Die Günzburger. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte

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Hanneke & Peter Schmitz

Die G端nzburger Eine deutsch-j端dische Familiengeschichte The G端nzburgers A German Jewish family history FRISCH TEXTE VERLAG


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Hanneke Schmitz, Peter Schmitz: Die Günzburger. Eine deutsch-jüdische Familiengeschichte The Günzburgers. A German Jewish family history Zweisprachige Ausgabe Ins Englische übersetzt von Ellen Hopkins 1. Auflage, 2015, FRISCHTEXTE Verlag, Herne ISBN 978-3-933059-55-0

Die Autoren haben sich darum bemüht, alle Urheberrechte an Fotografien und Dokumenten ausfindig zu machen. Sollte diese in Einzelfällen nicht gelungen, bitten wir Sie, sich an den Verlag zu wenden. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeisung, Rückgewinnung und Wiedergabe in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten. © FRISCHTEXTE Verlag, Herne Umschlagentwurf, Layout und Satz: Agentur Steinbökk Gesamtherstellung: druckfrisch medienzentrum ruhr gmbh, Herne ISBN 978-3-933059-55-0


Vorwort Foreword



Vor nicht allzu langer Zeit waren wir Kinder dieses großen (Günzburger) Clans, wir wachsen auf und bald sind wir die ältere Generation. Einige unserer Kinder und Enkelkinder werden an ihrer Herkunft interessiert sein; sie werden froh sein, ihre Kusinen und Vettern zweiten und dritten Grades zu kennen und werden vielleicht auf ihren Reisen durch die Vereinigten Staaten und die Welt sich gegenseitig besuchen können. Unsere Kinder haben ein reiches Erbe; lasst uns ihnen eine Chance geben, es zu erforschen! Greta (Günzburger) Friedhoff, Enkelin von Israel Samuel und Babette Günzburger September 1978.

Not too long ago we were children of this big (Günzburger) clan; we are moving up and soon we’ll be the elder generation. Some of our children and grandchildren will be interested in their heritage; they will be glad to know their second and third cousins and perhaps on their travels through the United States and the world can visit each other. Our children have a rich heritage; let’s give them a chance to explore it!

Greta (Günzburger) Friedhoff, granddaughter of Israel Samuel and Babette Günzburger September 1978.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort Einleitung Die Kinder von Israel und Babette Günzburger

Table of Contents

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Foreword Introduction The children of Israel and Babette Günzburger

Julius (1875–1945)

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Julius (1875–1945)

Rosa (1876–1940)

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Rosa (1876–1940)

Michael (1878–1937)

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Michael (1878–1937)

Albert (1880–1954)

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Albert (1880–1954)

Hugo (1881–1928)

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Hugo (1881–1928)

Jakob (1883–1918)

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Jakob (1883–1918)

Ernst (1885–1952)

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Ernst (1885–1952)

Hilda (1889–1963)

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Moritz und Nanette Günzburger Die vier Kinder von Moritz und Nanette

Impressionen 2012 / 14 Danksagung Die Autoren Bildnachweis Nachfahrentafeln

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Hilda (1889–1963)

Moritz and Nanette Günzburger The Four Children of Moritz and Nanette

Impressions 2012 / 14 Acknowledgements The Authors Photo Credits Family tree



Vorwort Foreword „Es gab keine deutschen Juden, es gab nur jüdische Deutsche.“ So scharf definierte der amerikanische Autor Peter Gay die jüdische Existenz in Deutschland während der Weimarer Republik. Gay, selbst als Peter Joachim Fröhlich 1923 in Berlin geboren und später in die USA emigriert, bezog sich dabei auf die vielleicht zentrale Frage der jüdischen Selbstreflexion über das Leben in Deutschland, die sich nach den Prüfungen durch das Dritte Reich völlig neu stellte: Gab es die viel zitierte „jüdisch-deutsche Symbiose“ oder war es nur eine Illusion, die schließlich im bitteren Exil oder in den Vernichtungslagern endete?

“There has never been a German Jew; there are only Jewish Germans.” That’s how precise American author Peter Gay defined the Jewish existence in Germany during the Weimar Republic. Gay, born as Peter Joachim Fröhlich in Berlin in 1923 and later emigrated to the USA, was referring to perhaps the central question of Jewish self-reflection on life in Germany; a question that had to be asked anew after the tests and trials of the Third Reich: Was there such a thing as the frequently quoted “Jewish German Symbiosis” or was it an illusion that ultimately ended in bitter exile or an extermination camp?

Die Familiengeschichte „Die Günzburger“ ist die Geschichte des „deutschen Judentums“ pars pro toto: Die Nachfahren von geduldeten „Schutzjuden“ landen ausgestattet mit ökonomischer Sicherheit und höherer Bildung in der bürgerlich-deutschen Gesellschaft, ein Assimilations- und Akkulturationsprozess von der unsicheren Peripherie ins selbstbewusste Zentrum der Gesellschaft. Julius Günzburger, dem ein umfangreiches und äußerst spannendes Kapitel dieses Buches gewidmet ist, avancierte sogar zu einem der

