Wolfgang Viehweger
Frei nach diesem Vers aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke befasst sich Autor Wolfgang Viehweger mit dem Leben von Stanislaw Mikolajczyk, dem wohl berühmtesten Ruhrpolen. Mikolajczyk – anders als in Polen hierzulande völlig unbekannt – wurde 1901 in Holsterhausen (Amt Eickel) geboren und wuchs als Sohn eines Hauers in einer Zechensiedlung auf, bevor ihn die Zeitläufte zum Akteur in der Weltpolitik machten. Nach einem Arbeitsunfall des Vaters ging die Familie zurück nach Polen, wo er später den väterlichen Hof übernahm und eine Karriere als Politiker der Bauernpartei machte. Er kämpfte nach dem Überfall Hitlers auf Polen gegen Nazideutschland, emigrierte nach London, wo er General Sikorskis Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung wurde, und kehrte nach dem Krieg nach Polen zurück, um als stellvertretender Ministerpräsident in eine Regierung mit den Kommunisten einzutreten. Mikolajczyk sah die Koalition scheitern und floh unter abenteuerlichen Umständen ins Exil, erst nach London und dann in die USA. Er starb 1966 in Washington, lange bevor seine Vision von einem freien, demokratischen Polen verwirklicht wurde. Wolfgang Viehweger, gebürtiger Schlesier, verbindet seine eigene Biografie als Kriegskind und Vertriebener mit den politischen Wirren der Kriegszeit und zeigt eine große Nähe zur polnischen Leidensgeschichte im 20. Jahrhundert. Der Kampf von Stanislaw Mikolajczyk für die Freiheit seiner Heimat Polen wird in diesem Buch lebendig. Der Herausgeber
Stanislaw Mikolajczyk
Wolfgang Viehweger · Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.
Kämpfer für die Freiheit
Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel / Herne e. V. (Hrsg.) ISBN 978-3-933059-51-2
9 783933 059512
02490
FRISCHTEXTE Verlag, Herne
FRISCH TEXTE VERLAG
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Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit Wolfgang Viehweger 1. Auflage, 2014, FRISCHTEXTE Verlag, Herne ISBN 978-3-933059-51-2
© FRISCHTEXTE Verlag, Herne Autor: Wolfgang Viehweger Illustrationen: Magdalena Skowronski, Ingeborg Viehweger, Alfred Hartwig, Wolfgang Ringhut Herausgeber: Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel / Herne e. V. Umschlagentwurf, Layout und Satz: agentur steinbökk Gesetzt in der „Franklin Gothic“ von Morris Fuller Benton und in der „Adobe Text Pro“ von Robert Slimbach Gesamtherstellung: druckfrisch medienzentrum ruhr gmbh, Herne
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeisung, Rückgewinnung und Wiedergabe in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten.
Das Buch ist meinem Freund Henri Musielak in Aniche in der Region Nord-Pas-de-Calais gewidmet. Sein Vater Stefan Musielak war ein Jugendfreund von Stanisław Mikolajczyk und wurde von diesem im Sommer 1943 in das Exilkabinett in London berufen.
– Vorwort –
Vorwort Den Anlass zu dem Buch gab mir der Vorsitzende der Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel / Herne e. V. und ehemalige Landtagsabgeordnete Frank Sichau im Jahr 2005, nachdem er das Geburtshaus von Stanislaw Mikolajczyk in Holsterhausen, einem früheren Dorf im Amt Eickel, entdeckt hatte. Er schlug mir vor, mich mit dem berühmten Mann und seiner wechselvollen Lebensgeschichte zu beschäftigen. Der Stadtteil Holsterhausen werde dadurch bekannter; außerdem solle ich mit dem Leben der Eltern beginnen, des Bergmanns Stanisław Kostka Mikołajczyk und seiner Ehefrau Sophia, geborene Parysek. Da der Vater viele Jahre Bergmann auf der Zeche Shamrock gewesen sei, nachdem er vor der Jahrhundertwende aus dem Dorf Benice im Kreis Krotoschin in der Provinz Posen nach Holsterhausen gekommen war, habe man mit ihm und seiner Familie ein Beispiel für die frühe Zuwanderung polnischer Arbeitskräfte ins Ruhrgebiet. Damit hatte ich für den geschichtlichen Rahmen, der zu jeder Biographie gehört, erste Anhaltspunkte: die historische Zeit um 1900 im Ruhrgebiet, die Geschichte der Zeche Shamrock, die Arbeitsbedingungen, die Wohnsituation und die soziale Lage der Zuwanderer. Einen weiteren Hinweis gab mir mein Freund Henri Musielak aus dem französischen Aniche, dessen Vater Stefan vom damaligen Ministerpräsidenten im Exil, Stanislaw Mikolajczyk, 1943 ins Kabinett der polnischen Regierung in London berufen worden war. Henri riet mir, die Rolle der Exilregierung als Gesprächspartner der „Großen Drei“ (Roosevelt, Churchill, Stalin) besonders hervorzuheben. Den dritten Beweggrund sah ich in meiner eigenen Familiengeschichte: Meine Vorfahren, fränkische Bauern aus der Gegend von Ellwangen an der Jagst, wanderten vor 700 Jahren nach Schlesien aus und lebten mit Polen in einer zweisprachigen Gegend zusammen. Daraus entstand eine persönliche Nähe zur polnischen Geschichte, obwohl ich – im Gegensatz zu meinen Eltern – 5
– Vorwort –
kein Polnisch spreche. Ich kam im Schuljahr 1941 / 42 in die Volksschule. Polnisch war zu jener Zeit unerwünscht. Im Gegenzug zu dieser Diskriminierung verfügte Władysław Gomułka, erster stellvertretender Ministerpräsident und Sonderbeauftragter für die unter polnischer Verwaltung stehenden Gebiete, dass zum Schuljahr 1945 / 46 in den schlesischen Schulen kein Deutsch mehr gesprochen werden durfte. Die Vertreibung meiner Familie im Jahr 1946 änderte nichts im Verhältnis zu meinem Geburtsland. Sie hat fast 70 Jahre später sogar noch meinen Wunsch beflügelt, meine Erfahrung als „Kriegskind“ im deutsch-polnischen Grenzland darzustellen, was ich bisher versäumt habe. Die Ahnentafel, die mein Sohn Ralf führt, beginnt mit Johanna Viehweger, die im Jahr 1241 in einem Wehrdorf namens „Viehweg“ (heute polnisch: Pamięcin = Vorwerk) lebte, das ihre Sippe im späteren Kreis Bunzlau im Regierungsbezirk Liegnitz gegründet hatte. Mein Zweig lebte seit dem 17. Jahrhundert im oberschlesischen Regierungsbezirk Oppeln. Damit ist der historische Rahmen für die Biographie fast vollständig, weil ich inzwischen bei meinen Recherchen im Stadtarchiv Herne auch die Geburtsurkunde von Stanislaw Mikolajczyk und im Sekretariat der Marienkirche an der Herzogstraße in Eickel seinen Taufschein gefunden habe. Andere Hinweise erhielt ich von Frau Ewa Kuc vom polnischen Tourismusbüro in Berlin, die mich auf die Begräbnisstätte von Stanislaw Mikolajczyk in Posen und die Umstände seiner dortigen Bestattung aufmerksam machte. Nach der Lektüre von Mikolajczyks Schrift „Der Krieg gegen die Freiheit“, seinen Memoiren aus dem Jahr 1948, wurden mir seine politischen Ziele und Motive deutlich, vor allem, als ich die letzten Sätze seines Buches gelesen hatte: „Ein Sonderflugzeug brachte mich ohne Zwischenfälle im November 1947 nach England, wo ich in gesegneter Geborgenheit zum ersten Mal nach langer Zeit frei atmen konnte und wo – höchstes Glück – das Schicksal mich mit Frau und Sohn wiedervereinte. Beide hatten jahrelang in deutschen Konzentrationslagern gelitten. Die Freude darüber, dass wir uns wiederhaben, könnte vollkommen sein, wenn mir nicht die innere Ruhe fehlte. Für mich ist der Krieg nicht zu Ende. Ich werde ihn erst als abgeschlossen ansehen, wenn die Ideale, um deretwillen so unendlich viel kostbares Blut geflossen ist, auch in meinem Land wieder Gültigkeit haben.“1
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– Vorwort –
Hier zog ein Politiker Bilanz, der von den christlichen Grundsätzen der Gewalteindämmung und Friedenssehnsucht geleitet war, ein polnischer Patriot, der es leider mit zwei Monstern zu tun hatte, die den Zweiten Weltkrieg prägten: Hitler und Stalin. Als Mikolajczyk die Memoiren schrieb, war er vergebens gegen die beiden vorgegangen, ohne allerdings die Hoffnung zu verlieren, dass die Zeit der Kriege eines Tages beendet und sein Land eine freie Zukunft haben werde. Als er 1966 im Exil starb, lag die Befreiung Polens von der kommunistischen Besetzung noch in weiter Ferne, wie auch die Rückkehr Polens in die europäische Familie. So blieb er ein Unvollendeter, der zweimal der Apokalypse begegnete, dem Faschismus und dem Kommunismus, der zweimal nach England fliehen musste. Die letzte Flucht im Oktober / November 1947 war so spektakulär, dass sie den Stoff für einen Film von Roman Polanski bieten könnte. Dabei führte Mikolajczyk das Regime in Warschau und seinen Sicherheitsapparat in einer Weise vor, dass nur Lächerlichkeit übrig blieb. Darauf werde ich im Buch noch zurückkommen, weil es ein Ereignis ist, das besonders berührt. Die Erbitterung der stalinistischen Machthaber über die Armseligkeit ihres Agierens in Polen, die Mikolajczyk detailliert beschrieb, hielt viele Jahre an. Auf der anderen Seite war Mikolajczyk bei den Exilpolen im Westen nicht willkommen. Sie hielten ihm sein Koalieren mit der kommunistischen Regierung zwischen 1945 und 1947 vor. Das führte dazu, dass er mit der Familie ins Exil nach Washington ging, wo er 1966 starb, und dass erst im Jahr 2000 seine sterblichen Überreste nach Polen zurückgebracht wurden. Er wurde als Opfer des Stalinismus rehabilitiert, einige Zeit im Königsschloss in Warschau aufgebahrt und schließlich nach Posen gebracht, wo er seine letzte Ruhe fand. Posen war die Stadt, in der seine politische Karriere begonnen hatte. Ein besonderer Dank bei meiner neunjährigen Arbeit an dem Buch geht an das Künstlerehepaar Magdalena und Marek Skowronski. Die beiden kamen vor einigen Jahren von Stettin nach Herne und zählen zu meinem Freundeskreis. Sie haben mir nicht nur bei der Übersetzung polnischer Quellen geholfen, sondern auch bei der Gestaltung des Covers und bei Fragen, welche das Leben von Stanislaw Mikolajczyk stellt: Das Böse, das ihm immer wieder begegnet ist, bedeutet auch für meine Diskussionspartner etwas, das in Polen von 1939 bis 1989 um jede Ecke schaute und darauf aus war, das Gute, Geordnete und Schöne 7
– Vorwort –
zu beschädigen. Für mich ist es erstaunlich, dass Massaker und Völkermorde (Holocaust, Katyń und Archipel Gulag) bis heute in Polen immer wieder die lebhafte Frage nach der Kausalität des Bösen stellen, das zeitweise mächtiger zu sein scheint als das Gute. Ich habe versucht, ein wenig von unseren Gesprächen über die Psychologie des Bösen an einigen Stationen des wechselvollen Lebens von Stanislaw Mikolajczyk zu zeigen. Wolfgang Viehweger
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– Vorwort –
Fußnoten 1
Mikolajczyk, Stanislaw: Der Krieg gegen die Freiheit, aus den Memoiren von Stanislaw Mikolajczyk, hrg. vom Tagesspiegel, Heft 2, Druckhaus Tempelhof, Berlin 1948, S. 116 f.
