Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

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Hrsg.: Volker Rhein

Moderne Heimerziehung heute Band 2 und Band 3 Die systemische Interaktionstherapie und die Psychomotorik in der Intensivp채dagogik

FRISCH TEXTE VERLAG


Die deutsche Bibliothek – CIP Kurztitelaufnahme Moderne Heimerziehung heute Band 2 und Band 3 Die Systemische Interaktionstherapie und die Psychomotorik in der Intensivpädagogik Hrsg.: Volker Rhein 1. Auflage, 2011, FRISCHTEXTE Verlag, Herne ISBN 978-3-933059-42-0

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeisung, Rückgewinnung und Wiedergabe in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten. © FRISCHTEXTE Verlag, Herne Umschlagentwurf, Layout und Satz: Agentur Steinbökk Gesamtherstellung: druckfrisch medienzentrum ruhr, herne ISBN 978-3-933059-42-0


Vorwort

Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Vorwort Mit Erscheinen dieses Buches „Moderne Heimerziehung heute – Die Systemische Interaktionstherapie und die Psychomotorik in der Intensivpädagogik“ liegen der zweite und der dritte Band (Doppelband) in der Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ vor. In diesem Doppelband finden Sie zwei Artikel zur Theorie und Praxis der Psychomotorik in der Intensivpädagogik sowie zwei Artikel zur Systemischen Interaktionstherapie im Rahmen der Erziehungshilfen. Im vorliegenden Fachbuch werden theoretische Ansätze und Methoden beschrieben, die in der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH ihre Anwendung finden. Genau wie unser erster Band verfolgt dieses Buch die Absicht, pädagogischen Fachkräften aus Schulen, Ämtern, Einrichtungen der Erziehungshilfen, im Sozialwesen Tätigen sowie interessierten Laien die Praxis in den stationären Erziehungshilfen greifbar zu machen. Wir wollen aufzeigen, wie und womit heute moderne Heimerziehung konfrontiert ist und welche Antworten das Ev. Kinderheim Herne für / auf diese damit verbundenen Herausforderungen findet. In dem ersten Artikel beschreibt der Gründer des SIT-Institutes Bern, Michael Biene, die Systemische Interaktionstherapie. Im zweiten Artikel wird die Geschichte der Umsetzung der SIT-Arbeit in der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH angerissen.


Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Vorwort

Im Fokus der letzten beiden Artikel dieses Buches steht die Psychomotorik in der Intensivpädagogik. Dr. Holger Jessel (Dipl.-Motologe) schreibt in seinem ersten Artikel in diesem Buch über die „Psychomotorische Entwicklungsbegleitung in der Intensivpädagogik“. Hier wird insbesondere in Punkt 4 die Gewaltprävention aus psychomotorischer Sicht behandelt. Sein zweiter Artikel „Körper und Leib als Navigationshilfen in schwierigen Gewässern – Zur Implementierung der Psychomotorik in das Konzept der Intensivwohngruppe ‚Deine Chance‘“ beschreibt den Beratungs- und Fortbildungsprozess der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sowie die Implementierung der Motopädagogik in den Alltag dieser Intensivwohngruppe für traumatisierte Kinder und Jugendliche aus der Sicht des Fachberaters. Wir hoffen, dass wir auch mit dem Doppelband dieser Reihe Praktikern Anregung für ihre Arbeit geben können und das Interesse in Lehre und Forschung wecken, sich erneut mit Fragestellungen und Wegen der Erziehungshilfen, wie sie das Ev. Kinderheim Herne beschreibt, auseinanderzusetzen. Über Rückmeldungen und / oder Anregungen zu diesem Buch würden wir uns sehr freuen.

Volker Rhein (Herausgeber)


Inhaltsverzeichnis

Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

VORWORT DES HERAUSGEBERS Band 2

SYSTEMISCHE INTERAKTIONSBERATUNG – EINFÜHRUNG 13 TEIL 1 1.

14 14

1.3 1.4 1.5

Der SIT-Ansatz Der system- und interaktionstherapeutische Ansatz: Das SIT-Modell Triangel, Eltern-Coaching, Familienaktivierung und schließlich SIT-Modell Theoretischer Hintergrund des SIT-Modells Haltungen und Grundannahmen Thesen

2.1 2.2 2.3

Hintergrund: Evolutionsprozesse in der Jugendhilfe Drei Grundformen von Angeboten in der Jugendhilfe Aktivierende Faktoren Die theoretischen Modelle hinter den drei Angebotsformen

26 26 26 27 27 28 30 31

1.1 1.2

2.

