Moderne Heimerziehung heute. Band 4

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Hrsg.: Volker Rhein

Moderne Heimerziehung heute Band 4 Systemische Interaktionstherapie und unterst端tzende Methoden in der Praxis

FRISCH TEXTE VERLAG


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Moderne Heimerziehung heute Band 4 Die Systemische Interaktionstherapie und unterstützende Methoden in der Praxis Hrsg.: Volker Rhein 1. Auflage, 2013, FRISCHTEXTE Verlag, Herne ISBN 978-3-933059-43-7

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweiser Nachdruck oder Einspeisung, Rückgewinnung und Wiedergabe in Datenverarbeitungsanlagen aller Art sind vorbehalten. © FRISCHTEXTE Verlag, Herne Umschlagentwurf, Layout und Satz: Agentur Steinbökk Gesamtherstellung: druckfrisch medienzentrum ruhr gmbh, Herne ISBN 978-3-933059-43-7


Vorwort

Moderne Heimerziehung heute. Band 4

Vorwort des Herausgebers Mit diesem Buch liegt nun der vierte Band der Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ vor. In der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH wird nun schon seit mehr als zehn Jahren auf Basis der „Systemischen Interaktionstherapie“ (nach Michael Biene) in unterschiedlichen Angeboten und Projekten elternaktivierend gearbeitet. Dort wurde diese Form der Elternaktivierung implementiert und in einem gemeinsamen Prozess mit Michael Biene, dem Begründer der „Systemischen Interaktionstherapie“, weiterentwickelt. Dieses Buch wird anlässlich eines Fachtages, der im Jahr 2013 unter dem Thema „10 Jahre Systemische Interaktionstherapie“ in Herne stattfindet, herausgegeben. In den Bänden 1 und 2 der Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ wurde die Systemische Interaktionstherapie von Sara Wirbals und Michael Biene bereits vorgestellt. Volker Rhein und Ulrich Klaß haben im Band 2 über die Anfänge und die Geschichte der Implementierung der Systemischen Interaktionstherapie in die Arbeit der einzelnen Systeme der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH berichtet. Von daher ist es an der Zeit, die Praxis der Elternaktivierung, wie sie im Ev. Kinderheim Herne stattfindet, unter die Lupe zu nehmen und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieses werden wir nun im vorliegenden Band 4 der „Modernen Heimerziehung heute“ versuchen. In sieben Beiträgen berichten mehrere Autoren, die alle Mitarbeiter der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH sind oder waren, sowie Herr Biene aus unterschiedlichen Systemen, Projekten und pädagogischen Angeboten aus ihren verschiedenen Rollen und Perspektiven über die Erfahrungen aus dieser Praxis:


Moderne Heimerziehung heute. Band 4

Vorwort

1. Thomas Paluszek und Professor Dr. Schwabe beschreiben in ihrem Artikel zwei Fallbeispiele und deren Verlauf – Michael Biene kommentiert und erläutert aus der Sicht des außenstehenden SIT-Fachmanns die Prozesse. Der Artikel ist sicher informativ, steckt aber – gerade für Menschen, die hier den ersten Kontakt mit dem SIT-Ansatz suchen – möglicherweise auch voller Zumutungen. Manche Passagen lassen sich lesen, als ob die Autoren ernsthaft glaubten, dass Familien immer erst dann Probleme entwickeln, wenn Fachleute anfangen, sich auf Grund eigener, irriger Glaubenssätze um sie zu kümmern. Die angemessene Konsequenz wäre, Fachleute und Hilfen generell abzuschaffen, weil sie mehr Schaden als Nutzen anrichten. So stimmt das natürlich nicht. Wohl aber stimmt, dass Fachleute häufig durch Negativfestschreibungen und ungünstige, wenig wertschätzende Kommunikationen Familien einladen, in Kampf- oder Abgabemuster einzusteigen, in deren Verlauf sich anfänglich relativ „kleine“ Probleme zu immer größeren Problemkomplexen ausweiten. Im SIT-Ansatz sind, wenn etwas schief läuft, tatsächlich immer und zuallererst die Fachleute gefragt, sich zu überlegen, was der eigene Beitrag zum Misslingen war. Auch dieser Gedanke ist in Fachkreisen ja schon neu und unbequem genug. Dennoch meinen die Autoren, manche ihrer Gedanken in pointierter und radikaler Form darstellen zu müssen. Dabei mag die praktische Erfahrung ausschlaggebend sein, dass auch Fachleute wie Familien manchmal „Wachmacher“ brauchen, um überhaupt neue Informationen an sich herankommen lassen zu können. Wie auch immer: die Beschäftigung mit dem Artikel lohnt sich. Vielleicht muss man sich als Fachkraft nach dem ersten Lesen erst einmal Luft machen, sollte sich aber danach doch noch einmal dransetzen. Ich bin überzeugt, dass der Weg, den die Systemische Interaktionstherapie einschlägt, in der Zukunft ein sinnvoller und wichtiger innerhalb der Erziehungshilfen sein wird.


Vorwort

Moderne Heimerziehung heute. Band 4

2. Volker Rhein stellt in diesem Beitrag ein Arbeitsergebnis der SIT-Steuerungsgruppe der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH vor. Die Steuerungsgruppe beschreibt, wie die Systemische Interaktionstherapie im Ev. Kinderheim Herne verstanden bzw. erklärt wird. Die Beschreibung ist Grundlage aller SIT-Konzepte, die in dieser Einrichtung umgesetzt werden. Im Anhang zu diesem Text finden Sie ein SIT-Konzept. 3. Sabrina Rabe-Lipp erarbeitete während ihrer Ausbildung zur systemischen Interaktionsberaterin ein neues Konzept für die ambulante Arbeit mit Familien, in denen Essstörungen zu existenziellen Problemen führten. In ihrer Abschlussarbeit, die sie während der Ausbildung anfertigte, geht sie auf diesen Prozess und die dabei gemachten Erfahrungen ein. 4. Kristina Sollich verdeutlicht in ihrer Abschlussarbeit, dass die intensive Beschäftigung mit der Systemischen Interaktionstherapie bedeutet, dass sich pädagogische Fachkräfte oft hinterfragen müssen. Meist ist dieser Prozess mit einer raumgreifenden Persönlichkeitsentwicklung verbunden, die nachhaltig die tägliche praktische Arbeit verändert. 5. Marianne Buch beschreibt eine Form der Elterngruppenarbeit, wie sie innerhalb der Flexiblen Betreuung in einem Stadtteil von Herne von ihr angeboten wird. Diese Arbeit beinhaltet Elemente aus dem NLP (Neurolinguistisches Programmieren), der Systemischen Interaktionsberatung und weiteren Methoden und steht in der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH neben den Angeboten, die auf Grundlage der Systemischen Interaktionstherapie entwickelt wurden.