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 Die Polnischen Republiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 Erste Polnische Republik / Adelsrepublik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .15 Die Zweite Polnische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .16 Die sogenannte „Polnische Republik“ zwischen 1944 und 1947 . . . . . . . . .16 Die „Volksrepublik Polen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Die Dritte Polnische Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Carl von Ossietzky . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .19 Die Polnische Exilregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .20 Die polnischen Ostgrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Begriffsklärungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25 Der „Große Vaterländische Krieg“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .25 Die Atlantik-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 Urteile über den Wirkungsgrad historischer Individuen . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .26 Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Stalin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .28 Das Böse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30 Stalin und die Epigenik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .30 Hitler und die Theozoologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31
Kapitel 1
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35 Von Benice nach Holsterhausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .35 Der Zechensiedlungsbau in Wanne-Eickel und Herne von 1871 bis 1910 . . . . 37 Die Arbeitsstätten von Stanisław Kostka Mikołajczyk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39
Kapitel 2
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Geburt und Taufe von Stanislaw Mikolajczyk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 Geburt und Taufe / Anmeldeformalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .53 Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Die Bedeutung des polnisch-sowjetischen Krieges zwischen 1919 und 1921 . . 61 Politische Karriere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .65
Kapitel 3
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 Über Nichtangriffspakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .69 Der Überfall auf den Sender Gleiwitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .72 Die „Reichskristallnacht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .73 Die „Polenaktion“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Deutsch-polnische Beziehungen zwischen 1935 und 1939 . . . . . . . . . . . . . . . . .79
Kapitel 4
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83 Was geschah Cecylia und Marian Mikolajczyk? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .86 Späte Strafe für die Auschwitz-Mörder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 Die Polnische Exilregierung unter General Sikorski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Communiqué des polnischen Ministeriums für nationale Verteidigung, 17. April 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Protokoll der Internationalen Ärztekommission, 30. April 1943 . . . . . . . .98 Schlussbericht der deutschen Polizei, 10. Juni 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .98 Zwei Schicksale: Józef und Janina Szymański aus Rozdżałow . . . . . . . . . . . . . .99 Biographie von Józef Szymański . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .99 Janina Szymański . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .100 Katyń – ein offenes Kapitel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .103 Die Bedeutung von General Sikorski . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .107
Kapitel 5
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .111 Das Treffen mit Bolesław Bierut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .115
Kapitel 6
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 Der Ghetto-Aufstand vom 19. April bis zum 16. Mai 1943 . . . . . . . . . . . . . . . .122 Die Gegenseite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 Die Armee Schörner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 Die Militärgerichtsbarkeit im „Dritten Reich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .125 Die Armee Wlassow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .125 Neue Formen der Kriegsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .126 Das „Himmelfahrtskommando“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .126 Der „Volkssturm“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .127
Kapitel 7
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131 Die Politik des Westens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131 Winston Churchill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .132 Das polnische Drama beginnt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .135 Die „Umwertung aller Werte“ im Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .136 Was war inzwischen in Polen passiert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137 Mikolajczyk unter Druck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .137
Kapitel 8
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .143 Die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August 1945 . . . . . . . . . . . .147 Exkurs: Die Vertreibung – „Die ethnische Säuberung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . .149 Der Krieg gegen die Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .151 Der „Polizeistaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .154 Die Byrnes-Rede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .156 Die Truman-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .157 Der Marshall-Plan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 Die katholische Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .159
Kapitel 9
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 Die Parlamentswahlen vom 19. Januar 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .161 Die Präsidentschaftswahl vom 5. Februar 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 Die polnische Armee und Sondereinheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .163 Die Rede Gomułkas zum 1. Mai 1947 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .164 Die Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .166 Biedermann und die Brandstifter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .168
Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .173 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .174
Hilfen zum Textverst채ndnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 Kurzbiografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .179 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .191 Der Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .193
– Einführung –
Einführung In der Einführung möchte ich einige Abschnitte der polnischen Geschichte vorstellen und Begriffe und ihre Bedeutung klären, die im Hauptteil eine Rolle spielen werden. Das soll zum Verständnis eines Landes dienen, das – wie Frankreich – mit Deutschland nachbarlich und schicksalhaft verbunden ist. Die Verhandlungen von Jalta bis Potsdam und das Agieren der „Großen Drei“ gegenüber der Polnischen Exilregierung in jener Zeit nehmen am Ende der Einführung einen breiteren Raum ein, weil hier der Schlüssel zum Verständnis der polnischen Nachkriegsgeschichte zu finden ist, parallel dazu auch zu der deutschen. Es ist mir sehr wichtig, am Ende das politische Dilemma zu skizzieren, in dem sich Stanislaw Mikolajczyk zwischen 1943 und 1947 befand.
Die Polnischen Republiken Als „Polnische Republik“ werden die unterschiedlichsten Abschnitte in der polnischen Geschichte bezeichnet.
Erste Polnische Republik / Adelsrepublik Bekanntes europäisches Beispiel einer frühzeitigen Adelsrepublik ist das Beispiel Polen / Litauen von 1569 bis 1795. Die Republik hielt sich neben den feudalen Herrschaftsstrukturen mit absolutistischer Staatsführung und wies folgende Systemmerkmale auf: 1. Autogene Stände der Städte oder auch Adelsfamilien schlossen sich zusammen und entzogen sich so dem Zugriff zentralistischer Fürstenherrschaft. Sie wurden keine Vasallen.
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– Einführung –
2. Ihre Interessen sicherten sie sich durch Vertretungsgremien mit privilegiertem Zugang ab (Städtische Räte / Ständeversammlungen). Diese sicherten ihnen politische Autonomie, ohne sich allerdings – wie in England oder den Niederlanden – zu libertären Systemen zu entwickeln, sich bürgerlichen Forderungen zu öffnen und ein gesamtstaatliches Bewusstsein zu entwickeln. 3. Trotz Wahlmonarchie, Konföderationsbildung und späteren Konstitutionen (Verfassungen) blieb die polnische Adelsrepublik bis zu der Verfassung vom 3. Mai 1791 ein feudaler Ständestaat unter adeliger Führung. 4. Letztlich unterlag die polnische Adelsrepublik dem Expansionsdrang der absolutistischen Nachbarn (Preußen, Österreich, Russland), dem fehlenden Reformwillen des führenden Adels und den sich herausbildenden Nationalstaaten mit demokratischen Ansätzen. Reste aus den Zeiten der Adelsrepubliken sind heute noch in den modernen Staaten zu finden, z.B. im britischen Oberhaus, welches eine Vertretung des Adels und des Klerus ist.1
Die Zweite Polnische Republik Die Zweite Polnische Republik existierte in der Zwischenkriegszeit, auch „Interbellum“ genannt, zwischen dem 11. November 1918, dem Waffenstillstand von Compiègne, und dem 1. September 1939, dem Tag des Überfalls von Hitler auf Polen und damit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Einer gewissen Unabhängigkeit und Konsolidierung im Innern mit demokratischen Strukturen standen Grenzprobleme im Osten gegenüber, die zum Polnisch-Sowjetischen Krieg von 1919 bis 1921 führten. Auch im Westen bestand keine Sicherheit, weil die Siegermächte, z.B. in Oberschlesien, die Grenzen nicht eindeutig festgelegt hatten.
Die sogenannte „Polnische Republik“ zwischen 1944 und 1947 Als Zwischenspiel kann man die Zeit vom 22. Juli 1944, als die Rote Armee die Curzon-Linie überschritt und Lublin erreichte, bis zum Oktober 1947 bezeichnen, als eine Koalitionsregierung scheiterte, in der Stanislaw Mikolajczyk von 16
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der Bauernpartei zweiter stellvertretender Ministerpräsident und Landwirtschaftsminister war. An der Spitze der neuen von Moskau eingesetzten Führungsmannschaft stand allerdings der Altkommunist Bolesław Bierut, der bis 1952 das Amt des Staatspräsidenten bekleidete. Bierut hatte bereits ab 1944 in der „Lubliner Regierung“ die völlige Machtübernahme von Polen durch die Kommunisten unter sowjetischer Oberhoheit vorbereitet. Davon hatte die Polnische Exilregierung in London keine Kenntnis, natürlich auch nicht Stanislaw Mikolajczyk. Im Jahr 1952 wurde die Polnische Republik umbenannt in „Volksrepublik Polen“.
Die „Volksrepublik Polen“ Als die im Juni 1945 gebildete „Regierung der nationalen Einheit“, der neben Mikolajczyk und drei weiteren Kabinettsmitgliedern von der Bauernpartei noch ein Sozialist angehörte, Ende Oktober 1947 durch Polizeiterror und gefälschte Wahlen aufgelöst wurde – was ohne die Unterstützung der Roten Armee wohl nicht möglich gewesen wäre –, begann eigentlich schon die Zeit der Volksrepublik (wenn auch erst offiziell im Jahr 1952). Sie sollte bis 1989 dauern. Diese Phase war begleitet von der Vertreibung von 1,8 Millionen Polen aus den Gebieten östlich der Curzon-Linie. Aus der Ukraine kamen etwa eine Million Polen, aus Weißrussland 300.000 und aus Litauen 200.000. In der gleichen Zeit wurden etwa 3,5 Millionen Deutsche aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten vertrieben (aus Danzig, Westpreußen, Ostpreußen, Hinterpommern, der Neumark, Ost-Brandenburg, Ober- und Niederschlesien). Mit den Umsiedlungen und den von Hitler ergriffenen Vernichtungsmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Polen während des Zweiten Weltkriegs wurde die Volksrepublik Polen so etwas wie ein ethnisch homogener Staat, erstmals in der polnischen Geschichte, allerdings um den Preis der völligen Einbindung in den „Ostblock“.