2.3.1 2.3.2 2.3.3

2.4

3. 3.1 3.2 3.3

Der „individualpsychologische Ansatz“ Der familientherapeutische Ansatz Der systemische Ansatz

Fallbeispiel: Vorgehensweise mit den drei unterschiedlichen Ansätzen / Angebotsformen Basis-Methodik im SIT-Modell: Der Drei-Phasen-Prozess Wozu dient der Drei-Phasen-Prozess? Überblick Erste Phase: Musterarbeit

20 21 22 25

32 32 34 35


Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

3.4 3.5 4. 4.1 4.2

Inhaltsverzeichnis

Zweite Phase: Aktivierende Sprachmuster Dritte Phase: Interaktionsinterventionen Die erste Phase des SIT-Prozesses: Die Musterarbeit Grundannahmen, auf denen die Musterarbeit basiert Die Arbeit mit dem Kampfmuster (Zwangskontext)

4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.2.6

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5 4.4.6

4.5 4.5.1

Das Hilfedreieck im Kampfmuster Standardrollenspiel: Kampfmuster (Zwangskontext) Die Kampfmustertrance als zirkuläres Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster Schlussfolgerungen für die Arbeit mit dem Kampfmuster Typische Elemente der Kampfmustertrance bei HelferInnen Übung: Induktion einer typischen „Kampfmustertrance“ von Klienten

Vom Kampfmuster zur Kooperation Das Hilfedreieck im Kooperationsmuster Haltung / Vorgehensweisen von ZuweiserInnen im Kooperationsmuster Haltung / Gesprächsführung von HilfeanbieterInnen im Kooperationsmuster

Die Arbeit mit dem Abgabe- / Abnahmemuster Das Hilfedreieck im Abgabe- / Abnahmemuster Standardrollenspiel: Abgabe- / Abnahmemuster Die Abgabe- / Abnahmemustertrance als zirkuläres Wahrnehmungs- und Interaktionsmuster Schlussfolgerungen für die Arbeit mit dem Abnahmemuster Elemente der Helfertrance im Abgabemuster Übung: Induktion einer typischen „Abgabemustertrance“ von Klienten

Vom Abgabemuster zur Kooperation Das Hilfedreieck im Kooperationsmuster

36 37 37 37 40 40 41 42 43 45 46 48 48 49 50 54 54 56 57 59 60 61 62 62


Inhaltsverzeichnis

4.5.2

4.6 4.7 5.

Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Haltung / Gesprächsführung, um aus dem Abgabemuster ins Kooperationsmuster einzuladen

Überblick: Vorgehen bei der Musterarbeit Beispiel: Gesprächsführung von Zuweisern Arbeit an den Interaktionsmustern im „Herkunftsnetz“

63 68 69 71

TEIL 2 Die zweite Phase des SIT-Prozesses: Arbeit mit den „Problemtrancen“

73

1. 2. 3.

73 74 77 78 78 79 80 80 82 84 85 86 87 87 88 88 89 90 90

3.1 3.2 4. 4.1 4.2 5. 5.1 5.2 6. 6.1

Was ist mit Trance gemeint? Schlussfolgerungen für die Arbeit mit „Trancezuständen“ Unterschied zwischen Mustertrancen und Problemtrancen Die erste Schicht der Problemtrancen – Mustertrance Die zweite Schicht der Problemtrancen Satzdiagnostik – Klärungsfragen Klärungsfragen: Kampfmuster Klärungsfragen: Abgabemuster Stufen von Problemtrancen Überblick: Stufen von Problemtrancen Problemtrancestufen anhand eines Fallbeispiels Pacing und Leading im SIT-Modell Basis-Formen von Pacing und Leading

6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4 6.1.5

6.2

Einstreu-Techniken Persönliche Relativierung Zeitliche Relativierung Abschwächung von Begriffen Umdeutung: Veränderungsnotwendigkeit statt Unlösbarkeit

Beispiel für Pacing / Leading I: Aus der „generalisierten Problemtrance“ führen


Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

6.3 7. 7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6 7.7 7.8

Inhaltsverzeichnis

Beispiel für Pacing / Leading II: Aus der „negativen Persönlichkeitsbeschreibung“ führen Erarbeitung: Haltung / Gesprächsführung bei Problemtrancen Unterschiede von Mustertrancen zu Problemtrancen erkennen bzw. klären können Erarbeitung der fünf Problemtrancestufen im SIT-Modell „Gedanken lesen“: Fehlende Elemente einer Problemtrance ergänzen können Standard-Pacings und -Leadings Wissen über Form und Inhalte von aktivierenden Zielplakaten Ein aktivierendes Zielplakat (nach Form und Inhalt) erstellen können Methodische Möglichkeiten bei besonders schweren Problemtrancen Beispiel für den Aufbau eines Hypnotalks

92

Die dritte Phase des SIT-Prozesses: Interaktionsinterventionen Entstehungshintergrund und Ebenen des dritten Prozessteils Grundannahmen – „Spinnennetz-Modell“ Strukturierte Arbeitsschritte – ein Ablauf-Schema für Rollenspiele

99 99 100 106

93 93 94 94 95 96 96 97 97

TEIL 3 1. 1.1 1.2 1.3

1.3.1 1.3.2

1.4 1.4.1 1.4.2

Muster-Diagnostik statt Lehrbuch-Pädagogik – Rollenspiele statt „Darüber-reden“ Ablauf von Rollenspielen

Wie können Vorschläge für „Lösungsinteraktionen“ in Familien entwickelt werden? Welche Personen sind relevant? Was „kann / darf“ die „Elternrolle“?

