 Prozent. 208

Marta Günzburger took her husband’s place in management although it was obvious that the main responsibility shifted to Henri Richheimer while it had been on the Günzburger side between 1919 and 1928. Therefore, the ownership structure of the company: Henri Richheimer now held 70 percent of the capital and Marta Günzburger 30 percent.


Veränderte Produktpalette bei Günzburger & Co.

Changes in Product Range at Günzburger & Co.

Bis 1931 hatte Günzburger ausschließlich Kopfzigarren hergestellt, deren Absatz sich im Jahr 1929 rückläufig entwickelte. In dieser Situation entschied sich Henri Richheimer für eine grundlegende Umstellung der Produktion auf Stumpen, und zwar nicht auf irgendeinen Stumpen, sondern auf Villiger-Stumpen, die sich in Deutschland schon seit Jahren eine ausgezeichnete Marktstellung im Stumpen Segment erobert hatten. Die Nachahmung eines erfolgreichen Produkts war ohne weiteres möglich, weil in der Zigarrenbranche die Produkte rechtlich nicht geschützt werden konnten. Geschützt werden konnten nur die Markennamen. Rasch zeigte sich, dass die Umstellung auf Stumpen à la Villiger erfolgreich verlief. So konnte die Filiale in Weisweil, ursprünglich ebenfalls in einem Wirtshaussaal einquartiert, in eine neuerworbene Liegenschaft einziehen, und in Kuhbach und Reichenbach kamen 1934 weitere Filialen hinzu, um der wachsenden Nachfrage zu genügen. Gleichzeitig wurden in Wyhl solche Maschinen angeschafft, die das geltende Maschinenverbot zuließ. Mit dem Maschinenverbot sollte die herrschende Arbeitslosigkeit eingedämmt werden. Dazu gehörten beispielsweise eine Trocknungsanlage oder eine Reiss- und Entrippungsmaschine, ein 20 Meter langes Ungetüm, das nach Ideen von Henri Richheimer konstruiert worden war. Aus den

Until 1931, Günzburger had only produced “caped” cigars, the sales of which declined in 1929. So Henri Richheimer decided on a dramatic change in production to cheroots— not just any cheroots but “Villiger” cheroots, which had held an excellent market position in Germany for many years. The imitation of a successful product was quite easily done because products in the cigar industry could not legally be protected. The only thing that could be protected was the brand name. Soon it became apparent that the transition to cheroot à la Villiger was successful. Thus, the branch in Weisweil, originally housed in a tavern hall, moved to a newly acquired property; and in Kuhbach and Reichenbach, new branches were added in 1934 to meet growing demand. At the same time in Wyhl, new machines were purchased, limited by the “Maschinenverbot” (ban on machines in the tobacco industry). The ban on machines was to curb the widespread unemployment. Included were a drying machine as well as a tearing and ripping machine, a 20 meter long monster that was constructed according to plans by Henri Richheimer. By the end of 1934, the original 30 to 40 jobs of 1910 at Günzburger & Co. had grown to approximately 1,200 jobs. Around 80,000 kilos of raw tobacco were processed on a monthly basis. Thus, Günzburger & Co. counted among the largest companies in the German cheroot industry. Al209


30 bis 40 Arbeitsplätzen von 1910 waren bei Günzburger Ende 1934 circa 1.200 Arbeitsplätze geworden. Monatlich wurden rund 80.000 Kilo Rohtabak verarbeitet. Die Firma Günzburger zählte damit zu den großen Betrieben der deutschen Stumpenindustrie. Sie setzte fast die gesamte Produktion an einige wenige finanzstarke Großkunden ab. Seit 1929 stellte Günzburger keine Eigenmarken mehr her, sondern produzierte fast ausschließlich für folgende drei Großkunden Fremdmarken: Edeka, Mühlensiepen und Wolsdorff.

most the entire production was distributed among a few financially strong major retailers. After 1929, Günzburger no longer produced their own brands but almost exclusively the following three foreign brands of major wholesalers: Edeka, Mühlensiepen and Wolsdorff.

The Beginning of a Radical Change

With National Socialists in power since January 30, 1933, the success story of Jews in Germany came to an end.⁹ The emancipation that had begun in the beginning of the 19th century was taken back step by step with increasing reEntrechtung und Verfolgung strictions. The majority of people did not perceive the bulMit dem Machterhalt der Nationalsozialisten vom 30. Ja- lying and aggression against Jews and their businesses as nuar 1933 endete die Erfolgsgeschichte der jüdischen Mit- the beginning of the systematic persecution of Jews. The bürger in Deutschland.⁹ Die seit Beginn des 19. Jahrhunderts issued ban on certain professions and ousting from ecoeinsetzende Emanzipation wurde durch schrittweise Aus- nomic life, the financial world, societal life and cultural grenzung der Juden zurückgenommen. Die Pöbeleien und institutions, where Jews were viewed as overcrowding, Aggressionen gegen jüdische Mitbürger und deren Geschäfte were not just tolerated by many Germans but welcomed as vor allem durch SA-Schläger wurde von der überwältigenden necessary measures.¹⁰ Mehrheit der Deutschen nicht als Beginn einer systematiThe situation in the small town of Emmendingen was schen Judenverfolgung wahrgenommen. Die erteilten Berufsverbote und die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben, not clearly perceived as hostile towards Jews. Even famider Finanzwelt, dem öffentlichen Leben und der Kultur, in lies were divided on their perceptions. While some claimed der Juden vermeintlich „überrepräsentiert“ waren, wurden to notice a certain tolerance towards Jews, others had the jedoch von vielen Deutschen nicht nur hingenommen, son- impression that Hitler was enthusiastically celebrated in Emmendingen from the beginning. Henri Richheimer was dern ausdrücklich als notwendige Maßnahmen begrüßt.¹⁰ 210


Die Lage wurde in der Badischen Kleinstadt Emmendingen nicht eindeutig als durchweg judenfeindlich wahrgenommen. Quer durch die Familien gingen die Einschätzungen auseinander. Während die einen eine gewisse Toleranz Juden gegenüber wahrzunehmen glaubten, hatten andere den Eindruck, Hitler sei von Anfang an in Emmendingen enthusiastisch gefeiert worden. Henri Richheimer gehörte nicht zu den „Weltkrieg I Patrioten“ sondern eher zum liberalen Lager. Nach nüchterner Einschätzung kam er schon 1934 zu dem Schluss, dass es für ihn und seine Geschäftspartnerin Marta Günzburger keine Zukunft in Deutschland geben könnte. Die veränderten politischen Verhältnisse hatten unmittelbare Auswirkungen auf das Leben der jüdischen Mitbürger auch in Emmendingen. Am 24. Mai 1933 beschloss der Emmendinger Gemeinderat die Eröffnung der Badesaison mit den Worten: „Für Israeliten sind besondere Badezeiten zu ermitteln“. Etwas später stand am Eingang des Schwimmbads ein Schild: „Juden unerwünscht!“ Das Gesuch der israelischen Jugend um die Überlassung eines Sportplatzes wurde abgelehnt, die Turnhalle der Markgrafenschule der SS zur Verfügung gestellt. „Die Benutzung durch die Juden hatte zu unterbleiben“.¹¹

not one of the WWI patriots but rather liberal. After a sober assessment, he came to the conclusion as early as 1934 that there was no future in Germany for him and his business partner Marta Günzburger. The changing political situation had a direct impact on the lives of Jewish citizens in Emmendingen. On 24 May 1933, the Emmendinger council decided to open the swimming season with the words “Israelites may inquire about special bath times.” A little later, the sign at the entrance to the swimming pool read: “Jews not welcome!” The Israeli youth’ application for a sports field was rejected, and the gymnasium of the Markgrafen-school was opened to the SS. “Jews were not to use the gym.”¹¹ For the Jewish children the changed situation was immediately noticeable. In many cases, the nice neighborly atmosphere ended abruptly. From one day to the other, they lost their longtime friends, relationships demolished overnight. Many people were afraid to speak to Jews. The common commute to school was avoided and some former friends may have requested: “Please do not visit anymore because we are not to be in contact with Jews!”

Für die jüdischen Kinder war die veränderte Lage sofort spürbar. In vielen Fällen endete die nette nachbarschaftliche Atmosphäre abrupt. Von einem Tag auf den anderen verloren sie ihre langjährigen Freunde, Beziehungen rissen über Nacht 211


ab. Viele Menschen hatten Angst, mit Juden zu reden. Der gemeinsame Schulweg wurde vermieden und manche ehemalige Freundin ließ durchblicken: „Besuch uns bitte nicht mehr, denn wir sollen keinen Kontakt zu Juden pflegen!“ Lore berichtete: „Als ich aufwuchs, hatte ich christliche wie jüdische Freunde. […] Tscheulins aus dem Nachbarort Teningen waren stramme Nazis und gehörten zu den einflussreichsten Förderern des Nationalsozialismus in Baden. Wenn Nazi Größen sich in Baden aufhielten, übernachteten sie bei Tscheulins.¹² Die Tochter der Familie ging mit mir in eine Klasse in Emmendingen. Jeden Morgen wurde sie mit dem Auto zur Schule chauffiert. Bei Geburtstagsfeiern war ich eingeladen! Eine enge Freundin war die Tscheulin Tochter eher nicht. […] Als Hitler an die Macht kam, verlor ich mit einem Schlag meine christlichen Freunde. Ich war Mitglied in einem Skiclub. Mit einer Nachbarsfreundin fuhren wir auf den Schauinsland, dem Freiburger Hausberg. Bei der Abendveranstaltung teilte der Clubleiter mit, dass die jüdischen Mitglieder nicht mehr kommen dürften. Ich schwor mir, das sollte der letzte Ausschluss in meinem Leben sein!”

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Lore reported: “When I was growing up, I had Christian and Jewish friends […] The Tscheulins from the neighboring town Teningen were strict Nazis and were among the most influential promoters of National Socialism in Baden. When Nazi leaders were staying in Baden, they stayed at the Tscheulins.¹² The daughter of the family attended school with me in Emmendingen. Every morning she was chauffeured to school by car. At birthday parties I was invited! But the Tscheulin daughter was not a close friend. […] When Hitler came to power, I lost all of my Christian friends at once. I was a member of a ski club. A neighbor friend and I went to the “Schauinsland”, Freiburg’s mountain. During the evening program, the club manager told us that Jewish members were no longer allowed to come. I vowed that would be the last time I was excluded in my life!”


Jubiläum bei Günzburger & Co.

Anniversary at Günzburger & Co.

Ende 1934 war die Zigarrenfabrik Günzburger & Co. 25 Jahre alt. Aus diesem Anlass hatte Henris Frau Zoë eine Firmenchronik verfasst, in der die Entwicklung der Firma aus kleinsten Anfängen bis zu einem der größten Unternehmen der deutschen Tabakindustrie beschrieben wurde.¹³ Vergleichbar waren allenfalls noch die Deutschen Zigarren-Werke im sächsischen Döbeln. Marta und Henri erhielten Gratulationen von Geschäftspartnern und lokalen Institutionen. Noch schienen sie Rückhalt bei lokalen Behörden und in der Presse zu besitzen. Ein Vertreter der Stadt Wyhl hob das soziale Verhalten der Firma besonders hervor. Selbst in Krisenzeiten wurde die Vollbeschäftigung aufrechterhalten. Ein Vertreter des Abnehmers EDEKA gab seiner Wertschätzung für Günzburger & Co. Ausdruck. Erstaunlich positiv fiel auch das mediale Echo auf die 25-Jahr-Feier aus. Zwei Jahre nach dem Aufruf zum Boykott jüdischer Geschäfte fand sich in keiner Zeitung eine antijüdische Spitze. Wir verweisen auf zwei besonders auffällige Beispiele. Einmal die Gratulation des landesweit bekannten NSDAP-Mitglieds Tscheulin aus Teningen, zum anderen ein Artikel ausgerechnet im Hauptorgan der NSDAP.

At the end of 1934, the cigar factory Günzburger & Co. was 25 years old. On this occasion, Henri’s wife Zoë wrote a company chronicle, describing the development of the company from small beginnings to becoming one of the largest companies in the German tobacco industry with over 1,200 workers and a monthly processing of over 80,000 kg of raw tobacco.¹³ Comparable at best were the German cigar factories in Saxony’s Döbeln. Marta and Henri were congratulated by business partners and local institutions. They still seemed to have support from local authorities and the press. A representative of the city Wyhl emphasized the social behavior of the company. Even in times of crisis, they maintained full employment. A representative of the buyer EDEKA expressed his appreciation for Günzburger & Co. Even the media response was surprisingly positive on their 25-year anniversary. Two years after the call for a boycott of Jewish businesses, no anti-Jewish statement was found in the newspapers. We will refer to two particularly striking examples. One is the congratulatory statement of the nationally known NSDAP member Tscheulin from Teningen, the other an article—of all places—in the “Hauptorgan der NSDAP” (NSDAP newspaper).

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127: Gratulation der Fa. Tscheulin. 127: Letter from Tscheulin.

Tscheulin schrieb am 3. Januar 1935: „Wie wir aus der Presse erfahren, hat Ihre Firma vor wenigen Tagen das Fest des 25 jährigen Jubiläums begangen. Wir möchten diesen Anlass nicht vorübergehen lassen, ohne Ihnen unsere herzlichen Glückwünsche zu diesem freudigen Ereignis auszusprechen, verbunden mit den besten Wünschen für ein ferneres Wohlergehen Ihres Hauses. Mit verbindlicher Empfehlung und mit deutschem Gruss! Aluminiumwerk Tscheulin G.m.b.H.“ 214

Tscheulin wrote on January 3, 1935: “As we learn from the press, your company celebrated their 25th anniversary a few days ago. We do not want to let this event go by without our warm congratulations on this joyous occasion, as well as our best wishes for the future wellbeing of your home. With highest regard and German greetings! Aluminum Plant Tscheulin G.m.b.H.”


128: Gratulation in „Der Führer“. 128: Gratulations in “Der Führer”.

Sogar „Der Führer“, das Hauptorgan der NSDAP im Gau Baden, sprach von einem „Sozialismus der Tat“ im üblichen Nazijargon und nicht von einem „Fremdkörper in der deutschen Volksgemeinschaft“. Er schreibt am 22. Dezember 1934: „Eine freudige Ueberraschung wurde den Arbeitern der Firma Günzburger und Co., Emmendingen, die erst vor wenigen Wochen hier eine Filiale eröffnet hatten, zuteil. Die Firma feierte ihr 25jähriges Geschäftsjubiläum; aus diesem Anlaß erhielten auch die hiesigen Arbeiter und Arbeiterinnen ein reich ausgestattetes Jubiläumspaket. Ganz besonders hilfsbedürftige Arbeiter, insbesondere mit großer Kinderzahl erhielten außerdem einen Gutschein

Even the “Hauptorgan der NSDAP” (Newspaper of the NSDAP) in Gau Baden spoke of „socialism in action“ in their usual Nazi jargon but not of a “foreign body in the German national community”. “Der Führer”, Hauptorgan der NSDAP writes on December 22, 1934: “A joyful surprise was given to the workers of Günzburger & Co., Emmendingen, who just opened a new branch here a few weeks ago. The company celebrated its 25th anniversary; and even the workers received a generous anniversary gift on this occasion. Especially needy workers, particularly with a large number of children, 215


von 10,- Mark. Fröhliche Weihnachtsstimmung löste diese unerwartete Beschenkung vorgestern Abend nach Geschäftsschluß aus. Die Arbeiter werden der Firma Dank wissen durch Leistung guter Arbeit und gewissenhafter Pflichterfüllung in allen Stücken.“

also received a coupon for 10 Mark. This unexpected gift caused a merry Christmas spirit after closing last night. These workers will thank the company with good performance and conscientious fulfillment of their duties.”

Allerdings wurde an keiner Stelle erwähnt, dass die EigenHowever, the article did not mention that the owners of tümer der Firma Günzburger & Co. Juden waren. Zu Philose- Günzburger & Co. were Jews. These die hard Nazis had not miten waren die eingefleischten Nazis nicht konvertiert. converted to philosemites. Diese Gratulationen wurden Ende 1934 geschrieben. Knapp zwei Jahre vorher, im April 1933, wurden bereits Schaufenster jüdischer Geschäfte eingeworfen, Menschen jüdischen Glaubens verprügelt und zum Boykott jüdischer Unternehmen aufgerufen. Es gab nur einen plausiblen Grund für diese „wohlwollende“ Haltung gegenüber Zigarren Günzburger. Noch wurden die jüdischen Unternehmer gebraucht, weil sie dringend notwendige Arbeitsplätze zur Verfügung stellten. Fünf Jahre später, im Oktober 1940, wurden die letzten verbliebenen jüdischen Mitbürger, meist alte, gebrechliche Leute, aus Baden nach Gurs und von da nach Auschwitz verschleppt und umgebracht. Damit war Baden als erster deutscher Gau „judenfrei“, wie der Gauleiter Wagner stolz nach Berlin meldete.

These congratulatory statements were written in late 1934. About two years prior, in April 1933, windows of Jewish shops were already smashed, people of Jewish faith beaten; and others called for a boycott of Jewish businesses. There was only one possible reason for this “benevolent” attitude towards Günzburger & Co. They still needed Jewish entrepreneurs because they urgently needed available jobs. Five years later, in October 1940, the last remaining Jewish citizens, mostly old, frail people, were transported from Baden to Gurs and from there to Auschwitz to be killed. So Baden was the first German district to be “free of Jews” as the district head Wagner proudly reported to Berlin.

Back to the situation of early 1935 in Emmendingen. Zurück zur Situation Anfang 1935 in Emmendingen. Trotz Despite all the praise, the threat of “Aryanization”¹⁴ was on allen Lobs stand die drohende „Arisierung“ des Unterneh- the horizon for Günzburger & Co. The close and harmoni216


mens Günzburger & Co. am Horizont.¹⁴ Das enge, harmonische Verhältnis zwischen jüdischer Firmenleitung und „arischer“ Belegschaft war der Deutschen Arbeitsfront (DAF) ein Dorn im Auge. In einer Stadtratssitzung vom April 1935, als Henri Richheimer bereits in Verkaufsverhandlungen stand, befürwortete der damalige Kreisleiter die Abgabe von städtischem Gelände an die jüdische Zigarrenfabrik in Hinblick auf die zukünftige Entwicklung mit folgender Begründung: „Für den Fall, daß die jüdische Firma durch eine arische ersetzt wird, sind alsdann die modernen Fabrikanlagen voll und ganz vorhanden, die nicht von Emmendingen weggetragen werden können, und wir haben dann die Sicherheit, daß die neue arische Firma den Betrieb nicht anderwärts verlegt“. (Gemeinderat vom 10. April 1935)¹⁵

Aufgeben oder Durchhalten? Henri Richheimer nahm die Firmenchronik seiner Frau sowie die Gratulationen seiner beiden Söhne Walter (13) und Heinz (11) gerührt entgegen.¹⁶ Die drängende Frage war, wie die Zukunft der Firma aussehen könnte. Henri und Marta zogen Bilanz: Auf der Minusseite stand eine latent feindliche antijüdische Stimmung im Ort, die jederzeit in eine brachiale, gegen jüdische Unternehmen gerichtete Gewaltorgie umschlagen konnte. Es gab auch Nadelstiche in Form un-

ous relationship between the Jewish management and the German labor force was frowned upon by the “Deutsche Arbeitsfront” (German Labor Front—DAF). In a City Council meeting in April 1935, when Henri Richheimer was already in the process of selling, the district manager advocated giving public property over to the Jewish cigar factory, calculating the future development with the following reasoning: “In the event that the Jewish firm is replaced by an Aryan one, the modern factories will be complete and unmovable, and we thereby make sure that the new Aryan company does not relocate”. (city council meeting on April 4, 1935)¹⁵

Give Up or Hold Out? Henri Richheimer received the company chronicles of his wife and the congratulations of his two sons Walter (13) and Heinz (11) with deep emotion.¹⁶ The pressing question was about the future of the company. Henri and Marta evaluated: On the downside, there was a latent hostile anti-Jewish atmosphere in town that could turn into brutal, anti-Jewish-companies violence at any moment. There were also “pinpricks” in the form of unannounced inspections that Henri felt restricted his entrepreneurial freedom in an unbearable way. 217


angemeldeter Kontrollen, die nach Henris Ansicht seine On the plus side was the exceptionally good reputation of the cigar company in their region. What was the root of unternehmerische Gestaltungsfreiheit unerträglich einschränkten. this positive reputation? Auf der Plusseite stand das auĂ&#x;erordentlich gute Image, In times of high unemployment, the company created das die Zigarrenfirma in der Region hatte. Worauf beruhjobs. te dieses positive Bild? The skillful management of Henri Richheimer and In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit schuf die Firma ArMarta GĂźnzburger ensured the success of the combeitsplätze. pany. Die geschickte UnternehmensfĂźhrung durch Henri The very social human resource and salary policy of Richheimer und Marta GĂźnzburger sicherte den Erthe Jewish owners for their predominantly non-Jewfolg des Unternehmens. ish employees created a good working atmosphere. Eine ausgesprochen soziale Personal- und Lohnpolitik They paid social benefits and above average wages der jĂźdischen Inhaber gegenĂźber ihren Ăźberwiegend across branches. nicht-jĂźdischen Mitarbeitern schate ein gutes Be The company—like most companies—was a blue coltriebsklima. Sie zahlten branchenunĂźbliche Soziallar business and therefore not scrutinized by tobacco leistungen und Ăźberdurchschnittliche LĂśhne. unions who opposed modernizations that would lead Die Firma gehĂśrte zum Mehrheitslager der Handarto loss of jobs. beitsbetriebe und bot so keine Angrisäche fĂźr modernisierungsfeindliche Tabakgewerkschaften. In early 1935, Henri negotiated with the Villiger brothers who were interested in taking over GĂźnzburger & Co. Due Henri verhandelte Anfang 1935 mit den BrĂźdern Villiger, to reasons unclear to us today, Henri broke o contact. die an einer Ăœbernahme der Firma GĂźnzburger & Co. inte- Second choice was the Swiss company Burger.š⠡ In 1935 at ressiert waren. Aus heute nicht mehr nachvollziehbaren the latest, the Burger family entered into close business GrĂźnden brach Henri den Kontakt ab. Zweite Wahl war das relations with trustee Rudolf Behrle, who as a member of Schweizer Unternehmen Burger.š⠡ Spätestens 1935 trat die the “Nationalsozialistische Rechtswahrerbundâ€? (National Familie Burger in enge Geschäftskontakte zu Treuhänder Socialist Lawyers’ Association) was in close contact with Rudolf Behrle, der als Mitglied des „Nationalsozialistischen relevant authorities. Behrle claimed that the government 218


Rechtswahrerbundes“ beste Beziehungen zu den einschlägigen Behörden pflegte. Behrle behauptete, die Regierung des Landes Baden sei an einer „Arisierung“ der Firma Günzburger & Co. interessiert. Die Gebrüder Burger feilschten in den Verhandlungen um Günzburger hartnäckig um jeden Posten und nutzten die schwache Position der diskriminierten Juden aus, indem sie unter einem Vorwand die deutsche Justiz ins Spiel brachten. So wurde das Emmendinger Unternehmen am 1. Februar 1936 unter seinem wahren Wert verkauft, wobei für die Emigranten beim Preis der Devisenanteil (160.000 Franken) sehr wichtig war. Im Oktober 1936 wurden die jüdischen Angestellten entlassen. Nicht besser ging es den „nichtarischen“ Lieferanten. Trotz Schwierigkeiten in den Jahren 1945 / 46 erarbeitete Burger im Kriegsdeutschland per saldo gute Gewinne.