Die Dritte Polnische Republik Vom 6. Februar bis zum 5. April 1989 versammelten sich in Warschau Repräsentanten der kommunistischen Partei und der Opposition zu Gesprächen am „Runden Tisch“. Die intensive Arbeit in kleinen Gruppen führte zu radi17
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kalen Veränderungen in allen Bereichen. Im politischen Sektor vereinbarte man die schrittweise Einführung der vollen Volkssolidarität mit dem dazugehörigen Parteienpluralismus. Die Anerkennung des Mehrparteiensystems, das Prinzip freier und geheimer Wahlen und unabhängiger Gerichte waren weitere Etappen auf dem Weg zur Demokratie. Die freie Parlamentswahl im Juni 1989, die Wahl General Wojciech Jaruzelskis zum Staatspräsidenten am 19. Juli 1989 und die Übernahme der Regierungsgeschäfte unter dem katholischen Publizisten Tadeusz Mazowiecki, der im Oktober 2013 starb schlossen die Konsolidierung der Dritten Polnischen Republik ab. Die Ereignisse in Polen trugen zum Fall der Berliner Mauer, dem Zusammenbruch der DDR und dem Niedergang der totalitären Systeme in den Staaten Mittel- und Osteuropas bei. Sie führten auch zur Auflösung der Polnischen Exilregierung in London, mit der Stalin im April 1943 gebrochen hatte. Im Juli 1945 schließlich entzogen die USA und Großbritannien auf Drängen Stalins ihr die diplomatische Anerkennung. Die Präsidentschaftswahl in Polen im Jahr 1990, die Lech Wałęsa als Staatspräsidenten und die polnische Regierung unter Jan Bielecki hervorbrachte, schloss endgültig ein Kapitel der polnischen Geschichte, in das Stanislaw Mikolajczyk eingebunden war. Er hatte im Jahr 1945 versucht, in einer Koalition mit den Kommunisten das Unmögliche möglich zu machen: eine nationalstaatliche Entwicklung Polens, geduldet von der Sowjetunion, partnerschaftlich ausgehandelte Grenzen und eine freiheitliche Entwicklung des Landes, wie sie tatsächlich erst nach 1989 Wirklichkeit wurde. Er ahnte wohl erst nach seiner abenteuerlichen Flucht im Oktober / November 1947, als er seiner Liquidierung zuvorkam, dass es vieler Jahre bedürfen sollte, bis Polen von der Sowjetunion freikommen würde. Seine Memoiren aus dem Jahr 1948 – er war damals gerade 47 Jahre alt – bestätigen sein politisches Scheitern. Er hatte das Pech eines zu früh Geborenen, der mit seinen demokratischen Plänen in einer durch Hitler und Stalin dominierten Zeit wie ein Mensch wirkte, auf den zu Lebzeiten kaum jemand hörte und dessen Tod im Exil Ende Dezember 1966 kaum Trauer auslöste. Erst viel später wurde er rehabilitiert und in seine Heimat zurückgeholt, der er mit all seinen Kräften dienen wollte. Er hatte die Rückkehr der Tatsache zu verdanken, dass die junge polnische Republik Helden brauchte. Stanislaw Mikolajczyk war einer von ihnen. 18
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Carl von Ossietzky Ich möchte in dem Zusammenhang mit kühnen Entscheidungen in schwieriger Zeit, die zum Scheitern verurteilt sind, an den politischen Journalisten Carl von Ossietzky erinnern, der sich 1935 weigerte, in die Emigration zu gehen und von den Nationalsozialisten in das KZ Esterwegen verschleppt wurde. Als ihn dort das Präsidiumsmitglied des Internationalen Roten Kreuzes, Carl Burckhardt, besuchte, wiederholte der gebrochene Mann, dessen Zähne ausgeschlagen worden waren, seine politische Maxime: „Der Oppositionelle, der über die Grenzen gegangen ist, spricht bald hohl ins Land hinein. Wenn man den verseuchten Geist eines Landes wirkungsvoll bekämpfen will, muss man dessen allgemeines Schicksal teilen.“2 Die Situation von Carl von Ossietzky und von Stanislaw Mikolajczyk ist zwar nicht vergleichbar, um eine bessere Einsicht in die individuellen Möglichkeiten des Kampfes für die Freiheit und gegen den herrschenden Zeitgeist in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu vermitteln, wohl aber ihre Zielsetzung. Carl von Ossietzky, der wortgewaltige Kämpfer mit Artikeln und Kommentaren gegen den Faschismus, stand in der Tradition der christlichen Lehre, die Leiden und Tod als sichtbares Zeugnis ansieht, das man für die Richtigkeit seines Glaubens und seiner Überzeugung ablegen kann. Der Märtyrer triumphiert mit seinem Tod über den herrschenden Zeitgeist und zeigt ihm gleichzeitig seine tiefste Verachtung. Dieses musterhaft gültige Verhalten wird seit dem Mittelalter von den Zeitgenossen verstanden und entsprechend gewürdigt. Aber was ist mit einem Menschen, der im Angesicht des Todes für seinen Kampf gegen den Zeitgeist (hier: den Stalinismus) das Leben wählt und flieht? Die Erklärung dürfte in der Biografie von Mikolajczyk zu finden sein: der Mann, der 1920 gegen die Rote Armee und 1939 gegen die Wehrmacht Hitlers als Frontsoldat gekämpft hatte, entschied sich 1947 für das Leben, weil er seine Mission noch nicht als beendet ansah. Das war der Kampf für die Freiheit Polens! Was für ihn logisch und in jeder Hinsicht konsequent war, blieb für die Zeitgenossen – Freund und Feind – unverständlich und trieb ihn schließlich in die Einsamkeit des Exils. Für den Historiker ist es von höchstem Interesse, wie ein Politiker, der in einer Zeit lebt, die ihn zwingen will, Bestimmtes zu tun oder zu lassen, mit diesen Zwängen umgeht. 19
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Die Polnische Exilregierung Eine Exilregierung ist, wie der Name schon sagt, die Regierung eines Landes, das von einem anderen Land besetzt ist oder dessen Land von einem Eroberer kontrolliert wird, welcher eine illegitime Regierung eingesetzt hat. Im Zweiten Weltkrieg gab es Exilregierungen vor allem in Großbritannien, wo die Regierungen von Frankreich, Belgien, Jugoslawien, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Tschechoslowakei amtierten. Sie galten als Vertreter befreundeter Nationen, hatten einen diplomatischen Status und eine gewisse Legitimation durch Untergrundorganisationen und Exilgruppen ihrer Länder. Ziel der Politik dieser geschäftsführenden Regierungen auf Zeit war es, die Alliierten im Kampf gegen Nazi-Deutschland zu unterstützen und sich dadurch ihr Wohlwollen als Verbündete zu sichern. Weitere Aufgaben waren die Aufrechterhaltung staatlicher Institutionen, die Vorbereitung der Regierungsgeschäfte nach Kriegsende im Heimatland, die Rettung gefährdeter Kulturgüter und die Registrierung und Dokumentation von Kriegsverbrechen der Besatzer. Der Übergang vom Exil in die Heimat gelang der Französischen Exilregierung so reibungslos, dass sie 1945 nach Frankreich zurückkehren und nach demokratischen Wahlen die Regierungsgeschäfte unter General Charles de Gaulle übernehmen konnte. Schwieriger hatten es Exilregierungen, wie die der Polen und die der Tschechoslowakei, deren Länder 1945 zwar von der Okkupation durch die Wehrmacht Hitlers befreit worden, aber in den sowjetischen Hegemonialbereich gefallen waren, wo die Rote Armee das Gewaltmonopol hatte und Stalin willfährige Regierungen einsetzte, die keinen anderen Auftrag hatten als „Volksrepubliken“ zu installieren. Die Polnische Exilregierung lehnte es ab dem Weg zu folgen, den die Tschechoslowakei beschritt. Diese hatte sich schon vor 1945 vertraglich in die Hände Stalins begeben. Die Exilregierung von Edvard Benesch band sich und ihr Land an die Schutzmacht Sowjetunion als Rückversicherung vor den Deutschen. Es hing allerdings nicht nur von Stalin ab, sondern auch von dem Verhalten der Westalliierten, von besonderen politischen Ereignissen und dem Geschick der Exilregierung Polens, ob sie am Ende des Zweiten Weltkriegs noch eine gewisse Rolle beim Neubeginn in Polen spielen konnte oder ins politische Abseits geriet und nur noch ein Schattendasein führte. Darüber wird im Hauptteil noch ausführlich zu berichten sein. 20
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Die Polnische Exilregierung konstituierte sich im September 1939 nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Zweite Polnische Republik zunächst in Paris. Danach folgte ein kurzer Aufenthalt in Angers in der Region Pays de la Loire, bis sie wenige Tage vor der Kapitulation Frankreichs in London, im Stadtteil Chelsea, ihren Sitz fand, von wo sie den Einsatz der polnischen Streitkräfte auf Seiten der Westalliierten leitete. Der Exilministerpräsident Władysław Sikorski war gleichzeitig Oberkommandierender der Exilstreitkräfte und befehligte u. a. die 1. Polnische Grenadierdivision, die 1. Polnische Infanteriedivision und die 1. Polnische Panzerbrigade. Das britisch-polnische Militärabkommen vom 5. August 1940 sicherte Sikorski die Bildung eigener Streitkräfte in Großbritannien und in Polen. So wurde am 29. September 1940 der „Dienst für den Sieg Polens“ gegründet, der Vorläufer der Polnischen Heimatarmee. Wie es im Verhältnis zur Sowjetunion weiterging, besonders nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, würde die Existenzfrage der Polnischen Exilregierung sein.3
Die polnischen Ostgrenzen Die Curzon-Linie war die Demarkationsgrenze zwischen dem neuen Staat Polen und dem bolschewistischen Russland, die nach dem Ersten Weltkrieg, am 8. Dezember 1919, vom britischen Außenminister George Curzon bei den Friedensverhandlungen in Paris vorgeschlagen wurde und als vorläufige polnische Ostgrenze galt. Es sollte eine „Muttersprachengrenze“ sein, die auch Rücksicht auf andere völkische Minderheiten nahm. Russland, welches durch die Oktoberrevolution vorzeitig aus dem Ersten Weltkrieg ausgeschieden war, hatte an den Versailler Verhandlungen nicht teilgenommen. Somit war die endgültige Grenzregelung zwischen der Zweiten Polnischen Republik und dem neuen kommunistischen Staat, der sich von 1917 bis 1922 „Russische Föderative Sowjetrepublik“ nannte (erst danach „Sowjetunion“), noch nicht getroffen worden. Die Sowjets betrachteten Polen als einen von der Entente (Frankreich und Großbritannien) künstlich gebildeten Staat und sahen in ihm eine Brücke in den Westen. Überhaupt waren die unabhängigen Staaten Mittel- und Osteuropas in ihren Augen rebellische russische Westprovinzen, die es wieder zu erobern galt. 21
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Lenin befahl 1919 der West-Armee in den unabhängig gewordenen Staaten Mittel- und Osteuropas sowjetische Regierungen zu bilden und die Revolution bis nach Deutschland und Österreich zu tragen. Diese Absichten waren in Polen seit dem März 1919 bekannt. Die Rote Armee startete Ende März 1919 eine erfolgreiche Offensive auf Wilna und Grodno. Zur Entlastung griffen die Polen entlang der Memel an. Das Kräfteverhältnis betrug ein Ungleichgewicht von 230.000 polnischen Soldaten zu 2,3 Millionen Soldaten der Roten Armee. Es wurde durch eine bessere Militärführung auf polnischer Seite durch Marschall Józef Piłsudski und General Władysław Sikorski, zwei Offiziere mit Weltkriegserfahrung, ausgeglichen. Außerdem hatte die polnische Armee eine effizientere Ausrüstung (moderne Artillerie und Maschinengewehre) und erfreute sich der Unterstützung ukrainischer Nationalisten sowie britischer und französischer Militärkommandos. Unter den französischen Offizieren befand sich der spätere Präsident Charles de Gaulle. In der Fondation Charles de Gaulle wird angemerkt: „De 1919 à 1921, de Gaulle est envoyé en Pologne où il participe à la formation de la nouvelle armée qui lutte victorieusement contre l’Armée rouge.“4 (Übersetzung: „Zwischen 1919 und 1921 wurde de Gaulle nach Polen gesandt, wo er an der Aufstellung der neuen Armee mitwirkte, welche siegreich gegen die Rote Armee kämpfte.“) Außerdem schickte Frankreich die „Blaue Armee“ nach Polen, eine Einheit aus polnischstämmigen Freiwilligen. Nach wechselvollem Kriegsverlauf siegten die Polen am 30. August 1920 bei Warschau und am 20. September 1920 an der Memel. Die Schlacht bei Warschau (vom 14. bis zum 30. August) ging als das „Wunder an der Weichsel“ in die polnische Militärgeschichte ein. Bewirkt hatten es die 4. Armee unter Marschall Piłsudski und die 5. Armee unter General Sikorski. In dieser kämpfte als einfacher Soldat Stanislaw Mikolajczyk. Er lernte auf dem Schlachtfeld seinen späteren Förderer und politischen Mentor Sikorski kennen und wurde in jungen Jahren zu einem der Helden, die am Wunder an der Weichsel mitgewirkt hatten. Als am 18. Oktober 1920 polnische Truppen in die weißrussische Stadt Minsk einrückten, war der Krieg entschieden. Der polnischen Seite ging es in diesem Krieg um die Stärkung der Ostflanke und eine osteuropäische Konföderation unter polnischer Führung. Als Ziel der polnischen Ostgrenze hatte dabei der Verlauf der ehemaligen Ostgrenze am Vorabend der polnischen Teilungen gedient, etwa 250 Kilometer östlich der Curzon-Linie von 1919. 22