106 110 114 116 119


Inhaltsverzeichnis

1.4.3 1.4.4

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Häufige Interaktionsmuster im Kontext von „Verhaltsauffälligkeiten“ Kriterien für wirksame Lösungsvorschläge

Arbeit an den Interaktionsmustern im eigenen System („Spinnennetz“) Lösungsorientierte Teamkommunikation Eine kollegiale Kooperationsbeziehung im Team: gegenseitiges Coaching Problemtrancefreie Kommunikation im Team Rollenspiele im Team

121 123 124 126 127 131 133

DIE GESCHICHTE DER SYSTEMISCHEN INTERAKTIONSTHERAPIE UND DEREN KONZEPTIONELLE UMSETZUNG IN DER EV. KINDERHEIM JUGENDHILFE HERNE & WANNE-EICKEL GGMBH

139

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

140 141 142 144 146 146 147 149 149

8.1 8.2

Das Herner Triangel-Modell Organigramm Wie kam Triangel nach Herne? Was damit anfangen? Elterngruppen Schlusswort Zeittafel Konzepte Konzeption der Elternaktivierung-Interaktionstherapie Triangel-Modell ambulant Konzeption der Triangel-Wohngruppe mit dem Arbeitsansatz der Elternaktivierung-Interaktionstherapie

157


Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

8.3

Inhaltsverzeichnis

Konzeption der Flexiblen Erziehungshilfe Triangel Regional- 167 büro Dortmund Konzeption „ANNIE triff t Triangel“ Herne 176 Konzeption Triangel Eltern-Kind-Haus nach dem Triangel- 179 System und dem Ansatz der Systemischen Interaktionstherapie

8.4 8.5

Band 3

PSYCHOMOTORISCHE ENTWICKLUNGSBEGLEITUNG IN DER INTENSIVPÄDAGOGIK

189

Einleitung

190

1.

192

2. 2.1 2.2 2.3 2.4

Die alltägliche Identitätsarbeit von Jugendlichen in postmodernen Gesellschaften Die Bedeutung von Körper, Leib und Bewegung für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen Annäherungen an den Körper- und Leibbegriff Das Spannungsfeld von Leibsein und Körperhaben und seine Bedeutung für die Gewaltprävention Die Bedeutung des leiblichen Zur-Welt-Seins für die psychomotorische Gewaltprävention Leiblich-affektive Abstimmungsprozesse und ihre Bedeutung für die Gewaltprävention

2.4.1 2.4.2 2.4.3

201 206 213 215 217

Abstimmungsprozesse und die Bedeutung des impliziten leibli- 218 chen Gedächtnisses Ohnmachts- und Missachtungserfahrungen 219 Der Kreislauf von familiären Gewalterfahrungen und außerfa- 221 miliärem Gewaltverhalten


Inhaltsverzeichnis

2.5 2.6 2.7

Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Die Bedeutung des leiblichen Spürens für die Gewaltprävention 224 Die Bedeutung des Habitus für die Gewaltprävention 226 Integrations- und Differenzierungsleistungen der Identitäts- 228 entwicklung

2.7.1

Die Bedeutung von Grundbedürfnissen für die Identitätsentwicklung von Jugendlichen 2.7.1.1 Das Bedürfnis nach Orientierung und Kontrolle 2.7.1.2 Das Bedürfnis nach Lustgewinn und Unlustvermeidung 2.7.1.3 Das Bedürfnis nach positiven zwischenmenschlichen Beziehungen 2.7.1.4 Das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung 2.7.1.5 Das Konsistenzprinzip 2.7.2 Das Identitätsgefühl 2.7.3 Anerkennung und Autonomie 2.7.4 Authentizität und subjektive Stimmigkeit

3.

229 229 232 233 236 239 243 246 250

3.1 3.2 3.3

Zur Relevanz psychomotorischer Ansätze für die Intensivpädagogik Der kompetenztheoretische Ansatz Der verstehende Ansatz Die systemisch-konstruktivistischen Positionen

4.1

Der mehrperspektivische Ansatz der psychomotorischen Ge281 waltprävention Wirkkomponenten der psychomotorischen Gewaltprävention 282

4.

4.1.1 4.1.2 4.1.3

4.2

252 253 259 269

Inkonsistenzreduktion durch Ressourcenaktivierung 288 Destabilisierung von Störungsattraktoren durch problemspezifi- 290 sche Interventionen Inkonsistenzreduktion durch Veränderung motivationaler 294 Schemata

Dimensionen und Perspektiven der psychomotorischen Gewaltprävention

301


Moderne Heimerziehung heute. Band 2 und Band 3

Inhaltsverzeichnis

KÖRPER UND LEIB ALS NAVIGATIONSHILFEN IN 337 SCHWIERIGEN GEWÄSSERN – ZUR IMPLEMENTIERUNG DER PSYCHOMOTORIK IN DAS KONZEPT DER INTENSIVWOHNGRUPPE „DEINE CHANCE“ Einleitung

338

1.