Vergleich nach Restitutionsverhandlungen Nach dem Krieg versuchten die ehemaligen Eigentümer von USA aus, eine Nachzahlung der Summe zu erreichen, um welche die Firma zu billig erworben worden war. Die Gebrüder Burger, welche die beschränkten finanziellen Möglichkeiten der Gegenpartei auszunutzen trachteten, schlugen 10.000 Franken zur Abgeltung vor. Von den „Ariseuren“ war kein Verständnis für die „Wiedergutmachung“ zu erwarten. Deren mentale Disposition zeigte sich in Ablehnung und

of the state of Baden was interested in the “Aryanization” of Günzburger & Co. The Burger brothers haggled subbornly in the negotiations for Günzburger & Co. for every detail and took advantage of the vulnerable position of the discriminated Jews, bringing into play the German judicial system under some pretense. So the Emmendinger company sold below its true value on February 1, 1936; for the emigrants, their share of the price (160,000 francs) was very important. In October 1936, the Jewish employees were let go. The “nonAryan“ suppliers were no better off. In spite of difficulties in the years 1945 / 46, Burger made good profits considering the state of war in Germany.

Comparison to Restitution Negotiations After the war while in the USA, the former owners tried to gain additional payment in the amount which the company had been undersold. The Burger brothers, taking advantage of the limited financial resources of the other party, suggested 10,000 francs as settlement. These “Aryanizers” could not be expected to understand a need for restitution. Their attitudes became apparent in their rejection and defense of any personal responsibility. The stubborn American lawyer, Hans Strauss, whom the Günzburgers had hired, reached a settlement in September 1949 after much delay, some intrigue and court 219


Abwehr der persönlichen Verantwortung. Der hartnäckige amerikanische Anwalt der Günzburger, Hans Strauss, erreichte nach Verzögerungsmaßnahmen, einigen Intrigen und einer gerichtlichen Klage im September 1949 schließlich einen Vergleich: 100.000 Franken und 20.000 DM für „juristische Ausgaben“. Der Autor Urs Thaler kam in seinem Buch „Unerledigte Geschäfte“ zum Schluss, dass Burger we-

litigations: 100,000 francs and 20,000 DMs for “legal expenses”. The author Urs Thaler concluded in his book “Unerledigte Geschäfte” that Burger did not prove just and fair but always headstrong, taking advantage of the financially dire situation of the other party, both during the 1935 acquisition and during the restitution negotiations of 1948 / 49. During these settlement negotiations,

129: Marta Günzburger 130: Henri Richheimer 129: Marta Günzburger 130: Henri Richheimer

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der 1935 bei der Firmenübernahme noch bei den Restituti- the same trustee Behrle appeared again, who had led the onsverhandlungen von 1948 / 49 „Gerechtigkeit und Fairness“ “aryanization” in 1935. bewiesen, sondern stets „knallhart“ verhandelt habe – unter Ausnutzung der außerökonomisch bedingten Notsituation Internal and External Emigration der anderen Partei. Bei diesen Vergleichsverhandlungen trat derselbe Treuhänder Behrle auf, der bereits 1935 die „ArisieAlthough Marta Günzburger and Henri Richheimer rung“ betrieben hatte. lived in Emmendingen for several months after the 1936 sale of the company, they had inwardly let go of the city, Innere und äußere Emigration which they no longer considered home and prepared inconspicuously for their emigration.¹⁸ The local authorities Marta Günzburger und Henri Richheimer lebten zwar did not suspect that Henri Richheimer had a second valid 1936 nach dem Firmenverkauf noch mehrere Monate in Em- passport hidden at home. Henri approached the planning mendingen, hatten sich aber innerlich von der Stadt, die ih- of the emigration very carefully. The confinement of passnen längst keine Heimat mehr war, gelöst und bereiteten un- ports of 1935 was still in effect. Henri and Marta hid their auffällig die Emigration vor.¹⁸ Die örtlichen Behörden ahnten families’ step by step plans for emigration from the outnicht, dass Henri Richheimer zu Hause noch einen zweiten side. Among their Jewish friends, there were still many in gültigen Pass versteckt hatte. Henri ging bei der Planung der 1936 who kept all thoughts of emigration at arm’s length. Emigration betont vorsichtig ans Werk. Der Passentzug von Henri Richheimer remembered well the disapproving re1935 wirkte noch immer nach. Henri wie Marta verbargen marks of his lawyer friend Wertheimer, when in 1934 ungegen außen bis zuletzt, dass die Familien Schritt für Schritt der guarantee of strictest confidentiality, he shared his auf die Auswanderung hinarbeiteten. Unter ihren jüdischen plan to emigrate. “You’re crazy, Richheimer,” the lawyer Freunden gab es viele, die noch 1936 jeden Gedanken an eine told him at the time. In 1936, the year of the Olympic GaEmigration weit von sich wiesen. Henri Richheimer erinner- mes in Berlin, the Nazi state represented itself as gentle te sich gut an die missbilligende Bemerkung des befreun- domestically and as “open to the world” outwardly. Now deten Rechtsanwalts Wertheimer, als er diesen 1934 unter Wertheimer would probably understand him even less.¹⁹ Zusicherung der strengsten Vertraulichkeit in seine Auswanderungspläne einweihte. „Sie sind doch verrückt, Rich221


heimer“, hatte ihm damals der Anwalt gesagt. 1936, im Jahr der Olympischen Spiele in Berlin, gab sich der NS-Staat nach innen „samtpfotig“ und nach außen weltoffen. Jetzt würde ihn Wertheimer wohl noch weniger begreifen.¹⁹

Günzburger Emigration

Günzburger Emigration Marta’s sister Friedel lived in South Africa. Marta emigrated there with daughter Lore in 1936. After several months, the two of them left the country for the United Kingdom, where they arrived in 1937. Again, there were, as in many other countries, hardly any job opportunities for refugees because unemployment was enormous, even among the nationals. It took a year until the two of them had visas for the USA. In early 1938, it was their time. Mother and daughter went on a German freighter to the New World. Marta Günzburger did not choose the German ship voluntary. It was only possible to pay for the trip in RM (Reichsmark) which was ideal for this Emmendinger manufacturer if she wanted to avoid seeing her small shares diminish even further by currency exchange. To Marta and Lore Günzburger’s surprise, the crew and other passengers aboard the German ship were very friendly to the two Jewish women during the five-week voyage. In mid-February 1938, they reached California via the Panama Canal. There, they met the family’s eldest daughter Käte who had changed her first name to Kate.

Martas Schwester Friedel wohnte in Südafrika. Dorthin wanderte Marta 1936 mit Tochter Lore aus. Nach einigen Monaten verließen die beiden das Land in Richtung Großbritannien, wo sie 1937 ankamen. Auch hier gab es wie in vielen andern Ländern kaum Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge, weil die Arbeitslosigkeit auch unter der eigenen Bevölkerung enorm groß war. Ein Jahr dauerte es, bis die beiden ein Visum für die USA hatten. Anfang 1938 war es soweit. Mutter und Tochter fuhren mit einem deutschen Frachtdampfer in die Neue Welt. Das deutsche Schiff wählte Marta Günzburger nicht ganz freiwillig. Nur so bestand die Möglichkeit, die Schiffspassage in RM (Reichsmark) zu bezahlen, woran der Emmendinger Fabrikantin gelegen sein musste, wenn sie ihre zusammen geschmolzenen Devisen nicht noch weiter schwinden lassen wollte. Zur Überraschung von Marta und Lore Günzburger waren die deutMarta Günzburger whose last name was a tongue twistsche Schiffsbesatzung und die übrigen Passagiere während der fünfwöchigen Überfahrt sehr freundlich zu den beiden er in the States, called herself Martha Gunn from then on. Jüdinnen. Mitte Februar 1938 erreichten sie via Panamaka- She applied for American citizenship, which she received nal Kalifornien. Dort trafen sie mit der Familie der ältesten on December 10, 1943. Martha had to work hard during the 222


Tochter Käte zusammen die ihren Vornamen in Kate geän- years of war. She made jewelry and manufactured plastic letters. To soften the material sufficiently, it had to be headert hatte. ted in a hot oven. The plastic could only be formed right in Marta Günzburger, deren Nachname in den Staaten ein front of the furnace, which was very unpleasant. However, Zungenbrecher war, nannte sich fortan Martha Gunn. Sie Martha never complained. She was glad to be able to earn bewarb sich um die amerikanische Staatsbürgerschaft, die some money. Martha Gunn (Marta Günzburger) was 61 sie am 10. Dezember 1943 erhielt. Martha musste während years old when she died in California on February 4, 1952. der Kriegsjahre hart arbeiten. Sie fertigte Schmuck an und stellte Buchstaben aus Plastik her. Um das Material genüKate (Käte) Günzburger was married to Hubert Marx. gend weich zu machen, musste es in einem heißen Ofen er- Her daughter Ursula Carol was born in Frankfurt in 1936. wärmt werden. Formen konnte man das Plastik nur, wenn In October 1937, the Hubert Marx family fled to Los Angeman sich direkt vor den Ofen hinsetzte, was sehr unange- les. Kate died on October 14, 2007 at the age of 95. Ursula nehm war. Dennoch beklagte sich Martha nie. Sie war froh, married Stuart Collis Gutman. Their son Jeffrey Gutman sich dadurch etwas Geld verdienen zu können. Martha Gunn lives in Washington DC and works at the George Washing(Marta Günzburger) war 61 Jahre, als sie am 4. Februar 1952 ton University as a professor of clinical law. Jeffrey had in Kalifornien starb. already intensively studied the genealogy of his ancestors from Europe. The comprehensive family trees of the famiKate (Käte) Günzburger war mit Hubert Marx verheira- lies Günzburger, Kaufmann, Roos, Weil, among others, are tet. Ihre Tochter Ursula Carol wurde 1936 noch in Frankfurt the result of his work. We thank him for letting us share in geboren. Schon im Oktober 1937 floh die Familie Hubert the fruits of his labor. Marx nach Los Angeles. Kate starb am 14. Oktober 2007 im Alter von 95 Jahren. Ursula heiratete Stuart Collis Gutman. Lore Aron, née Günzburger, is now 96 years old and lives Deren Sohn Jeffrey Gutman wohnt in Washington D.C. und with her daughter Carol in Los Angeles. She deserves our arbeitet an der George Washington University als Professor special thanks. It was the encounter with Lore in 2011 in für klinisches Recht (clinical law). Jeffrey hat sich bereits Los Angeles that gave us the impetus to decide to research vor Jahren intensiv mit der Genealogie seiner Vorfahren the history of our ancestors in Southern Germany. aus Europa beschäftigt. Umfassende Stammbäume der Fa223


131: Lore Aron, geborene Günzburger und Tochter Carol am Strand von Santa Monica, Mai 2011. 131: Lore Aron, née Günzburger, and daughter Carol on the beach in Santa Monica, May 2011.

milien Günzburger, Kaufmann, Roos, Weil u. a. sind das Ergebnis seiner Arbeit. Wir danken ihm, dass er uns an den Früchten seiner Ergebnisse teilhaben lässt. Lore Aron, geborene Günzburger, ist heute 96 Jahre alt und lebt mit ihrer Tochter Carol in Los Angeles. Ihr gilt unser ganz besonderer Dank. Erst die Begegnung mit Lore im Jahre 2011 in Los Angeles gab uns den entscheiden Anstoß, die Familiengeschichten unserer Vorfahren aus Süddeutschland zu recherchieren. 224


Richheimer Emigration

Richheimer Emigration

Was wurde aus Richheimer und seinen Söhnen?²⁰ Ihre Odyssee führte sie von Emmendingen über London nach Toms River im Staat New Jersey, USA. Tabakverarbeitung war keine Option mehr für Henri. Ihm fehlten Kapital und Kenntnisse in der maschinellen Verarbeitung des Rohprodukts. Es ging zuerst einmal ums nackte Überleben. Mit einem sogenannten „Farmvisum“ kam die Familie Richheimer in den Ort an der Ostküste, wo sie auf Verwandte und Bekannte trafen. Im „Garden State“ New Jersey siedelten zwischen 1880 und dem Zweiten Weltkrieg zehntausende jüdische Familien, um ihr Auskommen in landwirtschaftlichen Betrieben zu suchen.²¹ Bis 1946 rackerten sich Henri und Zoë wie viele andere mehr recht als schlecht in der Hühneraufzucht ab. Bei der Einbürgerung in die USA 1944 änderten sie auch ihre Namen. Aus dem Zungenbrecher Richheimer wurde Richeimer ohne „h“. Heinz wurde zu Harvey. Die anderen behielten ihre Vornamen. Harvey wie Walter dienten beide in der US-Army. Nach dem Krieg zogen die Jungen nach Los Angeles, wohin ihnen die Eltern folgten. Henri starb am 11. Januar 1954 mit 66 Jahren, Zoë starb mit 86 am 15. August 1980 in Los Angeles. Sohn Walter starb im Alter von 93 Jahren am 27. März 2015 in Los Angeles. Harvey (Heinz) lebt heute noch dort.

What happened to Richheimer and his sons?²⁰ Their odyssey took them from Emmendingen over London to Toms River in the State of New Jersey, USA. Tobacco processing was no longer an option for Henri. He lacked capital and knowledge in the mechanical processing of the raw product. It was first of all a matter of sheer survival. With a so-called “farm visa”, the Richheimer family came to the town on the East Coast, where they met up with relatives and friends. Between 1880 and WWII, thousands of Jewish families had settled in the “Garden State” New Jersey to make a living in the farming industry.²¹ Until 1946, Henri and Zoë—like many others—worked hard raising chickens, just trying to get by. When they received their citizenship in the United States in 1944, they changed their names also. The tongue twister Richheimer became Richeimer without the “h”. Heinz became Harvey. The others retained their name. Harvey and Walter both served in the U.S. Army. After the war, the boys moved to Los Angeles, followed by their parents. Henri died on January 11, 1954 at age 66; Zoë died at age 86 on August 15, 1980 in Los Angeles. Son Walter died at the age of 93 on March 27, 2015 in Los Angeles. Harvey (Heinz) still lives there.

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Endnoten Endnotes 1)

Zum Thema Tabak: http://de.wikipedia.org/wiki/Tabak#Zigarre. In regards to tabacco: http://de.wikipedia.org/wiki/ Tabak#Zigarre 2) Händler. Tradesman. 3) Thaler, U. (1998): Unerledigte Geschäfte – Zur Geschichte der schweizerischen Zigarrenfabriken im Dritten Reich. Zürich. Hieraus sind Textabschnitte mit freundlicher Genehmigung des Autors übernommen. Sections have been taken from this book with generous permission of the author. 4) Faktor oder Faktorist: zuständig für die fachgerechte Lagerung der Ware und für den Weitertransport. Faktor or Faktorist: responsible for appropriately storing and transporting merchandise. 5) Benz, W. (1996): Die Juden in Deutschland 1933–1945; Leben unter nationalsozialistischer Herrschaft. 4. Auflage. München 6) Siehe Kapitel Michael Günzburger. See Chapter Michael Günzburger. 7) http://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4der-Antisemitismus 8) Thaler, U. a. a. O. 9) Siehe Kapitel Julius. Eine folgenschwere Fehleinschätzung. See chapter Julius: A momentous misjudgement 10) Benz, W.(2001): Flucht aus Deutschland. Zum Exil im 20. Jahrhundert. München 11) Jenne, H.-J .: Amtliches von der Vertreibung der Juden aus Emmendingen in „›s Eige zeige‹ Jahrbuch des Landkreises Emmendingen für Kultur und Geschichte 3 / 1999“ 12) http://de.wikipedia.org/wiki/Tscheulin 13) Dazu Thaler U.: „ […] Die Gedenkschrift enthält eine außerordentlich detaillierte Bildserie über die Betriebsstätten und Produktionsabläufe der Firma Günzburger. […] Die umfassende fotografische Dokumentation […] stellt eine absolute Rarität dar […]“. „ […] This writing of remembrance includes an extraordinarily detailed series of pictures about 226


14)

15) 16) 17)

18) 19) 20) 21)

the facilities and production of the Günzburger company. […] The comprehensive photographic documentation […] is absolutely rare […]“. A reproduction of the company chronicles exists in the book Günzburger, B. (2014) Wir übernehmen diese rassistische Konnotation, um sämtliche materiellen Aspekte der Zerstörung der wirtschaftlichen und sozialen Existenz deutscher Mitbürger jüdischen Glaubens zu beschreiben. We take this racist connotation to describe all material aspects of the destruction of the economic and social existence of German citizens with Jewish believe. Jenne, H.-J.: Amtliches von …, Jenne, H.-J.: Official of …, s. o. Thaler dazu: „ […] Die Bilddokumente […] dokumentieren mustergültig die Produktionsweise […]“. Thaler says: “[…] The photographic documentation […] documents the production in an exemplary way” Wir geben hier nur eine kurze Zusammenfassung der „Arisierung“ und späteren Restituierung. Thaler, U. a.a.O., auszugsweise in Günzburger, B. (2014) a. a. O. We are only summarizing “arization” and later restitutions. Thaler, as listed above. Siehe Kapitel Julius Fluchtbewegungen (1933). See chapter Julius. Thaler, U. a. a. O. Thaler, U. : Unerledigte Geschäfte. Mehr Details zu Richheimer: Günzburger, B. (2014) a. a. O. More details about Richheimer: Günzburger, B. (2014). Siehe Kapitel Michael Günzburger, Abschnitt „Leben in Toms River“. See Chapter Michael Günzburger, paragraph “Life in Toms River”.

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Jakob Günzburger (1883–1918) Von Jakob liegt kein Foto vor. We do not have a photo of Jakob.

Jakob Günzburger wurde als sechstes Kind der Eheleute Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette am 25. September 1883 geboren. Beim Tode seines Vaters war er zehn Jahre alt. Er erlernte den Beruf des Konditors und betrieb in Straßburg eine Konditorei. Jakob heiratete Juliette Lévy, die am 7. April 1883 in Bischheim geboren wurde. Die beiden hatten zwei Kinder. Sohn Alfred wurde am 9. November 1910 in Straßburg geboren, Sohn Paul folgte zwei Jahre später am 20. November 1912.

Jakob Günzburger, born on September 25, 1883, was the sixth child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette. He was ten years old when his father died. He was a trained pastry chef and managed a pastry shop in Strasbourg. Jakob married Juliette Lévy, born on April 7, 1883 in Bischheim. They had two children. Son Alfred was born on November 9, 1910 in Strasbourg, son Paul followed two years later, on November 20, 1912.