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Im Frieden in der lettischen Hauptstadt Riga vom 18. März 1921 stimmten die Sowjets einem Friedensvertrag zu, der Polen erhebliche Gebiete im Osten zusicherte. Die polnisch-sowjetische Grenze verlief nun stellenweise bis zu 250 Kilometer östlich des geschlossenen polnischen Siedlungsgebiets. Es handelte sich um ethnisch heterogene Gebiete, wo Weißrussen, Ukrainer, Litauer und Polen wohnten. Lenin gelang es trotzdem, der Bevölkerung die militärische Niederlage und das Ausbleiben der Revolution in Polen und in Westeuropa als einen Sieg darzustellen. In Polen wurde die beherrschende Stellung des Militärs gefestigt. Im Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 und in dem geheimen Zusatzprotokoll vom 28. September 1939 entsprach die Teilungslinie der Vertragspartner in etwa der Curzon-Linie. Hitler überließ Ostpolen bis zum Fluss Bug der Sowjetunion, erkannte den Vertrag als nicht bindend an und erließ am 18. Dezember 1940 die „Führer-Weisung Nr. 21“, welche unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ den Überfall auf die Sowjetunion in konkreter militärischer Planung enthielt. Die Curzon-Linie B, die 1945 von Roosevelt als Ostgrenze Polens vorgeschlagen wurde, verlief – wie die alte Linie A – vom Südende des Wystiter Sees nach Südosten, kurz vor Grodno nach Süden, zog sich entlang des Flusses Bug, knickte dann nach Südwesten ab und erreichte schließlich den Lupkapass. Diese Nachkriegsgrenze hatte die Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta (vom 4. bis 11. Februar 1945) heimlich mit den Westmächten vereinbart, ohne die Polnische Exilregierung in London und die kommunistische Regierung in Warschau zu beteiligen. Stalin erlebte in Jalta die Genugtuung, dass Churchill die polnische Ostgrenze als dem Völkerrecht entsprechend bezeichnete.5 Der heutige Verlauf der polnischen Ostgrenze entspricht in etwa den Linien A und B, hat aber den Makel, keine Zustimmung der polnischen Exilregierung gefunden zu haben. Außerdem enthält die Grenze einige territoriale Abweichungen nach Westen zugunsten der damaligen Sowjetunion. In den Gebieten östlich der Curzon-Linie und der Ostgrenze von 1921 lebten nach der Volkszählung von 1919 und der von 1936 etwa 25 bis 36 Prozent Polen. Sie wurden nach dem Zweiten Weltkrieg von den Sowjets im Zuge der territorialen Veränderungen und der ethnischen Säuberungen vertrieben.6 23
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Auch gegen die Annexion Litauens, Lettlands und Estlands unternahmen die Westmächte 1945 nichts, obgleich sie – allen voran Großbritannien – als Beschützer der kleinen Länder Ost- und Mitteleuropas, z. B. bei der Geburt der Zweiten Republik Polen, im Jahr 1919 Pate gestanden und ihre Sicherheit vertraglich garantiert hatten. Kann man annehmen, dass die Westmächte sich von den Folgen täuschen ließen, die Stalin in den ostpolnischen Gebieten auslösen würde? Es konnte ihnen über diplomatische Kanäle kaum verborgen geblieben sein, dass die Methoden, welche Stalin hier anwendete, ihren Zielen widersprachen: Deportationen von Klassenfeinden zur Zwangsarbeit nach Sibirien, Einsatz von Marionettenregierungen, manipulierte Abstimmungen, Wahlfälschungen usw. So wurde Jalta zum Sündenfall der Westmächte, dem der nächste in Potsdam im Juli / August 1945 folgen sollte. Die Westmächte verstanden es nicht, aus dem Zweiten Weltkrieg, der im wesentlichen ein Kampf zweier totalitärer Staaten um die Vorherrschaft in Europa war, für die Ideale der Demokratie und der Freiheit entscheidende Vorteile zu ziehen. Auch schlug ihr heimliches Anliegen von 1941 fehl, den einen Diktator mit Hilfe des anderen zu vernichten, wobei die Aussicht bestand, dass der Sieger, durch Kriegsverluste geschwächt, von Eroberungsplänen abgebracht würde und in Zukunft friedliche Pläne verfolgte. Durch die Forderung der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands und die deutsche Teilung verhalfen sie zwar sich selbst, aber auch Stalin zu einem totalen Sieg in Europa, den sie vorher gegen Hitler hatten verhindern wollen. Sie stellten durch ihre Appeasement-Politik (Politik des Nachgebens) im Potsdamer Abkommen die gleiche Situation wie in München 1938 wieder her. Man hatte seitdem keine neuen Erkenntnisse bei der Verhandlung mit Diktatoren gewonnen, was sich bitter rächen sollte. Dabei hatte es die sowjetische Diplomatie von 1941 bis 1945 allerdings glänzend verstanden, durch die Auflösung der Komintern, die Anerkennung der Atlantik-Charta, die Umbenennung des Krieges gegen Hitler in „Großer Vaterländischer Krieg“ und ähnliche taktische Manöver in den demokratischen Staaten des Westens den Anschein zu erwecken, als ob die Sowjetunion in der Nachkriegszeit wieder an die Politik des Zaren Peters des Großen anknüpfen und eine europäische Macht werden wolle. Außerdem war es Stalin darauf an24
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gekommen, die lästige Polnische Exilregierung – die sich immer wieder auf den Vertrag von Riga, die Atlantik-Charta und das Völkerrecht berief, wenn er mit ihr über Grenzfragen verhandeln wollte – zu übergehen, diplomatisch auszuschalten und dem polnischen Volk das Gefühl zu geben, dass es nicht durch die Westmächte, sondern durch die Sowjetunion von den Deutschen befreit worden sei. Dadurch habe die Sowjetunion das Recht erhalten, durch eine ihr genehme Regierung die Nachkriegsordnung in Polen und den befreiten Ländern Ost- Mitteleuropas zu organisieren.7
Begriffsklärungen Die kommunistische Internationale (Komintern) war als internationaler Zusammenschluss der kommunistischen Länder zu einer weltweiten Organisation im Jahr 1919 von Lenin gegründet worden. Ziel war die Weltrevolution. Am 10. Juni 1941 wurde die Komintern auf Veranlassung Stalins mit der Begründung aufgelöst, dass sich Moskau prinzipiell nicht mehr in das Leben anderer Staaten einmischen werde. Bei Historikern gilt die Auflösung als ein Zugeständnis Stalins an die Westalliierten, auf deren Unterstützung er nach dem Überfall Hitlers angewiesen war.8
Der „Große Vaterländische Krieg“ Nach dem Angriff Hitlers auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 („Unternehmen Barbarossa“) erklärte Stalin den Krieg zur Abwehr des Aggressors, stellvertretend für alle slawischen Völker, zum Großen Vaterländischen Krieg. Er knüpfte damit geschickt an den Ersten Vaterländischen Krieg von 1914 bis 1918 gegen Deutschland an und damit an die Tradition der Zarenzeit und ihre panslawischen Ideen in der Außenpolitik. Die 12 Bände zu diesem Thema, die das Zentralkomitee der KPdSU am 17. September 1957 in Auftrag gab, erschienen auch in anderen Ländern des Ostblocks, in der DDR zwischen 1962 und 1968, und dienten Parteifunktionären, Historikern und Geschichtslehrern als Richtschnur ihres Handelns bei Streitfragen.9
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Die Atlantik-Charta Die Atlantik-Charta vom 14. August 1941 war eine gemeinsame Erklärung der damaligen Regierungschefs der USA und Großbritanniens zu den Grundsätzen internationaler Politik nach dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion. Unter den acht Punkten wurden der Verzicht auf territoriale Expansion, der gleichberechtigte Zugang zum Welthandel und den Rohstoffen, der Verzicht auf Gewaltanwendung, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Liberalisierung des Handels (Freihandelszonen), die Freiheit der Meere und die Vernichtung der Nazi-Tyrannei postuliert. Die Charta wurde zur Basis für die Gründung der UNO, besonders die Punkte zur Beachtung des Völkerrechts und der Selbstbestimmung der Völker. Am 24. September 1941 unterzeichnete die Sowjetunion die Atlantik-Charta und erkannte sie an.
Urteile über den Wirkungsgrad historischer Individuen Hitler „ Jede Definition des Nationalsozialismus oder des von ihm begründeten Herrschaftssystems, die Hitlers Namen nicht enthält, verfehlt die Sache im Kern. In einem der Geschichte bis dahin unbekannten Grade war er, von den kümmerlichen Anfängen in Abb. 1: Hitlers Augen Beiseln (kleinen Kneipen) und Hinterstuben bis zur Herrschaft über einen großen Teil der Welt, alles aus sich selbst und alles in einem: Lehrer seiner selbst, Organisator einer Partei und Schöpfer ihrer Ideologie, Taktiker und demagogische Heilsgestalt, Führer, Staatsmann und während eines Jahrzehnts Bewegungszentrum der Welt.“10
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Hitler wusste – wie Stalin –, dass die Mobilisierung einer Millionenbewegung nicht einer vernünftigen Idee bedarf, sondern bestimmten Bedingungen in Notzeiten, um Enthusiasmus und bedingungslose Hingabe bei den willigen Helfern zu wecken. Hitler verstand es auch mit einem gewissen Selbstmitleid, sich als Opfer der Geschichte darzustellen und dadurch während seiner Reden bei den Zuhörern Rausch, totale Hingabe, Mitleid und Todesbereitschaft zu wecken. Man weiß aus seiner Umgebung, dass er schon als Propagandist im Jahr 1923 seine Reden vorher stundenlang vor dem Spiegel einstudierte und Gesichtsausdruck, Augenrollen, Stimmlage und Armbewegungen so lange korrigierte, bis er damit zufrieden war.
Das Münchener Abkommen vom 29. September 1938 Im Münchener Abkommen vom 29. September 1938, in dem der britische Premierminister Neville Chamberlain und der französische Ministerpräsident Edouard Daladier ihre Zustimmung zur Eingliederung des Sudetenlandes in das Deutsche Reich gaben – angeblich, um das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu erfüllen –, sehen Historiker den „Sündenfall“, der Hitlers Eroberungspolitik den Weg ebnete. Das Ergebnis der Verhandlungen war ein Triumph seiner Überzeugungskraft und ein Beispiel für spätere Politiker, wie man mit Diktatoren nicht verhandeln soll, nämlich verständnisvoll und nachgiebig. Obwohl im Abkommen nicht vereinbart, bedeutete es faktisch das Ende der 1918 gegründeten multinationalen Tschechoslowakei, die am Abkommen gar nicht beteiligt war, die Teil-Revision des Abkommens von St. Germain, was die Grenzen zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei betraf, und den Beginn einer Appeasement-Politik des Westens, der glaubte, mit dem Münchener Abkommen Hitlers Anschlusspläne an das Reich in endgültiger Weise erfüllt zu haben, so dass der drohende Überfall auf Polen und damit der Zweite Weltkrieg verhindert werden könnte. Es sollte genau ein Jahr dauern, bis das Gegenteil eintrat.