338

2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

„Jede Navigationshilfe braucht eine Haltung!“ – Grundlegende Orientierungen „Welches Boot soll ins Wasser gelassen werden?“ – Die Projektidee „Wie kam es zum Hissen eines psychomotorischen Segels?“ – Erstkontakt und Explorationstreffen „Welche Eigenschaften soll das psychomotorische Segel haben?“ – Klärung von Anlässen, Anliegen und Aufträgen „Welcher Wind soll hier eigentlich wehen?“ – Prinzipien beim Aufbau einer helfenden Beziehung „Warum sollte die Intensivwohngruppe ‚Deine Chance‘ lernen – und wie?“ Qualitäten des Seegangs in der Intensivwohngruppe „Deine Chance“ – Beispiele unserer gemeinsamen Arbeit Schlussgedanken

AUTOREN

341 341 344 347 352 355 364

367


Michael Biene

Systemische Interaktionsberatung

S

ystemische

Interaktionsberatung – Einfßhrung 13


Systemische Interaktionsberatung

Michael Biene

TEIL 1 1. Der SIT-Ansatz 1.1 Der system- und interaktionstherapeutische Ansatz: Das SIT-Modell Überblick: Was ist das SIT-Modell? Das SIT-Modell wurde im Bereich der Jugendhilfe entwickelt. Die Inhalte des Modells zielen darauf ab, Kindern und Jugendlichen eine optimale Förderung durch ihr familiäres und / oder professionelles Umfeld bieten zu können. 1. So werden im SIT-Modell beraterische bzw. therapeutische Haltungen und Methoden für Fachleute angeboten, um Familien (insbesondere die Eltern) in Jugendhilfeprozessen zu unterstützen, ihre Ressourcen weiter zu entwickeln und dadurch selbst eine optimale Entwicklung ihrer Kinder bzw. Jugendlichen zu gewährleisten. 2. Aber auch für die Kommunikation innerhalb bzw. zwischen professionellen Systemen im Umfeld von Kindern und Jugendlichen (Anbieter von Jugendhilfemaßnahmen, Behörden und Jugendämter, Schulen, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kindertagesstätten und nebenschulische Betreuung) wurden Haltungen, Methoden und Ideen zur Gestaltung von Angebotsformen entwickelt, die diesen Systemen erlauben, ihre Ressourcen und Kompetenzen systemaktivierend im Sinne einer Förderung von Selbsthilferessourcen in den Klienten-Systemen einzusetzen. 3. Darüber hinaus widmet sich das Modell der Frage, wie soziale und professionelle Systeme präventiv so miteinander lernend verknüpft werden können, dass es gar nicht erst zu einem Hilfebedarf kommen muss.

14


Michael Biene

Systemische Interaktionsberatung

Das System- und Interaktionstherapeutische Modell (SIT) reiht sich in Ansätze ein, die sich als systemisch-lösungsorientiert beschreiben lassen, integriert jedoch auch Teile anderer Therapieformen wie Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, Psychodrama, Gestalttherapie, Hypnosetherapie, NLP und andere. Entstehungshintergrund des SIT- Modells Die erste Phase der Entstehung des SIT-Modells verlief in den Jahren 1989 bis 1993. Es entstand vor allem aus der Arbeit in folgenden Praxisfeldern • in der Erziehungs- und Familienberatungsstelle des Bezirksamts Neukölln von Berlin • in der Ausbildung und Supervision von Einzelfall- und Familienhelfern am Berliner Institut für Familientherapie • im Bereich stationärer Arbeit im heilpädagogischen Kinderheim „Haus Buckow“ in Berlin-Neukölln Schon in dieser Zeit entwickelten sich wesentliche Annahmen des SITModells. • Als der bedeutsamste Faktor für die positive Entwicklung von Kindern bzw. Jugendlichen in Jugendhilfeprozessen kristallisierte sich immer mehr das Ausmaß der Beteiligung der Eltern im Hilfeprozess heraus. • Das heißt, die Frage, inwieweit es gelingen kann, Eltern aktiv in Hilfeprozesse für ihre Kinder oder Jugendlichen mit einzubeziehen, gewann eine immer höhere Bedeutung. • Durch vielfältige Versuche, Eltern aktiv in die Hilfeprozesse mit einzubeziehen, entstanden zunehmend folgende Arbeits-Hypothesen: Die Aktivität von Eltern im Hilfeprozess hängt weniger von der Symptomatik der Kinder bzw. Jugendlichen oder der Dynamik in deren Herkunftsfamilien ab, als von 15


Systemische Interaktionsberatung

– – – – –

Michael Biene

der Haltung der Mitarbeitenden im Hilfesystem, den „Erklärungsmodellen“ aller Beteiligten, der Art der Problemdefinition, den Interaktionsmustern zwischen Familien und Hilfesystem und der Art der Hilfeangebote.

Bei der Untersuchung der Auswirkungen dieser Faktoren wurde auch immer offensichtlicher, wie eng die Arbeitsweisen von Jugendämtern mit denen von Ausführenden der Hilfe verwoben sind. Eine aktive Rolle von Eltern wurde oft nur dann ermöglicht, wenn beide Instanzen dies in einer aufeinander abgestimmten Weise taten, denn ihre „Erklärungsmodelle“, Haltungen, Problemdefinitionen, Rollen- und Hilfeangebote werden während der Kommunikation an die Familien herangetragen. Die ersten Ideen und Praxiskonzepte entstanden dann auch aus vielfältigen Kontakten zwischen Jugendämtern und Anbietern von Hilfen. Neben diesen Erfahrungsfeldern kam ab 1994 im Kinderheim „Haus Buckow“ das Familienaktivierungszentrum „Triangel“ hinzu. „Triangel“ verstand sich als Forschungsprojekt. Im Bereich der Heimerziehung wurde nach Arbeitsformen gesucht, die es Eltern ermöglichten, am Hilfeprozess für ihr Kind mitzuwirken. Nachdem die von den „Triangel“-MitarbeiterInnen allein entwickelten Ideen und Konzepte kaum Erfolge brachten, entstand eine neue, wesentliche Idee des Konzepts: ein dialogischer Prozess zwischen Eltern, Kindern, JugendamtsmitarbeiterInnen und „Triangel“-MitarbeiterInnen und damit verbunden eine kontinuierliche gemeinsame konzeptionelle Weiterentwicklung. „Triangel“ wurde ein lernendes System, in dem alle Beteiligten miteinander und voneinander lernten. Die Arbeitsweise in diesem Prozess bestand darin, die zahlreichen Anregungen der Beteiligten, insbesondere der Eltern und der Kinder, aufzunehmen und auf ihre Wirkung hin auszuprobieren. 16