World War I (1914–1918) Erster Weltkrieg (1914–1918) Jakob served in the German Army in World War I, the Vor 1914 war das Elsass ein Teil Deutschlands. Jakob 13th Regiment of Dragroons. Jakob lived in Alsace, which nahm daher als deutscher Soldat am ersten Weltkrieg teil. was part of Germany in the period immediately prior to Er diente im Dragoner Regiment 13. Jakob fiel am 28. Okto- World War I. Tragically, Jakob died in combat on October 28, ber 1918 knapp zwei Wochen vor Kriegsende im Elsass. Er 1918, just two weeks before the end of the War. Jakob was blieb zum Glück das einzige Opfer, das seine Mutter Babet- the only child of Babette and Israel to die in combat. Jakob’s te Günzburger zu beklagen hatte. Jakobs Name taucht im name appears in the “Gedenkbuch des Reichsbundes jüdi„Gedenkbuch des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten scher Frontsoldaten (RjF)” (Memorial Book of the League of (RjF)“ auf.¹ Jewish Front Soldiers).¹ 228


132: Onlineprojekt Gefallenendenkmäler. Screenshot vom 9.6.2015 132: Online project “Gefallenendenkmäler”. Screenshot taken on 6 / 9 / 2015.

Im Stadtgarten von Emmendingen steht ein Denkmal, In the garden city of Emmendingen stands a monument das an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs erinnern soll. to remember the fallen of WWI. Jakob Günzburger is listed In der Liste der Gefallen wird Jakob Günzburger aufgeführt. among the fallen.

133 & 134: Kriegerdenkmal in Emmendingen. 133 & 134: War memorial in Emmendingen.

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Jakobs Nachfahren

Jakob’s descendants

135–137: v.l.n.r. Juliette Günzburger (geb. Lévy), Paul Günzburger; Marguerite Günzburger (geb. Marx), Alfreds Frau. 135–137: ltr. Juliette Günzburger (née Lévy), Paul Günzburger; Marguerite Günzburger (née Marx), Alfred’s wife.

Jakobs Frau Juliette lebte in Straßburg in der Place du Marché 7 und führte die Konditorei ihres Mannes weiter. Nach dem Vertrag von Versailles 1919 war das Elsass mit Straßburg wieder Teil der französischen Republik. Die 1,6 Millionen deutschen Muttersprachler mussten sich 1922 entscheiden, entweder Franzosen zu werden oder das Land zu verlassen. Juliette und ihre Kinder blieben. Die Verwandten aus Emmendingen waren öfter zu Besuch im Café der Juliette. Die beiden Jungen waren überzeugte Franzosen geworden. „Unser Herz schlägt für Frankreich“, teilten sie ihren Günzburger Verwandten mit.² Jakobs Sohn Alfred heiratete am 19. November 1936 die Verkäuferin Marguerite Marx, geboren am 20. April 1917 in Straßburg. Ihre Eltern waren David und Frieda Marx, geborene Kahn. Der zweite Sohn Paul blieb Junggeselle und ergriff wie sein Vater den Beruf des Konditors. Er fand eine Anstellung bei einem Drogisten. 230

Jakob’s wife Juliette lived in Strasbourg at 7 Place du Marché and carried on her husband’s pastry shop. After the Treaty of Versailles in 1919, Alsace and Strasbourg were once again part of the French Republic. In 1922, the 1.6 million native German speakers had to decide to either become French or to leave the country. Juliette and her children stayed. Their relatives from Emmendingen often visited Juliette’s café. The two boys had become true French men. “Our hearts beat for France”, they’d tell their Günzburger relatives.² On November 11, 1936, Jakob’s son Alfred married sales clerk Maguerite Marx, born on April 20, 1917 in Strasbourg. Her parents were David and Frieda Marx, née Kahn. The second son, Paul, remained a bachelor and, like his father, took on the profession of pastry chef. Paul found employment with an apothecary.


Deutsche Okkupation nach 1940

German occupation after 1940

Der Zweite Weltkrieg begann im September 1939 mit dem Überfall auf Polen. Nach dem Ende des Westfeldzugs 1940 besetzten die Nazis zuerst das Elsass, unterstellten es einer reichsdeutschen Zivilverwaltung, bevor es mit dem Gau Baden zum neuen Gau Baden-Elsass zusammengeschlossen wurde.³ Der badische Gauleiter Wagner betrieb eine gewaltsame Germanisierungspolitik, bei der über 45.000 Menschen des Landes verwiesen oder deportiert wurden.⁴ Für die jüdische Bevölkerung blieb nur die Flucht in den (noch) nicht besetzten Teil Frankreichs. Im Jahr 1939 wurden Alfred und Paul in die Französische Armee eingezogen. Beide gerieten beim Westfeldzug gegen Frankreich in deutsche Gefangenschaft. Paul gelang die Flucht aus dem Militärgefängnis und kehrte zu seiner Familie nach Straßburg zurück. Er floh zusammen mit seiner Mutter Juliette, seiner Großmutter Rosalie Lévy, seiner Schwägerin Marguerite Günzburger und deren Eltern nach Vichy 23, Rue Roovère. Dort mussten sich alle französischen Juden melden gemäß dem antisemitischen Gesetz vom 2. Juni 1941 des französischen Staates.⁵

WWII began in September 1939 with the invasion of Poland. The Nazis occupied Alsace in 1940. Alsace was immediately subjected to German civil administration, and eventually became part of a newly created district called Baden-Alsace.³ The Alsace District leader, Wagner, conducted a violent “Germanization” campaign, that included deporting over 45,000 people in this county.⁴ The Jewish population could only flee to the not (yet) occupied parts of France. In 1939, Alfred and Paul were drafted into the French army. Both ended up in German captivity during the Western campaign against France. Paul managed to escape from the military prison and returned to his family in Strasbourg. He fled, together with his mother Juliette, his Grandmother Rosalie Levy, his sister-in-law Maguerite Günzburger and her parents to 23 Vichy, Rue Roovere. There, all French Jews had to report in accordance with the anti-semitic French law of June 2, 1941.⁵

138: Auszug aus der Meldeliste. 138: Excerpt of registration list.

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Paul wurde am 23. Juli 1943 um 22 Uhr verhaftet, als er aus einem Kino kam. Nach Zeugenaussagen wurde er Opfer einer Denunziation von einer Person, die ihm Geld schuldete. Er wurde zum Gestapo Sitz in Vichy transportiert und später zum deutschen Militärgefängnis nach Moulins überführt. Von da aus kam er am 9. September 1943 nach Drancy, wo er die Gefangenennummer 4760 erhielt. Am 20. November 1943 wurde Paul von Drancy nach Auschwitz deportiert, wo er fünf Tage später am 25. November 1943 umgebracht wurde.

Paul was arrested on June 23, 1943 at 10 p.m. when leaving a movie theater. According to witnesses, he fell victim to a denunciation of a person to whom he owed money. He was transported to the Gestapo headquarters in Vichy and later transferred to a German military prison in Moulins. Paul transferred from Moulins to Drancy on September 9, 1943, where he was given the prisoner number 4760. On September 20, 1943, Paul was deported from Drancy to Auschwitz, where he was killed five days after arriving on November 25, 1943.

Drancy, der Ort der Shoah in Frankreich

Drancy, Location of the Shoah in France

Drancy war ein Sammel- und Durchgangslager ca. 20 Kilometer nordöstlich von Paris.⁶ Von hier aus wurden ca. 65.000 überwiegend französische Juden mit der Eisenbahn in die deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und andere deportiert. 63.000 davon wurden umgebracht oder starben an den katastrophalen Verhältnissen beim Transport. 1976 schuf der Bildhauer Shlomo Selinger in Erinnerung an die hier eingesperrten französischen Juden das Mahnmal der Deportation, das sich im Viertel La Muette befindet. Teil des Denkmals ist der 1988 eröffnete Zeugen-Waggon (Wagon-Témoin). Am 20. Januar 2005 legten Brandstifter Feuer an einige Viehwaggons im früheren Sammellager.

Drancy was a collection and transit camp about 20 kilometers north-east of Paris.⁶ From here, approximately 65,000 predominantly French Jews were deported via train to, among others, the German extermination camp Auschwitz-Birkenau. 63,000 of those deported via train from Drancy were killed or died due to the catastrophic conditions of the transport. In 1976, the sculptor Shlomo Selinger built the Monument of the Deportation in remembrance of the imprisoned French Jews. This monument is located in the district of La Muette. Part of the monument are the “Wagon-Témoin” (Witness Wagons), opened in 1988. On January 20, 2005, arsonists set fire to some of these livestock wagons, formerly used for transit.

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139: Der Zeugen-Waggon in La Muette als Zeugnis der Deportation. 139: The Witness Wagon in La Muette as a Remembrance of the Deportation.

Juliettes Deportation

Juliette’s Deportation

Pauls Mutter Juliette wurde am 24. Juli 1943 gegen acht Uhr morgens von der deutschen Polizei aus ihrem Haus angeblich für eine Kontrolle auf der Stelle weg in „Pantoffel und Schürze“ verhaftet. Auch sie wurde zuerst zum Gestapo Sitz in Vichy und wie ihr Sohn Paul am gleichen Tag nach Drancy transportiert. Sie erhielt die Gefangenennummer 4759. Mit dem gleichen Konvoy Nr. 62 wie Paul wurde Juliette nach Auschwitz deportiert und wurde ebenso wie er am 25. November 1943 dort umgebracht.

On July 14, 1943 at 8 a.m., Paul’s mother Juliette was arrested by the German police at her home and on the spot, wearing “slippers and an apron”, allegedly for a screening. She was also first transported to the Gestapo headquarters in Vichy and then, like her son Paul, to Drancy later that same day. She received the prisoner number 4759. Juliette was deported to Auschwitz with the same convoy as Paul, no. 62. She was murdered the same day as her son Paul on November 25, 1943.

Marguerites Deporation

Maguerite’s Deporation

Besonders tragisch verlief das Schicksal von Marguerite Especially tragic was the fate of Maguerite Günzburger, Günzburger, Alfreds Frau. Sie verließ Vichy nach der Ver- Alfred’s wife. She left Vichy after the arrest of her motherhaftung ihrer Schwiegermutter Juliette und ihres Schwagers in-law Juliette and her brother-in-law Paul, accompanied by 233


Paul in Begleitung ihres Bruders Jean. Beide stiegen in den ersten Zug nach Lyon. Marguerite hatte ihren Ausweis manipuliert, in dem sie ein Stück Papier über „Juif“ geklebt hatte. Während einer Personenkontrolle im Zug bei La Verpillière hatte sich das Papier gelöst, was ihr zum Verhängnis wurde. Sie nahm ihre Handtasche und ließ sich von den Deutschen abführen. Mit ihrem Bruder wechselte sie kein Wort, um ihn nicht zu gefährden. Jean konnte seine Reise fortsetzen. Marguerite wurde im Fort de Montluc bei Lyon inhaftiert und nach Drancy transportiert mit der Gefangenennummer 3552. Sie wurde von Drancy am 2. September 1943 nach Auschwitz mit dem Konvoy Nr. 59 deportiert. Fünf Tage später, am 7. September 1943, wurde sie dort umgebracht. Die kurze Zeitspanne zwischen der Deportation von Drancy und dem Todesdatum in Auschwitz legt die Vermutung nahe, dass Juliette, Paul und Maguerite wie so viele andere direkt nach der Ankunft in Auschwitz ins Gas geschickt wurden.

Zeugnis ablegen

her brother Jean. Both got into the first train to Lyon. Marguerite was arrested on the train during a routine security check. Maguerite had altered her ID card by sticking a piece of paper over the word “Juif” (Jew). Unfortunately, Marguerite’s efforts to conceal her Jewish identity was unsuccessful since the paper that she placed over the word “Juif” had become dislodged. Once identified as a Jew, Marguerite did not resist arrest. Marguerite was able successfully to conceal that she was traveling with her brother Jean. She didn’t speak a word to her brother as to not endanger him. Jean was able to continue his journey. Maguerite was imprisoned at Fort de Montluc in Lyon, and then transported to Drancy with the prisoner number 3552. She was transported from Drancy to Auschwitz with the convoy no. 59 on September 2, 1943. Five days later, on September 7, 1943, she was executed there. The short time between the deportation from Drancy and the date of death in Auschwitz suggests that Juliette, Paul and Maguerite, like so many others, were sent directly to the gas chambers after their arrival in Auschwitz.

Alfred war der Einzige aus der Straßburger Familie Memorial Günzburger, der den Holocaust überlebte. Als französischer Kriegsgefangener entkam er dem Holocaust. Nach Alfred was the only one of the Strasbourg Günzburdem Krieg heiratete Alfred eine Frau mit Namen Colette. ger family to survive the Holocaust. He was able to evade Die Ehe blieb kinderlos. Am 30. April 1993 legte Alfred the tragic fate of his mother and brother because he was Zeugnis ab über die Schicksale seiner Familienangehöri- a French prisoner of war. After the war, Alfred married a 234


gen.⁷ Seine Anschrift lautete: 2 Boulevard Paul Déroulède, Straßbourg. Noch einmal hatten die Kusine aus Emmendingen und Alfred Kontakt. Lore Aron war 1999 Gast der Gemeinde Emmendingen.⁸ Bei dieser Gelegenheit besuchte sie ihren Vetter Alfred in Straßburg.

woman named Colette. The marriage remained childless. On April 30, 1993, Alfred registered his family members at Yad Vashem, a memorial in Israel.⁷ His address was 2 Boulevard Paul Déroulède, Strasbourg. Alfred and his cousin from Emmendingen were in contact one more time: Lore Aron visited the community of Emmendingen in 1999.⁸ On this occasion, she also visited her cousin Alfred in Strasbourg.

140: Beispiel Juliette Günzburger. 140: Example Juliette Günzburger.

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Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4) 5)

6) 7) 8)

236

http://denkmalprojekt.org/Verlustlisten/vl_rjf_elsass-lothringen_wk1.htm Mündliche Mitteilung 2014 von Lore Aron, geb. Günzburger, Kusine von Alfred und Paul. 2014 oral report by Lore Aaron, née Guenzburger, cousin of Alfred and Paul. http://de.wikipedia.org/wiki/Elsass Siehe Kapitel Rosa Günzburger. See Chapter on Rosa Günzburger. Sämtliche Informationen und die drei Fotos sind der Seite http://www.afmd-allier.com mit freundlicher Genehmigung entnommen. Various information and the three pictures were derived with permission from the following website: http://www.afmd-allier.com. http://de.wikipedia.org/wiki/Sammellager_Drancy http://db.yadvashem.org/names/nameDetails.html?itemId=1694493&language=en#!prettyPhoto[gallery2]/0/ Siehe Fußnote 2. See footnote 2.


Ernst Günzburger (1885–1952)

141: Ernst im Alter von 35 Jahren. 141: Ernst at the age of 35 years.

Ernst Günzburger wurde am 29. März 1885 in Emmendingen geboren. Er war der Zweitjüngste der Familie Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette, geb. Kaufmann aus Lichtenau. Als sein Vater Israel 1893 starb, war Ernst gerade acht Jahre alt. Er besuchte wohl wie seine älteren Brüder die Volkschule, später die Realschule am Ort. Danach machte er eine kaufmännische Ausbildung. Wir wissen nicht, in welchem Betrieb Ernst seine Lehre absolvierte. Möglicherweise war er wie sein älterer Bruder Hugo in der Zigarren Firma Bloch beschäftigt.

Ernst Günzburger was born on March 29, 1885 in Emmendingen. He was the second youngest in the family of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette, née Kaufmann from Lichtenau. When his father Israel died in 1893, Ernst was just eight years old. He attended the “Volksschule” (elementary school) like his brothers, and later the local “Realschule”. After that, he completed a business apprenticeship. We are not sure where Ernst did his apprenticeship. It is possible that he worked at the Cigar Factory Bloch like his older brother Hugo.

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Nach Abschluss seiner Ausbildung zog der knapp 18-jährige Kaufmann Ernst am 11. März 1903 nach Mannheim. Sein älterer Bruder Michael lebte und arbeitete dort bereits. Vermutlich wohnte Ernst zur Untermiete beim Arbeitgeber, bei Verwandten oder Bekannten. Seine ersten Quartiere lagen im sogenannten „Quadrat“.¹ Seine Adressen waren zuerst K1, 2, danach E3, 11 und C3, 20. Ab November 1905 wechselte er die Rheinseite nach Ludwigshafen. Er kehrte von dort bereits fünf Monate später wieder zurück in die Wohnung C3, 20 zur Familie Doiny. Johanna Doiny (1848–1926) war Witwe und führte eine Geflügelhandlung. Wieder sechs Monate später am 3. Oktober 1906 zog Ernst nach Rastatt, knapp 90 Kilometer südlich von Mannheim. Nach zwei Jahren kehrte Ernst zurück und wohnte ab dem 10. November 1908 in E7, 2, später in E6, 8. Ab 15. Juli 1911 wohnte er in K4, 12. Von dort meldete er sich am 13. Mai 1913 nach Weinheim um.²

After completing his education Ernst moved to Mannheim on November 3, 1903. He was 18 years old. Older brother Michael already lived and worked in Mannheim. Ernst probably rented his first apartment from an employer, relative, or friend. His first living quarters were located at the so-called “Quadrat” (square).¹ His addresses were first K1, 2, then E3, 11 and later C3, 20. Since November 1905 he moved to the other side of the Rhine to Ludwigshafen. He returned only five months later to live in the apartment C3, 20 with the Doiny family. Johanna Doiny (1848–1926) was a widow and managed a poultry business. Another six months later, on October 3, 1906, Ernst moved to Rastatt, about 90 kilometers South of Mannheim. Two years later, Ernst came to live in E7, 2, on November 10, 1908 and later in E6, 8. Since July 15, 1911, he lived in K4, 12. From there, he registered in Weinheim on May 13, 1913.²

142: Hilda 1920. 142: Hilda 1920.

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Die Hochzeit mit Hilda Pfälzer, Tochter des Moses Pfälzer aus Hemsbach, fand am 19. März 1913 am Wohnort der Braut statt.³ In Weinheim wurde am 2. Juli 1914 Tochter Lotte geboren. Seine Frau Hilda übersiedelte am 28. September 1914 mit ihrer Tochter zu ihren Eltern Moses und Ida Pfälzer nach Hemsbach in die Pumpwerkstraße 1.⁴ Auch Ernst wurde im Ersten Weltkrieg eingezogen. Er erhielt das Eiserne Kreuz aufgrund einer Verwundung. Sohn Heinz Jakob wurde sieben Jahre später am 12. August 1921 in Hemsbach geboren. Seinen Zweitnamen erhielt der Sohn in Erinnerung an Ernst‘ zwei Jahre älteren Bruder, der Ende Oktober 1918 im ersten Weltkrieg gefallen war.⁵

He married Hilda Pfälzer, daughter of Moses Pfälzer from Hemsbach, on March 19, 1913. ³ The couple were married in the bride’s hometown. Daughter Lotte was born in Weinheim on July 2, 1914. On September 28, 1914, his wife Hilda and her daughter moved to stay with parents Moses and Ida Pfälzer in Hemsback at 1 Pumpwerkstreet.⁴ Ernst was also drafted into WWI. He earned an “Eisernes Kreuz” (Iron Cross) due to an injury. We do not know details about this injury. Son Heinz Jakob was born seven years later on August 12, 1921 in Hemsbach. His middle name was in memory of Ernst’s older brother who died in WWI at the end of October 1918.⁵

Tabakanbau an der Bergstraße – die Firma Moses Pfälzer aus Hemsbach

Tobacco Farming on Bergstreet—the Company Moses Pfälzer from Hemsbach

Der Tabakanbau wie der Weinanbau waren die wesentlichen landwirtschaftlichen Produkte in der Gegend um Hemsbach.⁶ In Lorsch, keine zehn Kilometer von Hemsbach entfernt, gibt es heute ein Tabakmuseum, das über die Bedeutung dieses Wirtschaftszweigs für die Region berichtet.⁷ In der jüdischen Bevölkerung gab es in Hemsbach um 1900 einen Metzger, einen Schuhmacher, vier Spezereien und zwei Manufakturwarengeschäfte. Andere Mitglieder der Gemeinde waren Kaufleute, Händler und einer war Besitzer des Gasthofs „Zum Goldenen Hirschen“. Zigarrenfabrikation war damals bedeutend für die lokale Wirtschaft. Die Ta-

Tobacco farming along with wine production were the main agricultural products in the area surrounding Hemsbach.⁶ More information about the importance of tobacco farming to the region can be obtained at the website of a museum about tobacco farming located in the town of Lorsch, approximately 10 kilometers from Hemsbach.⁷ Among the Jewish citizens of Hemsbach around 1900, there was a butcher, a shoe maker, four spice merchants, and two manufactured goods stores. Other members of the community were businessmen, merchants, and one of them was the owner of the guest house “Zum Goldenen Hirschen” 239


(“Golden deer”). Cigar manufacturing was important to the local economy. The tobacco factory of Moses Pfälzer existed since 1906 at 8 Rückstreet in Hemsbach. When the Pfälzer factory was first started, the factory employed 30 people. In 1926, that number had already increased to 110 and to 130 by 1928, mostly female laborers. Around 1920, son Theodor Pfälzer and son-in-law Ernst Günzburger took over the factory. Moses died in 1927, his wife Ida followed two years later. In 1928, Ernst and Theodor took on the adjacent cigar factory Sternheimer-Brettheimer and by doing so became the most important business in town, employing 180 people. The importance of the factory to Hemsbach can be appreciated if Durchaus kein Außenseiter brachte sich Ernst ins öf- one considers that the total population of Hemsbach at this fentliche Leben des Ortes ein. Er gehörte 1927 zu den time was 3,300. Gründern eines Reit- und Fahrvereins. Mit der Familie des Bürgermeisters von Hemsbach, Herrn Halblaub, pflegten Ernst played an important role in the public life of the die Günzburger wie Pfälzer beste Kontakte. Man traf sich town. In 1927, he was one of the founders of the “Reit- und sonntäglich zu gemeinsamen Spaziergängen im nahen Fahrvereins” (riding and driving club). The Günzburgers Odenwald. Die jüdischen wie christlichen Feste beging man and Pfälzers were friends with the Hemsbach mayor’s famigemeinsam. So stand im Wohnzimmer der Günzburger Vil- ly, the Halblaubs. They met for Sunday strolls in the nearby la zu Weihnachten Halblaubs zuliebe ein Christbaum. “Odenwald” (forest). They attended the Jewish and Christian Ernst hatte ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Mitarbei- festivities together. So for the Halblaubs’ sake, there was a tern. Als ein Angestellter die Hochzeit seiner Tochter aus- Christmas tree in the Günzburger Villa living room around richtete, verlieh Ernst seinen großen Mercedes kurzerhand Christmas time. an den Brautvater. Ernst had a good relationship with his coworkers. When an employee was planning his daughter’s wedding, Ernst readily lent him his big Mercedes. 240

bakfabrik des Moses Pfälzer bestand schon seit 1906 an der Rückstraße 8 in Hemsbach. Bei Produktionsbeginn waren 30 Personen beschäftigt. 1926 waren es bereits 110 und 1928 über 130, zumeist Arbeiterinnen. Um 1920 übernahm der Sohn Theodor Pfälzer und der Schwiegersohn Ernst Günzburger die Fabrik. Moses starb 1927, seine Frau Ida folgte zwei Jahre später. Im Jahr 1928 erwarben Ernst und Theodor die angrenzende Zigarrenfabrik Sternheimer-Brettheimer und beschäftigten nun 180 Personen. Die Bedeutung der Fabrik für Hemsbach wird offensichtlich, wenn man bedenkt, dass der Ort zu der Zeit nur 3.300 Einwohner zählte.