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Stalin Stalin besaß eine persönliche Anziehungskraft, der sich kaum ein Gesprächspartner entziehen konnte. Diese Ausstrahlung war völlig losgelöst von seinem politischen Handeln. Dabei verfügte Stalin – je nach Situation, Thematik und Bedeutung der Gesprächspartner – über ein Repertoire an Mimik, Gestik und Tonlagen, welches dem eines großen Schauspielers gleichkam. Er war ein Naturtalent und konnte sich spontan inszenieren: Vor bedeutenden Gästen (Roosevelt, Churchill) spielte er den gut Gelaunten, lachte laut, sprach mit tönender Stimme, unterbrochen von Umarmungen und Bruderküssen. Der gutmütige russische Bär tanzte! Bei weniger wichtigen Partnern, wie etwa bei den Besuchen der polnischen Exilministerpräsidenten Sikorski und Mikolajczyk in Moskau, war er derjenige, der wenig Zeit hatte, der von seinen Aufgaben im Vaterländischen Krieg Geplagte, leise und stockend sprechend, nachdenklich, ungeduldig, sprunghaft in der Gesprächsführung und schließlich offen zeigend, dass der Gesprächspartner ihn langweilte und die Audienz nun beendet sei. Zurück blieben bei den Gästen Verwirrung und Enttäuschung. Stalin war – wie Hitler – ohne jegliche moralische Prinzipien, er verfügte über keinerlei Normen und Hemmungen. Auf diese Weise konnte er seine Ziele zäh und unerbittlich verfolgen. Es ging ihm um persönliche Macht Abb. 2: Stalins Augen und um die Realisierung eines Sozialismus, den er als religiöse Umformung der kapitalistischen Welt verstand. Auf dem Weg dahin sollten alle, die sich diesen Zielen widersetzten, vernichtet werden. Die Ergebnisse seiner Vernichtungsfeldzüge waren erschütternd. Wie Hitler hatte er eine besondere Tendenz zur metaphysischen Wahrnehmung und fühlte sich vom Schicksal zum Vollstrecker diabolischer und nicht endender Massenmorde berufen, die bei den Zeitgenossen Panik und Entsetzen auslösen sollten. Stalin kannte aus seiner in der Jugend erhaltenen religiösen Ausbildung auch den christlichen Grundsatz, dass man sich dem Bösen nicht widersetzen soll. Laut Jeremia (AT, Jeremia 38,2, 3, 17, 18) schenkt Gott dem, der sich dem Bösen 28
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nicht widersetzt, das Leben. Die Kenntnis der alttestamentarischen Propheten benutzte Stalin als psychische Möglichkeiten (Psychoterror, Gehirnwäsche), um seinen oft christlich geprägten Freunden und Feinden nach und nach die Seelen zu rauben und sie zu beherrschen.11 Am 28. Dezember 2008 veröffentlichte die „Kleine Zeitung“ des staatlichen Fernsehsenders „Rossija“ in Moskau Fakten zur Abstimmung „Historische Wahl 2008“, wonach Stalin einer der heißen Anwärter auf den Titel „Beliebteste Persönlichkeit in Russland“ sei. Seine Beliebtheit erklärten die Sympathisanten damit, dass er im Zweiten Weltkrieg die Sowjetunion erfolgreich gegen den Angriff der deutschen Wehrmacht verteidigte und dass die Sowjetunion unter Stalin zu einer Supermacht und Industrienation ersten Ranges geworden sei. Vor allem jüngere Russen, so berichtete die Zeitung, hätten bei der Abstimmung von der grausamen Kehrseite der stalinistischen Herrschaft keine Ahnung gehabt. Ein Armutszeugnis für Geschichtsbücher, Geschichtsunterricht und Geschichtskenntnisse in Russland! Dazu passt die Mitteilung am Ende des Artikels der „Kleinen Zeitung“, dass eine der beliebtesten Persönlichkeiten des Jahres 2007 in Russland Zar Nikolaus II. gewesen sei. Vielleicht wissen wenigstens einige gebildete russische Offiziere aus dem Studium der Militärgeschichte, dass Stalin als Befehlshaber einer Armee-Einheit im Jahr 1920 im polnisch-sowjetischen Krieg vor Lemberg so kläglich versagte, dass Lenin ärgerlich wurde, ihn abberief und nur noch als Politkommissar bei der Armee einsetzte.12 Leider wurde die Beschwichtigungspolitik der Westmächte gegenüber Stalin fortgesetzt und sollte sowohl in Jalta als auch in Potsdam zu verheerenden Folgen führen, die zwar nicht den Dritten Weltkrieg bedeuteten, aber den „Kalten Krieg“. Stalin hatte die Ergebnisse der Konferenzen als Einladung der Westmächte interpretiert, die Neuordnung Ost- und Mitteleuropas so vornehmen zu dürfen, wie er es für richtig hielt.
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Das Böse Im 20. Jahrhundert kamen drei Mal so viele Menschen durch kriegerische Ereignisse ums Leben wie in den 2.000 Jahren davor, obwohl wir einerseits aus den Fehlern der Geschichte gelernt haben, andererseits aber die individuelle Gewaltanwendung und das legale und / oder illegale staatliche Töten zum Alltag gehören. Die Suche nach den Gründen für das böse Handeln führt zu der Frage, ob Erfahrungen aus der Frühzeit des Menschen, wo jedes Mittel zum Überleben recht war, noch heute in unseren Genen und Gehirnen gespeichert sind. Leben wir also in der Gegenwart weiter als prähistorische Jäger, deren Verhalten in Gemeinschaften (Sippen) durch die Gefühle der Angst, das Leben zu verlieren, und durch die Gewalt gegen andere Menschen gekennzeichnet war? Obwohl der Homo sapiens über ein Bewusstsein verfügt, das es ihm ermöglicht seine Taten zu reflektieren – verstärkt durch sittliche Gebote und Gesetze, die hinzugekommen sind –, haben Krieg, Mord, Raub und Vergewaltigung offenbar ihre Wurzeln in den Erfahrungen der Urmenschen. Dieser interessanten Fragestellung geht Hans Günther Gassen ( Jahrgang 1938), ehemaliger Professor für Biochemie an der Technischen Universität Darmstadt, in seinem Buch „Wie das Böse in unsere Köpfe kam“ nach und verknüpft sie mit wissenschaftlichen Belegen über die Zusammenhänge zwischen Evolution, Hirnforschung, Physiologie, Psychologie und Ethik. Daneben behandelt er auch die Aberrationen, die pseudo-wissenschaftlichen Ideen von Scharlatanen, welche die Schöpfungsgeschichte neu erfanden und in die Köpfe der Gläubigen setzten. In ihnen verbreiteten sie sich geradezu epidemisch und bewirkten furchtbare Dinge. Hans Günter Gassen zeigt das an den Beispielen von Stalin und Hitler.
Stalin und die Epigenik Der ukrainische Agronom Trofim Denissowitsch Lyssenko versuchte während der Stalinzeit die Vererbung erworbener Eigenschaften bei Nutzpflanzen zu beweisen, indem er temperaturempfindlichen Weizen in kalten Gebieten, in der Tundra und Sibirien, anpflanzen ließ. Nach seiner Theorie sollten die Pflanzen in kurzer Zeit lernen, mit der Kälte umzugehen. Schon die nächste 30
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Weizengeneration sei dann kälteresistent. Obwohl infolge der Ernteausfälle durch diese skurrile Anbaumethode große Hungersnöte in der Sowjetunion entstanden, beharrte Lyssenko auf der Richtigkeit seiner Vorstellungen. Seine Theorien waren bei Stalin beliebt, weil er glaubte, dass Bürger, die kommunistisch indoktriniert waren, ihre Begeisterung für den Kommunismus an ihre Nachkommen vererben würden. In nur einer Generation würden linientreue Parteigänger geboren. Die Geschichte nach Stalin bewies das Gegenteil.13
Hitler und die Theozoologie Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954) war ein österreichischer Geistlicher, Antifeminist, Hochstapler, Antisemit und Rassentheoretiker. Er behauptete von sich, dass er der Mann gewesen sei, der Hitler seine Ideen gab. Mit der Zeitschrift „Ostara“, die er ab 1905 in Wien herausgab, versuchte er, Anhänger zu finden. Es ist nicht auszuschließen, dass Hitler während seiner Wiener Zeit ein Leser der „Ostara“ war, da Gedankengänge von Lanz in seinem Werk „Mein Kampf “ zu finden sind. In seiner Abhandlung über die „Theozoologie“ erklärte Lanz die Arier zu Nachkommen der biblischen Engel, die restliche Menschheit zu kümmerlichen Abkömmlingen einer geschlechtlichen Verbindung zwischen der biblischen Eva und einem domestizierten Primaten (Halbmenschen). Er sah die Urgermanen nicht mehr als „Übermenschen“ an, sondern bezeichnete sie als „Gottmenschen“. Als konkrete rassenhygienische Maßnahmen propagierte Lanz u. a. die Einrichtung von Zuchtkolonien für ausgewählte arische Zuchtmütter, deren einzige Lebensaufgabe darin bestand, von ausgewählten arischen Lebenshelfern begattet zu werden. Die Verbindung sollte einwandfreien arischen Nachwuchs garantieren. Verbrecher, Geisteskranke, erblich Kranke, Rassenminderwertige und Juden seien zu sterilisieren und am besten in Arbeitslagern festzusetzen (zu isolieren). Theodor Fritsch (1852–1933) war ein Publizist, Verleger, Antisemit und häufiger Gefängnisinsasse, der Hitler ein weiteres Konzept für seine Rasselehre lieferte. In seinem in Leipzig gegründeten Hammer-Verlag erschienen von 1902 bis 1940 zahlreiche antisemitische Schriften. Der Würzburger Historiker Peter Fasel stellte in der „Zeit“ 2013 seine Publikationen vor und kommentierte sie.14 31
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Schon 1901 hatte Fritsch, zusammen mit dem „Rassehygieniker“ Willibald Hentschel, das Buch „Varuna“ publiziert, in dem die Veredelung der Deutschen durch Rassezucht propagiert wurde. Die arischen Deutschen müssten sich gegen die Juden zusammenschweißen und zur Volksgemeinschaft transformieren. Im „Handbuch der Judenfrage“ (1907) bezeichnete Fritsch die Juden als Agenten und Nutznießer der Moderne. Sie würden den Mammon zum beherrschenden Element ihrer Weltanschauung machen. Auf diese Weise sei die bodenständige gutdeutsche Kultur immer mehr dahingeschwunden. Im Jahr 1904 war die Zeitschrift „Hammer“ erschienen, aus der 1912 der „Reichshammerbund“ hervorging. In den „Hammer“-Schriften bezeichnete Fritsch die Juden als eigene Spezies, die durch eine böse Macht, den „Schattengott“, geschaffen worden sei. Deshalb besäßen die Juden auch dämonische Kräfte, die man teuflisch nennen könne. Der dämonische Gott der Juden, so dozierte Fritsch, sei in Wahrheit klein und erbärmlich wie die Juden selbst, ein Jämmerling, der besiegt werden könne. Hitler ließ dem Agitator und Hetzer, der 1933 starb, in Berlin ein Denkmal errichten, das einen Germanen zeigt, der mit einem Hammer das jüdische Ungeheuer erschlägt. Beim Begräbnis von Fritsch am 8. September 1933 vertrat Innenminister Wilhelm Frick, ein Nazi der ersten Stunde, das Regime mit einer Ehrenwache der SA.15 Die Verbrechen im „Dritten Reich“ zeigten dann, dass solche Überlegungen zur Ermordung von sechs Millionen Juden in Arbeits- und Konzentrationslagern, zur Vernichtung des sogenannten „lebensunwerten Lebens“, zur Sterilisierung von 400.000 Menschen, zur sogenannten „Arisierung des Ostraums“ und zur Organisation des „Lebensborns“ beigetragen hatten. Der Lebensborn war ein Projekt Heinrich Himmlers, das sich an den bevölkerungspolitischen Grundsätzen der Nationalsozialisten orientierte. Die Organisation war im Sinne der Fürsorge für ledige Mütter bemüht, um die Zahl der Abtreibungen in Deutschland zu reduzieren. Allerdings wurden nur ledige Schwangere aufgenommen, die den rassenhygienischen Ansprüchen der NSDAP entsprachen. Das erste Heim wurde 1936 in Steinhöring in Oberbayern errichtet. Himmler forderte für die Organisation finanzielle Mittel von der Wehrmacht mit der Begründung, dass „durch diese bevölkerungspolitische 32
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Maßnahme in 20 Jahren 18 bis 20 Regimenter mehr marschieren werden“. Infolge der Kriegsvorbereitungen vergrößerte sich die arische Elite auf diesem außerehelichen Weg nur mäßig. Bis 1939 kamen in den Lebensborn-Heimen lediglich 800 Kinder zur Welt.16
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Fußnoten 1
Salmonowicz, Stanislaw: Preußen, Geschichte von Staat und Gesellschaft, Stiftung MartinOpitz-Bibliothek, Herne 1995, S. 27 ff. 2 Kopp, Eduard: Artikel „Auswandern? Das wäre feige Flucht“, Carl von Ossietzky, in: Charismon, Das evangelische Magazin, Juli 2013, S. 37 3 Brandes, Detlef: Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939 – 1943, Veröffentlichungen des Collegium Carolinum Bd. 50, Verlag Oldenbourg, München 1988, S. 25 ff. Gyger, Marianne: Im Spannungsfeld zwischen Großmächten und Untergrundbewegung. Die Polnische Exilregierung in London während des Zweiten Weltkrieges, Berner Forschungen Bd. 2, Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2005 4 La Fondation Charles de Gaulle, Charles de Gaulle et la première guerre mondiale – biographie de 1914 à 1924, Charles-de-Gaulle. org 5 Gause, Fritz: Deutsch-Slavische Schicksalsgemeinschaft, 3. Auflage, Holzner-Verlag, Würzburg 1967, S. 296 6 Trotzki, Leo: Mein Leben, Versuch einer Autobiographie, übersetzt von Alexandra Ramm, S. Fischer Verlag, Berlin 1929 Kaminev, S.: Unser Krieg mit dem Weißen Polen, Russische Korrespondenz, Jahrgang 3, Bd. 2, Nr. 7 –10, Juli - Oktober 1922, SS. 578 - 596 7 Gause, Fritz: Deutsch-Slavische Schicksalsgemeinschaft, a.a.O., S 298 f. 8 Leonhardt, Wolfgang: Völker hört die Signale, Verlag Bertelsmann, München 1989 9 Loleatis, Siegfried: Die DDR-Geschichtswissenschaft als Forschungsproblem, Verlag Oldenbourg, München 1998 10 Winzen, Peter (Hrg.): Persönlichkeiten und Strukturen in der Geschichte, Verlag Klett,
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Stuttgart 1965, Artikel von Joachim Fest, S. 43 ff. Schmidt, Rainer: Appeasement oder Angriff?, in: Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert, Franz Steiner Verlag, Essen 2002, SS. 220 - 232 Rossija: Amtliches staatliches Fernsehen in Russland, Historische Wahl 2008, Stalin heißer Anwärter auf beliebteste Persönlichkeit Russlands, aktualisiert am 28. Dezember 2008 Bonwetsch, Bernd: Was wollte Stalin? , in: Blätter für deutsche und internationale Politik 1989, Nr. 6, SS. 687 – 695 Weller, Marc-Philippe: Vertragstreue – Vertragsbindung, Verlag Mohr – Siebeck, Tübingen 2009 Gassen, Hans Günter: Mörderisches Erbe, Wie das Böse in unsere Köpfe kam, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Literarium, Darmstadt 2013, S. 76 f. Fasel, Peter: Netzwerke des Wahns, in: „Die Zeit“, Nr. 46, Geschichte, 7. November 2013, S. 21 Albanis, Elisabeth: Anleitung zum Hass, Theodor Fritschs antisemitisches Geschichtsbild, Klartext Verlag, Essen 2009, SS. 161-191 Herzog, Andreas: Das schwärzeste Kapitel der Buchstadt vor 1933, Leipziger Blätter, Jahrgang 30, Leipzig 1997, SS. 56-59 Gassen, Hans Günter: Mörderisches Erbe, a.a.O., S. 116 f.