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Systemische Interaktionsberatung

Dabei wurden die Arbeitsformen beibehalten bzw. weiterentwickelt, die eine positive Auswirkung auf die Entwicklung der Kinder zeigten. Veränderungen traten oft sehr schnell und in einem zuvor nicht gekannten Ausmaß auf – abhängig davon, wie stark sich die Eltern beteiligten und aktiv nach neuen Umgangsformen zwischen sich und ihrem Kind suchten. Die aktive Haltung der Eltern wurde zunehmend als zentraler Faktor für eine positive Veränderung bei den Kindern bzw. Jugendlichen angesehen. Diese Aktivität der Eltern wurde vor allem durch eine veränderte Haltung der MitarbeiterInnen ermöglicht. Das wohl bedeutendste Element dieser „neuen“ Haltung war das Hinterfragen ihres eigenen Verhaltens. Insbesondere Misserfolgen wurden nicht mehr durch die Symptomatik der Klienten oder Fehler anderer Fachleute erklärt. Es wurde vielmehr intensiv erforscht, wie man selbst eventuell ein Scheitern bewirkte und wie das eigene – möglicherweise ungünstige – Verhalten verändert werden könnte. Verbreitung und Implementierung des SIT- Modells Seit 1997 wird das SIT-Modell auf Fachtagungen vorgestellt (u. a. für das Deutsche Jugendinstitut und den Deutschen Präventionstag, auf dem europäischen FICE-Kongress in Sarajevo) und in Weiterbildungen in Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und in der Schweiz interessierten Fachleuten vermittelt. Als Folge der Weiterbildungen wird zunehmend in verschiedenen Regionen in Deutschland und in der Schweiz versucht, den Ansatz u. a. in folgenden Arbeitsfeldern umzusetzen: • in der stationären, teilstationären und ambulanten Sozial- und Heilpädagogik • in der Sozialen Arbeit (Sozialdienste, Jugendämter, Beratungsstellen) • in der Kinder- und Jugendpsychiatrie • in Schulen 17


Systemische Interaktionsberatung

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Dabei stellte sich heraus, dass eine Implementierung, soll sie wirklich zu einer Entfaltung der enormen Ressourcen von Familien führen, am besten in einem längeren und komplexen Prozess erfolgt. Um überhaupt zu aktivierenden Arbeitsformen in Familien-, Eltern- oder Sozialsystemen zu gelangen, sind in der Regel zuvor erhebliche Veränderungsprozesse im Hilfesystem selbst notwendig. Eltern bzw. nichtprofessionelle soziale Netze sollen hier nämlich in genau den Bereichen aktiv werden, in denen bisher die professionellen Helfer zuständig waren. Das erfordert bei allen Beteiligten ein Umdenken, eine Neudefinition der gesamten eigenen Rolle und komplizierte Aushandlungsprozesse darüber, wer dafür zuständig ist, den Kindern bzw. Jugendlichen zu helfen und wie dies am besten erfolgen könne. Die Fortbildungen, in denen diese Haltung und Methodik erlernt werden kann, wurden der Komplexität der Inhalte entsprechend in Stufen konzipiert: 1. Eine grundlegende Einführung erfolgt in einer neuntägigen Fortbildung. Mit dieser Fortbildung ist jedoch nicht der Anspruch verbunden, die SIT-Arbeitsweise lernen zu können. Vielmehr dient sie als Einführung in einige Ideen und Methoden des SIT-Modells. 2. Eine tiefergehende Erarbeitung der Haltung und Methodik erfolgt dann in einem Grundkurs, der eineinhalb bis zwei Jahre dauert. 3. Sollen diese Inhalte sicher und flexibel anwendbar sein, besteht die Möglichkeit, dies in einem Aufbaukurs, vor allem über eine intensiv supervidierte Praxis, zu erlernen. Die Zeitstruktur folgt damit der Erfahrung, dass SIT vor allem durch die Ebene der „Haltung“ seine Kraft entfaltet. Lernprozesse auf dieser Ebene scheinen eine Zeit von mehreren Jahren zu benötigen.