143: hinten v.l. Bürgermeister Halblaub, seine Frau Olga, Theodors Frau Caroline Pfälzer, Hilda, Ernst Günzburger; vorn (v.l.) Lotte, Heinz, Margot Pfälzer, Tochter von Theodor und Olga. 143: From the left: mayor Halblaub, his wife Olga, Theodor’s wife Caroline Pfälzer, Hilda, Ernst Günzburger; in front, from the left: Lotte, Heinz, Margot Pfälzer, daughter of Theodor and Olga.

Die jüdische Gemeinde Hemsbach

The Jewish community Hemsbach

Urkunden von 1731 berichteten von einer Synagoge und einem Rabbiner Jakob. Hundert Jahre später kaufte die jüdische Gemeinde in der Mittelgasse ein Grundstück auf dem 1845 die neue Synagoge gebaut wurde. Eine eigene Schule für die jüdischen Kinder gab es zwischen 1845 und 1872. Danach gingen die Hemsbacher Kinder christlichen wie jüdischen Glaubens in die vereinigte (gemischte) Ge-

There is documentation in Hemsbach records of Jewish life going in the town going back to the early 18th century. One record from 1731 indicates a synagogue was built and identifies the Rabbi as Jakob. A hundred years later, the Jewish community bought land on Mittelgasse and built a new synagogue there in 1845. There was a Jewish school between 1845 and 1872. After that, Hemsbach children—Christian 241


meinschaftsschule. Anfangs wurde auch am Samstag unterrichtet. Ab 1880 hatten die Schüler jüdischen Glaubens samstags frei und die anderen mussten zum Religionsunterricht in der Schule erscheinen. Die jüdische Gemeinde Hemsbach umfasste 1933 nur noch 65 Mitglieder. Die Männer der jüdischen Gemeinde versammelten sich 1936 zu einem Gruppenfoto auf der Treppe der Synagoge, darunter: Ernst Günzburger und sein Schwager Theodor Pfälzer.

E

and Jewish alike—went to a joint school (“Gemeinschaftsschule”). At first, all students attended Saturday classes. Since 1880, students of Jewish faith had Saturdays off and the Christians had to attend religious education classes. The Jewish community of Hemsbach consisted of 65 members in 1933. The men of the Jewish community met for a group picture in 1936 on the steps of the synagogue, among them: Ernst Günzburger and his brother-in-law Theodor Pfälzer.

T

144: Vor der Synagoge Hemsbach 1936 E: Ernst Günzburger ; T: Theodor Pfälzer. 144: In front of the Hemsbach synagogue 1936 E: Ernst Günzburger; T: Theodor Pfälzer.

145: Ehemalige Synagoge Hemsbach 2014. 145: Former synagoge of Hemsbach 2014.

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Glückliche Tage in der Pumpwerkstraße 1

Happy Days at 1 Pumpwerkstreet

Die Familie Günzburger lebte nach dem Tode von Moses Pfälzer in der Pumpwerkstraße 1.⁸ Auch nach dem Verkauf 1940 wurde das Haus als „Villa Günzburger“ bezeichnet. Hier verbrachten die beiden Kinder Lotte und Heinz eine glückliche, unbeschwerte Jugend. Sie hatten viele nicht-jüdische Freunde, die gerne zu Gast im Haus an der Pumpwerkstraße waren. Auch im Jahr 2014 ist die Villa noch ein Idyll. Der heutige Besitzer, der nichts mit den Käu-

The Günzburger family lived at 1 Pumpwerkstreet after the death of Moses Pfälzer.⁸ Even after being sold in 1940, the house was referred to as “Villa Günzburger”. The children Lotte and Heinz spent a happy and problem-free childhood here. They had many non-Jewish friends who were welcomed guests in their home on Pumpwerkstreet. The Villa is still idyllic in 2014. Today’s owner, who is unrelated to the buyers in 1940, renovated the Villa with respect and care for the building.⁹

146–149: Bilder der Villa Günzburger. 146–149: images of Villa Günzburger.

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fern von 1940 zu tun hat, renovierte die Villa mit Respekt vor dem Gebäude sehr behutsam.⁹

The property almost reached city hall. Behind the house was a big garden with a pond, which the children called a lake. In the middle of the pond was a little island, which was Das Grundstück reichte fast bis zum Rathaus. Hinter only reachable by boat. The children liked to play there and dem Haus befand sich ein großer Garten mit einem Teich, gave their fantasy free rein. In the summers, they paddled für die Kinder ein „See“. Mitten im Teich gab es eine klei- to the island and in the winter, they ice skated on the pond. ne Insel, die man nur mit dem Boot erreichen konnte. Dort In front of the garage, there was a swing, which was well spielten die Kinder gerne und ließen ihrer Phantasie frei- used by Lotte and her friends. en Lauf. Im Sommer ruderten sie zur Insel und im Winter konnten sie auf dem Teich Schlittschuh laufen. Vor der Garage befand sich eine Schaukel, die Lotte mit ihren Freundinnen ausgiebig benutzte.

150: Karte des Sees. 150: map of the lake.

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151: Lotte und Heinz ca. 1928. 151: Lotte und Heinz about 1928.

Wie wir bereits aus den Familiengeschichten der anderen Günzburger wissen, hatten die Verwandten regen Kontakt untereinander. So war die Familie des Bruders Michael aus dem nahen Mannheim auf Spazierfahrten Richtung Odenwald oft zu Gast.¹⁰ In der ersten Etage der Günzburger-Villa lag ein Zimmer mit Balkon. Von dort ließ Lotte mit ihren Freundinnen und Kusinen aus Mannheim Seifenblasen fliegen. So genoss Lotte fröhlich und unbeschwert ihre Kindheit bis 1933.

As we know from the family history of the other Günzburgers, these relatives were in regular contact with one another. The family of brother Michael from nearby Mannheim often stopped by on their way to the nearby Odenwald.¹⁰ On the first floor of the Günzburger Villa was a room with a balcony. Lotte and her friends and cousins from Mannheim blew bubbles out this window. Lotte enjoyed a happy and problem-free childhood until 1933.

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152: Aus der ehemaligen Oberrealschule hervorgegangen: Werner-Heisenberg-Gymnasium, Weinheim. 152: The former Oberrealschule: Today’s Werner-Heisenberg-Gymnasium, Weinheim.

Lottes Ausgrenzung und Auswanderung nach Palästina

Lotte’s Discrimination and Emigration to Palestine

Lotte ging in Weinheim zur Volksschule und wechselte später auf die Oberrealschule mit Gymnasium über. Seit März 1933 wurden die Mitbürger jüdischen Glaubens von Monat zu Monat mehr ausgegrenzt. Man sollte nicht beim „Juden“ kaufen, nicht mit „dem Juden“ sprechen, Vereine waren angehalten „den Juden“ auszuschließen. Zur Rich246

Lotte attended the “Volksschule” (elementary school) in Weinheim and later transferred to the “Oberrealschule mit Gymnasium”. Since March 1933, citizens of Jewish faith faced increasing discrimination. You were not to buy from “the Jew”, not to speak to “the Jew”, clubs were encouraged to exclude “the Jew”. To clarify: No sports club,


tigstellung: Kein Turnverein, kein Sängerklub musste 1933 jüdische Mitglieder ausschließen. Aber (fast) alle taten es in freiwilliger Übernahme nationalsozialistischer Ideologie. Der Wandel nach dem März 1933 wurde in Hemsbach nicht so abrupt vollzogen wie in anderen bisher erwähnten Orten. Die Lage war hier etwas moderater.¹¹ Viele jüdische Familien waren noch in das Gemeindeleben eingeschlossen, Nachbarschaftshilfen linderten die offiziellen Ausgrenzungen und Demütigungen. So weigerte sich der örtliche Fußballverein 1933, die verdienten und unersetzlichen Mitspieler jüdischen Glaubens auszuschließen. Später wurden sie zwar formal aus der Mitgliederliste gestrichen, nahmen aber dennoch soweit möglich am Vereinsleben teil.

no music club had to exclude members in 1933. But (almost) all of them did so, voluntarily taking on the national-socialist mindset. The changes after March 1933 were not implemented as abruptly in Hemsbach as in other, before mentioned towns. The situation was a little more moderate.¹¹ Many Jewish families were still part of societal life; neighborly relationships hindered the discrimination and humiliations. For example. the local soccer club refused to exclude the deserving and irreplaceable members of Jewish faith. Later, they were officially crossed off the membership list but still took part in the club’s activities where possible.

How did Lotte perceive this change? Many of her formerWie nahm Lotte diesen Wandel wahr? Viele ihrer ehema- ly best friends slowly pulled away and avoided contact. An ligen Freundinnen zogen sich allmählich zurück, mieden exception was best friend Giesela Langenbach (daughter den Kontakt. Ausnahme war ihre beste Freundin Gisela of the local doctor) who later moved to England because Langenbach, Tochter des damaligen Arztes, die später we- of the Nazis. Giesela visibly greeted Lotte with a kiss on gen der Nazis nach England auswanderte. Gisela begrüßte the streets. Year after year, the repression against GerLotte demonstrativ auf der Straße mit Küsschen. Von Jahr mans of Jewish faith increased.¹² Lotte graduated from the zu Jahr nahmen die Repressionen gegen Deutsche jüdischen Oberrealschule in Weinheim with Abitur in the spring of Glaubens zu.¹² Lotte legte im Frühjahr 1933 das Abitur an der 1933. Lotte was unable to study medicine because she was Oberrealschule in Weinheim ab. Ein Medizinstudium war not permitted to attend university under the Nazi reign.¹³ für Lotte nicht mehr möglich, da ihr der Zugang zu einem Her parents sent her to Switzerland’s Neuchâtel near Genf. Studium durch die Nazis verwehrt blieb.¹³ Die Eltern schick- There she studied to be a nurse until 1935. After her return, ten sie deshalb in die Schweiz nach Neuchâtel bei Genf. Dort she joined the Jewish hospital in Berlin, where she extendlernte sie den Beruf einer Krankenschwester bis 1935. Nach ed her education to be a midwife. 247


ihrer Rückkehr ging sie zum jüdischen Krankenhaus in Berlin, wo sie eine Zusatzausbildung als Hebamme absolvierte. Besorgt über die unaufhaltsam zunehmenden Ausschreitungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung, veranlassten die Eltern 1936 die Auswanderung ihrer Tochter Lotte nach Palästina.¹⁴ Mit ihrer Ausbildung hatte die junge Frau zumindest bessere Startmöglichkeiten als Akademiker, selbst wenn es Ärzte waren. Von den 600 Ärzten, die 1935 in Palästina ansässig waren, ließen sich 200 sofort umschulen, die anderen unterhielten Privatpraxen.¹⁵ Der Neubeginn in Haifa dürfte ihr nicht leicht gefallen sein. Ihre Gedanken waren oft bei den daheim gebliebenen Eltern. Doch Lotte hatte nahe Verwandte, die im selben Jahr nach Palästina ausgewandert waren. Ihre Kusine Erna, Tochter ihres Onkels Julius aus Bochum, kam im November mit einem Touristenvisum ins Land.¹⁶ Ihr Vetter 2. Grades Arthur, später Nathan Kaufmann, ein Großneffe ihrer Großmutter Babette Kaufmann, verließ mit seiner Familie ebenfalls Ende 1936 seinen Wohnort Kehl und landete Anfang 1937 in Haifa.¹⁷ Noch 1936 heiratete Lotte den aus Bamberg stammenden Arnold Lehmann, der die englische Staatsangehörigkeit erworben hatte. Lotte und Arnold waren bereits in Deutschland verlobt. Am 27. September 1937 wurde ihr Sohn Michael in Tel Aviv geboren. Arnold ging als Freiwilliger zum Militär, wo er bis Kriegsende im Einsatz war. Michael erinnerte sich 2014: „Von 1946 bis 1947 arbeitete mein Vater (Arnold) in der 1945 neu gegründeten Firma für Futtermittel des Joseph 248

Worried about the increasing discrimination against Jewish citizens, her parents arranged daughter Lotte’s emigration to Palestine in 1936.¹⁴ Nursing training and experience provided employment opportunities in Palestine that were unavailable to many other recent immigrants, especially those with academic degrees. Of 600 doctors who lived in Palestine in 1935, 200 retrained immediately, others held private practices.¹⁵ The new beginning in Haifa was likely not easy for her. Her thoughts were often back home with her parents. But Lotte had close relatives who had emigrated to Palestine in the same year. Her cousin Erna, daughter of uncle Julius from Bochum, came to the country in November with a tourist visa.¹⁶ Her second cousin Arthur, later Nathan Kaufmann, a great nephew of Babette Kaufmann, also left his hometown Kehl with his family at the end of 1936 and landed in Haifa in early 1937.¹⁷ As early as 1936, Lotte married Arnold Lehmann from Bamberg, who had obtained British citizenship. Lotte and Arnold were already engaged in Germany. On September 27, 1937, their son Michael was born in Tel Aviv. Arnold volunteered in the military and was in active duty until the end of the war. Michael remembered in 2014: “From 1946 until 1947, my father (Arnold) worked at the newly founded feed factory of Joseph (Julius) Dreifuss”. He was a grandchild of Rosa Günzburger. He had emigrated from Kehl to Palestine.¹⁸


Until 1947, the young family lived in Tel Aviv, where the (Julius) Dreifuss“. Der war ein Enkel der Rosa Günzburger. Er learned nurse-midwife Lotte Lehmann, née Günzburger war von Kehl nach Palästina ausgewandert.¹⁸ Bis 1947 lebte die junge Familie in Tel Aviv, wo die gelern- worked as a private caretaker in a hospital. te Krankenschwester und Hebamme Lotte Lehmann, geb. Günzburger im Krankenhaus als Privatpflegerin arbeitete. Heinz Jakob Günzburger—

Time In Hemsbach Heinz Jakob Günzburger – Zeit in Hemsbach Heinz Jakob wurde am 12. März 1921 in Weinheim geboren.¹⁹ Dort blieb die Familie bis zum Tode von Moses Pfälzer im Jahre 1927. Er ging zuerst drei Jahre in die Hemsbacher Volksschule. Danach besuchte er das Realgymnasium in Weinheim. Aus seinen Erinnerungen gehen keine negativen Erfahrungen im Umgang mit Lehrern oder Schülern hervor. Selbst diejenigen, die als Nazis bekannt waren, versuchten nicht, ihm das Leben schwer zu machen. Heinz war mit Stolz und Selbstbewusstsein jüdisch. Er wollte nach Beenden der Obertertia (Klasse 9) nach Palästina auswandern, um dort beim Aufbau einer Heimat für Juden mitzuwirken. Als Vorbereitung plante Heinz ein Handwerk zu erlernen. Vergebens versuchte sein Vater Ernst, ihm eine Lehrstelle als Tischler zu besorgen. Selbst gegen Bezahlung war kein Lehrmeister bereit, ihn einzustellen. Die Angst vor den Konsequenzen der Nazis war zu groß. So besuchte Heinz zwei Jahre lang die Jüdische Lehrwerkstatt in Mannheim, um den Beruf eines Tischlers zu erlernen. Heinz bedauerte sehr, nie

Heinz Jacob was born on March 12, 1921 in Weinheim.¹⁹ The family lived in Weinheim until the death of Moses Pfälzer in 1927. He first attended the Hemsbach Volksschule (elementary school) for three years. After that, he attended the “Realgymnasium” in Weinheim. The memories he shared did not hint at any negative experiences with his teachers and fellow students. Even those who were known to be Nazis did not try to make his life harder. Heinz embraced his Jewish faith with pride and self-confidence. He planned to emigrate to Palestine after his “Obertertia” (9th grade) in order to help build a new home for Jews there. In preparation, Heinz wanted to learn a trade. His father Ernst tried unsuccessfully to get him an apprenticeship to become a carpenter. Nobody was even willing to train him for pay. The fear of the consequences from the Nazis was too big. So Heinz attended the Jewish training workshop in Mannheim for two years to become a learned carpenter. Heinz deeply regretted that he never emigrated to Palestine. Although he prepared to emigrate, his parents put pressure on him to move to America where 249


nach Palästina emigriert zu sein. Obwohl er darauf vorberei- he could help the family. In the spring of 1938 Ernst sent tet war, zwangen ihn seine Eltern nach Amerika auszuwan- his son to relatives in Chicago. Heinz went to Chicago with dern, wo er seiner Familie helfen konnte. Im Frühjahr 1938 his cousin Margot Pfaelzer. schickte Ernst seinen Sohn zu Verwandten nach Chicago. Heinz ging mit seiner Kusine Margot Pfälzer dorthin. Pfälzer & Cie.: Tolerated at First,

Later Aryanized Pfälzer & Cie.: erst geduldet, später „arisiert“ Warum hatten Ernst und sein Schwager so lange an ihrer Zigarrenfirma festgehalten? Ihre Kinder hatten sie bereits aus Deutschland geschafft. Ihre Verwandten aus Emmendingen hatten Anfang 1936 schon die Zigarrenfabrik Günzburger & Co. an einen Schweizer Unternehmer Burger verkauft.²⁰ Dennoch konnte die Firma Pfälzer & Cie. bis Anfang 1938 bestehen bleiben, weil sie der größte Arbeitgeber im Ort und damit den „Volksgenossen“ nützlich war. Als 1933 ein paar SA-Rabauken in Hemsbach vor den Pfälzer Werkstätten randalierten, wurden sie schnell von den Einheimischen vertrieben. Unterstützt durch die Mitarbeiter am Ort hielten Ernst und Theodor dem politischen Druck bis Anfang 1938 stand. Am 11. März 1938 wurde die Firma Pfälzer & Cie. an den Tabakkaufmann Lorenz Freiburg aus Hitdorf verkauft. Der Kaufpreis betrug 50.000 RM plus einem unbekannten Restbetrag für Tabak und Fertigprodukte. Verkauft wurden die Firma und zwei Grundstücke in Hemsbach. Der Käufer verlangte nachträglich eine 250