The family history “The Günzburgers” is an account of “German Judaism” pars pro toto: The descendants of tolerated “Protected Jews” land in Germany’s middle class, equipped with economic security and higher education— an assimilation and acculturation process from the uncertain sidelines to the self-confident center of society. Julius Günzburger, to whom a comprehensive and incredibly exciting chapter has been dedicated, even advanced to one of the first Jewish engineers in Germany. An idyllic photo, 009


ersten jüdischen Ingenieure in Deutschland. Ein idyllisches Foto aus dem Sommer 1929 zeigt ihn mit seiner Frau Sophie Arm in Arm beim gemütlichen Flanieren im bayrischen Kurort Bad Wiessee. Ein älteres Ehepaar genießt den Sommerurlaub. Sechzehn Jahre und etliche Demütigungen später sollte ihr Leben im KZ Bergen-Belsen enden. Damit ist eine weitere Komponente genannt, die jeder jüdischen Familiengeschichte inne wohnt: die furchtbare Gewalt der Shoah. Und jede biographische Rekonstruktion dient damit nicht nur der familiären Selbstbesinnung, sondern ist auch ein Bekenntnis dafür, dass das nationalsozialistische Projekt der „Endlösung der Judenfrage“ nicht einen Schlussstrich der Geschichte bedeutet. Im jüdischen Glauben wird den Toten gedacht, indem die Namen der Verstorbenen verlesen werden. „Ich möchte, dass sich jemand daran erinnert, dass einmal ein Mensch namens David Berger gelebt hat“, schrieb David Berger in seinem letzten Brief, bevor ihn die Nazis 1941 in Wilna ermordeten. Die israelische Gedenkstätte Yad Vashem hat diesen Satz zu einem Leitgedanken ihrer Erinnerungsarbeit gemacht. „Wir möchten, dass die Erinnerung an die Familien Günzburger nicht verloren geht“, reklamieren Hanneke und Peter Schmitz für sich und ihre langjährige Recherche. Ihre Intention und Bereitschaft, die Geschichte zu erzählen, ist dabei in zweierlei Hinsicht bemerkenswert: als Akt des Widerstan010

taken in the summer of 1929 shows him leisurely walking arm in arm with his wife Sophie at the Bavarian resort Wiessee. An older married couple enjoys summer vacation. Sixteen years and countless humiliations later, their life would end in the concentration camp Bergen-Belsen. This brings up another component that every Jewish family history entails: the frightening violence of the Shoah. And every biographical reconstruction thereby does not only serve familiarly self-discovery but is a profession that the National Socialist project of the “Final Solution of the Jewish Question” was not the final stroke of their history. In the Jewish religion the names of the dead are read out as a sign of remembrance of those who are no longer with us. “I would like someone to remember that there was once a person by the name of David Berger,” David Berger wrote in his last letter in 1941 before he was murdered in Vilna by the Nazis. The Israeli memorial Yad Vashem turned this statement into the guiding principle of their work of remembrance. “We desire for the memory of the Günzburger families not to be forgotten,” proclaimed Hanneke and Peter Schmitz for themselves and their years of research. Their intention and willingness to tell this story is remarkable in these two ways: as an act of resistance


des gegen das Vergessen und letztlich, in der Ăœberlieferung dieser faszinierenden Familiengeschichte, als Bekenntnis zum Leben. Herne, im August 2015 Ralf Piorr, Historiker und Publizist

against forgetting and ultimately, by passing on this fascinating family history, as a declaration of life. Herne, August 2015 Ralf Piorr, historian and publicist

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Einleitung Introduction


Intention

Die beispiellose Gewalt des Holocaust stellte einen radikalen Schritt gegen das europäische Judentum dar. In Deutschland beendete der Nationalsozialismus eine jahrhundertelange Tradition des Zusammenlebens, die zwischen der Bewahrung der jüdischen Identität und der Assimilation an die nicht-jüdische Umgebung balancierte.

The unparalleled violence of the Holocaust represented a radical step against European Judaism. In Germany the Nazis ended a centuries-long tradition of coexistence and balance between the preservation of Jewish identity and the assimilation into non-Jewish culture.

Auch unsere Familien wurden durch Nationalsozialismus und Holocaust zerrissen. Einige wurden Opfer der Shoah, alle anderen wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Der amerikanische Historiker Timothy Snyder schrieb in seinem Bestseller „Bloodlands Europa zwischen Hitler und Stalin“: „Das NS-Regime machte Menschen zu Zahlen. Es ist unsere Aufgabe als Humanisten, die Zahlen wieder zu Menschen zu machen. Wenn uns das nicht gelingt, hat Hitler nicht nur unsere Welt, sondern auch unsere Menschlichkeit geprägt.“¹ Diesem Anspruch fühlen wir uns verbunden.

Like many others, our family was torn apart by Nazi Germany and the Holocaust. Some were victims of the Shoah; others were driven from their homes. American historian Timothy Snyder wrote in his bestseller “Bloodlands: Europe betwen Hitler and Stalin”: “The Nazi regime turned people into numbers. It is our job as humanists, to turn the numbers back into people. If we do not succeed, Hitler did not only impact our world but our humanity.”¹ We strongly agree.

Wir wollen die Geschichten unserer Vorfahren und Verwandten nicht auf das Thema Shoah und Verfolgung reduWe do not want to reduce the stories of our ancestors zieren. Es sind Geschichten einer Minderheit, geprägt von and relatives to the topics of Shoah and the persecution. 014


Phasen guter Nachbarschaft, von großartigen Erfolgen, Karrieren, sozialem Engagement, Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Im Mittelpunkt stehen die Kinder unserer Urgroßeltern Israel Samuel Günzburger (1846 – 1893) und Babette, geb. Kaufmann (1850–1933) und deren Nachfahren. Sie erlebten den Höhepunkt in der Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und wurden gleichzeitig Opfer einer nie dagewesenen Katastrophe, ausgelöst durch das Nazi-Regime. Die Hinweise auf politische Ereignisse bilden die Folie, vor deren Hintergrund die Familiengeschichten geschrieben sind. Sie sollen damit in einen größeren historischen Kontext gestellt werden zum besseren Verständnis für heutige und spätere Generationen. Die Rekonstruktion der Familiengeschichten ist für uns nicht Selbstzweck. Wir fühlen uns dem Gedanken verpflichtet, dem nationalsozialistischen Projekt der Vernichtung des jüdischen Lebens, und damit auch dem versuchten Ausradieren der jüdischen Kultur in Europa, eine lebendige Erinnerungskultur entgegen zu setzen. Es soll ebenfalls ein Angebot an die vielen Verwandten in allen Erdteilen sein, gewaltsam zerrissene Fäden wieder zueinander zu bringen.