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Lernende, sich entwickelnde Konzeptionen – statt starrer, versäulter Konzepte Aber auch eine längere und intensivere Ausbildung kann nur einen Teilbereich der notwendigen Erfahrungen abdecken. So wurden parallel zu den intensiven und längeren Fortbildungen einige Versuche unternommen, miteinander lernende Systeme entstehen zu lassen. Dies betriff t u. a. 1. die systematische Einbeziehung der zuweisenden Stellen einer Region, 2. die Zusammenarbeit in Teams, 3. die Integration und Vernetzung von SIT-Arbeitsformen in eine bestehende Institution, 4. die Refinanzierungsstrukturen und vieles mehr. In der sorgfältigen Vernetzung von Fortbildung sowie den sich kontinuierlich weiterentwickelnden Praxis-Systemen bzw. „lernenden Konzeptionen“ ist offensichtlich der Schlüssel zu finden, um diese Arbeitsformen aufbauen zu können. Ein angemessener Zeitraum scheint vier bis fünf Jahre zu betragen. So kann weitgehenden, persönlichen und strukturellen Veränderungsprozessen genügend Raum gelassen werden. Um sich diesen Aufgabenstellungen intensiver widmen zu können, wurde im Jahr 2003 das SIT-Institut in Bern gegründet. Ziel des SIT-Instituts ist es, Erfahrungen aus den Regionen Bern, Westfalen und Berlin sowie aus den verschiedenen gesellschaftlichen Arbeitsbereichen, die sich Kindern und Jugendlichen sowie ihren Familien widmen, zu sammeln, auszuwerten, weiterzuentwickeln und damit Fortbildungs- und Implementierungsstrategien zu entwickeln. Dies geschieht im Sinne eines miteinander und voneinander lernenden mittlerweile sehr großen überregionalen Systems. Triangel, und unabhängig davon auch mehr und mehr das SIT-Modell, entwickelt sich seit 12 Jahren – und noch immer haben wir den Eindruck, die enormen Möglichkeiten, die sich aus diesem Ansatz ergeben, erst in geringem Umfang erkannt oder gar realisiert zu haben. 19


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1.2 Triangel, Eltern-Coaching, Familienaktivierung und schließlich SIT-Modell Der system- und interaktionstherapeutische Ansatz besteht aus einigen Grundideen, die in vielen unterschiedlichen Kontexten und Arbeitsformen konkretisiert werden können. Im Laufe der Jahre wurden – je nachdem, welche Aspekte der Arbeit akzentuiert wurden – unterschiedliche Benennungen verwendet. Am bekanntesten ist wohl die Bezeichnung „Triangel“-Modell. Die signifikanteste Arbeitsform des Triangel-Projekts in Berlin-Neukölln war, dass Eltern und Kinder gemeinsam stationär aufgenommen wurden. In diesem Kontext wurde in einer Gruppe von 4–5 Familien gearbeitet. Daher wurde in den ersten Jahren Triangel-Arbeit vor allem als stationäre Arbeit mit Familien verstanden. In dieser Zeit wurde versucht, das Konzept in andere Regionen zu übertragen, indem Wohngruppen für Familien aufgebaut wurden. Diese Versuche scheiterten leider oft schon in der Anfangsphase. Es stellte sich dabei heraus, dass nicht die Aufnahme von Familien der zentrale Bestandteil des Arbeitsansatzes war. Vielmehr waren die veränderte Haltung der MitarbeiterInnen, eine neue Rollenverteilung zwischen Eltern und Helfern und eine darauf basierende Entwicklung völlig veränderter Arbeitsformen die entscheidenden Punkte. Diese nicht so leicht fassbaren Faktoren ermöglichten Eltern erst, sich auf ein gemeinsames Wohnen und auf eine harte Arbeit an sich selbst einzulassen. Die Erarbeitung dieser veränderten Haltungen, Rollen und Arbeitsschwerpunkte für HelferInnen schien jedoch nur über einen mehrjährigen Prozess möglich zu sein. Im Triangel-Projekt dauerte er ungefähr vier bis fünf Jahre. Eine zentrale Rolle der MitarbeiterInnen war mehr und mehr die der Unterstützer von Eltern, die versuchten, die Alltagsinteraktionen in der Familie gelungener zu gestalten. Dafür wurde schon 1996 im Projekt der Begriff Eltern-Coaching entwickelt, der mit den Jahren weite Verbreitung gefunden 20


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hat und in der Folge oft mit der SIT-Arbeit gleichgesetzt wurde. Aber auch Eltern-Coaching ist nur ein Teilbereich der SIT-Arbeit. Das komplette Modell umfasst viele weitere Arbeitselemente (siehe Punkt 4 und Punkt 5). Mitte der 90er-Jahre wurden ambulante Hilfeprogramme, die sich am US-amerikanischen Home-builder-Modell orientierten, nach Deutschland importiert und unter dem Namen Familienaktivierungsmanagement (FAM) bekannt. Die Arbeit zielte durch eine ambulante Aktivierung der Selbsthilferessourcen der Familie auf eine Vermeidung von Fremdunterbringung ab. Seitdem wird der Begriff Familienaktivierung in Deutschland als Oberbegriff für ähnliche Hilfeformen häufig verwendet. Auch als Bezeichnung für die SIT-Arbeit wurde er oft angewandt. Dies machte die Verständigung mitunter leichter, obwohl Verwechslungen auftraten. Der Begriff Familienaktivierung entspricht nicht dem eigentlichen Ansatz des SIT-Modells. Nach den Annahmen des SIT-Modells werden Familien, insbesondere Eltern, in den bisherigen Hilfeformen vor allem durch Strukturen und Haltungen dieser Hilfesysteme eingeladen, inaktiv zu werden. Das heißt, die Annahme im SIT-Modell ist nicht, dass Familien inaktiv sein wollen und / oder inaktiv sind. Daher müssen sie auch nicht aktiviert werden. Wenn Helfer hingegen aufhören, in Strukturen, Interaktionsmustern und Haltungen zu arbeiten, die Familien deaktivieren, werden diese von selbst aktiv. Am treffendsten wird die Arbeitsweise durch den Begriff System- und Interaktionstherapie und -Beratung (SIT-Modell) beschrieben.