Moderne Heimerziehung heute. Band 4

Vorwort

6. Olympia Kirchberg schildert in ihrem Beitrag eine Form der Körperarbeit mit jungen Menschen, die von Essstörungen bedroht sind, die als unterstützendes Element für die SIT-Arbeit genutzt werden kann. 7. Neben den sechs Praxisbeiträgen stellt Herr Professor Dr. Schwabe den theoretischen Ansatz „Kampf um Anerkennung – eine sozialphilosophische Konflikt-Therapie und ihre Bedeutung für die Sozialpädagogik in der Jugendhilfe“ von Axel Honneth vor, der 1992 in einem Buch veröffentlicht wurde, und kommentiert diesen. Dieser Beitrag fällt aus dem Rahmen der Überlegungen und Umsetzungen der praktischen Beispiele, die in diesem Buch beschrieben werden, ist aber aus unserer Sicht genauso interessant und diskutierenswert. Mit dem Band 4 der Reihe „Moderne Heimerziehung heute“ möchte der Herausgeber erneut auf die Systemische Interaktionstherapie aufmerksam machen, die Praxis dieser elternaktivierenden Arbeit deutlich und erkennbar für Praktiker beschreiben, und vor allem Wissenschaftler, in der sozialen Arbeit Tätige und Politiker auffordern, sich mit der Systemischen Interaktionstherapie auseinanderzusetzen und die Chancen für die Zukunft unserer Gesellschaft zu erkennen, zumindest jedoch zu prüfen und eine Diskussion anzuregen. Über Rückmeldungen zu diesem Buch, seien sie kritischer oder positiver Natur, würden wir uns sehr freuen.

Volker Rhein


Inhaltsverzeichnis

Moderne Heimerziehung heute. Band 4

VORWORT DES HERAUSGEBERS EINBLICKE IN DIE PRAXIS DER ELTERNAKTIVIERUNG NACH DEM SIT-ANSATZ 1. Entstehung von Haltung und Grundformen der SIT-Arbeit 1.1 Wie entstand die Haltung? 1.2 Methodische Schritte entwickeln sich mit der Haltung 1.3 Das Kampfmuster zwischen Familien und professionellen Systemen 1.4 Wie aus dem Kampfmuster aussteigen? 1.5 Exkurs: Der Stadtkommandant von Paris 1.6 Die Hilfe auf das Ziel der Klienten ausrichten: „Stress mit der Außenwelt“ verringern 1.7 Das Abgabe- / Abnahmemuster zwischen Familien und professionellen Systemen 1.8 Wie aus dem Abgabe- / Abnahmemuster aussteigen? 2. Zwei Fall-Geschichten aus dem Alltag der SIT-Arbeit 2.1. Familie Adam

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2.1.1 Kampfmuster 2.1.2 Eingangsszene 2.1.3 Und heute? 2.1.4 Wichtige Meilensteine auf dem Entwicklungsweg 2.1.4.1 Erste Phase 2.1.4.2 Zweite Phase 2.1.4.3 Dritte Phase 2.1.4.4 Vierte Phase

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2.1.5 Ergänzungen und Kommentare aus Sicht der Jugendamtsmitarbeiterin 2.1.6 Statements von Herrn Adam zu seinem SIT-Prozess

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Moderne Heimerziehung heute. Band 4

Inhaltsverzeichnis

2.1.7 Kommentar des „SIT-Entwicklers“ Michael Biene 2.1.7.1. Die Phase der vorangegangenen Hilfen 2.1.7.2. Die erste Zeit im Familienhaus 2.1.7.3. Veränderung des Scheinkooperationsmusters in eine wirkliche Kooperation 2.1.7.4. Die intensive Arbeitsphase im Kooperationsmuster

2.2 Familie Bauer: Abgabe- / Abnahmemuster 2.2.1 Eingangsszene 2.2.2 Und heute? 2.2.3 Wichtige Meilensteine auf dem Entwicklungsweg 2.2.3.1 Erste Phase 2.2.3.2 Zweite Phase 2.2.3.3 Dritte Phase 2.2.3.4 Vierte Phase 2.2.4 Ergänzungen und Kommentare der fallzuständigen Sozialarbeiterin des Jugendamtes 2.2.5 Statements von Frau Bauer zu ihrem SIT-Prozess 2.2.6 Kommentare des „SIT-Entwicklers“ Michael Biene 2.2.6.1. Die Zeit vor der SIT-Hilfe 2.2.6.2. Abgabemusterarbeit: Vom Abgabe- / Abnahmemuster in die Kooperationsbeziehung 2.2.6.3. Die Veränderungsphase in der Familie

Schluss Literatur SYSTEMISCHE INTERAKTIONSTHERAPIE (SIT)IM EV. KINDERHEIM HERNE 1. Vorwort 2. Elternaktivierende Angebote auf Grundlage der Systemischen Interaktionstherapie in der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH

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Inhaltsverzeichnis

Moderne Heimerziehung heute. Band 4

3. Der SIT-Ansatz 3.1 Musterdiagnose und Musterarbeit 3.1.1 Scheinkooperation 3.1.2 Problemtrance 3.1.3 Hypnotalk 3.1.4 Zielplakate 3.1.5 Rollenspiele 3.1.6 SIT-Elternarbeit

3.2 Ausgangssituation 3.2.1 Kampfmuster 3.2.1.1 Jugendamt 3.2.1.2 Eltern 3.2.1.3 Anbieter 3.2.2 Abgabemuster 3.2.2.1 Jugendamt 3.2.2.2 Anbieter 3.2.3 Eltern fühlen sich zuständig für die Veränderung ihres Kindes (Kooperation). 3.2.3.1 Eltern 3.2.3.2 Eltern – Anbieter 3.2.3.3 Eltern-Kind-Prozess 3.2.3.4 Jugendamt 3.2.4 Arbeit mit den Kindern in konkreten Lebenssituationen 3.2.4.1 Eltern 3.2.4.2 Anbieter 3.2.4.3 Kind

4. Konzeption der Sozialen Gruppenarbeit / SIT-Familienarbeit Herne-Sodingen 4.1 Einleitung 4.2 Rechtliche Grundlagen 4.3 Lage

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Inhaltsverzeichnis

4.4 Zielgruppe 4.5 Zusammenarbeit mit den Jugendämtern 4.6 Der Arbeitsprozess 4.6.1 Aufnahme / Was müssen Eltern leisten? 4.6.2 Elterngruppe der Sozialen Gruppenarbeit nach dem SIT-Modell 4.6.3 Eltern-Kindgruppe der Sozialen Gruppenarbeit nach dem SIT-Modell 4.6.4 Kindergruppe der Sozialen Gruppenarbeit nach dem SIT-Modell

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4.7 Rahmenbedingungen 4.8 Einbindung in die Institution 4.9 Weiterführende und ergänzende Maßnahmen Literaturliste

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„ANNIE“ TRIFFT TRIANGEL 1. Zur Entwicklung von „ANNIE“ triff t Triangel – die Vorgeschichte 2. Vorarbeit und Beschreibung der Familie 2.1 Anmeldesituation 2.2 „ANNIE“ triff t Triangel – das Konzept 2.3 Synchronisierung mit dem Jugendamt 2.4 Synchronisierung mit Svenjas ambulanter Psychotherapeutin 2.5 Beschreibung der familiären Situation 3. Die drei Phasen des SIT-Beratungsprozesses 3.1 Musterarbeit mit den Eltern 3.2 Problemtrancearbeit mit den Eltern 3.3 Rollenspiele 3.4 Hypnotalk 4. Ergebnisse und Diskussion 5. Persönlicher Beitrag der Eltern 6. Zur Rückmeldung durch das Jugendamt Literaturliste