Hanna (Hanneke) Schmitz, geb. Günzburger Peter Schmitz August 2015

They are stories of a minority characterized by phases of good community, of great successes, careers, social engagement, and fight for recognition and equality. Our focus is on the children of our great-grandparents, Israel Samuel Günzburger (1846–1893) and Babette, born Kaufmann (1850–1933), and their descendants. They experienced the high point of the growth of the Jewish population in Germany and simultaneously became victims of an unprecedented disaster, caused by the Nazi regime. The references to political events form the background of the family stories, a historical context to provide better understanding for present and future generations.

The reconstruction of our family history is not an end in itself for us. We feel an obligation to oppose the Nazi project to destroy Jewish life, and thus the attempt to erase Jewish culture in Europe, and counter it with a vibrant culture of remembrance. It is also an opportunity for the many relatives in all parts of the world to bring back together the threads that were violently torn apart.

Hanna (Hanneke) Schmitz, née Günzburger Peter Schmitz August 2015 015



Juden in Deutschland von 1800 bis 1945

Jews in Germany from 1800 to 1945

Die Geschichten der Familien Günzburger aus EmmenThe stories of the Günzburger families from Emmendindingen sind Spiegelbilder der Geschichte der Juden in gen are mirror images of the stories of the Jews in Germany. Deutschland. An ihnen lässt sich beispielhaft der Weg vom They allow us to track an example of a grand start ending in großen Beginn zum größten Martyrium verfolgen. widespread martyrdom. Eine Erfolgsgeschichte ist der Werdegang der Juden in Deutschland seit Ende des 18. Jahrhunderts bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts. Was als ein im europäischen Vergleich beispielloser Aufstieg einer Bevölkerungsgruppe begann, endete in Vertreibung und der Shoah. Über Jahrhunderte hinweg lebten Juden am Rande der Gesellschaft. Solange es Zünfte gab, war ihnen der Zugang zum Handwerk u. a. verwehrt. Schlachter, Metzger oder Bäcker waren die einzigen Handwerke, die Juden ausüben durften. In den ländlichen Gebieten arbeiteten sie überwiegend als Vieh- oder Getreidehändler. Strenge Regeln begrenzten die Berufs- und Handelstätigkeiten ebenso wie den Zuzug zu den Gemeinden. Die Niederlassung wurde so restriktiv reguliert, um auch innerhalb der jüdischen Gemeinde keine allzu große Konkurrenz aufkommen zu lassen. Ein wichtiges Instrument waren Schutzbriefe (daher die Bezeichnung Schutzjude), die an einzelne Personen oder Gemeinden gebunden waren. Diese gewährten ein

A success story is the history of the Jews in Germany from the end of the 18th century until the first third of the 20th century. What began as an ethnic group’s rise never seen before in Europe ended in persecution and the Shoah. For centuries, Jews lived on the margins of society. As long as there were guilds, they were denied access to small trades, among others. Butchers and bakers were the only crafts Jews were allowed to practice. In rural areas, they mainly worked as livestock or grain merchants. Strict rules limited their professional and trading activities as well as their access to the townships. Their settlement was regulated so restrictively in order to prevent the rise of competition from the Jewish community. An important instrument was the “Schutzbrief” or letter of protection; hence the term “Schutzjude,” Protected Jew, applied to individuals or communities. Such a letter of protection granted a limited-time right of settlement. In addition, the holder of this letter was under the protection of 017


zeitlich begrenztes Niederlassungsrecht. Außerdem stand der Inhaber dieses Briefs unter dem Schutz des jeweiligen Landesherrn. Das alles kostete Geld. Zahlreiche Sonderabgaben neben den Steuern wurden herangezogen. Innerhalb der jüdischen Gemeinde bildete sich eine deutlich sichtbare soziale Struktur. Bankiers und Großkaufleute bildeten die dünne Schicht der Hofjuden (2 Prozent). Sie verfügten über Privilegien und Rechte, die sie weit über die Masse ihrer jüdischen wie nichtjüdischen Mitbürger hinaushob. Bestens wirtschaftlich und verwandtschaftlich vernetzt hatten sie Zugang zum Landeshof, übernahmen Führungsrollen in den Gemeinden, zeichneten sich aus durch ein ausgeprägtes Mäzenatentum und durch kulturelle Nähe zum nichtjüdischen Umfeld. Nicht selten traten sie als Fürsprecher für ihre Glaubensbrüder auf. Eine schmale Mittelschicht bildeten die Schutzjuden. Mit ihren Familien und Gesinde waren sie relativ wohlhabend. Ausgestattet mit einigem Handelskapital konnte diese schmale Schicht (20 Prozent) einigermaßen existentiell gesichert leben. Den weitaus größten Teil bildeten Gesinde, Hausierer und Bettler, die in unsicheren Verhältnissen bis tiefer Armut lebten.

the monarch. All this cost money. In addition to taxes, numerous special fees were demanded. A clearly visible social structure formed within the Jewish community. Bankers and prosperous businessmen formed the thin layer of the “Hofjuden” (court Jews; 2 percent). They had rights and privileges that elevated them far above their Jewish and non-Jewish fellow citizens. With great economic and family networks, they had access to the “Landeshof ” (local government), took leadership roles in the communities, and were characterized by strong patronage and cultural proximity to their non-Jewish environment. They often acted as advocates for their brothers in faith. The Protected Jews built a small middle class. With their families and servants they were relatively wealthy. Equipped with some commercial capital, this small class of citizens (20 percent) lived somewhat securely. The vast majority were servants, peddlers and beggars who lived in uncertain circumstances or even deep poverty.