Why did Ernst and his brother-in-law hold on to their cigar factory for so long? Their kids had already managed to leave Germany. Their relatives in Emmendingen had already sold the cigar factory Günzburger & Co. to the Swiss entrepreneur Burger in early 1936.²⁰ Yet the company Pfälzer & Cie. stayed afloat until early 1938 because as the largest employer in Hemsbach, they were useful to the “Volksgenossen” (country men). When in 1933, a few SA radicals in Hemsbach vandalized the Pfälzer workshop, the locals quickly told them to get out. Supported by their coworkers, Ernst and Theodor withstood the political pressure until 1938. On March 11, 1938, the company Pfälzer & Cie. was sold to the tobacco merchant Lorenz Freiburg from Hiltdorf. The sales price was 50,000 RM plus an unknown amount for tobacco and manufactured products. The company and two properties in Hemsbach were sold. The buyer later demanded an additional 5,000 RM but was unsuccessful. Ernst and Theodor had already emigrated to the USA.²¹ The new owners of the factory continued production under the “cigar factory of Lorenz Freiburg”. Dur-


Kaufpreisminderung um 5.000 RM, was scheiterte. Ernst und Theodor waren bereits in die USA emigriert.²¹ Unter dem neuen Firmennamen „Zigarrenfabrik Lorenz Freiburg“ wurde ab Juli 1938 die Fabrikation weitergeführt und noch ausgebaut. In den Kriegsjahren wurde die Produktion auf hölzerne Haushaltsgegenstände und Spielzeuge umgestellt. Nach dem Krieg beschäftigte die Firma wieder 125 Mitarbeiter für die Zigarrenproduktion. Im Sommer 1964 wurde der Betrieb eingestellt, da er dem Konkurrenzdruck der Großunternehmen nicht standhalten konnte. Damit endete die Zigarrenfabrikation in Hemsbach.²²

ing the war, the production switched to wooden household goods and toys. After the war, the company once again employed 125 people for their tobacco production. However, this production was came to a standstill in the summer of 1964 when they were no longer able to stand up under the pressure of competition from larger companies. That was the end of the cigar factory in Hemsbach.²²

Displaced to America

Ernst and Hilda only had one goal in selling the company: leaving Germany. Their relatives in Chicago, who had already been housing their son Heinz since earlier in Vertrieben nach Amerika the year, issued an affidavit, allowing their entry into the Ernst und Hilda hatten nach dem Verkauf der Firma nur USA.²³ The events of November 10, 1938 almost hindered noch ein Ziel: raus aus Deutschland. Die Verwandten aus their escape. In the night of November 10, Ernst and Hilda Chicago, bei denen ihr Sohn Heinz bereits seit Anfang des were staying in Stuttgart to pick up their visa at the AmeJahres weilte, hatten ihnen ein Affidavit ausgestellt, um in rican consulate. Ernst—like all Jewish men—was deportdie USA einzureisen.²³ Die Ereignisse um den 10. November ed to the concentration camp Dachau. Hilda stayed with 1938 hätten beinahe die Flucht vereitelt. In der Nacht auf den friends in Stuttgart. They entrusted some money to the 10. November weilten Ernst und Hilda gerade in Stuttgart, son of a “good friend” in order to not be empty-handed um sich beim amerikanischen Konsulat die Visa abzuholen. in case of a sudden exit. The displaced citizens of Jewish Ernst wurde wie alle jüdischen Männer aus Baden in das KZ faith no longer had rights over their own money.²⁴ When Dachau verschleppt. Hilda fand Unterkunft bei Bekannten that sudden moment arrived, that son denied ever having in Stuttgart. Dem Sohn einer „guten Freundin“ vertraute sie received any money from them. Hilda drove to Dachau and Geld an, um für den Fall einer plötzlichen Flucht nicht ohne was able to rescue Ernst from the concentration camp by Mittel dazustehen. Die aus dem Land gejagten Mitbürger showing their visas. They never went back to Hemsbach. 251


jüdischen Glaubens durften nicht mehr über ihr eigenes Geld verfügen.²⁴ Als der Notfall dann eingetreten war, leugnete der Sohn, jemals Geld erhalten zu haben. Hilda fuhr nach Dachau und mit der Vorlage der Visa konnte sie Ernst aus dem KZ auslösen. Nach Hemsbach kehrten die Eheleute Günzburger nicht mehr zurück. Sie reisten wie Bruder Julius mit 10 RM in der Tasche am 14. November 1938 über Holland in die USA aus. Die Günzburger Villa in Hemsbach wurde in der Nacht vom 10. November Opfer der SA-Rabauken. Die Einrichtung wurde zertrümmert, die Wertsachen wie Bilder, Silber, Diamanten gestohlen. Theodor Pfälzer, Lottes Onkel, wurde erst später aus Dachau entlassen.²⁵ Er packte den Rest in zwei Seelifts und schickte sie nach Amerika. Der Mercedes war von den Nazis requiriert worden. Später wurde er als Dienstwagen bei der Deportation der letzten noch verbliebenen jüdischen Bürger aus Hemsbach eingesetzt.

Mitbürger jüdischen Glaubens – Erinnerungen alter Hemsbacher im Jahr 1983 35 Jahre nach dem November Pogrom von 1938 machten sich Schüler aus Hemsbach auf dem Weg, ältere Einwohner nach den ehemaligen jüdischen Mitbürgern zu befragen.²⁶

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Like brother Julius, they had 10 RM in the pocket when they left the country on November 14, 1938, first to Holland and then to the USA. The Villa Günzburger in Hemsbach fell victim of SA radicals during the night of November 10. The furniture was destroyed, and valuables like pictures, silver, and diamonds were stolen. Theodor Pfälzer, Lotte’s uncle, was later released from Dachau.²⁵ He packed up the remaining possessions and shipped them to America. Their Mercedes was confiscated by the Nazis. It was later used as a staff car during the deportation of the last remaining Jews in Hemsbach.

Citizens of Jewish Faith—Memories of Hemsbach Senior Citizens in 1983 35 years after the November Pogrom of 1938, students from Hemsbach went out to question senior citizens about their former peers of Jewish faith.²⁶


Hier ein paar Stimmen zur Auswahl: „Sie (die jüdischen Mitbürger) haben dazugehört. Sie haben einen gedauert, wenn man menschlich gedacht hat.“ „Der (Theodor oder Moses?) Pfälzer war bei Sammlungen immer der beste Geldgeber. Er gab eine Mark. Das war viel Geld damals. Die anderen gaben 10 Pf “ „der Josef hat immer gerufen, wenn Schabbes war: ‚Kommt nur mal rein!‘ […] Er hatte uns Matze gegeben, das war eine Delikatesse. Und den Josef haben sie so verhauen, der hat doch niemandem etwas getan“ „wir haben miteinander gespielt. […] sind zusammen zum Ähren lesen gegangen.“ „Der (Ernst) Günzburger hatte einen Mercedes sogar mit einem Chauffeur; ein Auto war damals Luxus. Wir durften auch manchmal mitfahren, das war eine Sensation!“ „ […] Als die Tochter eines Angestellten der Firma Pfälzer Hochzeit feierte, lieh Günzburger seinen großen Mercedes samt Chauffeur der Hochzeitsgesellschaft aus.“ „Ich war oft bei Günzburgers zu Hause. Meine Mutter war schon mit Frau Günzburger befreundet. Auf dem See hinter dem Haus sind wir (mit

Here a few selected quotes: “They (the Jewish citizens) were a part of us. It was a pity when thinking humanly.” “Pfälzer (Theodor or Moses?) was always the money giver during meetings. He gave one Mark. That was a lot of money back then. Others gave 10 pennies.” “[…] Joseph always called out to us during Sabbath: ‘Come on in!’ […] He gave us matzah which was delicious. And they beat Joseph so much; he never hurt anyone.” “(Ernst) Günzburger even had a Mercedes with a chauffeur; a car was a luxury back then. Sometimes we were allowed a ride, which was a sensation!” “[…] When a daughter of an employee of the Pfälzer company had a wedding, the Günzburgers let the wedding party use their Mercedes with chauffeur.” “I was often a guest in the Günzburger house. My mother was a friend of Mrs Günzburger. The gardener would row us (Lotte Lehmann, née Günzburger) out onto the lake in a boat.” “The Jews were honest businessmen, often more honest than the Christian businessmen.” “[…] we grew up with them. […] It was natural, not a problem. Just the opposite. […] when the 253


Lotte Lehmann, geb. Günzburger) vom Gärtner gerudert worden.“ „Die Juden waren ehrliche Geschäftsleute, ehrlicher als manchmal die christlichen Geschäftsleute.“ „man war mit ihnen aufgewachsen. […] es war selbstverständlich, es war uns kein Problem. Es gab nie Gegensatz. […] als die Nazis kamen, da zeigte sich der Judenhass […] Wenn man jetzt aneinander vorbeiging und nichts sagen durfte […] Alles war feindlich belastet. Kein Mensch konnte etwas tun.“ Aber auch solche Töne ließen sich hören. „Die Juden waren ein Klüngel für sich, freundliche Menschen, aber Juden und Christen waren sich gegenseitig nicht gut gesinnt, wie damals die Evangelischen und die Katholischen.“ „Die Juden waren nicht beliebt. Sie waren eine Gemeinschaft für sich. Die Juden und Christen waren nicht gut miteinander.“ Als Fazit äußerte einer lapidar: „Bei den Juden gab es gute und schlechte, wie bei uns (Christen) auch.“

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Nazis came, hatred for Jews started to show. […] Then you would pass by each other on the street and were not allowed to say a word to each other. […] Everything was burdened by hostility. Nobody could change it.” But these voices were also among them: “The Jews were their own kind of people, friendly, but Jews and Christians were not on the same page like the Protestants and Catholics back then.” “The Jews were not popular. They were secluded in their own community. Jews and Christians did not get along.” Somebody’s succinct conclusion: “There were good and bad among the Jews, just like there are among us (Christians).”


Der jüdische Friedhof zu Hemsbach

The Jewish cemetery of Hemsbach

153: Der Friedhof in Hemsbach, am Rande des Odenwalds.

156: Grab von Moses und Ida Pfälzer. Inschrift:

154 & 155: Moses Pfälzer (1818–1882) und B. Hanna Pfälzer (1819–

Hier ruht unser lieber treubesorgter Vater Moses Pfälzer aus

1881), geb. Daube; gewidmet von den Kindern aus Chicago.

Hemsbach geb. 3. September 1857 gest. 30. August 1927 und

153: The cemetery in Hemsbach, at the outskirts of the Odenwald. 154 & 155: Moses Pfälzer (1818-1882) and B. Hanna Pfälzer (18191881), née Daube: dedicated by their children from Chicago.

unsere liebe Mutter Ida Pfälzer geb. Odenheimer geb. 13. Juni 1859, gest. 17. Dez. 1929 156: Grave of Moses and Ida Pfälzer. Inscription: Here lies our beloved faithful father Moses Pfälzer from Hemsbach born September 3, 1857 departed August 30, 1927 and our loving mother Ida Pfälzer née Odenheimer born June 13, 1859 departed December 17, 1929

Der jüdische Friedhof in Hemsbach ist einer der schönst The Hemsbach Jewish cemetery’s location is one of gelegenen des deutschen Westens; nicht einer der ältesten.²⁷ the most beautiful in Western Germany though not the Er liegt außerordentlich würdig an einem bewaldeten Weg, oldest.²⁷ It is located outside of town, dignified, along a der vom alten Dörfchen Hemsbach in den sagenumwobe- wooded pathway which connects the old downtown of 255


nen Odenwald hinaufführt. Über 1.000 Gräber sind hier vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg fotografisch erfasst und katalogisiert worden.²⁸ Eine hohe Bergwiese hinauf, vorab ein Bächlein überschreitend, klettern die Grabsteine bis an den First, wo einige hohe Obelisken dem Ganzen einen „architektonischen“ Abschluss geben. Hier liegen über 28 Gräber der Familien Pfälzer aus Hemsbach.

Hemsbach with the famous Odenwald. More than 1,000 tombs were depicted and categorized by the “Landesdenkmalamt” (state agency which protects historic monuments) Baden-Württemberg.²⁸ Up a mountain pasture, along a little creek, graves reach to the top where a few high obelisks give the whole area an architectural tone. 28 graves of the Pfälzer family of Hemsbach are located here.

157: Heinz als Soldat der US Army (obere Reihe 2. von links) im November 1945 zu Besuch in Palästina bei der Hochzeit von Arie Bruchsaler und Sara Weiskohl (Mitte unten). 157: Heinz as a US army soldier (second row from the top, second person on the left), November of 1945 when visiting Palestine for the wedding of Arie Bruchsaler and Sara Weiskohl (last row, middle).

Heinz in Amerika

Heinz in America

Heinz Jakob war seit dem Frühjahr 1938 bei den reichen Heinz Jakob had been living with his rich relatives in Verwandten in Chicago untergekommen. Seine Eltern ka- Chicago since spring 1938. His parents came to America men via Holland Ende des Jahres in Amerika an. Gemeinsam via Holland at the end of the year. Together, they moved 256


zogen sie nach Toms River, New Jersey, wohin die Verwandten Günzburger und Richheimer aus Mannheim mit einem Farm-Visum ausgewandert waren.²⁹ Das Geld für den Aufbau der Hühnerzucht erhielten die Günzburger von Verwandten und jüdischen Organisationen im Land. Die vergaben Darlehen zu günstigen Konditionen, um den Flüchtlingen aus Europa einen neuen Start in Amerika zu ermöglichen. Ende 1942 wurde Heinz in die Armee eingezogen. Als Mitglied der Armee-Ingenieure war er in Nordafrika eingesetzt. Am D-day landete er in der Normandie, den VE-Tag erlebte er in Leipzig.³⁰ Am Kriegsende fuhr er von Reims, Frankreich heimlich nach Hemsbach und besuchte die Familie Dr. Langenbach, die mit seinen Eltern befreundet war und deren Tochter – siehe oben – nach 1933 demonstrativ zu ihrer Freundin Lotte gestanden hatte. Nach seiner Rückkehr vom Militär 1945 betrieb Heinz eine Fabrik für Küchenmöbel in Beachwood, NJ, keine 2 Kilometer vom Wohnort seiner Eltern entfernt. Er heiratete Ruth Bacharach aus Fulda. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor. Daniel wurde 1951 und Ernest 1953 geboren.

to Toms River, New Jersey, where the relatives Günzburger and Richheimer from Mannheim were living on a farming-visa.²⁹ The Günzburgers received some startup capital for a chicken farm from relatives and Jewish organizations in the country. Those gave out loans with favorable conditions to help refugees from Europe begin a new life in America. Heinz was drafted at the end of 1942. He was stationed in North Africa as part of the Army’s engineering team. He landed in Normandy on D-Day, and experienced the VE day in Leipzig.³⁰ When the war was over, he drove from Reims, France towards home in Hemsbach and visited the Dr Langenbach family, who were friends of his parents and whose daughter—see above—had been a loyal friend to Lotte after 1933. After his return from the military in 1945, Heinz owned a factory for kitchen furniture in Beachwood, NJ, not 2 kilometers from his parent’s home. He married Ruth Bacharach from Fulda. They had two sons, Daniel was born in 1951 and Ernest in 1953.

Kontakt zum Deutschland der Nachkriegszeit

Post-War Contact to Germany

Family members who had stayed in Europe and those Der Kontakt zwischen den Familien, die in Europa geblie- who had spread all over the world contacted each other ben waren und denen, die in alle Welt verstreut lebten, wur- immediately. Correspondence after 1945 took longer than de sofort nach dem Krieg aufgenommen. Die Korrespondenz we could imagine today. It often took weeks for letters to 257


lief nach 1945 unter Bedingungen ab, die sich heute keiner mehr vorstellen mag. Briefe waren oft Wochen unterwegs. Vorsichtshalber fertigte man einen Durchschlag auf dünnem Papier an, sofern man welches ergattern konnte. So wusste man zumindest, was man den lieben Verwandten vor Wochen mitgeteilt hatte. Auch Ernst führte unter anderem einen Briefwechsel mit seinem Neffen Fritz, der als Einziger der Günzburger nach dem Krieg in seine Heimat zurückkehrte.³¹ Ernst schickte seinem Neffen Kleidung und Schokolade nach Herne ins Ruhrgebiet. Die Autorin Hanneke erhielt als Kind so manches Teil aus Amerika, das sie voller Stolz trug, wie ihr Vater zu berichten wusste. Fritz schilderte in vielen Briefen ausführlich die Lage in Nachkriegs Deutschland aus der Sicht eines politisch engagierten Beobachters.³² Ernst war mit der Farmarbeit so eingespannt, dass er sämtliche Privatkorrespondenz seiner Frau überließ. Hilda starb im Juni 1948 im Alter von 57 Jahren an Krebs. Ihr Tod war für Ernst ein unersetzlicher Verlust. Erst allmählich stellte er sich auf die neue Situation ein. In einem Brief an Fritz fragte er unter anderem nach den Möglichkeiten einer Restitution seiner Liegenschaften in Hemsbach. Konkrete Angaben machte er darüber jedoch nicht, so dass sich Fritz in Deutschland nicht der Sache annehmen konnte.

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arrive. A carbon copy was made just in case and if possible. So at least, you remembered what you told your relatives weeks ago. Ernst also corresponded with nephew Fritz who was the only Günzburger to return to his home in Germany.³¹ Ernst sent his nephew clothes and chocolate to Herne, Ruhrgebiet (Industrial region in the Western part of Germany named after the river Ruhr). The author Hanneke received several items from America as a child, and wore them proudly, as her father later reported. Fritz reported on the state of post-war Germany at length, with a viewpoint of a politically engaged observer.³² Ernst was so busy with the upkeep of the farm that he left a lot of the correspondence to his wife. Hilda died of cancer in June 1948 at the age of 57. Her death was an irreplaceable loss for Ernst. Only slowly, did he adjust to the new situation. In a letter to Fritz, he also asked about a possible restitution for his real estate in Hemsbach. However, he did not give specifics so that Fritz was unable to take on this task in Germany.


„Meine Lieben, Schon längst wollte euch schreiben, doch immer war was anderes, was mich davon abhielt und ich hatte auch keinen Kopf dafür. Der Verlust meiner lieben Hilde ging mir zu nahe, und sie fehlt mir überall. Ich meine oft, es wäre nicht möglich. Nun habe eine nette Frau, die besorgt mir den Haushalt und alles sonst, was es im Haushalt gibt. Doch sie kann für mich nicht die Privatbriefe schreiben und Pakete senden. Ich würde euch nun gerne wieder ein Paket schicken. Teilt mir bitte umgehend mit, was ihr so am besten gebrauchen könntet. Ich werde es dann besorgen lassen. Ich bin nicht so eingestellt, dass ich viel Privatbriefe schreibe. Dies besorgte immer eure liebe Tante und nun bleibt dies liegen. Ihr könnt mir deshalb doch schreiben. Ich werde euch dann von Zeit zu Zeit antworten. Heinz ist in seiner Fabrik sehr beschäftigt, hat viel zu tun, doch es fehlt ihm an gelernten Arbeitern und die sind hier schwer zu bekommen. Er macht hauptsächlich Möbel für nach New York, Kleinmöbel usw. Lotte und Familie wohnen in Newark und beide sind tätig. Tante Bertha wohnt nicht mehr hier, auch Lili nicht, sie sind nach dem Westen.

“My friends, I have been meaning to write you for some time now but there was always something preventing me. The loss of my dear Hilde affected me so much, and I miss her everywhere. I often think it’s not possible. Now I have a nice woman who takes care of the household and all things regarding the household. But she cannot write private letters for me and send packages. I would like to send you another package. Please, let me know right away what could be most useful, so I can have it bought. I’m not wired to write many private letters. Your dear aunt always took care of this and now it remains undone. You can write me anyway. I will reply to you from time to time. Heinz is very busy in his factory, has a lot to do, but he lacks skilled workers and they are hard to come by. He mainly makes furniture to go to New York, small furniture, etc. Lotte and family live in Newark and are both working. Aunt Bertha no longer lives here, nor does Lili; they left for the West.

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158: Brief von Ernst an seinen Neen Fritz, 1949 geschrieben. 158: Letter from Ernst to his nephew Fritz written 1949.

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Wie geht es euch? Was machst du denn Fritz? Und wie lebt sich draußen? Glaubst, man bekommt wieder mal was von seinen alten Liegenschaften in Deutschland? Schreibe mir, lieber Fritz, mal ausführlich darüber. Was machen die Kinder? Lass mich und Erna wissen, was ich schicken soll. Herzliche Grüße an euch alle von Onkel Ernst“ Fritz antwortete darauf am 4. März 1949: „Lieber Onkel Ernst! Deinen Brief vom 6. Februar haben wir erhalten und will ich Die auch bald antworten, wegen der Fragen, die Du darin anschneidest. Du fragst nach Deinen Liegenschaften hier in Deutschland. Bevor man aber da etwas unternehmen kann, müßte ich genaue Einzelheiten wissen, vor allem, ob Du sie und wann verkauft hast und an wen. Ist der Verkauf unter Druck geschehen? Um welche Liegenschaften handelt es sich genau? Wer ist der jetzige Inhaber der Fabrik? Wenn Du also willst, daß mal was unternommen wird, schreibe mir genau die Einzelheiten. […]“

How are you? What are you doing, Fritz? And how is life out in the open? Do you think we’ll get any of our old properties back in Germany? Dear Fritz, please write me extensively about it. How are the children? Let me and Erna know what to send. Best wishes to you all From Uncle Ernst” Fritz answered on March 4, 1949: “Dear Uncle Ernst! We received your letter from February 6 and I want to answer your questions very soon. You were asking about your real estate here in Germany. Before one can start on this, you would have to have specifics, especially about if and when you sold them and to whom. Did you have to sell anything under pressure? Which real estate are you referring to? Who is the current owner of the factory? If you want something to be done, please send me the details. […]”

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159 & 160: Fritz’ Antwort an Ernst. 159 & 160: Fritz’s answering letter to Ernst.