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Inhaltsverzeichnis

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SYSTEMISCHE INTERAKTIONSTHERAPIE – FORTBILDUNG Vorwort 1. Einleitung 2. Vorarbeit und Beschreibung der Familie 2.1 Anmeldesituation 2.2 Beschreibung der Familie 2.3 Überlegungen zur Hilfegeschichte 3. Die drei Phasen des SIT Basisprozesses 3.1 Musterarbeit mit den Eltern 3.2 Problemtrancearbeit mit den Eltern 3.3 Rollenspiele 4. Ergebnisse und Diskussion Literaturliste ELTERNTRAINING / ELTERNGRUPPE NACH DEM NLP-ANSATZ MIT ELEMENTEN AUS SIT 1. Elterntraining in der Flexiblen Betreuung – eine Teilnehmerin beschreibt das Elterntraining 2. Elterntraining in der Flexiblen Betreuung – Professionelle Ergänzung Literaturliste

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KÖRPERARBEIT MIT ESSGESTÖRTEN JUNGEN FRAUEN INNERHALB EINER STATIONÄREN EINRICHTUNG 203 1. Einleitung 204 2. Kurze Vorstellung der Konzeption des „Via ANNIE“-Hilfesystems 205 2.1 Klassifikation der Essstörungen 206 2.2 Körperarbeit im Kontext der „Via ANNIE“-Wohngemeinschaft für junge Frauen – eine Einführung 208 2.3 Beispielhafter Verlauf eines Körperarbeitsprozesses 212 3. Zusammenfassende Aussichten 220 Literaturliste 222


Moderne Heimerziehung heute. Band 4

Inhaltsverzeichnis

KAMPF UM ANERKENNUNG – EINE SOZIALPHILOSOPHISCHE KONFLIKT-THEORIE UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DIE SOZIALPÄDAGOGIK IN DER JUGENDHILFE 1. Honneths Theorie der drei Anerkennungsformen 2. Anwendung der Theorie auf drei Beispiele aus dem Erziehungsalltag 2.1 Eine Seite fühlt sich missachtet … wie sich „Kämpfe um Anerkennung“ konstellieren 2.2 Verfahren als Lösung für und Produkt von Anerkennungskämpfen 2.3 Eskalierte Anerkennungskämpfe und die Macht der Umdeutung 3. Fazit für MitarbeiterInnen der Jugend- bzw. Erziehungshilfen Literatur AUTOREN

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Einblicke in die Praxis der Elternaktivierung

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inblicke in die

Praxis der Elternaktivierung nach dem SIT-Ansatz 13


Einblicke in die Praxis der Elternaktivierung

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In „Moderne Heimerziehung heute – Band 2 und Band 3“ wurde das Konzept der „Systemischen-interaktionellen Therapie und Beratung“ (SIT) vorgestellt.1 In diesem Band wollen wir nun Einblicke in die Praxis der SIT-Arbeit geben. Dies geschieht auf drei Ebenen: 1. Zu Beginn schildert Michael Biene, wie sich das SIT-Konzept innerhalb mehrerer Jahre aus der Elternarbeit im Kontext Heim heraus entwickelt hat und was diese Entwicklung ihm und den Mitarbeiter(inne)n an Veränderungen in Bezug auf die eigene Haltung und das eigene professionelle Handeln abgefordert hat. Zentrale Begriffe, die das Team um Michael Biene kreiert hat, werden erläutert (Kampf-, Abgabe-, Kooperationsmuster). 2. Anschließend werden die Entwicklungen zweier Familien dargestellt, die mit Unterstützung eines SIT-Mitarbeiters erstaunliche Veränderungen vollzogen haben. Eine der Familien bewegte sich zunächst im Kampf-, die andere im Abgabemuster. Beide Musterkonstellationen sind für das Aktivwerden von Eltern und deren Einflussnahme auf ihre Kinder ungünstig. Beide Muster wurden vorher von den Vertretern des Hilfesystems gemeinsam mit den Familien aufgebaut, ohne dass das von jemandem so gewollt, aber auch ohne dass dies rechtzeitig reflektiert worden wäre. In beiden Fällen ist es gelungen, aus diesen Mustern „auszusteigen“ und eine nachhaltige Kooperationsbeziehung zwischen Familie und Helfern aufzubauen, in deren Rahmen die Eltern sich wieder aktiv und konstruktiv mit ihren Kindern und den sie umgebenden Helfern auseinandersetzen konnten. Wie, d. h. in welchen Schritten und mit Hilfe welcher Fragen und Interventionen das gelungen ist, wird von einem erfahrenen SIT-Mitarbeiter (Thomas Paluszek) geschildert. Eine Falldarstellung stammt aus dem ambulanten Bereich der SIT-Arbeit, die andere aus einem stationären SIT-Angebot, dem sogenannten „Familienhaus“. Bei beiden handelt es 1 Biene 2011, 13–138 14


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sich um Angebote der Evangelisches Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH. 3. Anschließend kommentiert Michael Biene die beiden Falldarstellungen auf einer Meta-Ebene. Zum einen dadurch, dass er in den laufenden Text Kommentare einstreut (diese stehen in Klammern, sind eingerückt und beginnen immer mit „SIT:“), zum anderen durch einen jeweils ausführlichen Abschlusskommentar zu den beiden Falldarstellungen, in dem er besonderes Augenmerk auf die Wirkfaktoren legt, die seiner Einschätzung nach zu den Veränderungen bei den Familien geführt haben. Die (mitlaufenden) Kommentierungen dienen dazu, das Spezifische des SIT-Ansatzes für den Leser erlebbar und nachvollziehbar werden zu lassen, denn neben konkreten Arbeitsformen beinhaltet das SIT-Modell vor allem ein „anderes“ Denkmodell, in dem die Verhaltensweisen einzelner Personen in Hilfeprozessen häufig auf gänzlich neue Weise interpretiert werden. Dieses andere Denken findet seinen Ausdruck in einer veränderten Sprache, und genau diese Unterschiede zwischen einer herkömmlichen, für manche Kontexte durchaus angemessenen psychosozialen Fachsprache und der spezifischen SIT-Sprache wollen wir dem Leser mit Hilfe dieser Kommentare vorführen.