The start of the Modern Age after the Napoleonic Wars (1813–1815) gave the Jews first-time rights such as freedom of trade. The gradual rise of economic and social equality Der Start in die Moderne nach den Befreiungskriegen brought about an unprecedented two- or three-genera(1813–1815) brachte den Juden die ersten Rechte wie Gewer- tion-long social uprising. Sons of cattle dealers became befreiheit. Mit der schrittweisen wirtschaftlichen und so- tradesmen, entrepreneurs, lawyers and engineers. zialen Gleichstellung ging ein über zwei, drei Generationen 018


vollzogener beispielloser sozialer Aufstieg einher. Aus SöhHowever, these success stories were not trouble-free. nen von Viehhändlern wurden Kaufleute, Unternehmer, Liturgical reforms were introduced that sought to associJuristen und Ingenieure. ate the work week more closely with Christian values; outdated liturgical elements were removed. German replaced Diese Erfolgsgeschichte verlief allerdings nicht störungs- the Hebrew language. Scripture that expressed a longing frei. Gottesdienstreformen wurden eingeführt, die den Ab- for the distant home of Palestine was to be erased entirely. lauf des Dienstes stärker an christlichen Vorbildern orien- Jewish reform schools no longer exclusively taught religitieren wollten; nicht mehr zeitgemäße liturgische Elemente ous but secular knowledge. wurden beseitigt. Anstelle des Hebräischen sollte die deutsche Sprache treten. Stellen in der Bibel, die die Sehnsucht Such changes caused significant clashes between pronach der fernen Heimat Palästina ausdrückten, sollten ponents and opponents in various communities. The balgänzlich gestrichen werden. In den jüdischen Reformschu- ancing act between preserving their own identity on the len wurde nicht mehr ausschließlich religiöses, sondern basis of religion and the integration into non-Jewish culweltliches Wissen vermittelt. Solche Ideen lösten in vielen ture led to dramatic confrontations, even within the famiGemeinden heftige Auseinandersetzungen zwischen Befür- lies. The tendency was for traditional Judaism to decrease wortern und Gegnern aus. Der Spagat zwischen Bewahren as the secularization of the entire community increased. der eigenen Identität auf religiöser Grundlage und der Integration in die nicht-jüdische Umgebung führte selbst innerEven in the beginning of the 19th century, there was halb der Familien zu dramatischen Auseinandersetzungen. a fierce debate about legal equality for Jews. The hate Tendenziell nahm die traditionelle Autorität der jüdischen preacher Hundt-Radowsky polemicized in his “JudenspieGemeinde in Folge der zunehmenden Säkularisierung der gel” (1819) against legal equality for Jews based on their gesamten Gesellschaft stetig ab. corrupt character. Theodor Fritsch in his “Handbuch der Judenfrage” (“Handbook of the Jewish Question”; 1887) Schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts gab es eine hef- was recognized by the Nazis as an intellectual forerunner tige Debatte über die rechtliche Gleichstellung der Juden. of the Holocaust. He knew only one mission: To trample Der Hassprediger Hundt-Radowsky polemisierte in seinem the Jews. This ethnically racist „rogue anti-Semitism“ was Judenspiegel (1819) gegen die rechtliche Gleichstellung met with rejection among the conservative circles of the 019


der Juden unter Hinweis auf deren verderbten Charakter. Theodor Fritsch mit seinem Handbuch der Judenfrage (1887) war einer der von den Nazis anerkannten geistigen Wegbereiter des Holocaust. Er kannte nur eine Mission: Den Juden zertreten. Dieser völkisch rassistische „Radau Antisemitismus“ stieß bei den konservativen Kreisen der gebildeten Oberschicht auf Ablehnung. Ihr Antisemitismus richtete sich auf die nicht assimilierten Ostjuden und deren zunehmende Zuwanderung im Zuge der industriellen Revolution.² Nach Beginn der Reichsgründung in der Kaiserzeit (1871 – 1918) war die Erfolgsgeschichte der deutschen Juden auf ihrem Höhepunkt. Juden waren im Verhältnis reicher und gebildeter. Sie hatten in manchen Berufen bessere Stellungen als ihre christlichen Kollegen und Konkurrenten. Sie gehörten zu den Kerngruppen des städtischen Bürgertums. Werte und Verhaltensregeln dieser Schicht adaptierten sie nicht nur passiv; sie trugen vielmehr aktiv an der Ausarbeitung entsprechender Lebensformen und kultureller Verhaltensregeln bei. Nach ihrem Selbstverständnis waren sie Deutsche jüdischen Glaubens. Die nationale wie die religiöse Zugehörigkeit definierten ihre Identität gleichermaßen. Aus Juden in Deutschland waren längst deutsche Juden geworden. In vielen Städten waren die jüdischen Mitbürger nicht nur geachtet und anerkannt sondern hatten oft ein gutes, freundschaftliches, nicht selten sogar ein herzliches Verhältnis zu ihrer nicht-jü020

educated upper class. Their anti-Semitism focused on the unassimilated Eastern Jews and their increasing immigration during the industrial revolution.² After the beginning of the German Empire during the Imperial Era (1871–1918), the success story of the German Jews was at its peak. Jews were overall richer and more educated. In some professions, they held better positions than their Christian colleagues and competitors. They were among the core groups of the urban bourgeoisie. They did not just passively adopt the values and behavior of this class but actively contributed to the development of appropriate forms of life and cultural behavior rules. They saw themselves as Germans of Jewish faith. Their national and religious affiliation equally defined their identity. The “Jews in Germany” had become “German Jews.” In many cities, Jewish citizens were not only respected and recognized but often had a good, friendly and not infrequently a warm relationship with their non-Jewish neighbors. “German in his essence, faithful to his father’s faith,” said a 1913 obituary of a respected Jewish citizen from Bochum. The Weimar Republic (1918–1933) brought about contradictory developments for the Jewish population. On the one hand, several remaining legal restrictions were repealed. On the other hand, the anti-semitic movement experienced an unprecedented upswing, for the first time established