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Restituierung jüdischen Eigentums

Restitution of Jewish Estates

Die „Arisierung“ jüdischen Eigentums während der Nazi-Zeit stellte einen Besitzwechsel dar, der in der deutschen Geschichte ohne Beispiel war.³³ Alle Versuche, die materiellen Folgen des Besitzwechsels rückgängig zu machen, brachten eine Reihe sehr komplexer Probleme mit sich. Die Rückgabe sollte in einer Gesellschaft vollzogen werden, die sich vor 1945 ausgiebig an der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen und der „Arisierung“ beteiligt hatte. Die von den Militärregierungen verabschiedeten Gesetze empfand man auf deutscher Seite als Zumutung und Bestrafung aber nicht als Versuch, einem gerechten Ausgleich für geschehenes Unrecht nahe zu kommen. In den Finanzbehörden, die an den fiskalischen Ausplünderungen beteiligt waren, gab es nach 1945 Personalkontinuitäten, die an einer Revision ihrer eigenen Politik wenig Interesse zeigten.³⁴ Ernst starb im April 1952. Zwei Monate vorher besuchte er ein letztes Mal seine Schwägerin Martha Gunn (Marta Günzburger) in Los Angeles.³⁵ Unter Tränen verabschiedete er sich von der Todkranken.³⁶ Weder Lotte noch Heinz wussten Einzelheiten zu den Günzburger Liegenschaften in Hemsbach noch konnten sie den Wert der gestohlenen Gegenstände durch Dokumente belegen. Beide kannten ihren Vetter Fritz aus Deutschland kaum. Mit dem Tode von Ernst war der Kontakt zu den deutschen Verwandten aus Herne unterbrochen. Erst 2013, 61 Jahre später, haben die

The “aryanization” of Jewish estates during the Nazi time was a change of ownership never before seen in the history of Germany.³³ All attempts to reverse the material consequences of these ownership changes came with a series of complex problems. A company that had taken significant part in the national socialist violent crimes and “aryanization” before 1945 was to make restitutions. Many of the affected Germans perceived these laws made by the military government as an imposition and punishment rather than an attempt to find a fair compensation for the injustice having been done. There were personnel within the financial institutions who had taken part in the fiscal exploitation before 1945 and now showed little interest in a revision of their politics.³⁴ Ernst died in April 1952. Two months prior, he visited his sister-in-law Martha Gunn (Marta Günzburger) in Los Angeles one more time.³⁵ In tears, he said goodbye to her on her death bed.³⁶ Neither Lotte nor Heinz knew details about the Günzburger real estate in Hemsbach nor were they able to prove the worth of stolen goods with documents. Both of them hardly knew their cousin Fritz from Germany. After Ernst died, Heinz and Lotte lost contact with their German relatives in Herne. It wasn’t until 2013, 61 years later, that the authors connected with Ernst and Hilda’s grandchildren. About the restitution we know from 263


Autoren die Fäden zu den Enkeln von Ernst und Hilda wie- Heinz’ wife Ruth that Ernst was successful. Ernst retained der geknüpft. Ruth, die Frau von Heinz, teilte mit, dass Ernst a former German lawyer named Silverman who applied eine Wiedergutmachung mit Hilfe eines deutschen Anwalts for restitution.³⁷ namens Silbermann erhielt. Über den Umfang und Höhe der Restitution ist nichts bekannt.³⁷ Lotte in America

Lotte in Amerika Lotte zog mit ihrem Mann Arnold und Sohn Michael im März 1947 von Palästina zu ihren Eltern nach Pine Beach, NJ. Nach drei Wochen zogen sie weiter nach Newark. Sie musste in Privatstunden die englische Sprache und die lateinischen Fachausdrücke aus der Medizin lernen, bevor sie ihren Beruf als Krankenschwester ausüben konnte. Arnold war in dem „American Platinum Works“ beschäftigt. Als Michael 13 Jahre alt (1950) war, übernahmen die Lehmanns von Ernst die Hühnerfarm in Pine Beach. 18.000 Hühner zu halten war ein harter Job für die gelernte Krankenschwester. Vier Jahre nach dem Tod der Mutter starb auch Vater Ernst im Alter von 67 Jahren. Familie Lehmann führte die Farm unverändert weiter bis zum Tod von Arnold. Er starb mit 60 Jahren im Jahr 1972. Ab da konzentrierte sich Lotte auf den Verkauf von Landeiern. dann vermietete sie die Hühnerställe, später verkaufte sie ein Stück Land. Lotte war erleichtert. Endlich konnte sie von der Stallmiete und dem Verkaufserlös des Landstücks leben. 1995 zog sie etwa 10 Meilen entfernt in die Nähe von Lakewood, NJ. Sie lebte dort bis 2001. Danach 264

Lotte and her husband Arnold and son Michael moved from Palestine to her parents in Pine Beach, NJ, in March 1947. After three weeks, they moved on to Newark. She took private lessons to learn English and also had to learn Latin medical terminology before she was able to continue in her nursing profession. Arnold worked for American Platinum Works. When Michael was 13 years old (1950), the Lehmanns took over Ernst’s chicken farm in Pine Beach. Keeping 18,000 chickens was hard work for this nurse. Four years after the death of her mother, father Ernst died at the age of 67. The Lehmann family kept the farm unchanged until Arnold’s death. He died in 1972 at the age of 60. After that, Lotte focused on selling country eggs. She later rented out the hen coops, then sold a piece of land. Lotte was relieved. She was able to live off of the rent and sales profit. In 1995, she moved to a place near Lakewood, NJ, about 10 miles away. She lived there until 2001. After that, her son Michael’s family brought her to a retirement community in San Diego about 29 miles away.³⁸ She died at age 100 in a retirement home in Rancho Bernardo on September 9, 2014.


Michael and his wife Lucy moved to San Diego in 2000 brachten sie die Familie ihres Sohnes Michael nach San Diego in eine Senioreneinrichtung etwa 29 Meilen entfernt.³⁸ Sie when their oldest daughter, Elana, attended medical starb am 9. September 2014 mit 100 Jahren in einem Alters- school at the University of California.³⁹ Elana met Patrick heim in Rancho Bernardo. Sheldon at medical school. They married in 1996. Patrick stayed at the University of Southern California and beSohn Michael und seine Frau Lucy zogen 2000 nach San came a radiologist. Elana works as an internist. They have Diego, während seine älteste Tochter, Elana, zur Universität two sons named Adam, age 14, and Bryan, age 13. The boys von Kalifornien in die Medical School ging.³⁹ Elana traf Pat- do very well in school. rick Sheldon, der in ihrer Klasse an der medizinischen FakulMichael’s son David attended Washington University tät war. Sie heirateten 1996, Patrick blieb an der University of Medical School in St Louis and later the University of CalSouthern California und wurde ein Radiologe. Elana arbeitet ifornia in San Diego, to specialize in psychiatry. David met als Internistin. Sie haben zwei Jungen namens Adam, der 14 Dina Lim, a student majoring in child psychiatry at the Colist und Bryan, der 13 wird. Die Jungs sind beide sehr gut in lege. They married and had Sarah and Mira, the now seven der Schule. year old twins, and Leah who will be four in February. David Michaels Sohn David ging zur Washington University in is responsible for the supervision of the doctoral candidadie Medical School in Saint Louis und später an die Univer- tes in UCSD’s psychiatry department and also works for the sität von Kalifornien in San Diego, um Psychiater zu werden. Veterans Administration. David traf Dina Lim, eine Studentin der Kinderpsychiatrie an Michael’s daughter Francesca lives 10 miles outside of der Schule, sie heirateten und bekamen Sarah und Mira, die San Diego in Carmel Valley. She has her doctoral degree in jetzt 7 Jahre alten Zwillinge und Leah, die im Februar 4 wird. psychology. She works in forensic psychology, usually reDavid ist an der UCSD verantwortlich für die Überwachung presenting the accused party. Her husband, Andrew Gomder Doktoranden in der Psychiatrie und er arbeitet auch für perts, attended UCLA and Wharton Business School and die Veterans Administration. currently works in the pharmaceutical industry. They have Seine Tochter Francesca lebt 10 Meilen entfernt von San two children: Shoshanah is three-and-a-half years old and Diego in Carmel Valley. Sie hat einen Doktortitel in Psycho- Eva is 8 months old. logie. Sie macht eine Menge Arbeit in der forensischen Psychologie, in der Regel im Auftrag der Angeklagten. Ihr Ehe265


mann, Andrew Gomperts, studierte an der UCLA und an der So Lotte had one child, three grandchildren and seven Wharton Business School und arbeitet derzeit in der phar- great-grandchildren. mazeutischen Industrie. Sie haben zwei Kinder, Shoshanah ist dreieinhalb Jahre alt und Eva ist 8 Monate alt. Visiting the Old Home Also hatte Lotte ein Kind, drei Enkelkinder und sieben Urenkel.

Besuche in der alten Heimat Lotte besuchte 1982 ihren „Jugendfreund“ Wolfgang Schlösser in Hemsbach. Vor der Garage ihres Elternhauses in der Pumpwerkstraße befand sich eine Schaukel, deren Haken Lotte überglücklich entdeckte. Heinz und Ruth wollten 1973 von Amsterdam aus Hemsbach und Fulda besuchen. Fulda war Ruths Geburtsort. In Frankfurt gab es auf einer Autobahnauffahrt einen unangenehmen Zwischenfall mit der Polizei. Den Beamten fehlte offensichtlich das notwendige Fingerspitzengefühl im Umgang mit Personen, die 35 Jahre zuvor ausgeplündert und aus der Heimat gejagt worden waren. Angewidert von dem Verhalten der Ordnungshüter brachen Heinz und Ruth die Reise ab. Nach einem Tag in Hemsbach gaben Heinz und Ruth das Leihfahrzeug ab und fuhren weiter in die Schweiz. Im Gegensatz zu Schwester Lotte setzte Heinz nie wieder einen Fuß auf deutschem Boden. Auf dem Sterbebett bedauerte er diesen Entschluss gegenüber seinen Söhnen Daniel und Ernst. 266

Lotte visited her childhood friend Wolfgang Schlösser in Hemsbach in 1982. In front of the garage at her parents house on Pumpwerkstreet, Lotte excitedly discovered a swing with a familiar hook. Heinz and Ruth had intended to visit Hemsbach and Fulda coming from Amsterdam in 1973. Fulda was the town where Ruth was born. However, they had an uncomfortable run-in with the police on a highway ramp in Frankfurt. The officer obviously lacked the appropriate sensitivity when dealing with a person who had been plundered and displaced 35 years ago. Disgusted by the officer’s behavior, Heinz and Ruth cut their trip short. After one day in Hemsbach, they gave up their rental car and continued on their way to Switzerland. Unlike his sister, Heinz never set foot on German ground again. On his death bed, he voiced regret over this decision to his sons Daniel and Ernest.


Heinz’ Nachfahren

Heinz’ Descendents

Der ältere Sohn Daniel ist verheiratet mit Laura Klein. Die beiden haben Zwillinge, Eli und Talya, geb. 1998. Er ist Anwalt bei der Gesundheitsbehörde in New York. Sein Arbeitsplatz bietet einen einmaligen Blick auf den Ground Zero. Ernest ist in die Fußstapfen seines Vaters getreten, führt dessen Möbelfirma in Pine Beach weiter. Er ist verheiratet mit Ellen Rubinstein und lebt in Holdel, ca. 50 Kilometer von Pine Beach entfernt. Die beiden haben zwei Kinder: Sarah, geb. 1992 und Samuel, geb. 1994. Ruth lebt in Toms River und trifft sich regelmäßig mit Margot Mayer, der Kusine ihres Mannes. Im Mai 2014 fuhren die Autoren nach New York und trafen die Familie.

The oldest son Daniel is married to Laura Klein. They have twins, Eli and Talya, born in 1998. He is a lawyer for the Department of Health in New York. His office has a spectacular view of Ground Zero. Ernest followed in his father’s footsteps, running the furniture company still in Pine Beach. He is married to Ellen Rubinstein and the family lives in Holdel about 30 miles outside from Pine Beach. They have two children: Sarah, born in 1992 and Samuel, born in 1994. Ruth lives in Toms River and regularly meets with her husband’s cousin, Margot Mayer. In May 2014, the authors had a chance to meet the family in New York.

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161–163: Oben: Daniel und Ruth, daneben Laura. Darunter: Eli und Talya. 161–163: Above: Daniel and Ruth, next to them Laura. Below: Eli and Talya.

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Endnoten Endnotes 1)

2) 3) 4) 5) 6)

7) 8)

Die hufeisenförmige Innenstadt Mannheims zwischen Rhein und Neckar ist als Gitter angelegt, die „Mannheimer Quadrate“. Die Bismarckstraße verläuft vor der Front des Schlosses und verbindet die Enden der Ringstraßenabschnitte miteinander. Dazwischen liegen rechtwinklig angelegte Straßenzüge. Die Planung dieses Netzes geht auf Kurfürst Friedrich IV. von der Pfalz um 1600 zurück, sie ist bis heute erhalten geblieben. The horseshoe-shaped downtown area in Mannheim between the Rhine and Neckar is laid out like a grid, the “Mannheimer Quadrate” (Mannheim squares). Bismarckstreet runs in front of the castle and connects both ends of Ringstreet. In between, streets are laid out perpendicular. The planning of this grit goes back to Kurfürst Friedrich IV from the Palatinate around 1600 but remains today. Information aus dem Archiv Mannheim. People had to register. Information from the Mannheim archive. Hemsbach liegt 10 Kilometer von Weinheim entfernt. Hemsbach is located 10 kilometers from Weinheim. www.juden-in-weinheim.de Siehe Kapitel Jakob. See Chapter Jakob. Edwin H. Höhn:„Die Dorfheimat“ Nr. 48 / 1987 – Beiträge zum „Hemsbacher Stadt-Anzeiger“. Höhn ist Herausgeber des „Hembacher Stadt-Anzeigers“ und Autor mehrerer Schriften über das jüdische Leben in Hemsbach. Höhn, editor of the newspaper “Hemsbacher Stadt-Anzeiger”, wrote many articles about Jewish life in Hemsbach. http://www.lorsch.info/tabakmuseum/ „Spuren – Erinnerungen“ – unsere Nachbarn Jüdischen Glaubens – Eine Projektarbeit der Friedrich-Schiller-Hauptschule in Hemsbach unter Anleitung ihrer Lehrerin Frau Margret Richter 1984. “Spuren – Erinnerungen”—Our neighbors of Jewish belief—A project of the Friedrich-Schiller-secondary school in Hemsbach under the guidance of their teacher Margret Richter 1984. 269


9)

10) 11) 12) 13) 14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24) 25) 26) 270

Durch Herrn Edwin H. Höhn aus Laudenbach hatten wir 2014 die Gelegenheit, einen Blick in die Villa zu werfen. Dank an den jetzigen Besitzer, Herrn Möll. Via Mr. Edwin H. Höhn from Laudenback, we were able to take a look at the Villa in 2014. Thank you to today’s owner, Mr. Möll. Siehe Kapitel Michael, Bericht der Kusine Greta. See Chapter Michael, stories from cousin Greta. Mündliche Mitteilung von Edwin H. Höhn anlässlich eines Besuchs in Hemsbach 2014. Oral report from Edwin H. Höhn during a visit in Hemsbach 2014. Siehe Kapitel Julius und andere. See Chapter Julius and others. S. o.: Auch Gerda Elias, Julius‘ spätere Schwiegertochter durfte kein Studium aufnehmen. See above: Gerda Elias, Julius’ daughter-in-law to-be was not allowed to attend university either. S. o.: Über die Problematik einer Ausreise nach Palästina. See above: about difficulties surrounding an emigration to Palestine. Benz, W. (1996): Die Juden in Deutschland 1933-1945. München Siehe Kapitel Julius und Unterkapitel Erna. See Chapter Julius and subchapter Erna. Kruse, R. (2007): Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau – Unternehmer in Kehl. Kehler Familiengeschichten Band 2. Kehl Siehe Kapitel Rosa. See Chapter Rosa. Aus „Spuren – Erinnerungen“. From “Spuren – Erinnerungen”. Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Hugo. Thaler, U. (1998): Unerledigte Geschäfte – Zur Geschichte der schweizerischen Zigarrenfabriken im Dritten Die Dorfheimat, Beilage des „Hemsbacher Stadt-Anzeigers“ von Januar 2007. “A village home”, a supplement of the “Hemsbach Journal” of January 2007. Affidavit (lat.) = er hat versichert. Eine Bürgschaftserklärung, die Verfolgten die Einreise in die USA ermöglichte. Affidavit (lat.) = he insured. A declared guarantee, allowing the persecuted to enter the USA Siehe Kapitel Julius. See Chapter Julius. Über das Schicksal der Pfälzer: Günzburger, B. (2014): Die Zigarrenfabriken Günzburger & Co. Pfälzer & Cie. About the fate of the Pfälzer family: Günzburger, B. (2014): Die Zigarettenfabriken Günzburger & Co. Pfälzer & Cie. „Spuren – Erinnerungen“ s. o. “Spuren – Erinnerungen” see above.


27) 28) 29) 30) 31) 32) 33)

34) 35) 36) 37) 38) 39)

Aus: Israelisches Familienblatt Nr. 23 vom 4.6.1931. From: Israelisches Familienblatt Nr 12 of 6 / 4 / 1931. https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/olf/struktur.php?bestand=24368&klassi=054&anzeigeKlassi=032.001 Siehe Kapitel Michael; dort Leben in Toms River. See chapter Michael; Life in Toms River. D-Day = Landung in der Normandie am 6. Juni 1944; VE-Day = Victory in Europe am 8. Mai 1945. D-Day = landing in Normandy on June 6, 1944; VE Day = Victory in Europe on May 8, 1945. Siehe Unterkapitel Fritz. See sub-chapter Fritz. Siehe Unterkapitel Fritz: Er war zeitlebens ein politischer Mensch, der den Standpunkt der KPD / DKP vertrat. See sub-chapter Fritz: He was a political minded person his whole life and represented the views of the KPD / DKP. Wir übernehmen diese rassistische Konnotation, um sämtliche materiellen Aspekte der Zerstörung der wirtschaftlichen und sozialen Existenz deutscher Mitbürger jüdischen Glaubens zu beschreiben. We are using these racial connotations to describe the destruction of all material aspects of the economic and social existence of German citizens of Jewish faith. Lillteicher, J. (2003): Westdeutschland und die Restitution jüdischen Eigentums in Europa. Frankfurt Siehe Kapitel Hugo. See Chapter Hugo. Mündliche Mitteilung Lore (Günzburger) Aron, Martas Tochter 2014. Orally reported by Lore (Günzburger) Aron, Marta’s daughter 2014. Mitteilung von Daniel Günzburger New York 2015. Orally reported by son Daniel 4 / 2014. Mitteilung des Sohn Michael 10 / 2014. Orally reported by son Michael 10 / 2014. S. o. See above.

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Hilda Günzburger (1889–1963)

164: Hilda im Alter von 39 Jahren. 164: Hilda at the age of 39.

Hilda war das jüngste Kind der Eheleute Israel Günzburger und seiner Frau Babette. Sie war vier Jahre beim Tod ihres Vaters. Hilda heiratete Berthold Veit, Sohn des Gemeindevorstehers Simon Veit, geboren am 28. März 1884. Veit war wie Günzburger eine Familie mit langer Tradition in Emmendingen. Bertholds Mutter war Sophie Günzburger (1858–1936), Tochter des Marx Günzburger.¹ Sophie war somit eine Kusine von Israel Samuel Günzburger, dem Vater von Hilda.

Hilda was the youngest child of Israel Samuel Günzburger and his wife Babette. She was four years old when her father died. Hilda married Berthold Veit, son of the community leader Simon Veit, born on March 28, 1884. The Veits like the Günzburgers were a family with a long tradition in Emmendingen. Berthold’s mother was Sophie Günzburger (1858–1936), daughter of Marx Günzburger.¹ So Sophie was a cousin of Israel Samuel Günzburger, the father of Hilda.