1. Entstehung von Haltung und Grundformen der SIT-Arbeit Die Entwicklungsgeschichten der Familie A und B weisen Merkmale auf, die für eine „Hilfemaßnahme“ nach dem SIT-Modell typisch sind. Einerseits finden sich bestimmte methodische Schritte. Andererseits folgt die Methodik einer „dahinter stehenden“ Haltung. Nur in Kombination mit der Haltung kann die Methodik die beschriebene Wirkung erzielen. Im Folgenden soll zunächst geschildert werden, wie die SIT-Haltung im Berliner Triangel-Projekt entstanden ist und was die Kernelemente dieser Haltung sind. Sodann soll die logische Struktur des Hilfeprozesses kurz geschildert werden. 15


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1.1 Wie entstand die Haltung? Das Projekt Triangel wurde 1994 im Berliner Kinderheim Haus Buckow gegründet. In den Jahren zuvor hatte sich in der Arbeit im Haus Buckow die Bedeutung der Eltern für erfolgreiche Hilfeverläufe immer deutlicher gezeigt. Kinder und Jugendliche entwickelten sich schon in der Zeit, in der sie in der Einrichtung lebten, positiver, wenn ihre Eltern intensiv mit den Heimmitarbeiter(inne)n zusammen arbeiteten. Besonders deutlich wurde die Bedeutung einer intensiven Elternbeteiligung, wenn es um Rückführungen ging. Ohne die Zusammenarbeit mit den Eltern gelangen Rückführungen kaum. Mitte der 90er-Jahre gab es jedoch nur sehr wenige Eltern, die intensiv mit der Einrichtung zusammen arbeiteten. So wurde Triangel als internes Forschungsprojekt gegründet. Ziel des Projekts war es, Arbeitsformen zu entwickeln, die eine stärkere Beteiligung von Eltern ermöglichen. In den ersten ein bis zwei Jahren gelang es kaum, Eltern dazu zu gewinnen, sich auf eine weitergehende Zusammenarbeit einzulassen, obwohl eine methodische Vielfalt von Beratungs- und Therapiekonzepten eingesetzt und den Eltern sehr flexible Angebote einer Zusammenarbeit gemacht wurden. Die Versuche, Eltern zu einer verstärkten Zusammenarbeit zu gewinnen, mündeten in immer gleiche Situationen des Scheiterns. Eltern zeigten sich oft schon ablehnend, wenn ihnen Gesprächsangebote gemacht wurden. Gelang es tatsächlich, sie zu Gesprächen zu bewegen, kamen sie oft nicht zu den Folgeterminen. Wenn versucht wurde, mit ihnen über Probleme ihres Kindes zu sprechen und sie zu einer höheren erzieherischen Aktivität zu motivieren, schienen sie dies oft nicht richtig zu verstehen oder sie führten viele Gründe an, warum es nicht ginge. Mühsam erarbeitete pädagogische Absprachen wurden von den Eltern anscheinend bald wieder vergessen oder nicht richtig umgesetzt u. v. a. mehr. In der ersten Zeit der Arbeit in der Triangel waren wir der Meinung, diese Verhaltensweisen seien in der Persönlichkeit oder der Familienstruktur der 16


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Klienten begründet. Zur Beschreibung der Ursachen des Verhaltens der Eltern verwendeten wir vermeintlich erklärende Begriffe. Diese Begriffe wurden auch von unserem gesamten „fachlichen Umfeld“ ähnlich verwendet und fanden sich z. B. zahlreich in Berichten über die Familien. Wir bezeichneten Eltern z. B. als „unmotiviert“, „unfähig, Probleme zu erkennen“, „nicht in der Lage, sich auf eine Hilfe einzulassen“, „unfähig, sich in andere Menschen einzufühlen“ und verwendeten Begriffe wie „Multiproblemfamilie, „Bindungsfamilie, „verwahrloste Strukturen“, „Alkoholfamilie“ oder gar gravierendere diagnostische Bezeichnungen wie „Borderline“ oder „psychische Krankheit“. Wenn wir diese und viele ähnliche Begriffe benutzten, hatten wir die Idee, unser Scheitern durch die Problematik der Klienten erklären zu können. Wir hatten „alles nur Mögliche getan“, so dachten wir, aber an den „Störungen der Eltern prallten eben all unsere Bemühungen ab“. Das ständige Scheitern unserer „fachlich fundierten“ Vorgehensweisen führte uns jedoch immer häufiger dazu, ungewöhnliche Arbeitsformen zu erproben, die zunächst sehr experimentell waren. So erbrachten unsere üblichen Teambesprechungen, in denen wir uns vor allem über die vermeintlichen „Störungen“ der Klienten austauschten, meist keine neuen Ideen, wie wir Eltern zu einer verstärkten Zusammenarbeit gewinnen können. Auf der Suche nach effektiveren Formen der Teamarbeit spielten wir eines Tages eher zufällig im Team Gesprächssituationen mit Eltern nach, in denen wir das Gefühl hatten, gescheitert zu sein. Dabei zeigte sich ein erstaunliches Phänomen. Alle Kolleg(inn)en, die im Rollenspiel in „die Rolle der Eltern gingen“ und unsere Haltung und Methodik aus dieser Perspektive erfuhren, reagierten ähnlich widerständig, „gestört“, „überfordert“ wie unsere Klienten. Nur: Sie hatten die Störungen, die wir hinter diesem Verhalten vermuteten, gar nicht und sie gaben sich auch keine Mühe, eine Störung nachzuspielen. Es schien vielmehr auszureichen, einfach nur unsere Haltung und Gesprächsführung als normal empfindender Mensch auf sich einwirken zu lassen, um „symptomatisches Verhalten“ zu entwickeln. Diese Feststellung war zugleich schockierend wie ermutigend. Schockierend war, dass wir offensichtlich gerade in unseren 17


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Aktivierungsbemühungen Interaktionsmuster aufbauten, die das Gegenteil dessen bewirkten, was wir wollten. Wir verstärkten oder schufen mitunter sogar genau die Symptome, die wir verändern wollten. Ermutigend war, dass wir in der Lage waren, im Rollenspiel die Perspektive unserer Klienten so genau nachzuempfinden, dass wir allmählich herausfiltern konnten, was deaktivierend wirkt und welche unserer Aktivierungsversuche eine Chance hatten. Einige wichtige Schlussfolgerungen für unsere weitere Arbeit waren: 1. Wenn es Situationen mit Eltern gab, in denen unsere Aktivierungsversuche misslangen, verzichteten wir nunmehr immer darauf, uns diese durch vermeintliche Störungen der Eltern zu erklären. Die diagnostizierten Störungen hielten wir zwar nicht für irrelevant, wir nutzten sie aber nicht mehr dafür unser Scheitern zu erklären. Gerade das Denken und Sprechen in pathologisierenden, Schuld zuweisenden Kategorien schien uns in eine Haltung zu bringen, die sich im Empfinden der Eltern als anmaßend, arrogant und besserwisserisch anfühlte. 2. Stattdessen spielten wir genau die Gesprächssituationen im Rollenspiel nach, in denen wir ein Scheitern erlebt hatten. Dann versuchten wir in einem Prozess des spielerischen Ausprobierens unser Verhalten so lange zu variieren, bis die Person in der Rolle des Klienten positiver reagierte. Dies brachte uns in eine Haltung, aus der heraus wir nicht mehr „den Eltern“ die Schuld für ein Misslingen zuwiesen, sondern eher nachdenklich und behutsam danach suchten, welche Fehler wir selbst begangen hatten. Aus dieser Haltung heraus wurde für uns immer deutlicher, dass die Handlungen der Eltern in den meisten von uns als „schwierig“ empfundenen Situationen“ weniger durch ihre „Störungen“ verursacht, sondern absolut nachvollziehbare vernünftige Reaktionen auf „die Art“ unseres professionellen Verhalten waren. Diese Grundhaltung vertiefte sich zunehmend und prägte die Stimmung im Projekt Triangel immer mehr. Lange hatten wir versucht, durch den Einsatz methodischer Techniken (z. B. die Aussagen „Sie sind Experte für ihr Kind“, 18