dischen Umgebung. „Deutsch in seinem Wesen, dem väterli- as a permanent political force that combined a rejection of chen Glauben treu“, hieß es 1913 in einem Nachruf auf einen the Republic with an abysmal hatred of Judaism. That was angesehen Bürger jüdischen Glaubens aus Bochum. the backdrop of life in Jewish communities. While many citizens of Jewish origin turned away from Judaism and toDie Weimarer Republik (1918–1933) brachte für die jü- wards new identities, others sought to form a modern Jewdische Bevölkerung widersprüchliche Entwicklungen. Ei- ish identity based on history, religion and culture. nerseits wurden sämtliche noch bestehenden rechtlichen Beschränkungen aufgehoben. Anderseits erlebte die antiThe anti-semitism of the Weimar period posed a more semitische Bewegung einen bisher nicht dagewesenen Auf- radical and violently inclined challenge to the cohabitaschwung, etablierte sich zum ersten Mal dauerhaft als po- tion of Jews and non-Jews compared to the 19th century. litische Kraft, die ihre ablehnende Haltung gegenüber der Nevertheless, surely nobody seriously suspected in 1933 Republik mit einem abgrundtiefen Hass auf das „Judentum“ that this attitude would end in the most radical attempt of verband. Vor diesem Hintergrund lief das Leben in den jüdi- a comprehensive genocide a few years later. schen Gemeinden ab. Während viele Bürger mit jüdischer Herkunft sich vom Judentum ab- und neuen Identitäten zuwandten, suchten andere eine moderne, jüdische Identität aus Geschichte, Religion und Kultur zu bilden. Der Antisemitismus der Weimarer Zeit stellte das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden radikaler und gewaltbereiter in Frage als im 19. Jahrhundert. Dennoch ahnte wohl keiner 1933 ernsthaft, dass diese Haltung ein paar Jahre später in dem radikalsten Versuch eines umfassenden Genozids enden würde.

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Weinheim / Hemsbach Mannheim

Ludwigshafen Neustadt a. W. Landau

R端lzheim Karlsruhe

Hagenau

Lichtenau

Stuttgart

Strasbourg Kehl

Emmendingen Freiburg

Basel 1: Die Heimat unserer Vorfahren. 1: The home of our ancestors.

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Günzburger in Emmendingen Günzburgers in Emmendingen Heimat unserer süddeutschen Vorfahren

Home of our Southern German Ancestors

Die Heimat unserer jüdischen Vorfahren und Anverwandten Kaufmann, Roos, Günzburger, Pfälzer, Richheimer, Friedhoff usw. war die Gegend zwischen Hemsbach bei Weinheim an der Bergstraße und Emmendingen am Fuß des Kaiserstuhls, nördlich von Freiburg. Schwerpunkte bildeten die Städte Kehl gegenüber Straßburg und Emmendingen bei Freiburg. Hier lebten unsere Vorfahren seit mindestens zweihundert Jahren bis Mitte der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Die Familien Kaufmann und Roos kamen aus dem französischen Elsass. Sie wechselten auf die deutsche Rheinseite zuerst nach Lichtenau, später nach Kehl. Der Ort Emmendingen war Sitz einer der Günzburger Linien.

The home of our Jewish ancestors and distant relatives Kaufmann, Roos, Günzburger, Pfälzer, Richheimer, Friedhoff, etc. was the area between Hemsbach near Weinheim on Berg Street and Emmendingen at the foot of the Kaiserstuhl, north of Freiburg. The focal points were the cities of Kehl across from Strasbourg and Emmendingen near Freiburg. Here our ancestors lived for more than two hundred years until the mid-1930s. The families Kaufmann and Roos came from the Alsace region of France. They switched to the German side of the Rhine, first to Lichtenau and later to Kehl. The town of Emmendingen was the seat of the Günzburger lineage.

Ancestors of Israel Samuel Günzburger Vorfahren von Israel Samuel Günzburger The history of the Jewish community in Emmendingen Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Emmendin- began in 1716 with the settlement of five families, as we gen begann 1716 mit der Ansiedlung von fünf Familien, be- know from seeing the 1717 bill of sale of the old cemetery. It kannt aus dem Kaufbrief des alten Friedhofs von 1717. Am ended in October 1940 with the deportation of the remainEnde stand im Oktober 1940 die Deportation der noch in ing, mostly elderly, Jews from “Baden” to Gurs, at the foot of Emmendingen verbliebenen, meist älteren, badischen Ju- the Pyrenees. den nach Gurs, am Fuß der Pyrenäen. 023



Die Kinder von Israel und Babette G端nzburger The children of Israel and Babette G端nzburger


Julius Günzburger (1875–1945)

21: Julius im Alter von 36 Jahren 21: Julius at the age of 36

Julius Günzburger wurde am 4. Februar 1875 in Emmendingen am Fuße des Kaiserstuhls geboren. Er war der älteste Sohn des Viehhändlers Israel Samuel Günzburger und seiner Frau Babette, geb. Kaufmann. Nach dem Besuch der Volksschule und der höheren Bürgerschule am Ort wechselte er 1888 mit 13 Jahren zur Realschule nach Freiburg. Als „Abiturient“ mit dem Abschluss Untersekun046

Julius Günzburger was born on February 4, 1875 in Emmendingen, “at the foot of the Kaiserstuhl” hills. He was the eldest son of Israel Samuel Günzburger, cattle dealer, and his wife Babette, née Kaufmann. After attending the Volksschule (elementary school) and the Höhere Bügerschule (middle school) in town, he transferred to the Realschule (high school) in Freiburg in 1888 at age 13. He grad-


da (heute Klasse 10) beendete er 1891 seine Schullaufbahn.¹ uated in 1891 with an Untersekunda degree (today’s 10th Zwei Jahre später starb 1893 sein Vater Israel Samuel. grade).¹ Two years later, in 1893, his father Israel Samuel died.