Das dreiteilige Grabmal der Familie Veit sticht auf dem The three-piece tombstone of the Veit family stands out neuen Friedhof unter allen Gräbern durch seine Monumentalität hervor. In der Mitte wird der Sophie Veit, gebo- among all other gravestones at the new cemetery due to its rene Günzburger, gedacht. Im Friedhofsbuch wird neben monumental size. The center stone pays tribute to Sophie 272


165: Das monumentale Grabmal der Familie Veit auf dem neuen Emmendinger Friedhof. 165: The monumental tombstone of the Veit family at the new cemetery of Emmendingen.

dem Namen angemerkt: „Ehefrau des Herrn Altvorstehers u. Ehrenbürgers des Isr. Gemeinde Edg., Simon Veit“. Auf der rechten Seite wird des Gemeindevorstehers Simon Veit gedacht. Er war eines der ältesten Opfer der Wagner-Bürckel Aktion.² Seine hohen Verdienste um die Israelische Gemeinde bewahrten den 90-Jährigen nicht vor der Deportation nach Gurs, wo er am 25. September 1941 starb. Die Inschrift auf dem Grabmal weist auf sein Schicksal hin. Simon Veit, Besitzer eines Sägewerks, hatte ganz wesentlichen Anteil an der schon vor 1914 geplanten Renovierung und Erweiterung der Emmendinger Synagoge.³ Der Umbau wurde am 27. Juli 1923 eingeweiht.⁴

Veit, née Günzburger. The graveyard book notes next to the name: “wife of former superintendent and honorary citizen of the Israeli community Emmendingen, Simon Veit”. The right side of the monument pays tribute to the community leader Simon Veit. He was one of the earliest victims of the Wagner Bürckel campaign.² His diligent work for the Jewish community did not save the 90 year old from the deportation to Gurs, where he died on September 25, 1941. The inscription on the tombstone remembers his fate. Simon Veit, owner of a sawmill, had a very significant part in the plans to renovate and expand Emmendingen’s synagogue prior to 1914.³ The construction began July 27, 1923.⁴

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166 & 167: Die neue Synagoge vom Schlossplatz aus gesehen. Von SA, Hitlerjugend und Emmendinger Bürgern geschändet, in Brand gesteckt und Stein für Stein abgetragen. 166 & 167: View of the new synagogue from “Schlossplatz”. Destroyed by SA, Hitler youth and Emmendingen’s citizens, burned down and taken down brick by brick.

Familie Berthold Veit

The Berthold Veit Family

Hilda und der Sägewerk-Betreiber Berthold Veit hatten vier Kinder. Der Älteste war Georg, geboren 1908. Karl folgte 1910. Die Zwillinge Otti und Emmi wurden am 14. Oktober 1914 geboren. Alle vier saßen mit ihren Kusinen Käte und Ruth Günzburger in vorderster Reihe beim Familienfoto von 1920 (siehe S. 42)

Hilda and the sawmill operator Berthold Veit had four children. The eldest was Georg, born 1908. Karl followed in 1910. The twins Otti and Emmi were born on October 14, 1914. All four of them sat with her cousins Kate and Ruth Günzburger in the front row of the family photo of 1920 (see page 42).

168: Von rechts: Georg Veit, Käte Günzburger, Otti und Emmi Veit, Ruth Günzburger, Karl Veit. 168: Right to left: Georg Veit, Kate Günzburger, Otti and Emmi Veit, Ruth Günzburger, Karl Veit.

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169: Hilda und Berthold Veit 1959. 169: Hilda and Berthold Veit 1959.

Was ist aus der Familie Berthold Veit und seinen Kindern in der Nazi-Zeit geworden? Aus dem Briefwechsel zwischen unserem Vater Fritz und seiner Tante Hilda, bzw. seinen Vettern Georg und Karl wissen wir etwas über das Schicksal der Veit Familie.

What happened to Berthold Veit’s family and his children during the Nazi era? Due to correspondence between our father Fritz and his aunt Hilda, as well as from his cousins Georg and Karl, we know some things about the fate of the Veit family.

Hilda und Berthold Veit flohen nach Sao Paulo, begleitet von ihrem Sohn Karl, der wie der Vater im Holzhandel tätig war. Karl übte seinen Beruf auch in Brasilien aus. Aus der Korrespondenz zwischen Fritz und seinen Verwandten in Sao Paulo geht hervor, dass die Familie Veit dort Fuß gefasst

Hilda and Berthold Veit fled to Sao Paulo, accompanied by their son Karl, who worked in the wood trade like his father. Karl continued his profession in Brazil. We learn from the correspondence between Fritz and his family in Sao Paulo that the Veit family took root there. It is no coin275


hatte. Nicht von ungefähr empfahl Berthold Fritz, dem Neffen seiner Frau, seinem Beispiel zu folgen und sein Glück in Südamerika zu suchen. Hilda starb 1963 im Alter von fast 74 Jahren, Berthold 1966 im Alter von fast 82 Jahren.

cidence that Berthold recommended to Fritz, his wife’s nephew, to follow his example and to find a future in South America. Hilda died in 1963 at the age of almost 74; Berthold died in 1966 at the age of almost 82.

Die Veit-Kinder

The Veit children

Tochter Otti war eine begabte Cellistin. Von ihrem zehnten Lebensjahr an spielte sie das Instrument, ging im Alter von 20 Jahren nach Berlin, um bei Nicolai Graudan, dem wichtigsten Cellisten des Berliner Philharmonie-Orchesters zu studieren. Graudan wurde aus rassischen Gründen entlassen und floh nach London, wohin ihm Otti folgte. Ihre Schwester Emmi und ihr Bruder Georg wanderten ebenfalls nach England aus. Otti heiratete 1939 Robert Eisner, einen Bergbauingenieur. Aus beruflichen Gründen zogen sie 1940 nach Kalgoorlie, Australien. Otti betrieb in Australien ihre Musik weiter. Sie wurde über Australien hinaus eine bekannte und gefeierte Virtuosin. Über mehrere Stationen wurde sie schließlich Leiterin an der Faculty of Music der Melbourne Universität. Sie nutzte später ihr Talent, Spenden für wohltätige Zwecke zu sammeln. Otti Veit starb mit 86 Jahren im Jahr 2000. Nach ihrem Tod blieb ihrem Mann Robert Eisner noch eine Aufgabe, das Otti Veit Violoncello Stipendium an der Melbourne Universität zu gründen. Ottis wertvolle Instru276

Daughter Otti was a talented cellist. She played the instrument from the age of ten, and at the age of 20, she went to Berlin to study with Nicolai Graudan, the most important cellist of the Berlin Philharmonic Orchestra. Graudan was dismissed for racial reasons and fled to London; Otti followed him. Her sister Emmi and her brother Georg also emigrated to England. In 1939, Otti married Robert Eisner, a mining engineer. For professional reasons, they moved to Kalgoorlie, Australia in 1940. Otti continued her music in Australia. She became a known and celebrated virtuoso in Australia and beyond. After several steps, she finally became the Director of Music at the University of Melbourne. Later, she used her talent to collect donations for good causes. Otti Veit died at age 86, in the year 2000. After her death, her husband Robert Eisner still had a job to do: to open the Otti Veit Violoncello Scholarship at the University of Melbourne. Otti’s valuable instruments were auctioned at Sotheby’s in London, and the proceeds


mente wurden bei Sotheby’s in London versteigert, und mit of the auction became the foundation of the scholarship. dem Erlös der Versteigerung wurde ein Fundament für das The first scholarship was awarded in 2002. Robert Eisner Stipendium gelegt. Das erste Stipendium wurde 2002 verge- died in 2011 at the age of 94. ben. Robert Eisner starb im Jahr 2011 im Alter von 94 Jahren. Karl died in 1993 at the age of 82 in Sao Paulo. Georg Veit Karl starb 1993 im Alter von 82 Jahren in Sao Paulo. Georg died in 2003 at the age of 95. Emmi, Otti’s twin sister, died in Veit starb 2003 im Alter von 95 Jahren. Emmi, die Zwilling- 2005 at the age of almost 91. schwester von Otti, starb 2005 im Alter von fast 91 Jahren. More information about the families Veit is not available. Weitere Informationen über die Familien Veit liegen uns nicht vor.

277


Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4)

278

Siehe Kapitel Günzburger aus Emmendingen. See Chapter Günzburger aus Emmendingen. Siehe Kapitel Rosa Günzburger. See Chapter Rosa Günzburger. Grasse, C. e.a. (2001): Jüdisches Leben in Emmendingen. Haigerloch. Günther, K. (2011): Die Jüdische Gemeinde Emmendingen 2011. Emmendingen.




Moritz und Nanette G端nzburger Moritz and Nanette G端nzburger

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Moritz Günzburger (1854–1888)

170 & 171: Moritz Günzburger, Nanette Günzburger, geb. Kaufmann 170 & 171: Moritz Günzburger, Nanette Günzburger, née Kaufmann

Moritz Günzburger war ein Sohn des Marx GünzburMoritz Günzburger was a son of Marx Günzburger, brothger, Bruder von Samuel Günzburger. Er betrieb in Nieder- er of Samuel Günzburger. He ran a hardware business in Emmendingen, Karl-Friedrich-Straße 36, eine Eisenhand- Lower Emmendingen, 36 Karl-Friedrich-Street, right next lung neben dem Haus seines Vetters Israel Samuel. door to the house of cousin Israel Samuel. 282


172 & 173: Eisenhandlung 1906 / 2012. 172 & 173: Hardware store 1906 / 2012.

Vetter Israel Samuel war mit Babette Kaufmann aus LichCousin Israel Samuel was married to Babette Kaufmann tenau verheiratet, Moritz nahm deren jüngere Schwester from Lichtenau; Moritz married her younger sister NanetNanette zur Frau. Beide waren Töchter des Patriarchen Sa- te. The two of them were daughters of patriarch Samuel muel Kaufmann.¹ Kaufmann.¹ Moritz und Nanette hatten vier Kinder. Sophie war die Moritz and Nanette had four children. Sophie was the Älteste, geboren 1879. Max folgte zwei Jahre später, 1882 eldest, born in 1879. Max followed two years later; and in wurde Tochter Hermine geboren. Die Jüngste war Hedwig, 1882, Hermine was born. The youngest was Hedwig, born 283


geboren im Jahr 1884. Moritz starb 1888, vier Jahre nach der Geburt der jüngsten Tochter im Alter von knapp 34 Jahren. Fünf Jahre vor ihrer Schwester Babette stand die 32-jährige Nanette mit vier Kindern im Alter von elf bis vier und der Eisenwarenhandlung allein. Ihr Bruder Joseph Kaufmann, der gerade aus Berlin nach Kehl zurückgekehrt war, folgte dem Familienauftrag und leitete das Eisengeschäft zwei Jahre kommissarisch.² Später führten Max und Hermine das Geschäft weiter. In den Jahren von 1891 bis 1904 wurden wiederholt Lehrlinge eingestellt, wie folgende Inserate aus den Jahren 1891 und 1904 zeigen.³

in 1884. In 1888, four years after the birth of the youngest daughter, Moritz died at the age of about 34. Five years before her sister Babette faced a similar fate, Nanette found herself alone with four children, ages 4 to 11, and a hardware business. Her brother Joseph Kaufmann, who had just returned to Kehl from Berlin, took on the family commitment of running the hardware store for two years.² Later, Max and Hermine took over the business. In the years between 1891 and 1904, several apprentices were hired as we see in these classifieds.³

174: Lehrlingsgesuch von 1891. 175: Lehrlingsgesuch von 1904. 174: Apprentice Wanted!, 1891. Transcript: For my assorted hardware store, looking for an apprentice to start soon, favorable conditions. Room and board in house. Moritz Günzburger Emmendingen (Baden). 175: Apprentice wanted!, 1891. Transcript: Apprentice For my “Stab-, Kurzwaaren-, Machinengeschäft” (small appliances and other hardware), I am looking for an apprentice to start right away or later under favorable conditions Moritz Günzburger (Baden).

284


Die vier Kinder von Moritz und Nanette

The Four Children of Moritz and Nanette

176: Von links: Sophie, Max, Hermine, Hedwig ca. 1895. 177: Max und Hedwig. 176: From left: Sophie, Max, Hermine, Hedwig around 1895 177: Max and Hedwig.

Sophie

Sophie

Die älteste Tochter und ihr Vetter Julius von nebenan waren ein Paar.⁴ 1896 wurde Sophie schwanger und gebar den Sohn Kurt in Deutsch-Wilmersdorf. Wie kam Sophie nach Berlin, Kurfürstendamm 127? Ihre Tante Elise, die Frau von Joseph Kaufmann, war gebürtige Berlinerin. Hatte sie ihrer

The oldest daughter and her cousin Julius from next door were a couple.⁴ In 1896, Sophie became pregnant and bore their son Kurt in Deutsch-Wilmersdorf. How did Sophie get to Berlin, 127 Kurfürstendamm? Her aunt Elise, wife of Joseph Kaufmann, was born in Berlin: Did she 285


Nichte Sophie das Leben in der Weltstadt Berlin empfohlen oder sogar vermittelt? Gab es andere Gründe für den Aufenthalt in Berlin? Wurde ein „voreheliches“ Kind damals als Schande angesehen und die werdende Mutter zur Niederkunft nach Berlin „verbannt“? Wir wissen es nicht.

recommend the life in the big city of Berlin to her niece or did she even make connections for her? Were there other reasons for her stay in Berlin? Was a premarital child a scandal in this day and age, causing this expectant mother to be “banned” to Berlin?

Drei Günzburger heiraten drei Roos

Three Günzburger marry three Roos

178: Alice, Max, Hedwig 178: Alice, Max, Hedwig

Die Familien Günzburger, Kaufmann und Roos waren durch mehrere Ehen mindestens seit dem 17. Jahrhundert 286

The families Günzburger, Kaufmann and Roos were connected and related by various marriages since the


miteinander versippt und verschwägert. Oft heirateten die 17th century. Often, the children of siblings married each Kinder der Geschwister untereinander, manchmal die Kin- other; sometimes the children of close relatives—as in the der naher Verwandter. So geschah es auch im Falle der Kin- case of the children of Moritz and Nanette Günzburger. der von Moritz und Nanette Günzburger.

Max Max Der älteste Sohn von Moritz, Max Günzburger heiratete Alice Roos, eine weitläufige Verwandte aus Lichtenau. Gemeinsam mit seiner Schwester Hermine führte er im elterlichen Haus, Karl-Friedrich-Straße 36, den Eisenwarenhandel Günzburger & Roos. Später verlegten sie ihren Wohnsitz und die Firma nach Freiburg. Die beiden hatten zwei Söhne. Helmut Martin wurde 1922 und Karl Erich 1924 geboren. Über die Zeit vor und nach 1945 haben wir nur fragmentarische Kenntnisse aus der Korrespondenz zwischen Max und seinem Neffen Fritz, dem jüngsten Sohn der Schwester Sophie und Vater der Autorin Hanneke. Die Familie zog von Freiburg nach Hagenau im Elsass. Der Ort lag auf der Höhe von Kehl.⁵ Dort betrieben Günzburger und Roos eine Eisenwarenhandlung. Vor den Nazis flohen sie nach Grenoble, wo Max und seine Söhne auch nach der Befreiung tätig waren. Alice starb dort im Mai 1945. Sohn Helmut Martin hatte seinen Vornamen in Martin geändert, Karl in Charles. Deutschland war für die beiden keine Option mehr. Aus Grenoble kam 1948 ein Brief an den Neffen Fritz in Herne.

Moritz’ eldest son, Max Günzburger, married Alice Roos, an extended relative from Lichtenau. Together with his sister Hermine (see below), he led the hardware store Günzburger & Roos in his parents’ house, 36 Karl-Friedrich-Street. Later, they moved their place of residency and their business to Freiburg. They had two sons. Helmut Martin was born in 1922 and Karl Erich in 1924. We know only fragments about their lives before and after 1945, taken from their correspondence with nephew Fritz, the youngest son of sister Sophie, and father of author Hanneke. The family left Freiburg to move to Hagenau in Alsace. The town is at the height of Kehl.⁵ There, they ran a hardware store. They fled from the Nazis to Grebnoble, where Max and his sons worked after the liberation. Alice died there in May 1945. Son Helmut Martin changed his name to Martin and Karl changed his to Charles. Going back to Germany was out of the question for both of them. In 1948, this letter came from Grenoble to nephew Fritz in Herne. 287


179 & 180: Ausschnitte aus dem Brief aus Grenoble an den Neffen Fritz 1948 179 & 180: Excerpt of the letter from Grenoble to nephew Fritz 1948. Transcript: Dear Fritz and Gerda, […] My boys Martin and Charles are 28 & 34 years old. Charles works in his learned profession as electrician; Martin works with him, in the machinery department and related tasks. Erwin works at a firm in Paris as representative for tools and machines. Our small company in Hagenau took off because some of the formerly German shareholders were still sequestered.

181: Max Günzburger Geb. 8.2.81 in Emmendingen Gest. 5.9.52 in Heidelberg 181: Max Günzburger Born 2 / 8 / 81 in Emmendingen Died 9 / 5 / 52 in Heidelberg

Max arbeitete mit seinem Sohn Martin wie früher im Maschinenfach. Charles war als gelernter Elektriker beschäftigt. Ihre kleine Fabrik in Hagenau stand noch still, weil die Firmen früherer deutscher Teilhaber immer noch unter Zwangsverwaltung standen. Erwin ist der Sohn von 288

Max still worked with machinery with his son Martin. Charles worked in his trained profession as electrician. Their small company in Hagenau was still standing because the firms of the formerly German share-holders were still under court receivership. Erwin was the son of Hermine and Otto.


Schwester Hermine und Otto. Vermutlich waren die beiden Familien von Emmendingen nach Freiburg und irgendwann nach Hagenau gezogen. Einen letzten Brief aus Grenoble erhielt Fritz im Februar 1949. Darin teilt Max mit, dass seine beiden Söhne „naturalisiert“, also französische Staatsbürger wurden. Für über 60-jährige Personen wie Max bestand diese Möglichkeit nicht. Weitere Informationen zu Max liegen uns nicht vor. Max starb am 5. September 1952. Er liegt auf dem jüdischen Friedhof in Heidelberg begraben. Wie, wann und warum Max nach Heidelberg wechselte, ist unbekannt.

We assume both families moved from Emmendingen to Freiburg and eventually to Hagenau. Fritz received a last letter from Grenoble in February 1949. In it, Max told him that his sons were both naturalized, so they had become French citizens. That was not an option for people over 60, such as Max. We do not have further information about Max. Max died on September 5, 1952. He is buried at the Jewish cemetery in Heidelberg. How, when, and why Max moved to Heidelberg, we do not know.

Hermine

Hermine married Otto Roos, a distant relative from the Roos family, Lichtenau. They had two children. Erwin and Erna. As Max already mentioned, both the Max Günzburger family and the Otto Roos family worked in the hardware business. After the Nazi invasion in 1940 Otto and Hermine fled with their children to the not (yet) invaded part of France to Montauban near Toulouse.⁶ Otto died in May 1945 due to a treacherous, not further described illness. That can be determined by the letter dated June 29, 1945, addressed to nephew Fritz, Amsterdam. Erwin Roos, their son, was already on the way to Hagenau with his wife Magarete, to determine which parts of their old firm could be rescued. Both had survived the dangers of the Nazi era. Martin Kaufmann, Hermine’s cousin from Kehl men289

Hermine heiratete Otto Roos, einen entfernten Verwandten aus der Roos Familie, Lichtenau. Sie hatten auch zwei Kinder. Erwin und Erna. Wie bereits unter Max erwähnt, arbeiteten die Familien Max Günzburger und Otto Roos zusammen im Eisenwarenhandel. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 flohen Otto und Hermine mit ihren Kindern in den (noch) nicht besetzten Teil Frankreichs nach Montauban bei Toulouse.⁶ Otto verstarb dort im Mai 1945 an einer heimtückischen, nicht näher beschriebenen Krankheit. Das ging aus einem Brief hervor, datiert vom 29. Juni 1945, adressiert an den Neffen Fritz, Amsterdam. Erwin Roos, ihr Sohn, war bereits mit seiner Frau Magarete auf dem Weg nach Ha-

Hermine


182: Hermine, Max, Sophie in den 1930ern 182: Hermine, Max, Sophie in the 1930s

genau, um dort zu schauen, was von der alten Firma zu retten war. Beide hatten die Gefahren der Nazizeit überlebt. Martin Kaufmann, Hermines Vetter aus Kehl, erwähnte ca. 1962 in einer Familienchronik, die beim Leo Baeck Institut, New York aufbewahrt wird, auch über diese Familie Roos.⁷ Erwin Roos lebte in Straßburg und führte das Geschäft dort weiter wie früher in Deutschland. Die Familie hatte zwei Töchter, Danielle und Evelyn Roos. Die zweite war im Alter von Hanneke, der Autorin. Diese erinnert sich, Ende der 1950er anlässlich einer Klassenfahrt nach Straßburg bei der Familie Erwin Roos übernachtet zu haben. Die Tochter Erna lebte nach dem Krieg mit ihrer Mutter Alice in Philadelphia. Erna hatte Ernst Glaser geheiratet, 290

tioned this Roos family in a 1962 family chronicle, which is kept at the Leo Bäck Institute in New York.⁷ Erwin Roos lived in Strasbourg and carried on the business as he used to in Germany. The family has two daughters, Danielle and Evelyn Roos. The latter was the age of Hanneke, the author. She remembers spending the night at the Erwin Roos family home in the 1950s when on a class trip. Daughter Erna lived with her mother Alice in Philadelphia after the war. Erna had married Ernst Glaser, and was widowed in her 50s with her two daughters Lore and Ruth. One of the two was married at the time.


war in den 50ern schon Witwe mit zwei Töchtern Lore und Ruth. Eine der beiden war zu der Zeit verheiratet.