1.3 Theoretischer Hintergrund des SIT-Modells Das übergeordnete theoretische Gebäude des SIT-Modells ist das der systemischen Therapie. Es wird nicht nur das Kind betrachtet (individualpsychologische Sichtweise), aber auch nicht nur die Familiendynamik (familientherapeutische Modelle der Kybernetik erster Ordnung). Vielmehr werden auch die Rollenverteilungen und Interaktionsmuster, die sich zwischen Helfenden und den Familien etabliert haben, betrachtet (Modelle der Kybernetik zweiter 21


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Ordnung). Schließlich erwies es sich als hilfreich, auch die Rollen und Interaktionsmuster zwischen den Beteiligten des Hilfe-systems selbst zu analysieren. So wurden beispielsweise Veränderungen an den Interaktionsmustern zwischen Jugendamt und Hilfeanbietenden oder an den Interaktionsmustern, in denen Helferteams über ihre Arbeit kommunizieren, erarbeitet. Systemtherapie bezeichnet also die Perspektive, nicht nur die Kinder bzw. Jugendlichen und deren Familien zu betrachten, sondern im gesamten Umfeld eines Problems von Kindern oder Jugendlichen nach Beziehungsmustern zu suchen, die dieses Problem bedingen. Der Fokus wird dabei vor allem auf beobachtbare Interaktionsmuster gerichtet. Nachdem durch die systemisch erweiterte Perspektive Situationen gefunden wurden, die im Zusammenhang mit den Problemen der Kinder oder Jugendlichen stehen könnten, werden die Situationen interaktionstherapeutisch betrachtet. Das heißt, es findet eine genaue Mikroanalyse dieser situativen Interaktionsmuster statt. Beispielsweise versuchen Familien oft, durch alltäglich vielfach wiederkehrende Interaktionssequenzen Probleme zu lösen (z. B. das Kind zu überreden, in die Schule zu gehen). Gerade die Muster der immer wieder scheiternden Lösungsversuche erzeugen bzw. stabilisieren jedoch aufs Neue die Probleme des Kindes. In der Mikroanalyse der Interaktionen wird versucht, die Elemente der Muster zu identifizieren, die zum Scheitern führen. Anschließend wird in einem gemeinsamen kreativen Prozess von Rollenspielen versucht, veränderte Interaktionsmuster aufzubauen. Die von der Familie neu erarbeiteten Muster werden allmählich in den Alltag der Familie integriert.

1.4 Haltungen und Grundannahmen Es wird davon ausgegangen, dass Haltungen geprägt werden von Grundannahmen in Form eigener Werte, von Erklärungsmodellen und von Ideen darüber, was hilfreiche Prozesse sind.

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Wichtige haltungsprägende Grundannahmen des SIT-Modells: • Eltern sind nicht nur die wichtigsten Menschen für ihr Kind, sie haben auch zumeist den größten Einfluss auf ihr Kind. • Umso mehr die Eltern die Hilfe für ihr Kind selbst aktiv gestalten, umso wirkungsvoller und nachhaltiger ist die Hilfe für das Kind. • Daher ist der wichtigste Faktor eines Hilfeprozesses der Aktivitätszustand der Eltern – diesen schon zu Beginn der Hilfe zu ermöglichen und aufrecht zu erhalten, hat eine hohe Priorität. Eltern wollen aktiv sein – wenn sie nicht aktiv sind, liegt das in erster Linie an Erklärungsmodellen und Rollenzuweisungen, die sie vom Hilfesystem übernommen haben, • Die MitarbeiterInnen des Hilfesystems sind mitverantwortlich dafür, ob Eltern aktiv werden können – oft führen gerade gängige Angebotsund Kommunikationsmuster professioneller Systeme ungewollt, aber wirkungsvoll zu einer Deaktivierung von Eltern • Als Hintergrund von Symptomen bei Kindern bzw. Jugendlichen werden nicht nur die Beziehungen in der Herkunftsfamilie gesehen, sondern auch die Beziehungsmuster zwischen Familie und außerfamiliären Sozialisierungsinstitutionen (vor allem Hilfesystem, Schulsystem und medizinisches System) – daher wird nicht nur die Herkunftsfamilie betrachtet, sondern das Herkunftsnetz. • Obwohl es äußerlich so wirkt, als wären die Arbeitsbereiche von Zuweisern (Jugendamt) und Ausführenden der Hilfen getrennt, arbeiten beide Instanzen in der Wirkung ähnlich eng zusammen als wären sie in einem Team. Sind Arbeitsweisen, Erklärungsmodelle und Rollenzuweisungen zwischen Zuweisern (Jugendamt) und Helfenden nicht aufeinander abgestimmt, können Eltern in eine ähnliche Situation kommen wie Kinder, deren Eltern einen unterschiedlichen Erziehungsstil verfolgen: Sie erhalten sich widersprechende Botschaften. Die Wirkungen können sich gegenseitig aufheben, Symptome werden gefördert oder sogar neu produziert. 23