Studium in Karlsruhe Education in Karlsruhe Nach der Schulzeit absolvierte Julius eine praktische Ausbildung als Vorbereitung für sein Maschinenbaustudium. Er arbeitete je ein halbes Jahr in der Maschinenfabrik des Herrn Kern in Lörrach und in der Firma des Herrn C. Saaler in Theningen (heute Teningen) bei Emmendingen. Die Maschinenfabrik Kern wurde 1850 in Lörrach gegründet.² Noch heute gibt es eine Firma DMT Drehmaschinen Kern in Lörrach.³ Das Eisen- und Hammerwerk Theningen basierte auf eine 1771 gegründete Schmiede und gehörte zu den ältesten deutschen Fabriken. Heute ist die EHT Werkzeugmaschinen GmbH eine weltweit aktive Firma.⁴

After his schooling, Julius completed an apprenticeship in preparation for his mechanical engineering degree. He worked half a year each for the Kern machine factory in Lörrach and the Saaler company in Theningen (today’s Teningen) near Emmendingen. The Kern factory was founded in 1850 in Lörrach² and still exists as DMT Drehmaschinen Kern.³ The Theningen steel and hammer mill was founded in 1771, one of the oldest German factories. Today, EHT Werkzeugmaschinen GmbH is active worldwide.⁴,

A mechanical engineering degree was an unusual choice Mit einem Maschinenbaustudium wählte Julius eine für for someone of Julius’ heritage. None of his brothers or seine Herkunft untypische Berufsrichtung. Keiner seiner cousins worked at a technical job. They mostly worked Brüder oder Vettern war und wurde in einem technischen as merchants or manufacturers. Julius was the first acaBeruf tätig. Sie arbeiteten überwiegend als Kaufleute oder demic anong the Günzburgers and one of the first Jewish Fabrikanten. Julius war der erste Akademiker unter den engineers, which was continuously emphasized in family Günzburgern und einer der ersten jüdischen Ingenieure, circle.⁵ wie in Familienkreisen stets betont wurde.⁵

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Das Studium der Ingenieurwissenschaften verlangte 1892 kein Abitur nach Oberprima, wie es heute vorausgesetzt wird. Ein „Einjähriges“ verbunden mit Praktika, reichte zur Zulassung aus. So waren die Themen der ersten Semester z. B. in Mathematik Themen wie Analysis und Lineare Algebra, die heute in der Oberstufe eines Gymnasiums behandelt werden.

An engineering degree did not require the Abitur (today’s 12th-grade high school degree) after the Oberprima (grade 13), as required today. The Einjährige (exams), together with internships, sufficed for entry. First-semester subjects included math analysis and linear algebra, part of today’s high school high school curriculum.

Julius began his studies at the Polytechnic of Karlsruhe Julius war seit dem Frühjahr 1892 Student des Polytech- in the spring of 1892. He remained at the Großherzogliche nikums Karlsruhe. Bis 1896 blieb Julius an der Großherzog- Technische Hochschule until 1896, completing his exams lichen Technischen Hochschule in Karlsruhe, wo er auch for his final degree. In June 1896, he graduated with an sein Examen als Diplom-Ingenieur ablegte. Er schrieb 1896 overall grade of “good.” In 1896, he wrote a resume, which einen Lebenslauf (Curriculum Vitae), den er zu seinem Ex- he had to present at the time of his exams. It reads: amen vorlegen musste.

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Geboren am 4. Februar 1875 in Emmendingen, Baden, besuchte ich von meinem sechsten Lebensjahr an die dortige Volksschule u. später die Höhere Bürgerschule. Nach Abschließung derselben trat ich im Schuljahr 1888 in die II. Klasse (Untertertia) der Realschule in Freiburg ein, die ich 1891 als Abiturient verließ. Im folgenden Jahr arbeitete ich zu meiner praktischen Ausbildung je ein halbes Jahr in der Maschinenfabrik der Herren Kern in Lörrach und des Herrn C. Saaler in Theningen. Im Frühjahr 1892 trat ich in das hiesige Polytechnikum ein, dem ich seit dieser Zeit ununterbrochen als Studierender des Maschinenbaus angehöre. Den ersten Teil des Diplomexamens bestand ich im Oktober 1894.

Born on February 4, 1875 in Emmendingen, Baden, I attended the “Volksschule” in town at age six and later the “Höhere Bürgerschule”. After completion of the later, I entered the 2nd grade (Untertertia) at the “Realschule” in Freiburg in 1888 and left as a graduate in 1891. In the following year, I worked on my practical education, half a year each at the maschine factory of Mr. Kern in Lörrach and of Mr. C. Saaler in Theningen. In the spring of 1892, I entered this polytechnic, and have remained an engineering major here continuously. I passed the first round of exams in October 1894. Julius Günzburger

Julius Günzburger

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22: Der Lebenslauf von Julius. 23: Im Juni 1896 schloss er sein Studium mit der Gesamtnote „gut“ ab. 22: Curriculum vitae of Julius. 23: In June 1896, he graduated with the overall grade “good”.