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„Sie sind die wichtigste Person für ihr Kind“) Eltern zu aktivieren. Die Wirkung war recht gering. Durch die nunmehr veränderte Form Misslingen zu erklären und bei uns selbst nach alternativem Verhalten zu suchen, veränderte sich unser Denken. Fast jedes Detail in einem Hilfeprozess wurde aus der Sicht der Klienten, die wir immer besser einnehmen konnten, völlig anders interpretierbar. Die erstaunliche Folge war nun, dass vor allem unser verändertes Denken genau die aktivierende Wirkung hatte, die wir zuvor vergeblich mit den unterschiedlichsten methodischen Schachzügen erreichen wollten. Unser „anderes Denken“ veränderte in Gesprächen so wichtige Variablen wie Mimik, Gestik, Körperhaltung und Tonfall. Wir wurden von den Eltern als „verstehend“, wohlwollend und kompetent erlebt. Die Wirkung war einerseits, dass sich Eltern von dieser Haltung stark eingeladen fühlten, mit uns in eine Auseinandersetzung zu gehen. Andererseits wirkte unsere Haltung, uns bei Schwierigkeiten permanent selbst zu hinterfragen und unser Verhalten zu verändern, ansteckend. Es regte die Eltern an, selbst auch über sich und ihre Wirkung nachzudenken und ihr Verhalten zu verändern. Durch diesen Ansteckungseffekt „taten sie wie von selbst“ genau das, was wir vorher durch methodische Raffinessen nicht erreichen konnten. 1.2 Methodische Schritte entwickeln sich mit der Haltung Die konsequenten Versuche, jede Situation, in der wir Eltern als unmotiviert erlebten, zu verstehen, indem wir in ihre Rolle „schlüpften“ führte dazu, dass wir allmählich ein neues Denkmodell entwickelten, mit dem wir die Abläufe in Hilfeprozessen erklärten. Wie schon erwähnt, schienen die Eltern in den meisten problematischen Situationen gar nicht aus einer „störungsspezifischen Logik“ heraus zu handeln, sondern eine bestimmte sehr gut nachvollziehbare Wahrnehmung der Fachkräfte löste bei ihnen genau die Reaktion aus, die wir als „gestört“ empfanden, und genau diese Reaktion der Eltern führte dann wiederum bei uns ebenfalls zu bestimmten, recht stereotypen Formen darauf zu reagieren, was 19


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für die Eltern dann wieder der Auslöser dafür war, ihrerseits „symptomatisch“ zu reagieren. Wir stießen so auf Dynamiken, die sich zwischen uns und den Familien abspielten, die Schulz von Thun als „Teufelskreis“ beschreibt.2 Diese wiesen erschreckend starre regelhafte Abläufe auf, in denen sich sowohl die Eltern als auch wir „verfingen“. Entscheidender Faktor für die Inaktivität oder Aktivität von Eltern im Hilfeprozess waren nach diesem Modell also vor allem Beziehungs- und Interaktionsmuster zwischen professionellen Fachkräften und Eltern. In dem Studium dieser regelhaft ablaufenden, oft starren Beziehungs- und Interaktionsmuster zwischen den Eltern und uns zeigten sich immer wieder drei Grundmuster. Diese Grundmuster hatten gravierende Auswirkungen auf nahezu alle Situationen, die wir mit den Eltern erlebten. Zwei der Grundbeziehungsmuster zwischen Familien und Fachkräften hatten zumeist eine inaktive oder gar sabotierende Haltung der Eltern zur Folge. Diese nannten wir Abgabe- / Abnahmemuster und Kampfmuster. Das dritte Grundmuster hingegen bewirkte, dass Eltern nahezu immer aktiv wurden. Dieses Muster nannten wir Kooperationsmuster. Abgabe- / Abnahmemuster und Kampfmuster stellten dabei für uns nicht nur ein Hindernis dar, eine kooperative Zusammenarbeit mit Eltern aufzubauen. Sie schienen so negative Auswirkungen zu haben, dass die „Muster selbst schädigten“. Sie konnten bestehende Probleme in der Familie erheblich verstärken oder sogar Probleme erzeugen, die zuvor noch gar nicht vorhanden waren. In der Regel lernten wir Familien kennen, die zuvor mindestens fünf meist sogar 15 bis 20 Hilfen erhalten hatten. Bei jeder dieser Familien bildeten die beiden Problemmuster auch die Grundstruktur, in der die bisherigen Hilfen verliefen. Mehr und mehr gelangten wir zu der Hypothese, dass schon in den vorherigen Hilfen genau die Musterlogik und nicht die Problematik der Klienten ein erfolgreiches Arbeiten sowohl der Familie als auch der Fachleute verhinderte. 2 Schulz von Thun 2006, 28–34 20


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Unsere Hauptaufgabe in der aktivierenden Arbeit bestand also vor allem darin, diese Muster so schnell als möglich zu erkennen und dann alles dafür zu tun, dass sie sich in ein Kooperationsmuster umwandelten. Denn im Kooperationsmuster arbeiteten die Eltern nicht nur sehr engagiert an Veränderungen, ihre engagierte Arbeit erbrachte zumeist auch so deutliche positive Veränderungen beim Kind wie sie in den Jahren zuvor von gut ausgebildeten Fachleuten nicht erreicht worden waren. 1.3 Das Kampfmuster zwischen Familien und professionellen Systemen Das Kampfmuster tritt meist im „Gefährdungsbereich“ auf, also dann. wenn Eltern und / oder Kinder Verhaltensweisen zeigen, die gefährdend sind. Im Kampfmuster wird diese Gefährdung allerdings von der Familie nicht so erlebt. Im Kampfmuster werden Erleben und Handlungen der Familie in erster Linie von drei Grundannahmen geprägt, die eine Zusammenarbeit aus Sicht der Eltern als nicht sinnvoll erscheinen lassen: 1. Es gibt in unserer Familie keine Probleme, die einer Veränderung bedürfen. 2. Unser Problem sind familienexterne Personen, die uns Probleme einreden und auf uns Druck ausüben wollen (z. B. Kindergarten, Schule oder Jugendamt). 3. Wir brauchen keine Hilfe, um familieninterne Probleme zu lösen (die es ja nach unserer Auffassung nicht gibt) – was uns stört, sind die (von uns erlebten) „Übergriffe“ der Fachleute, die sich in unsere Angelegenheiten einmischen und die Bedrohung, die von den Fachleuten ausgeht. Diese Glaubenssätze werden im SIT-Modell nicht als ein Persönlichkeits- oder Familienmerkmal der Klienten angesehen. Sie stellen vielmehr eine Reaktion auf bestimmte Interaktionsmuster, vor allem mit Fachpersonen, dar. Diese Interaktionsmuster erleben die Familien als Angriff. Auf den (erlebten) Angriff 21