Systemische Interaktionsberatung

Michael Biene

• Festgelegte und enge Hilfekonzeptionen werden der Vielfalt von Hilfebedürfnissen nicht gerecht. Sie können die permanenten Veränderungs- und Lernanregungen aus den Hilfeprozessen nicht aufnehmen und in verbesserte Formen umsetzen. Es ist daher sinnvoller, flexible, lernfähige Konzepte zu ermöglichen, in denen sich Familien, Ausführende der Hilfe und Zuweiser (z. B. in Form von Projektsteuerungsgruppen) kontinuierlich gegenseitig Feedback und Anregungen geben können. • Als wichtige Faktoren, die Symptome bei Kindern bzw. Jugendlichen bedingen, werden Rollenunsicherheiten in der Familie gesehen (z. B. die Eltern sind nicht in der Elternrolle, das Kind wird als Partner behandelt, die Großmutter verhält sich, als wäre sie die Mutter usw.). • Diff use Rollen von Helfern verstärken die Probleme in der Familie (z. B. Helfer, die in die Elternrolle in Bezug auf das Kind oder in Bezug auf die Eltern gehen). • Das Aushandeln der Rollen und eine klare Rollenübernahme durch Helfer gehören daher zu den wertvollsten Veränderungsanstößen, die gegeben werden können. • Auch die Interaktionsmuster im Hilfenetz selbst haben eine sehr starke Wirkung auf Familien. Wertschätzende, lösungsorientierte Interaktionsmuster innerhalb des Hilfesystems werden daher als unabdingbare Basis einer erfolgreichen Hilfe für Familien angesehen. • Die Arbeit an der eigenen Haltung – den eigenen Bewertungen, Erklärungsmodellen, Interaktionsmustern und Rollenzuweisungen – ist ein wichtiger Bestandteil der Arbeit. • Insbesondere die Bereitschaft, sich bei Fehlschlägen selbst zu hinterfragen und weiterzuentwickeln, statt anderen die Verantwortung dafür zu geben, ist einer der wichtigsten Entwicklungsanstöße innerhalb der SIT-Arbeit.

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Michael Biene

Systemische Interaktionsberatung

• Die Begriffe und Sprachmuster, in denen man über Probleme kommuniziert, haben starke Auswirkungen auf den Aktivitätszustand aller am Hilfeprozess beteiligten Personen – insbesondere auf die Eltern. Daher stellt die Erforschung und Erarbeitung aktivierender Sprachmuster eine wichtige Aufgabe dar. • Die Arbeit der Eltern an den familiären Alltagsinteraktionen ermöglicht meist die schnellsten und deutlichsten positiven Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen. Sie wirkt aktivierend und ist daher die wichtigste Arbeitsebene im SIT-Modell. • Die meiste Aktivität und die größten Fortschritte werden bei den Eltern dann möglich, wenn der Helfer sie in der Rolle eines Coachs bei der Veränderung der Alltagsinteraktion unterstützt.

1.5 Thesen • Je stärker Eltern im Hilfeprozess beteiligt sind, umso wirkungsvoller und nachhaltiger ist die Hilfe für ihr Kind. • Eltern wollen aktiv sein – sie wollen ihre Probleme und die Probleme ihres Kindes selbst angehen und lösen. • Wenn Eltern im Hilfeprozess inaktiv sind, ist dies in erster Linie durch Rollenzuweisungen im Hilfeprozess bedingt. • Entscheidend für die Art der eingesetzten Hilfe ist meist die fachliche Orientierung im Hilfesystem, weniger die Symptomatik der Familie. • Das heißt, sehr viel mehr Eltern als bisher angenommen wären bereit, den Hilfeprozess für ihr Kind aktiv zu gestalten. Sie brauchen Angebote, die ihnen eine aktive Rolle einräumen.

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Mit Erscheinen dieses Buches „Moderne Heimerziehung heute – Die Systemische Interaktionstherapie und die Psychomotorik in der Intensivpädagogik“ liegen der zweite und der dritte Band (Doppelband) in der Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ vor. In diesem Doppelband finden Sie zwei Artikel zur Theorie und Praxis der Psychomotorik in der Intensivpädagogik sowie zwei Artikel zur Systemischen Interaktionstherapie im Rahmen der Erziehungshilfen. Im vorliegenden Fachbuch werden theoretische Ansätze und Methoden beschrieben, die in der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH ihre Anwendung finden. Genau wie unser erster Band verfolgt dieses Buch die Absicht, pädagogischen Fachkräften aus Schulen, Ämtern, Einrichtungen der Erziehungshilfen, im Sozialwesen Tätigen sowie interessierten Laien die Praxis in den stationären Erziehungshilfen greifbar zu machen. Wir wollen aufzeigen, wie und womit heute moderne Heimerziehung konfrontiert ist und welche Antworten das Ev. Kinderheim Herne für / auf diese damit verbundenen Herausforderungen findet.

ISBN 978-3-933059-42-0

FRISCHTEXTE Verlag · Herne

EUR 29,95


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