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Julius hatte das „Einjährige“. Damit war im 19. Jahrhundert eine militärische Dienstpflicht von einem Jahr verbunden. Von 1896 bis 1897 diente Julius bei den Pionieren in Kehl am Rhein. War es Zufall oder konnte Julius sich den Ort des Militärdienstes auswählen? In Kehl wohnte die Familie Kaufmann, aus der seine Mutter Babette stammte. Einzelheiten über die Zeit beim Militär wissen wir nicht.

After completing his Einjaehrige, Julius was obligated to one year of military service. From 1896 to 1897, Julius served with the pioneers in Kehl at the Rhine River. Was it coincidence or was Julius able to select the location of military service? His mother Babette’s family, the Kaufmanns, lived in Kehl. We do not have details of his time in the military.

Julius und seine Kusine Sophie

Julius and his cousin Sophie

In Emmendingen, Karl-Friedrich-Straße 36, wohnte die Familie des Eisenwarenhändlers Moritz Günzburger gleich neben der Familie Israel Günzburger. Moritz, ein Vetter von Israel Günzburger, war verheiratet mit Babettes Schwester Nanette und hatte mit ihr vier Kinder. Die älteste Tochter war Sophie. Julius und Kusine Sophie waren Nachbarskinder. Wir gehen davon aus, die Beziehung zwischen den beiden war eine klassische Sandkastenliebe. Mit Sophie aus Emmendingen hatte Julius auch während seiner Militärzeit Kontakt. Sophie wurde schwanger und gebar am 19. Mai 1897 in Deutsch-Wilmersdorf, heute Berlin, ihren Sohn Kurt. Während der Vater Julius zu der Zeit schon in Aachen wohnte, lebte Mutter Sophie in Wilmersdorf, Kurfürstendamm 127. In Kurts Geburtsurkunde steht als Mutter Sophie, geb. Günzburger, eingetragen.⁶ Zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Sohnes waren beide also noch nicht verheiratet und hatten keine gemeinsame Wohnung.

The family Moritz Günzburger, who sold hardware goods, lived on 36 Karl-Friedrich Street in Emmendingen, right next to the family of Israel Günzburger. Moritz, a cousin of Israel, was married to Babette’s sister Nanette and they had four children. The oldest daughter was Sophie. So cousins Julius and Sophie were neighbors even as kids. We assume the relationship between the two was that of classic childhood sweethearts. Sophie stayed in contact with Julius during his military service, giving birth to their son Kurt on May 19, 1897 in Deutsch-Wilmersdorf, today’s Berlin. While Julius lived in Aachen at the time, Sophie lived in Wilmersdorf, 127 Kurfürstendamm. Kurt’s birth certificate lists mother Sophie, née Günzburger.⁶ That means, the two of them were not married and did not live together when their first son was born.

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Julius und Sophie heirateten am 18. Mai 1899 in Emmendingen. In der Heiratsurkunde wurde Aachen als Wohnort genannt. Trauzeugen waren der Kaufmann Philipp Günzburger, ein Vetter von Julius, an den im Dezember 1944 die letzte Nachricht aus dem KZ Bergen-Belsen ging und der Holzhändler Simon Veit, Gemeindevorsteher in Emmendingen und Schwiegervater von Julius’ Schwester Hilda. Am 30. Mai 1900 meldete Julius die Geburt des Sohnes Paul beim Standesamt Aachen. Paul wurde einen Tag vorher in der Wohnung Junkerstraße 49, nahe der TH Aachen, geboren. Am 13. Oktober 1900 meldete Julius den Tod seines Sohnes Paul. Dieser war im Alter von vier Monaten einen Tag zuvor in der Wohnung Junkerstraße gestorben. Später zogen die Günzburger in die Gartenstraße 40 in Aachen. Dort hielten sie sich auch nicht lange auf, sondern wechselten nach München-Gladbach, wo sie ab dem 28. September 1901 zuerst in der Bettrather Straße 1 wohnten. Dort wurde Erna am 8. August 1902 als Tochter der Eheleute Julius und Sophie Günzburger geboren. Noch einmal stand ein Umzug an. 1903 wechselte die Familie weiter zur Bettrather Straße 91, bevor sie schließlich am 19. Mai 1903 nach Zwickau zog. Wir wissen nicht, wo Julius seine ersten Berufserfahrungen gesammelt hatte.

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Julius and Sophie married in Emmendingen on May 18, 1899. Their marriage certificate lists Aachen as their place of residence. Their witnesses were businessman Philipp Günzburger, Julius’ cousin, the recipient of their last communication from the concentration camp Bergen-Belsen in December 1944, and timber tradesman Simon Veit, head of the Jewish community in Emmendingen and father-in-law to Julius’ sister Hilda. Julius registered the birth of his son Paul at the county clerk in Aachen on May 30, 1900. Paul was born a day prior in their apartment at 49 Junkerstreet, located close to the TH Aachen. But the baby lived less than five months. He died where he was born, at their apartment on 49 Junker Street, near the technical school in Aachen. Later, the Günzburger family moved to 40 Garten Street. They didn’t stay there for long but moved on September 28, 1901, to München-Gladbach where they first lived at 1 Bettrather Street. There, Erna was born on August 8, 1902 as the daughter of Mr. and Mrs. Julius and Sophie Günzburger. The family had another move ahead of them. In 1903, they moved to 91 Bettrather Street. We do not know where Julius got his first professional experience.