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reagieren sie mit Verteidigungsverhalten, d. h. ohne „den erlebten Angriff “ würden Familien nicht in den Zustand des „Kämpfens“ kommen. Die oben beschriebenen Glaubenssätze der Familie verschwinden ohne „auslösende Interaktionsmuster“ sofort, da sie keinen Sinn mehr machen („Es gibt keinen Angreifer mehr, gegen den man sich wehren muss.“). Das Problem ist, dass Fachleute im Kampfmuster genau diese „auslösenden Interaktionsmuster“ permanent aufbauen. Die „auslösenden Interaktionsmuster“ stellen paradoxerweise genau die Verhaltensweisen dar, die Fachkräfte in dem Muster anwenden, um die Probleme zu lösen. Die Familie ihrerseits liefert wiederum die Auslöser, die Fachkräfte dazu veranlasst musterverstärkend zu reagieren. Wenn die Familie sich z. B. angegriffen fühlt, kann sie versuchen, die Angriffe abzuwehren. Diese aus Sicht der Familie sinnvolle Verteidigung wird aus der Perspektive der Fachleute jedoch oft als „uneinsichtig“ oder gar „gestört“ erlebt. Diese Einschätzung der Familien durch die Fachleute merken die Familien und reagieren mit noch mehr Abwehr. Die musterverstärkenden Glaubenssätze der Fachleute sind vor allem: 1. Es gibt erhebliche Probleme in der Familie, die Familie sollte dies einsehen. 2. Die externen Personen, die Probleme definieren (z. B. Kindergarten, Schule, Jugendamt), haben Recht – auch dies sollte die Familie einsehen. 3. Es braucht dringend eine Hilfe durch Fachpersonen, die sich auf die Kinder und / oder die Eltern richtet, die Familie soll die Hilfe „annehmen“ und „mitarbeiten“. Auf der Grundlage dieser Glaubenssätze agieren nun auch die Fachleute. Sie versuchen ihre methodischen Fertigkeiten und ihre professionellen Einflussmöglichkeiten zu nutzen, um die Eltern zu „überzeugen“, dass es Probleme in der Familie gibt und dass eine Hilfemaßnahme notwendig ist. Die Eltern lassen sich im Kampfmuster jedoch in der Regel nicht überzeugen. Das liegt jedoch, wie schon erwähnt, nicht daran, dass sie „gestört“ sind. 22


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Ihr Handeln wird durch die Logik des Kampfmusters gesteuert, die sich aus den drei oben genannten Glaubenssätzen ergibt. Diese lassen eine Hilfe logischerweise als sinnlos, ja sogar als Zumutung erscheinen. So prallen die Überzeugungsversuche an den Glaubenssätzen der Familie ab. Lässt sich die Familie nicht überzeugen, führt dies oft dazu, dass die Fachkräfte schließlich Druck ausüben, eine Hilfe „anzunehmen“. Da aus Sicht der Familie jedoch eine Hilfe nicht sinnvoll ist, wird die Hilfe nur angenommen, um den Druck zu reduzieren. Dies wird im SIT-Modell „Scheinkooperation“ genannt. Die Familie handelt aus ihrer Sicht sehr klug. Sie hat gelernt, dass Fachleute Druck verringern, wenn Hilfe angenommen wird. Also nehmen sie Hilfe an, damit die Fachpersonen erst einmal „zufrieden“ sind. Auf Grund ihrer Glaubenssätze empfinden sie eine Hilfe jedoch als nicht sinnvoll und somit mehr als Belästigung oder Bedrohung. Natürlich arbeiten sie vor diesem Hintergrund auch nicht „wirklich“ mit, da es aus ihrer Sicht keine Probleme gibt, sondern „tun so, als ob“, damit die Fachkräfte „Ruhe geben“. In dieser Situation versuchen Helfer oft, Einsicht zu erzeugen und / oder die Familie zu einer Veränderung ihres Verhaltens zu „motivieren“. Damit geraten sie in den Kampf mit dem Glaubenssatz 1 („Es gibt keine Probleme in der Familie“). Die Hilfe kann sich dann darin erschöpfen, dass Helfer unentwegt versuchen, Einsicht zu erzeugen und Veränderungen zu erarbeiten und die Familie dies unentwegt „aussitzt“ oder Gegenargumente entwickelt. Die eigentlichen Probleme (z. B. mangelnde Versorgung der Kinder) werden von der Familie jedoch nicht angegangen, auch weil ihre Kräfte in der Abwehr von Helfern anderweitig gebunden sind. So gibt es keine Veränderungen, weil diese von der Familie gar nicht als sinnvoll und notwendig erachtet werden, und in der Regel reiht sich so eine Hilfe an die andere, während die Probleme bleiben oder gar eskalieren. „Und wenn sie nicht gestorben sind“, so „mustern“ sie noch heute. Die Glaubenssätze bilden die Architektur eines komplexen Interaktionsgefüges, in das sich die Familie und das professionelle Umfeld verwickelt haben. Das traurige Ergebnis dieser Beziehungsarchitektur ist, dass die Kommunikation 23


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mit einem hohen Aufwand aller Beteiligten geführt wird und dieser Aufwand in der Regel eine Verschlimmerung der Probleme bewirkt. 1.4 Wie aus dem Kampfmuster aussteigen? Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass es für Fachkräfte einen naheliegenden Weg gibt, das Kampfmuster zu verändern: Da das Muster zu einem nicht geringen Teil „selbst erzeugt“ wird, können die mustererzeugenden Denk- und Verhaltensmuster einfach „weggelassen werden“. In der Praxis stellt sich dieses Unterfangen jedoch als äußerst schwierig heraus. Es geht um Denk- und Handlungsmuster, die „automatisiert“ und kaum bewusst ablaufen und daher kaum willentlich beeinflussbar sind. Der Zustand, in den Fachpersonen im Kampfmuster geraten können, weist „tranceartige“ Qualitäten auf. Wesentliche Grundpfeiler dieser Kampfmustertrance sind: • den drei oben beschriebenen Glaubenssätzen zu folgen und auf dieser Basis immer „mehr desgleichen“ zu versuchen, z. B. immer besser überzeugen zu wollen, dass „es Probleme gibt“ oder „immer bessere“ Hilfeangebote einsetzen zu wollen. • konsequent alles „Scheitern“ der bisherigen Hilfen den Familien anzulasten, während nicht erkannt wird, dass genau die eigenen Bemühungen, die eine Veränderung herbeiführen sollen, das problemerhaltende Muster stabilisieren. Die „Kampfmustertrance“ zu verlassen und die Geschehnisse aus einer Meta-Perspektive zu betrachten, ist die spezifische Anforderung an die Fachkräfte. Zum einen müssen aus dieser Meta-Perspektive heraus in mühevoller Kleinarbeit genau die eigenen genannten Verhaltensweisen, die das Kampfverhalten der Eltern auslösen, erst einmal identifiziert werden, um sie dann „radikal“ abzustellen. Dies bedeutet für Fachkräfte weniger, dass sie „neue Methoden“ erlernen, sondern dass sie sich in einem oft langwierigen und durchaus schmerzlichen Prozess damit konfrontieren, was sie als 24