Hedwig

Hedwig was first married to Arthur Volk, an engineer. He died in a fatal accident during a work assignment in Hungary. They had two children. Walter Volk, born on Hedwig war zuerst mit Arthur Volk, einem Ingenieur, ver- July 2, 1907 in Hungary and Gary, born 1911, also in Hunheiratet. Der verunglückte bei einem Arbeitseinsatz in Un- gary. Walter died in Brussels in 1934, Gary in Argentina in garn. Die beiden hatten zwei Kinder. Walter Volk, geboren am 1962. 2. Juli 1907 in Ungarn und Gary, geboren 1911 ebenfalls in Ungarn. Walter starb 1934 in Brüssel, Gary 1962 in Argentinien.

Hedwig

183: Von links nach rechts: Sally Roos, ein unbekanntes Ehepaar, Hedwig Roos, geb. Günzburger und Semi Uffenheimer, Buenos Aires ca. 1942 183: From left to right. Sally Roos, an unknown couple, Hedwig roos, née Günzburger and Semi Uffenheimer, Buenos Aires around 1942

Nach dem Tod ihres Mannes Arthur heiratete Hedwig ihAfter the death of her husband Arthur, Hedwig married ren Vetter Salomon (Sally) Roos aus Lichtenau. Sally war der her cousin Salomon (Sally) Roos from Lichtenau. Sally was 291


Sohn von Nanettes Schwester Bonette Roos, geb. Kaufmann. Sally und Hedwig lebten 1915 in Düsseldorf, wo ihre Tochter Else geboren wurde. Briefen von Hedwig an den Neffen Fritz vom 10. Oktober 1945 und von Sally vom 13. Oktober 1945 entnehmen wir die Anschrift um 1920. Düsseldorf, Camphausenstraße 14. In Düsseldorf musste Sally eine Fabrik besessen haben. Was in dieser Fabrik hergestellt wurde, ist nirgends erwähnt. Den Novemberpogrom von 1938 erlebten die Eheleute Roos in Düsseldorf. Hedwig schrieb:

the son of Nanette’s sister Bonette Roos, née Kaufmann. Sally and Hedwig lived in Düsseldorf in 1915, where their daughter Else was born. Letters from Hedwig to nephew Fritz from October 10, 1945, and from Sally on October 13, 1945 show the address around 1920: Düsseldorf, 14 Camphausenstreet. In Düsseldorf, Sally must have owned a factory. The letters do not mentioned what was produced in the factory. The Roos couple lived through the November 1938 pogrom in Düsseldorf. Hedwig wrote: “After 11 / 9, I lost my nerves for years!”

184: Hedwig im Dezember 1957 184: Hedwig in December 1957

292


„Nach dem 9. November waren meine Nerven jahrelang kaputt!“ Ihre Tochter Else war schon vor 1937 nach Argentinien ausgewandert. Sie heiratete Curt Jonas am 18. November 1937 in Buenos Aires. Von Düsseldorf flohen Hedwig und Sally zu ihrer Tochter. Sie wohnten im Stadtteil San Andrés von Buenos Aires.

Their daughter Else had already emigrated to Argentina in 1937. She married Curt Jonas in Buenos Aires on 11 / 18 / 1937. From Düsseldorf, Hedwig and Sally fled to their daughter. They lived in the San Andrés area of Buenos Aires.

After the liberation, Sally and Fritz engaged in an intensive exchange of letters over the question if somebody with Nach der Befreiung gab es zwischen Sally und Fritz ei- Jewish roots like Fritz and Gerda should go back to Germanen intensiven Briefwechsel über die Frage, ob jemand mit ny to be a part of the rebuilding of this “damned” country. jüdischen Wurzeln wie Fritz und Gerda nach Deutschland Else and Curt had two daughters: Evelina Jonas Roos zurückkehren und am Aufbau dieses „verdammten“ Landes and Haydee Ines Jonas Roos. The latter was born on Februmitwirken dürfe. ary 24, 1942 in Buenos Aires. Haydee married Jose Ramirez Else und Curt hatten zwei Töchter: Evelina Jonas Roos in Lausanne, Switzerland on August 21, 1962. On Decemund Haydeé Ines Jonas Roos. Die Letztere wurde am 24. Fe- ber 17, 1965, their son Paul Albert Ramirez Jonas was born bruar 1942 in Buenos Aires geboren. Haydeé heiratete am in Pomona, California. Paul is a contemporary artist, living 21. August 1962 José Ramirez in Lausanne, Schweiz. Am in New York.⁸ 17. August 1965 wurde ihr Sohn Paul Albert Ramirez Jonas in Pomona, Kalifornien geboren. Paul ist ein zeitgenössischer Künstler, der in New York wohnt.⁸

293


Endnoten Endnotes 1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

8)

294

Siehe S. 22. See p. 22. Kruse, R. (2007): Kehler Familiengeschichten Band2; Familie Kaufmann Kaufleute aus Lichtenau Unternehmer in Kehl. Kehl http://www.alemannia-judaica.de/emmendingen_synagoge_a.htm Siehe Kapitel Julius. See Chapter Julius Siehe Karte auf S. 22. See map on p. 22. Siehe Kapitel Julius. See Chapter Julius. Erl채uterungen zum Stammbaum der Familien Kaufmann und Roos Lichtenau in Baden. In: https://archive.org/details/erluterungenzumsf001. Remarks to the family tree Kaufmann and Roos Lichtenau in Baden. In: https://archive. org/details/erleuterungenzumsf001 https://en.wikipedia.org/wiki/Paul_Ramirez_Jonas




Impressionen 2012 / 14 Impressions 2012 / 14

297


Impressionen aus Emmendingen 2012 / 2014 Impressions from Emmendingen 2012 / 2014

185: Blick von der Karl-Friedrich-StraĂ&#x;e (ehem. Nieder-Emmendingen) auf das Stadttor. 185: View from Karl-Friedrich-Street (formerly Lower Emmendingen) to the city gate.

298

186: Innenstadt von Emmendingen 2014. 186: Downtown Emmendingen 2014.


Am Standort der ehemaligen Synagoge am Schloßplatz erinnert seit 1968 eine Gedenktafel an die jüdischen Opfer der Shoa. Diese Tafel wurde 1988 nach öffentlicher Diskussion ergänzt durch eine zweite, auf der auch die Täterschaft beim Novemberpogrom 1938 zur Sprache kommt. Am Eingang des Jüdischen Friedhofs gedenkt ein Stein aller Opfer des Nazismus, umgeben von fünf Stelen, auf denen die Namen der ermordeten Juden Emmendingens, der Widerstandskämpfer und der in der Psychiatrie ermordeten Menschen verzeichnet sind. Auf dem Schlossplatz wurden die Umrisse der zerstörten Synagoge sichtbar gemacht. An der Stelle, wo sich einst der Toraschrein befand, wurde ein Mahnmal für die nach Gurs deportierten Juden aufgestellt. Daneben steht das Haus, in dem bis 1823 die erste Synagoge war und das heute als Gemeindehaus der Jüdischen Gemeinde Emmendingen dient.

At the former location of the Jewish synagogue, near the Schlossplatz, a commemorative plaque has served as a reminder of the Jewish victims of the Shoah since 1968. In 1988, a second plague was added to remember the events of the November 1938 pogrom. At the entrance to the Jewish cemetery, a stone memorializes victims of Nazi Germany and is surrounded by five stones, listing the names of the murdered Jews from Emmendingen, the members of the resistance, and those murdered in the psychiatric hospital. At the Schlossplatz, you can see the outline of the old synagogue. A memorial for Jews who were deported to Gurs can be found at the former location of the torah shrine. Next to it is the building that housed the first synagogue until 1823 and that currently serves as a community building for the Jewish congregation of Emmendingen.

299


300


Vorige Seite: 187: Umriss und Vorderansicht der ehemaligen Synagoge auf dem Schlossplatz. 188: Geb채ude des j체dischen Museums 2014 Previous page: 187: Outline and front view of the former synagogue at the Schlossplatz. 188: Building of The Jewish Museum 2014

189 & 190: Mahnmal f체r die nach Gurs Deportierten. 189 & 190: Memorial for those deported to Gurs.

301


191: Mahnmal vor dem Friedhof: Den Opfern des Nazismus 1933–1945. 191: Memorial in front of the cemetery: For the victims of Nazi Germany 1933–1945.

302


Karl-Friedrich-Straße

Karl-Friedrich-Street

192: „Zum Ochsen“ im Jahr 2012. 193: Gedenktafel 192: “Zum Ochsen” in 2012 193: Memorial Plaque. Transcript: The Northwest end of the suburb Lower Emmendingen, founded and built in 1757. Guesthouse until 1868. Later, home of the Cigar Factory Günzburger and Co. until 1935 with more than a thousand employees. In 1939, it served to lodge Jewish families until their deportation by the Nazis in October 1940.

303


194: Das Haus von „Eise Max“, vormals Eisenwaren Moritz Günzburger 2014. 194: The house of “Eise Max”, formerly Eisenwaren (hardware) Moritz Günzburger 2014.

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Danksagung Acknowledgements Wir danken allen, die zum Erfolg dieser Arbeit beigetragen haben. Gedankt sei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der angesprochenen Archive, die uns bereitwillig mit Material unterstützten. Das vorliegende Buch wäre ohne die Mitarbeit vieler Verwandter aus Argentinien, USA und Israel nicht entstanden. An erster Stelle nennen wir Lore (Günzburger) Aron aus Los Angeles, die einzige noch lebende Enkelin von Israel Samuel und Babette Günzburger. Unsere Tochter Ellen Hopkins hat den Text ins Englische übersetzt. Lynn Feigenbaum, Tochter von Greta (Günzburger) Friedhoff, hat die Korrektur des Textes übernommen und uns beratend unterstützt. Daniel Günzburger, Enkel von Ernst Günzburger beteiligte sich ebenfalls am Korrekturlesen. Für die geduldige Betreuung der Publikation bedanken wir uns bei den Mitarbeitern des FRISCHTEXTE Verlags, insbesondere bei Herrn Schäfer. Unser ganz besonderer Dank gilt dem Herner Historiker und Publizisten Ralf Piorr, der uns stets als kompetenter Ansprechpartner zur Seite stand.

We want to thank everyone who contributed to the success of this work. We thank all staff at the archives we contacted, who readily supported us with material. The book at hand would not have been possible without the participation of our relatives in Argentina, USA and Israel. Elsewhere we name Lore (Günzburger) Aron from Los Angeles, the only remaining grandchild of Israel Samuel and Babette Günzburger. Our daughter Ellen Hopkins translated the text into English. Lynn Feigenbaum, daughter of Greta (Günzburger) Friedhoff, took part in copyediting and a consulting role. Daniel Günzburger, grandson of Ernst Günzburger, took part in copyediting, too. We thank the staff of the publisher FRISCHTEXTE Verlag, specifically Mr. Schäfer, for the patient supervision of this publication. A very special thanks goes out to Herner historian and publicist Ralf Piorr, who continually supported us as a competent contact person.

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Die Autoren The Authors

Hanna (Hanneke) Schmitz, geb. Günzburger, ist eine Urenkelin von Israel Samuel und Babette Günzburger. Peter Schmitz ist ihr Ehemann.

Hanna (Hanneke) Schmitz, née Günzburger, is a great-grandchild of Israel Samuel and Babette Günzburger. Peter Schmitz is her husband.

Seit 2012 sammeln die beiden Material über Hannekes Vorfahren. Die Grundlage ihres ersten Buchs bilden Dokumente aus Archiven von Aachen bis Zwickau, Korrespondenzen zwischen Verwandten, zugängliche Lebensgeschichten, Notizen aus einer Vielzahl von Büchern über die jüdischen Gemeinden von Emmendingen im Süden bis Emden im Norden, Fotos von Gräbern und Orten.

These two have been collecting information about Hanneke’s ancestors since 2012. Their first book is based on documents found in archives from Aachen to Zwickau, correspondence between relatives, available life stories, notes compiled from a variety of books about the Jewish communities from Emmendingen (South) to Emden (North), photographs of places and gravestones.

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Bildnachweis Photo Credits Alemannia Judaica – Berichte aus der jüdischen Gemeinde Emmendingen: 174, 175

L’AMFD de l’Allier – afmddelallier@orange.fr: 135–138 L’Amicale du camp de Gurs: 76, 77

Archiv Edwin H. Höhn Laudenbach: 143, 144, 147, 150

Landesarchiv Baden-Württemberg: 7, 8, 10, 91, 181

Archiv KIT: 22, 23

Landesarchiv NRW Wiedergutmachung Nr. 438459: 25, 26, 31

Dominique Natanson, Creative-Commons-Lizenz BY–SA-2.5: 139

LAV NRW L001a OFD Münster Devisenstelle 2889: 33–35, 37, 38

Dossier Joseph Weiss Nr. 317: 53–56

Stadsarchief Amsterdam: 39, 49, 50

Eintrag Sterbezweitbuch des KZ Bergen-Belsen 1.1.3.1 / 3397809:

Stadtarchiv Emmendingen: 17, 166, 167

IST Digitalarchiv Bad Arolsen: 58 Familienbesitz: 9, 11–16, 18-21, 24, 29, 36, 40–42, 44–48, 51, 52, 57,

Stadtarchiv Herne: 30, 59 Stadtarchiv Lörrach: 75

60–74, 78–90, 92–134, 141, 142, 145, 146, 148, 149, 151–165, 168–173,

Stadt Bochum: 32

176–180, 182–194

taver / flickr.com, Creative-Commons-Lizenz BY-ND-3.0: 43

GinkoMaps, Creative-Commons-Lizenz BY–3.0: 1 HMSO: 59 Karl Günther: 2–6

Westfälisches Wirtschaftsarchiv Dortmund, Geschäftsberichte der Flottmann AG 1932, Bestand S7 – 625 / 1: 27, 28 Yad Vashem: 140

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Wolfgang Viehweger

Stanislaw Mikolajczyk

Kämpfer für die Freiheit

Wolfgang Viehweger

Stanislaw Mikolajczyk Kämpfer für die Freiheit Stanislaw Mikolajczyk – anders als in Polen hierzulande völlig unbekannt – wurde 1901 in Holsterhausen (Amt Eickel) geboren und wuchs als Sohn eines Hauers in einer Zechensiedlung auf, bevor ihn die Zeitläufte zum Akteur in der Weltpolitik machten. Nach einem Arbeitsunfall des Vaters ging die Familie zurück nach Polen, wo er später den väterlichen Hof übernahm und eine Karriere als Politiker der Bauernpartei machte. Er kämpfte nach dem Überfall Hitlers auf Polen gegen Nazideutschland, emigrierte nach London, wo er General Sikorskis Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung wurde, und kehrte nach dem Krieg nach Polen zurück, um als stellvertretender Ministerpräsident in eine Regierung mit den Kommunisten einzutreten. Mikolajczyk sah die Koalition scheitern und floh unter abenteuerlichen Umständen ins Exil, erst nach London und dann in die USA. Er starb 1966 in Washington, lange bevor seine Vision von einem freien, demokratischen Polen

Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel / Herne e. V. (Hrsg.)

FRISCH TEXTE VERLAG

verwirklicht wurde.

W. Viehweger: Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit ISBN: 978-3-933059-51-2

24,90 €


Verlagsprogramm Unsere Bücher Unser Horsthausen Rudolf Eistermann, u. a. Aus dem Bauch des Tangos Arnold Voß, Brigitte Kraemer (Fotos) Boshaftes mit Liebe Wolfgang Viehweger Spur der Kohle Wolfgang Viehweger Die Maden und andere Stücke Jan Demuth, Martin Kaufold und Ursula Kaufmann Der Tangoengel Juana Inéz de la Cruz Ein Greenhorn in Alaska Willi Karrasch Blöm in Frankreich Heinz Berke Goethe und kein Ende Heinz Berke Carl Arnold Kortum Ruth Fritsch Exzellenter Sprachgebrauch Hermann Frietsch Pfadfinder der Freiheit Otto Eugen Ernst

978-3-933059-00-0 978-3-933059-01-7 978-3-933059-02-4 978-3-933059-03-1 978-3-933059-06-2 978-3-933059-07-9 978-3-933059-30-7 978-3-933059-31-4 978-3-933059-32-1 978-3-933059-33-8 978-3-933059-34-5 978-3-933059-35-2


Unsere Bücher Aloe Vera – Die Kraft der Natur Anja Schleußner Vom Breitensport zum Weltrekord Günther W. H. Detlof Viel mehr als nur ein Spiel Ralf Piorr Das CESA-Konzept Christoph Heise, Edgar Neufeld, Stefan Postert, Arnold Voß Moderne Heimerziehung heute – Beispiele aus der Praxis. Volker Rhein (Hrsg.) „Das habe ich schon gesagt?“ – Ein Demenz-Lesebuch ASB Regionalverband Herne-Gelsenkirchen e. V. Moderne Heimerziehung heute – Band 2 und Band 3 Volker Rhein (Hrsg.) Moderne Heimerziehung heute – Band 4 Volker Rhein (Hrsg.) Wäre nicht der Bauer – hätten wir kein Brot Wolfgang Viehweger Systemische Interaktionstherapie / -beratung Volker Rhein (Hrsg.) Anders Weltreisen. Ein Leitfaden für Globetrotter Herbert Schmidt Umgang mit autistischen Menschen Volker Rhein (Hrsg.) Weißbuch Lunge 2014 Adrian Gillissen, Tobias Welte

978-3-933059-36-9 978-3-933059-37-6 978-3-933059-38-3 978-3-933059-39-0 978-3-933059-40-6 978-3-933059-41-3 978-3-933059-42-0 978-3-933059-43-7 978-3-933059-44-4 978-3-933059-45-1 978-3-933059-47-5 978-3-933059-48-2 978-3-933059-49-9


Unsere Bücher Leben aus den Sakramenten – Band 1. Die große Ehefibel Ansbert Junk Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit Wolfgang Viehweger Lunge und Gesundheit in Europa – Fakten & Zahlen Hrsg.: J. Gibson, R. Loddenkemper, Y. Sibille, B. Lundbäck, M. Fletcher Der Brief an meine Mutter – Wie ich vom Vegetieren zum Leben kam Ansbert Junk (Hrsg.), Anonyma Moderne Heimerziehung heute – Band 5 Volker Rhein (Hrsg.)

978-3-933059-50-5 978-3-933059-51-2 978-3-933059-52-9 978-3-933059-53-6 978-3-933059-54-3

Unsere Postkartensammlungen Westfalia Herne – Eine Hommage in 12 Ansichten Ralf Piorr, Gerhard Schiweck Tegtmeiers Erben. „… dat is vielleicht ein Dingen …“ Torsten Kropp, Gerhard Schiweck „… dat war Monza und Monte Carlo in Einem“ Robert Freise, Gerhard Schiweck

978-3-933059-08-6 978-3-933059-09-3 978-3-933059-11-6


Unsere weiteren Produkte Bildgedichte 1 978-3-933059-04-8 Sabine Herrmann (Bilder), Kerstin Schröder (Texte) Der Tangoengel (Hörbuch) 978-3-933059-10-9 Juana Inéz de la Cruz, Claudia Hartmann (Sprecherin), Arnold Voß (Sprecher) Assoziieren und Konkretisieren 978-3-933059-12-3 Maria Teresa Crawford Cabral

In Vorbereitung Als Borussia in die Kirche kam – Das Vermächtnis des Kaplans, der fast den BVB verhinderte


Die Familiengeschichte „Die Günzburger“ ist eine

The family story “The Günzburgers” is an account of

Geschichte des „deutschen Judentums“. Sie ist in ihren

“German Judaism”. It is not exceptional in its trials and

Irrungen und Wirrungen nicht ungewöhnlich, doch sie

tribulations; rather, it is an example of the fate of many

steht exemplarisch für das Schicksal vieler jüdischer

Jewish families during the Nazi era. What began as an

Familien in der Nazizeit. Was als beispielloser Aufstieg

unparalleled rise of an ethnic group ended in persecution

einer Bevölkerungsgruppe begann, endete in Vertreibung

and Shoah.

und Shoah. Decades later, the stories of these families were Erst Jahrzehnte später wurden die Geschichten der Familien zusammengetragen. Mögen deren Schicksale nicht vergessen werden.

compiled. May their fates not be forgotten!


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