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Kapitel 1 Die Eltern – Arbeit im Westen
Von Benice nach Holsterhausen Die Angaben von Stanislaw Mikolajczyk sind in den „Memoiren“, wie ich im Folgenden seine Schrift im Exil von 1948 nun nennen will, sehr spärlich. So schreibt er in den zwei Anmerkungen, die seinen Vater betreffen: „Mein Vater, der fünfzehn Geschwister hatte, war auf einem kleinen Bauerngut in Westpolen geboren worden. Er verließ die eigene Scholle und suchte Arbeit in den Kohlenbergwerken Westdeutschlands.“1 Nach seiner Flucht erwähnt er unter dem 21. Oktober 1947, dass er mit einer Fahrkarte, ausgestellt von Warschau nach Lissa, unterwegs war und in Ostrow umsteigen musste. Kurz vor Krotoschin verließ er auf einer kleinen Station vorzeitig den Zug: „Ich befand mich jetzt in vertrauter Gegend. Hier war mein Vater geboren worden, und ich selbst hatte als Kind hier gelebt. Die Gefahr, dass man mich hier erkennen könnte, war im Posenschen größer als anderswo, dafür aber kannte ich hier jeden Weg und Steg, was ein nicht zu unterschätzender Vorteil war.“2 Über seine Mutter erwähnt Mikolajczyk lediglich, dass sie 1947 noch lebte und sich in einem Krankenhaus in Posen befand.3 Der Vater war schon früh verstorben, wahrscheinlich bald nach 1920. Die wenigen Angaben – weitgehend ohne Namensnennung und genaue geographische Hinweise – sind verständlich, weil Mikolajczyk Freunde, Verwandte und Helfer nach seiner Flucht vor der Willkür der Kommunisten schützen wollte. Krotoschin (polnisch: Krotoszyn) in der damaligen Provinz Posen ist heute eine Stadt von ca. 30.000 Einwohnern. Der Ort besitzt die Stadtrechte seit dem Jahr 1415. Ende des 19. Jahrhunderts hatte der Ort etwa 4.000 Einwohner. Wahrscheinlich wohnte Stanislaw Mikolajczyk mit seiner Mutter noch in der 35
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Nähe von Krotoschin, in dem acht Kilometer entfernten Dorf Benice, nachdem er mit ihr 1908 zurückgekehrt war, während der Vater noch bis 1912 auf der Zeche Shamrock III / IV blieb. Wenige Jahre später erfolgte der Umzug auf einen eigenen Bauernhof in Striesen im Landkreis Gnesen. Warum die Familie letztlich in die Heimat zurückkehrte, erwähnt Andrzej Paczkowski in seinem Buch über Stanislaw Mikolajczyk überzeugend: Der Vater hatte 1907 einen schweren Arbeitsunfall, der ihm eine weitere Arbeit als Hauer unter Tage nicht mehr ermöglichte, sondern nur noch den Einsatz über Tage. Das änderte die gesamte Lebensplanung der Familie. Die Mutter kehrte mit dem knapp siebenjährigen Sohn nach Benice zurück, kaufte von den Ersparnissen des Vaters einen sechs Hektar großen Bauernhof und arbeitete dort, während der Vater noch vier Jahre in Holsterhausen blieb. Er nutzte die Zeit, um eine innerbetriebliche handwerkliche Ausbildung zu machen, da er wusste, dass er den schweren bäuerlichen Arbeiten nach seiner Rückkehr nicht gewachsen war. Die Zeche Shamrock III / IV bot folgende Möglichkeiten an: die Ausbildung zum Elektriker, zum Schlosser und zum Schreiner. Wahrscheinlich ließ sich Stanislaw Kostka zum Schlosser ausbilden, weil er sich damit bei der Wartung und Reparatur von landwirtschaftlichen Geräten in Striesen nützlich machen konnte. Sein Monatslohn als Hauer hatte 130 Mark betragen; seine Invalidenrente, die er bis zum Lebensende bezog, betrug etwa 30 Prozent davon, als ca. 40 Mark.4 Zusammen mit den mir vorliegenden Dokumenten des Standesamts Eickel (heute aufbewahrt im Stadtarchiv Herne) und des Sekretariats von St. Marien an der Herzogstraße in Eickel vom Jahr 1901 ergibt sich folgendes – wenn auch lückenhaftes – Bild von den Eltern: Um 1895 verließen Stanisław Kostka Mikołajczyk, ein Bauernsohn aus dem Dorf Benice (Kreis Krotoschin) südöstlich der Provinzhauptstadt Posen gelegen, und seine Ehefrau Sophia, geborene Parysek, ihre Heimat, um in Holsterhausen in Westfalen Arbeit und eine Zukunftsperspektive zu finden. Holsterhausen, eine Bauernschaft, ist benannt nach althochdeutsch „holt“, was sowohl den Werkstoff Holz als auch seine Bearbeitung bezeichnet. Demnach bedeutet das zusammengesetzte Wort „Siedlung im Wald“. Diederich von Steinen, der erste Verfasser der Westfalengeschichte, beschreibt die Bauernschaft folgendermaßen: „Holsterhausen liegt links von der Straße, welche von Herne nach Wesel führt. Diese Bauernschaft, welche zum Gericht Eickel gehört, ist 36
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zwar zum Teil zu Eickel, zum größten Teil aber zu Herne kirchlich zugeordnet.“5 Von 1808 bis 1813 gehörte die Bauernschaft zur Mairie Herne im Ruhrdepartement Bochum und ab 1844 zum Amt Herne im Landkreis Bochum. Ab dem 1. November 1891 gehörte Holsterhausen zum neuen Amt Eickel. Am 1. April 1926 wurde die neue Stadt Wanne-Eickel gebildet und Holsterhausen eingemeindet. Die Notwendigkeit zum Aufbruch nach Westfalen bestand in der Familiengröße mit 16 Kindern auf dem Hof der Mikolajczyks, die nur mühsam zu ernähren waren, und dem Fehlen von Arbeitsangeboten auf dem Lande. Den beiden Auswanderern schlossen sich die noch unverheiratete Viktoria Parysek, die Schwester der Mutter und spätere Taufpatin des kleinen Stanislaw, an, dazu kamen weitere (nicht bekannte) Männer aus der Verwandtschaft.
Der Zechensiedlungsbau in Wanne-Eickel und Herne von 1871 bis 1910 Die für den Industrialisierungsprozess notwendigen Arbeitskräfte standen in den dünn besiedelten Regionen des nördlichen Ruhrgebiets, dem Emscherraum, wozu Holsterhausen gehörte, nicht zur Verfügung und mussten zunächst aus der Umgebung (Münsterland / Ostwestfalen) und später aus den preußischen Ostprovinzen (West- und Ostpreußen, Pommern, Schlesien) und dem Ausland gewonnen werden. Der Zustrom der Arbeitskräfte bewirkte ein rasantes Wachstum der meist noch dörflich strukturierten Ortschaften. Die Einwohnerzahl von Herne stieg von 1871 bis 1910 von 5.765 auf 57.147 Einwohner, die von WanneEickel im gleichen Zeitraum von 6.889 auf 86.521 Personen. Der Zuwachs schuf eine gravierende Wohnungsnot. Die kleinen Kommunen waren wegen ihrer Finanzschwäche nicht in der Lage, eine aktive Boden- und Wohnungspolitik zu betreiben und den Neubürgern preiswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Daher waren die Bergbauunternehmen gezwungen, selbst Wohnbaupolitik zu betreiben, wenn sie Arbeiter warben und dauerhaft an die Zechen binden wollten. So entstanden in der Nähe der Schachtanlagen die charakteristischen Siedlungen, die man „Kolonien“ nannte. In lockerer Bebauung und fast immer mit kleinen Gärten und Stallungen ausgestattet, ermöglichten die Kolonien den 37
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überwiegend aus ländlichen Gegenden zugewanderten Bergleuten ihren Lohn durch Gemüseanbau und Kleintierhaltung aufzubessern und ihre gewohnte Lebensweise in der Fremde beizubehalten. Allerdings erschwerte die preußische Regierung durch das Gesetz über die Verteilung der öffentlichen Lasten bei der Anlage neuer Siedlungen vom Jahr 1876 den Siedlungsbau, denn die Bauherren wurden verpflichtet, bei der Errichtung neuer Siedlungen außerhalb bestehender Ortschaften, die Kosten für Straßen, Kanalisation, Versorgungseinrichtungen, Schulen und Kirchen zu übernehmen. Im Bergrevier Herne gab es im Jahr Lebenshaltungskosten im Ruhrgebiet um 19006 1900 ca. 8.500 Bergleute mit eigenem 1 kg Schweinefleisch 1,50 Mark Haushalt, von denen die Mehrzahl in 1 kg Pferdefleisch 0,50 Mark Zechenhäusern wohnte. In den Zwei1 Zentner Kartoffeln 2,50 Mark oder Vierfamilienhäusern war die zu1 l Bier 0,24 Mark sätzliche Belegung durch Schlaf- und 1 l Milch 0,20 Mark Kostgänger verbreitet und brachte den 1 kg Roggenbrot 0,23 Mark Wohnungsbesitzern zum monatlichen 1 kg Weizenmehl 0,36 Mark Lohn zusätzliche Mieten ein. Dadurch 1 kg Butter 1,86 Mark entstand ein relativer Wohlstand. Er 1 kg Zucker 0,65 Mark schaffte ein gesichertes Einkommen, 1 kg Kaffee 4,15 Mark sesshafte Stammbelegschaften und 1 Mandel Eier (15 Stück) 0,73 Mark verhinderte den häufigen Arbeitsplatzwechsel. Dieser wurde auch dadurch erschwert, weil es kaum öffentliche Verkehrsmittel gab und ein anderer Arbeitsplatz zumeist die mühsame Suche nach einer neuen Wohnung bedeutete. Die Gestaltung der Zechensiedlungshäuser um 1900 war bereits standardisiert: Üblich wurden das Vierfamilienhaus auf der Basis eines Kreuzgrundrisses, der „Vierspänner“, und das Zweifamilienhaus, der „Zweispänner“. Für jede Familie gab es einen separaten Wohnungseingang mit Flur. Jedes Haus war vollständig unterkellert und bot vier Familien Wohnraum. Jede Wohnung hatte fünf Zimmer mit insgesamt 81,5 m² auf zwei Etagen. Die Toilette befand sich im Haus, der Stall war an das Haus angebaut. Über ihm befanden sich Zimmer, geeignet zur Aufnahme erwachsener Söhne oder von Kostgängern. Jede Wohnung besaß einen Anschluss an die öffentliche Wasserleitung, ein ausgedehntes Rohrsystem diente zur Abwasserentsorgung. Außerdem hatte jede Familie ein Stück Garten zur eigenen Nutzung. 38
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Die Wohnungsmieten im Wohnungsbau der Werke waren deutlich niedriger als auf dem freien Wohnungsmarkt. Eine Zechenwohnung kostete ungefähr die Hälfte der üblichen Miete auf dem freien Markt, durchschnittlich 15 bis 20 Mark pro Monat. Trotzdem hatten die Zechenwohnungen eine höhere Wohnqualität und Ausstattung als der private Wohnungsbau für Arbeiter. Die Aufnahme in die Familie als Kostgänger bedeutete für viele junge unverheiratete Bergleute einen Ersatz für die eigenen Eltern und das vertraute Zuhause. Die Kostgänger wurden in die Gemeinschaft der Familie integriert, sie arbeiteten auf derselben Zeche wie der Wohnungsinhaber und die anderen Männer der Siedlung. Man verbrachte bei Musik, Tanz und Kartenspiel den Feierabend zusammen und feierte Feste. So bildeten sich in den Zechenkolonien Kommunikations- und Sozialstrukturen heraus, die gemeinsame Interessen formten und die politische und gewerkschaftliche Solidarität der Arbeiterschaft begünstigten. Noch heute gibt es eine hohe Identifikation der Bewohner mit ihren Kolonien. Daran hat sich – trotz der voranschreitenden Auflösung des traditionellen Milieus – nur wenig geändert.