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Akteure des Kampfmusters alles ungewollt „anrichten“ und bisher schon „angerichtet haben“. Daraus entsteht eine neue Haltung, in der andere Formen der Kommunikation gelingen. Paradigmatisch dafür steht die folgende „Geschichte“, die Watzlawick / Weakland / Fisch in ihrem Buch „Lösungen“ erzählen.3 1.5 Exkurs: Der Stadtkommandant von Paris In der Zeit der französischen Revolution erhielt der Stadtkommandant von Paris vom König den Befehl, auf die Canaille feuern zu lassen, wenn sie sich zusammenrottete. Da der nächste Menschenauflauf sich schon ankündigte, befürchtete der Stadtkommandant, dass er bald ein Blutbad anrichten müsse. Er befand sich in dem Dilemma, dies einerseits vermeiden zu wollen, andererseits dem Befehl des Königs folgen zu müssen. Schließlich hatte er eine Idee. Als sich tatsächlich eine Menschenmenge zusammenfand, trat er ihr entgegen und sagte: „Der König hat mir den Befehl gegeben, auf die Canaille zu schießen. Ich sehe hier jedoch keine Canaille, sondern nur ehrenwerte Bürger. Dürfte ich die ehrenwerten Bürger bitten, beiseite zu treten, damit ich ungestört auf die Canaille feuern kann?“ Als Folge traten alle Menschen beiseite, die Versammlung löste sich auf und der Stadtkommandant musste keinen Schießbefehl erteilen (ebd. 104). In dieser Geschichte wird der aus Sicht des SIT-Modells wesentlichste Aspekt der Arbeit mit dem Kampfmuster deutlich: Die Klienten werden nicht als „Canaille“ sondern als „ehrenwerte Bürger“ angesprochen. Dabei reicht es nicht, selbst der Überzeugung zu sein, Klienten respektvoll zu behandeln. Entscheidend ist vielmehr, wie die Klienten das Auftreten der Helfer erleben. Zwischen der eigenen Absicht und dem Empfinden der Klienten klafft oft eine große Diskrepanz. Fühlen sich Eltern als uneinsichtige, gestörte Individuen 3 Watzlawick / Weakland / Fisch 1992, 104 25


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angesehen, so kann sich innerhalb von Sekunden ein Kampfmuster aufbauen mit der damit verbundenen negativen Prognose für den Erfolg der Hilfe oder aber die Klienten fühlen sich als „ehrenwerte Bürger“ angesprochen und reagieren dann auch als sozial kompetent denkende und handelnde Personen, die „natürlich die bestehenden Probleme lösen wollen und können“. 1.6 Die Hilfe auf das Ziel der Klienten ausrichten: „Stress mit der Außenwelt“ verringern Wenn die Eltern nicht mehr ungewollt dazu eingeladen werden, gegen Fachpersonen zu kämpfen oder die Lösung in einem „oberflächlichen Mitmachen“ zu suchen, erhebt sich die Frage, wie eine sinnvollere Grundlage für den Hilfeprozess geschaffen werden kann. Probleme sehen Eltern im Kampfmuster, wie beschrieben, weniger innerhalb der Familie. Für sie liegt das Problem in der Kritik und dem Druck, der von außen kommt (z. B. Kindergarten, Schule, Jugendamt). An diesem subjektivem Problemempfinden kann nun angeknüpft werden. Eine Hilfe nach dem SIT-Modell ist daraufhin optimiert, dass sie Eltern dabei unterstützt, Wege zu finden, Kritik und Druck von außen zu verringern. Allerdings wird diese Unterstützung nur auf eine ganz bestimmte Art und Weise angeboten: „Stress mit der Außenwelt zu verringern, indem die Verhaltensweisen der Familie, die anderen Personen zu Kritik und Druck Anlass geben, verändert werden.“ Diese Option wird den Familien angeboten. Entscheiden sie sich für diese Option, besteht der Hilfeprozess aus folgenden Schritten: • Es wird ein Katalog erstellt, welche Verhaltensweisen der Kinder und / oder der Eltern so stark mit der Außenwelt (z. B. Kindergarten, Schule, Jugendamt) kollidieren, dass Stress und Druck entsteht. • Die Eltern fällen die Entscheidung, diese Verhaltensweisen zu ändern, obwohl sie selbst kein Problem darin sehen, um so den Stress mit der Außenwelt abzubauen. Sie erstellen ein Zielplakat, auf dem beschrieben

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wird, wie sich die einzelnen Verhaltensweisen verändert haben müssen, damit kein Druck mehr ausgeübt wird. Die Eltern ändern in kleinen Schritten einen Verhaltensbereich nach dem andern und vergewissern sich immer, ob die erreichten Veränderungen für die Außenwelt ausreichend sind. Die Rolle der SIT-Mitarbeiter(innen) in diesem Prozess ist es, die Eltern dabei zu unterstützen, dass sie selbst die notwendigen Veränderungen erreichen. Das wichtigste Medium hierfür sind Rollenspiele. Die Rollenspiele finden in der Regel in einer Elterngruppe statt. Die Eltern spielen dabei solange die problematischen Alltagssituationen durch, bis sie durch Versuch, Irrtum und schließlich Erfolg herausgefunden haben, wie sie sich so verhalten können, dass es nicht immer wieder zu Kritik und Druck von außen kommt. Meist werden auch andere Eltern und Mitarbeiter(innen) gebeten, zu Übungszwecken den Part der Außenwelt zu übernehmen. Die Eltern bitten dann um „schonungslose“ Feedbacks, wenn sich doch noch Verhaltensweisen zeigen sollten, die zu Konfrontationen mit dem Umfeld führen würden. Eine SIT-Hilfe wird also weniger durch eine Zeit, sondern eher durch eine Ziel- und Erfolgsvorgabe gesteuert. Es sollten in jeder Woche deutliche beobachtbare Fortschritte auftreten, damit die Hilfe weitergehen kann. Lassen sich über einen längeren Zeitraum keine relevanten Verhaltensänderungen mehr beobachten, würde eine SIT-Hilfe nicht weitergeführt werden. Diese Ausrichtung auf die Änderung beobachtbaren Verhaltens führt zumeist dazu, dass die Eltern recht schnell erhebliche Veränderungen erreichen. Sind die Auflagen erfüllt, kann die Intensivphase der Hilfe beendet werden. Dies geht mitunter recht schnell. Oft merken die Familien jedoch in diesem Prozess, dass doch noch mehr Probleme bestehen als sie zu Beginn dachten. Dann wünschen sie oft aus eigener Motivation heraus eine Verlängerung. 27