Karriere in Zwickau

Career in Zwickau

Die Badener Julius und Sophie Günzburger zogen nach Zwickau in Sachsen.⁷ In Zwickau wechselte die Familie Günzburger auch mehrfach ihren Wohnsitz. Zuerst lebten sie in der Werdauer Straße 28. Ab 1906 wohnte der Ingenieur Julius Günzburger in der Osterweihstraße 4a. Von 1912 bis 1913 war die Familie in der Richardstraße 34 gemeldet. Ab 1914 wurde der Wohnsitz in die Spiegelstraße 7 verlegt. Hier blieb die Familie bis zu ihrem Umzug nach Bochum 1927.⁸

On May 19, 1903, Julius and Sophie Günzburger from Baden moved to Zwickau, far from their family in Southern Germany.⁷ In Zwickau, the family moved several times. First they lived at 28 Werdauer Road. From 1906, the engineer Julius Günzburger lived at 4a Osterweih Street. From 1912 to 1913, the family was registered at 34 Richard Street. As of 1914, their residence was listed as 7 Spiegel Street. Here the family lived until moving to Bochum in 1927.⁸

Julius legte den Grundstein seiner Karriere bei der Zwickauer Maschinenfabrik AG. Haupterzeugnisse des Unternehmens waren Luftkompressoren, Druckluft- und Zentrifugalpumpen und Dampf- und Fördermaschinen für Bergwerke, mit denen das Unternehmen im In- und Ausland bedeutende Umsätze erzielte.⁹ Vom 8. Juni 1906 an arbeitete Julius als Oberingenieur bei der Zwickauer Maschinenfabrik. Er besaß ab Januar 1907 die Gesamtprokura. Von 1912 bis zu seinem Ausscheiden auf eigenen Wunsch Ende August 1926 war er Technischer Direktor. Der Generaldirektor Hugo Heinrich stellte Julius ein Zeugnis aus.

Julius laid the foundation of his career at the Zwickau Maschinenfabrik AG. The company mainly produced air compressors, pneumatic and centrifugal pumps, steam engines and winding machines for mines, and made significant earnings domestically and internationally.⁹ On June 8, 1906, Julius began work as a senior engineer at the Zwickau factory. From 1912 until retiring of his own accord at the end of August 1926, his title was technical director. The firm’s director-general, Hugo Heinrich, gave Julius a letter of recommendation.

Latecomer Fritz, the youngest member of the family, was born on September 7, 1911. The family was in contact Fritz, der jüngste Spross der Familie, wurde als Nachzüg- with relatives despite the great distance. Fritz and Erna ofler am 7. September 1911 geboren. Die Familie hatte trotz ten spent their vacation in Southern Germany. Kurt went der weiten Entfernung Kontakt zu den Verwandten. Fritz to school there for a year. 053


und Erna verbrachten oft die Ferien in Süddeutschland. Julius was drafted in World War I. The medal he received Kurt ging dort für ein Jahr zur Schule. did not, however, save him from the Nazi persecution that was to come. When and how long he stayed in military serJulius wurde im Ersten Weltkrieg eingezogen. Er erhielt vice, we do not know. eine Medaille, die ihn allerdings nicht vor der späteren Verfolgung durch die Nazis bewahrte. Wann und wie lange er Dienst leisten musste, wissen wir nicht.

24: Familie Julius Günzburger 1911 in Zwickau. Von links: Sohn Kurt (14), Sophie (32) mit Fritz (3 Monate), Julius (36), Sophies Schwester Hedwig (27), Tochter Erna (9) und Hedwigs Sohn Walter (4). Auf der Anrichte ein Foto vom Vater Israel Samuel. 24: Family Julius Günzburger 1911 in Zwickau. From the left: son Kurt (14), Sophie (32), Fritz (3 months), Julius (36), Sophie’s sister Hedwig (27), daughter Erna (9) and Hedwig’s son Walter (4). On the mantle a photo of father Israel Samuel.

Wechsel ins Ruhrgebiet zur Flottmann AG Transfer into the Ruhr area to Flottmann Julius begann unmittelbar nach seinem Ausscheiden aus Immediately after leaving the Zwickau company, Juder Zwickauer Maschinen AG als technischer Berater bei lius started work as technical adviser at Flottmann AG, der Flottmann AG mit Hauptsitz in Herne.¹⁰ Die Maschinen- headquartered in Herne.¹⁰ Flottmann produced products 054


25: Zeugnis der Zwickauer Maschinenfabrik 25: Certificate of machine factory of Zwickau. Transcript: Machine Factory of Zwickau

Zwickau in Saxony

Zwickau, in Saxony, 10 / 4 / 1926 Certificate Per request, this certifies that Mr Director Julius Günzburger was employed here as chief engineer from June 8, 1906 until Mai 31, 1912 and as technical director from June 1, 1912 until August 31, 1926. Mr Günzburger has had power of attorney since January 1907. Among his obligations were especially the leadership of the technical department, order processing, and contact with customers. Later, as director, he was also in charge of workshops and profit and loss forecasts. Mr Günzburger specifically worked towards the implementation and expansion of our compressor department. We are glad to certify that Mr Günzburger did his work with diligence and care and was very valuable during his long years of employment with us. Mr Günzburger also proved to be a skilled salesman. He is leaving his position by his own choice and we wish him the best for his future. Machine Factory of Zwickau H. Heinrich

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Die Familiengeschichte „Die Günzburger“ ist eine

The family story “The Günzburgers” is an account of

Geschichte des „deutschen Judentums“. Sie ist in ihren

“German Judaism”. It is not exceptional in its trials and

Irrungen und Wirrungen nicht ungewöhnlich, doch sie

tribulations; rather, it is an example of the fate of many

steht exemplarisch für das Schicksal vieler jüdischer

Jewish families during the Nazi era. What began as an

Familien in der Nazizeit. Was als beispielloser Aufstieg

unparalleled rise of an ethnic group ended in persecution

einer Bevölkerungsgruppe begann, endete in Vertreibung

and Shoah.

und Shoah. Decades later, the stories of these families were Erst Jahrzehnte später wurden die Geschichten der Familien zusammengetragen. Mögen deren Schicksale nicht vergessen werden.

compiled. May their fates not be forgotten!


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