Die Arbeitsstätten von Stanisław Kostka Mikołajczyk
Abb. 3: Zeche Shamrock I / II 39
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Stanisław Kostka Mikołajczyk hatte das große Glück, in Holsterhausen auf den modernsten Zechen zu arbeiten, die es am Ende des 19. Jahrhunderts im nördlichen Ruhrgebiet gab. Es waren Shamrock I / II an der Holsterhauser Straße zwischen Holsterhausen und Herne-Süd und die jüngere Schwesterzeche Shamrock III / IV an der Dorstener Straße zwischen Holsterhausen und Wanne. Das Moderne betraf nicht nur die neueste Technik beim Abteufen von Tiefbauschächten von mehr als 100 Metern, sondern auch die Unternehmensorganisation, die Menschenführung und die innerbetriebliche Ausbildung. Zu verdanken war das dem Unternehmer Ludwig van Oven aus Gelsenkirchen, der am 27. August 1847 die Mutungsrechte (Schürfrechte) für die Grubenfelder „Ludwigsglück“ und „Christianenglück“ in der Nähe des heutigen Hauptbahnhofs Gelsenkirchen erworben hatte. Da er von der Beschaffenheit des Steinkohlengebirges, den technischen Möglichkeiten des Abteufens und der Rentabilität eines Bergwerks keine Ahnung hatte, holte der durch Vermittlung des Brüsseler Kaufmanns Coor van der Maeren und seines Freundes Ignaz Ahls, eines Tierarztes, der in Brüssel studiert hatte und seit der Zeit van der Maeren gut kannte, kapitalkräftige englische und irische Unternehmer (Investoren) und Bergbauspezialisten nach Gelsenkirchen.
Abb. 4: Zeche Shamrock I / II mit Gleisanschluss um 1914
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Bei mehreren Besuchen in London fanden die beiden Prospektoren den Mann, der nicht nur Gelsenkirchen, sondern auch Wanne-Eickel, Holsterhausen und Herne innerhalb weniger Jahrzehnte vom beschaulichen dörflichen Schlaf in das Industriezeitalter führen sollte: den Vermessungsingenieur William Thomas Mulvany. Er war der Sohn des Professors Thomas James Mulvany, des Direktors der Royal Hibernia Academy in Dublin. William Thomas, sein ältester Sohn, wurde Landvermesser im irischen Vermessungsamt. Als Ingenieur in der Abteilung Be- und Entwässerung hatte er die Gelegenheit, neben technischen Belangen auch die sozialen Fragen der Nutzbarmachung freier Arbeitskräfte, ihren optimalen Einsatz bis hin zur Arbeitslosenunterstützung kennen zu lernen. Ihm waren die unternehmerischen Seiten und die der Arbeiter bei Betriebsabläufen bestens vertraut. Nach 27-jähriger Tätigkeit wurde er aus dem irischen Staatsdienst wegen fehlender Einsatzmöglichkeiten entlassen und war deshalb sofort bereit, als von der Maeren und Ahls ihn darum baten, nach Gelsenkirchen zu kommen und im Jahr 1853 die Ovenschen Kohlenfelder zu begutachten. Mulvany erkannte nach sorgfältiger Prüfung die Möglichkeiten einer Erschließung der gewaltigen Kohlenschätze und kehrte zunächst wegen der Beschaffung von Kapital nach Irland zurück. Schon ein Jahr später kam er mit einigen unternehmungsbereiten Pionieren von der Grünen Insel und Facharbeitern (Spezialisten) nach Westfalen. Die Mutungsfelder wurden aufgekauft. Am 7. März 1855, St. Patrick’s Day, dem irischen Nationalfeiertag, wurde feierlich der erste Spatenstich zum ersten Tiefbauschacht im nördlichen Ruhrgebiet ausgeführt. Die Gründer und Besitzer waren dieselben wie ein Jahr später bei Shamock I / II an der Holsterhauser Straße: Schiff sreeder Joseph Malcomson aus Mayfield, Fabrikant William Malcomson aus Portland, Kapitalanleger William Thomas Mulvany (seit 1855 wohnhaft in Düsseldorf ), Kaufmann Coor van der Maeren aus Brüssel, Kaufmann David Malcomson aus Mayfield, Kapitalanleger James Perry aus Kingston und Privatier James Perry sen. aus Dublin. Zum Repräsentanten wurde William Thomas Mulvany gewählt, zum leitenden Direktor sein jüngerer Bruder Thomas John Mulvany. Erster Betriebsführer wurde Louis König. Am 20. Juni 1857 erteilte das Oberbergamt in Dortmund der Vereinigung der beiden Grubenfelder in Gelsenkirchen die Erlaubnis zur Förderung. Das Bergwerk trug den Namen „Hibernia“, die lateinische Bezeichnung von Irland. Die 41
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aus Irland und England stammenden Bergleute wurden in einer „Englischen Kolonie“ untergebracht, direkt bei den Bergwerksanlagen.
Abb. 5: Zeche Shamrock III / IV um 1920
Mit atemberaubender Geschwindigkeit wurde in der Nachbarschaft im April 1856 mit dem Abteufen zwischen Holsterhausen und Herne-Süd begonnen, und zwar auf den Feldern des Bauern Sengenhoff. Die Arbeit am ersten Schacht wurde schon kurz nach Vertragsschluss beim Bergamt in Bochum aufgenommen. Am 15. Mai 1856 erschienen der Repräsentant der neuen Bergwerksgesellschaft „Shamrock“ (irisch: Kleeblatt), William Thomas Mulvany, und der Bauer Heinrich Sengenhoff bei dem Notar Weygand in Bochum und unterzeichneten einen Vertrag über den Verkauf von Sengenhoffs Feldern und einem angrenzenden Wald an die Bergwerksgesellschaft Shamrock zum Preis von 7.300 Talern. Das Bergamt gab dem Vorhaben seine Zustimmung. So war bereits 1856 Mulvany in einer Doppelfunktion als Repräsentant bei der Hibernia in Gelsenkirchen und der Tochtergesellschaft Shamrock in Herne. Der umtriebige Unternehmer organisierte zahlreiche Ortsbegehungen für Anleger und Interessenten in Herne und Umgebung, um ihnen seine neuen Verfahren zum Abteufen zu erläutern. Er hatte damit seit dem Herbst 1855 gute Erfahrungen gemacht, um das Kapital anzulocken. So zeigte er unter anderem das „Tübbing-Verfahren“, die Verkleidung der Schächte mit gussei42
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sernen Segmenten (Ringen), die – kreisförmig aufeinander gesetzt – einen Aufsatz ergaben, der auf einem Keilkranz ruhte. Mit Erreichen der wasserführenden Schichten begann das Auskleiden der Schachtwände mit den Tübbings.
Abb. 6: Die Markenkontrolle der Zeche Shamrock III / IV
Bisher hatte man in Deutschland im Bergbau nur die Verkleidung der Schächte mit Holz und / oder mit Mauerwerk praktiziert. Das hatte immer wieder zu Wassereinbrüchen geführt. Der Vorteil der neuen Technik bestand darin, dass die Aufsätze völlig wasserdicht abgeschlossen werden konnten. Eine weitere Neuerung, die aus England kam, war die „Hebepumpe“, welche Mulvany beim Abteufen der Schächte Hibernia I / II in Gelsenkirchen verwendet hatte. Die Pumpe stand mit einem gusseisernen Saugkorb auf der Sohle und wurde von einem hölzernen Gestänge getragen. Dieses hing oben an Seilen, die über Flaschenringe geführt und um Rundbäume von Erdwinden gewickelt waren. Die Bewegung der Winden wurde zunächst durch Pferde bewirkt, wenig später durch Dampfmaschinen. 43
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Noch 1856 errichtete Mulvany an der heutigen Mulvanystraße in Herne Häuser für seine Mitarbeiter und die Bergleute. Betriebsführer bei Shamrock I / II wurden die irischen Ingenieure Farley und Murray. Der erfolgreiche Unternehmer starb 1885 und wurde auf dem Düsseldorfer Nordfriedhof beerdigt, wo auch seine Frau Alicia Mulvany ruht. Von 1878 bis 1893 steigerte sein Nachfolger, Generaldirektor Leo Gräff, die Jahresförderung bei Shamrock I / II von 450.000 Tonnen auf 800.000 Tonnen Steinkohle. Sein Nachfolger, Bergrat Carl Behrens, erwarb die von dem Bochumer Kohlenhändler und Muter Wilhelm Endemann erworbenen Grubenfelder „Nosthausen“ und „Neuborbeck“ und gründete auf ihnen die Schwesterzeche Shamrock III / IV an der Dorstener Straße, gelegen zwischen Holsterhausen und Wanne. Mit dieser Erwerbung wurde Shamrock eine der größten Bergwerksgesellschaften im Ruhrgebiet. Um die Leistung von Carl Behrens zu würdigen, muss auf ein Ereignis eingegangen werden, das Stanisław Kostka Mikołajczyk, der von 1895 bis 1900 auf der Zeche Shamrock I / II und zwischen 1900 und 1912 auf der Zeche Shamrock III / IV gearbeitet hatte, unmittelbar miterlebte. Der Weg von seiner Wohnung zum Arbeitsplatz, den er zu Fuß zurücklegte, betrug übrigens knapp 500 Meter, der spätere zu den „Behrensschächten“, wie sie im Volksmund hießen, nur 300 Meter. Im März 1891 war Carl Behrens bei eiAbb. 7: Carl Behrens ner Schlagwetterexplosion auf Hibernia I / II auf einen Bergreferendar aufmerksam geworden, der damals 29 Jahre alt war. Dieser hatte mit einer solchen Umsicht die Rettungsaktionen geleitet, dass Behrens ihm spontan den Posten eines Werksdirektors auf Shamrock I / II anbot. Der Mann hieß Georg Albrecht Meyer. Er sollte den neuen Posten 27 Jahre lang bekleiden, von 1891 bis 1918. Die einfachen Rauchmasken jener 44
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Zeit, welche die Grubenwehren trugen, genügten kaum, um zu eingeschlossenen Kumpel vorzudringen und sie vor Gas und Grubenbränden zu retten. Deshalb erfand Meyer zusammen mit dem Ingenieur Ferdinand Hagemann, dem Leiter des Gruben- und Rettungswesens der Zeche Shamrock, einen tragbaren Gasschutzapparat, der sich unter dem Namen „Shamrockgerät“ bewährte, bis er nach 1910 durch moderne Gasmasken abgelöst wurde. Da Georg Albrecht Meyer Berichte über die Forschungen zum Grubenrettungswesen schrieb und in Deutschland und im Ausland Vorträge darüber hielt, war seine Forschung auch in Frankreich bekannt. Als sich am 10. März 1906 das schwere Grubenunglück von Courrières in Nordfrankreich ereignete, suchte die französische Regierung bei der Leitung von Shamrock um Hilfe. Ein Rettungszug unter Führung von Werksdirektor Meyer wurde zu der Unglücksstelle geschickt. Den Rettern bot sich ein schlimmes Bild: Es hatte, Abb. 8: Ankunft des deutschen Rettungszugs in Frankeich am 12. März 1906 verursacht durch einen Grubenbrand, eine Schlagwetterexplosion stattgefunden, gefolgt von einer Kohlenstaubexplosion. Wahrscheinlich war die Katastrophe durch ein offenes Grubengeleucht ausgelöst worden, das eine Holzzimmerung in Brand gesetzt hatte. Mit ihren modernen Gasschutzgeräten drangen die deutschen Bergleute zum Brandherd vor und retteten noch zahlreiche Kumpel. Mehr als 1.000 Bergleute verloren dennoch ihr Leben. Die französische Regierung verlieh nach dem Rettungseinsatz Georg Albrecht Meyer das Kreuz der Ehrenlegion und den deutschen Bergleuten, die aus Herne und Holsterhausen kamen, hohe Auszeichnungen. Bei der Abreise jubelte die Bevölkerung der Orte Lens, Montigny und Hénin-Liétard (heute: HéninBeaumont) den Männern als den „Helden von Courrières“ zu. Die Presse in Deutschland und Frankreich nahm dazu ausführlich Stellung und rühmte die Hilfe der Herner Bergleute, die auf Ländergrenzen und Nationalität keine Rücksicht genommen, sondern Solidarität geübt hatten. Die mutige Entscheidung von Carl Behrens zu der Hilfe kann man allerdings erst würdigen, wenn man die politische Großwetterlage jener Zeit bedenkt, 45
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die auf einen Krieg hinwies. Der wirtschaftliche Aufstieg Deutschlands nach 1860 durch die Schwerindustrie, die Chemie und die Elektroindustrie hatte die kaiserliche Regierung bestärkt, eine entsprechende imperiale Außenpolitik zu betreiben. „Weltpolitik als Aufgabe, Weltmacht als Ziel, Flotte als Instrument!“ forderte der Alldeutsche Verband, das Sprachrohr Wilhelms II. Die Gründung des deutschen Flottenvereins im April 1898 hatte zu einer Verständigung von Russland, England und Frankreich geführt, geleitet von der Furcht vor Deutschland. Den Beweis für die zunehmende deutsche Isolierung gegenüber der „Entente cordiale“ zeigte die Algeciras-Krise vom Januar bis zum April 1906, zu einer Zeit, als der deutsche Rettungszug in Courrières weilte. Auf dieser Konferenz wurde – gegen den Willen der deutschen Delegation – Marokko als französisches Interessengebiet von den anderen Teilnehmern bestätigt, während die Deutschen auf die Souveränität Marokkos gedrängt hatten. Wilhelm II. empfand das Ergebnis als eine persönliche Demütigung und eine politische Niederlage seines Landes. Die Begeisterung in Frankreich, ausgelöst durch die spontane Hilfeleistung der deutschen Bergleute, war dem Kaiser zunächst wenig angenehm, stand er doch zum ersten Mal einer Front von Frankreich, England und Russland gegenüber. Er fühlte sich „eingekreist“. Mit Hilfe seiner Berater – vor allem der Klugheit und Überredungskunst des deutschen Botschafters in Paris, des Fürsten Hugo von Radolin-Radolinski, der seinen Heimatwohnsitz auf Schloss Jarotschin im Kreis Pleschen im Südosten der Provinz Posen hatte – nutzte er die Gelegenheit in der Weise, dass er sich schließlich mit der Rettungsaktion von Courrières identifizierte und am Stimmungsumschwung in Frankreich teilnahm. Das Geschlecht derer von Radolin kommt aus dem polnischen Uradel des Stammes Koszucki. Das Genealogische Handbuch des Adels beginnt die Stammreihe der Familie im 14. Jahrhundert. Eine berühmte Persönlichkeit ist Peter von Radolin, der Bischof von Krakau und Erzbischof von Posen wurde. Er war in seinem Leben auch Staatskanzler, päpstlicher Nuntius, Gesandter des Königs Jagiello und der katholischen Kirche von Polen auf dem Konzil von Pisa. Er war auch ein enger Vertrauter von Königin Jadwiga, die ihn zum Vollstrecker ihres Testaments ernannte. Nach der Rückkehr von einer Pilgerreise nach Palästina soll er im Jahr 1414 gestorben sein.7 46
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Wilhelm II. ehrte die Bergleute aus Herne und Holsterhausen anlässlich einer großen Militärparade in der Kaserne des 11. Husarenregiments in Krefeld. Am Sonntag, dem 2. April 1906, fand zunächst ein Parademarsch der Husaren vor dem Kaiser, der hoch zu Ross saß, statt. Dann, gegen Mittag, fand die eigentliche Ehrung statt. Der Kaiser beugte sich vom Pferd und schüttelte jedem der in schwarzer Bergmannstracht angetretenen Retter die Hand. Die Kulisse bildeten die mitgereisten Angehörigen der Retter und zahlreiche Arbeitskollegen. Dann hielt Wilhelm II., gerührt von der Situation, mit be- Abb. 9: Parade der Retter von Courrières wegter Stimme eine Ansprache, in der er den christlichen Charakter der Hilfeleistung hervorhob: „Ich habe Euch hier her kommen lassen, um Euch im Namen des gesamten Vaterlandes meinen herzlichen Dank, meine Bewunderung und meine Anerkennung auszusprechen für die Tat, die Ihr ausgeführt habt. Ihr habt bewiesen, dass es über Grenzpfähle hinaus etwas gibt, das die Völker verbindet, welcherlei Rasse sie auch seien: das ist die Nächstenliebe. Ihr seid diesem Gebote der Lehre unseres Heilandes gefolgt. Dass sich das bei deutschen Bergleuten von selbst versteht, brauche ich nicht zu sagen. Trotzdem hat es uns alle herzlich gefreut. Darum danken wir Euch für Eure Aufopferung und vor allem für die Todesverachtung, mit der Ihr für fremde Brüder unter die Erde gestiegen seid.“8 Den guten Eindruck seiner Rede verstärkte der Kaiser noch dadurch, dass er den Fürsten Radolin-Radolinski anwies, der – wie die französische Presse freundlich anmerkte – aus dem polnischen Uradel kam, eine Spende von 200.000 Reichsmark für die Hinterbliebenen der Opfer von Courrières an die französische Regierung zu überreichen. Diese Gesten verfehlten ihre Wirkung auf die öffentliche Meinung in Frankreich nicht. Die Pariser Zeitung „Radical“ bewertete am 5. April 1906 die Rede des Kaisers als einen lebendigen und ergreifenden Kommentar und erklärte: „Allen sichtbar schwebte an dem vom Feuerschein geröteten Himmel von Courrières die Friedenstaube mit dem Ölzweig.“9 In der großen Politik blieb das Ereignis von Courrières eine winzige Fußnote und hatte keine Auswirkungen auf die Vorbereitungen der europäischen Großmächte zum Ersten Weltkrieg. Auf kommunaler Ebene jedoch kam es zu Kon47
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takten zwischen Herne und Hénin-Liétard, dem späteren Hénin-Beaumont, die auch durch die beiden Weltkriege nie ganz abrissen und 1967 zu einer Städtepartnerschaft führen sollten.10
Deutsche Marginalien Der Krieg, der kommen wird Ist nicht der erste. Vor ihm Waren andere Kriege. Als der letzte vorüber war Gab es Sieger und Besiegte. Bei den Besiegten das niedere Volk Hungerte. Bei den Siegern Hungerte das niedere Volk auch. – Bertolt Brecht, 1909
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Fußnoten 1 2 3 4 5
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Mikolajczyk, Stanislaw: Memoiren, a.a.O., S. 7 Mikolajczyk, Stanislaw: Memoiren, a.a.O., S. 110 Mikolajczyk, Stanislaw: Memoiren, a.a.O., S. 108 Pazckowski, Andrzej: Stanislaw Mikolajczyk, Verlag Wydawnictwa Szkolne i Pedagogiczne, Warschau 1994, S. 5 ff. Viehweger, Wolfgang und Koldewey, Bernd: Eine Stadt mit vielen Gesichtern, hrg. vom Kulturverein Herner Netz e.V., Herne 2007, S. 127 f. Braßel, Frank, Clarke, Michael und Objartel-Balliet, Cornelia (Hrg.): Nichts ist so schön wie..., Geschichte und Geschichten aus Herne und Wanne-Eickel, Verlag Klartext, Essen 1991, S. 83 ff. Hundt, Robert: Bergarbeiter-Wohnungen im Ruhrrevier, Berlin 1902
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Genealogisches Handbuch des Adels, Adelslexikon Band XI, S. 139-40 8 Sieburg, Heinz Otto: Die Grubenkatastrophe von Courrières, Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1967, S. 91 f. 9 Sieburg, Heinz Otto: Die Grubenkatastrophe von Courrières, a.a.O., ebenda 10 Farrenkopf, Michael u.a.: Courrières 1906, Eine Katastrophe in Europa, Deutsches Bergbau-Museum Bochum (Eigenverlag), Bochum 2006, S. 80 ff. Hénin-Liétard, Festschrift zur deutsch-französischen Partnerschaftsfeier am 8. Juli 1967 in Herne, Blatt 7 ff. Viehweger, Wolfgang: Spur der Kohle ..., Europa in Herne und Wanne-Eickel, Frisch Texte Verlag, Herne 2000, S. 27 ff.
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Wolfgang Viehweger
Frei nach diesem Vers aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke befasst sich Autor Wolfgang Viehweger mit dem Leben von Stanislaw Mikolajczyk, dem wohl berühmtesten Ruhrpolen. Mikolajczyk – anders als in Polen hierzulande völlig unbekannt – wurde 1901 in Holsterhausen (Amt Eickel) geboren und wuchs als Sohn eines Hauers in einer Zechensiedlung auf, bevor ihn die Zeitläufte zum Akteur in der Weltpolitik machten. Nach einem Arbeitsunfall des Vaters ging die Familie zurück nach Polen, wo er später den väterlichen Hof übernahm und eine Karriere als Politiker der Bauernpartei machte. Er kämpfte nach dem Überfall Hitlers auf Polen gegen Nazideutschland, emigrierte nach London, wo er General Sikorskis Nachfolger im Amt des Ministerpräsidenten der polnischen Exilregierung wurde, und kehrte nach dem Krieg nach Polen zurück, um als stellvertretender Ministerpräsident in eine Regierung mit den Kommunisten einzutreten. Mikolajczyk sah die Koalition scheitern und floh unter abenteuerlichen Umständen ins Exil, erst nach London und dann in die USA. Er starb 1966 in Washington, lange bevor seine Vision von einem freien, demokratischen Polen verwirklicht wurde. Wolfgang Viehweger, gebürtiger Schlesier, verbindet seine eigene Biografie als Kriegskind und Vertriebener mit den politischen Wirren der Kriegszeit und zeigt eine große Nähe zur polnischen Leidensgeschichte im 20. Jahrhundert. Der Kampf von Stanislaw Mikolajczyk für die Freiheit seiner Heimat Polen wird in diesem Buch lebendig. Der Herausgeber
Stanislaw Mikolajczyk
Wolfgang Viehweger · Stanislaw Mikolajczyk – Kämpfer für die Freiheit
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn. Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen, aber versuchen will ich ihn.
Kämpfer für die Freiheit
Gesellschaft für Heimatkunde Wanne-Eickel / Herne e. V. (Hrsg.) ISBN 978-3-933059-51-2
9 783933 059512
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FRISCHTEXTE Verlag, Herne
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