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• In der Regel arbeiten die Familien zu Beginn tatsächlich „nur“ daran, Auflagen von „außen“ zu erfüllen. Fast immer stellt sich jedoch im Verlauf des Prozesses ein Problemempfinden ein, das dem der Außenwelt immer mehr entspricht. So kommt die „Einsicht“, dass Kritik und Druck berechtigt, ja sogar hilfreich waren, oft erst dann wenn schon wichtige Veränderungen erreicht wurden. • Die in der Zeit des Hilfeprozesses aufgebauten Veränderungen sind oft nicht für lange Zeit stabil. Daher wird den Eltern das Angebot gemacht, sich weiterhin im Rahmen von Elterngruppen zu treffen, um sich gegenseitig dabei zu unterstützen die erreichten Veränderungen aufrecht zu erhalten. Erfahrene Eltern unterstützen auch nach Beendigung ihres Hilfeprozesses „neue Eltern“. Dies kann für die erfahrenen Eltern ein weiterer wichtiger Schritt sein, sich selbst immer weiter zu stabilisieren. 1.7 Das Abgabe- / Abnahmemuster zwischen Familien und professionellen Systemen Auch im Abgabemuster steuern vor allem drei Grundannahmen das Erleben und die Handlungen der Eltern. Sie sind zwar völlig anders als die Glaubenssätze im Kampfmuster, erschweren eine Zusammenarbeit aber ebenso: 1. Unser Kind hat Probleme. 2. Wir als Eltern können nicht angemessen mit diesen Problemen umgehen. 3. Es gibt Fachkräfte, die dafür ausgebildet und daher besser geeignet sind, mit den Problemen unseres Kindes umzugehen. Ähnlich wie im Kampfmuster wird der Entstehungsgrund dieser Glaubenssätze weniger im persönlichen oder familiären Hintergrund der Eltern gesehen, sondern in Interaktionsmustern zwischen der Familie und dem professionellen Umfeld, d. h. die Abgabe-Glaubenssätze sind besonders häufig zu finden, wenn die Eltern in bestimmten Beziehungsmustern mit einem professionellen 28


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Umfeld interagieren. Der ideale Nährboden für die drei Glaubenssätze der Eltern besteht, wenn auch Fachpersonen die Auffassung vermitteln: 1. Das Kind ist problematisch. 2. Die Eltern sind davon überfordert, mit diesen Problemen umzugehen. 3. Das Kind braucht Unterstützung / Hilfe von Fachleuten. Auf der Grundlage dieser Glaubenssätze werden Fachleute abnehmend tätig, z. B. indem sie fachliche Einschätzungen oder Diagnosen der Kinder erstellen und eine pädagogische oder therapeutische Arbeit mit dem Kind übernehmen. Die Eltern erhalten so den Eindruck, dass „mit ihrem Kind wirklich etwas nicht stimmt“, „sie selbst daher auch wenig bewirken können“ und konzentrieren sich darauf, dass nun mehr Fachleute und weniger sie selbst die Arbeit mit dem Kind übernehmen. Im Gegensatz zum Kampfmuster gibt es im Abgabe- / Abnahmemuster keine kämpferische Stimmung. Während sich die Eltern im Kampfmuster ungewollt hinausgedrängt sehen, ziehen sich die Eltern in diesem Muster von selbst zurück, da sie ja glauben, bei einer „Störung“ des Kindes durch ihr Handeln wenig bewirken zu können. Spannungen treten im Abgabe- / Abnahmemuster vor allem auf, wenn Fachkräfte versuchen, die Eltern stärker in die Arbeit mit dem Kind hinein zu ziehen. Dieses Bemühen der Fachkräfte spricht der Logik der drei Glaubenssätze entgegen. Wenn das Kind „doch eine Störung hat“, die Eltern im Alltag immer wieder gemerkt haben, dass sie im Umgang mit dem Kind scheitern und es zugleich Fachkräfte gibt, die für die Arbeit mit „solchen Problemen von Kindern ausgebildet“ sind, macht es keinen Sinn für die Eltern, selbst die Behandlung zu übernehmen. Da Fachkräfte dennoch oft die Beteiligung der Eltern einfordern, kommt es dann auch im Abgabe- / Abnahmemuster zur Scheinkooperation. Die Eltern erleben eine stärkere Beteiligung aufgrund ihrer drei Glaubenssätze nicht als sinnvoll, fühlen sich jedoch unter Druck gesetzt, trotzdem „mitzuarbeiten“. In dem daraus resultierenden Zustand der Scheinkooperation „arbeiten sie dann zwar mit“, sind jedoch innerlich nicht beteiligt, weil sie glauben, ohnehin nichts bewirken zu können. Entsprechend 29


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scheitern in der Scheinkooperation ihre Bemühungen, Einfluss auf das Kind zu gewinnen, da sie selbst nicht glauben, dass es geht. Im Abgabe- / Abnahmemuster scheitern jedoch auch die Fachleute oft. Ähnlich dem Kampfmuster kann das Muster selbst eine Dynamik entfalten, die zu einer Eskalation der Probleme führt. Halten die Eltern das Kind für so „gestört“, dass aus ihrer Sicht nur Fachleute diese Störung behandeln können, vermeiden sie oft die Situationen mit dem Kind, in denen sie auf Probleme stoßen (z. B. abends ins Bett gehen, morgens aufstehen, den Computer abstellen, Schularbeiten machen). Sie merken, dass sie wenig erreichen und wollen so einem permanenten Scheitern aus dem Weg gehen. Sie wissen ja jetzt auch, warum sie scheitern: Weil das Kind eine Störung hat, mit der nur Fachleute und nicht sie selbst angemessen umgehen können. Genau dieser durch das Abgabemuster bedingte Rückzug aus den „Elternfunktionen“ kann nun dazu führen, dass das Kind mit seinen Symptomen mehr und mehr das Geschehen im Alltag dominiert, d. h. symptomatisches Verhalten wird für das Kind immer „erfolgreicher“, weil die Eltern in diesen Situationen zunehmend denken, es handele sich um eine „Störung“, die von ihnen nicht beeinflussbar ist – und ihre eigenen Beeinflussungsversuche immer halbherziger gestalten. Dies ist ein idealer Nährboden für eine Symptomeskalation. In der Regel stoßen auch Fachkräfte in der Arbeit mit dem Kind auf Grenzen. Auch wenn sie sehr kompetent mit dem Kind arbeiten, gelingt es meist nicht, dem Kind zu vermitteln, sich den Eltern gegenüber respektvoller zu verhalten, wenn zugleich die Eltern schwierige Situationen mit dem Kind vermeiden. Die Eltern warten darauf, dass ein Erfolg der Hilfen die Alltagssituationen mit dem Kind wieder erleichtert. Diese Wirkung stellt sich aus den beschriebenen Gründen jedoch oft nicht ein. Leider kommen die Eltern dann selten auf die Idee, dass der bisherige Weg, die Probleme von Fachleuten lösen zu lassen, nicht die gewünschten Ergebnisse bringt. Wenn eine Hilfe keine Erfolge bringt, denken sie vielmehr oft, die Störungen des Kindes wären noch stärker als vermutet („wenn sogar die gut ausgebildeten Fachkräfte scheitern“). Also kommt es meist zu „noch mehr Abklärungen oder Diagnosen“ und noch mehr „Behandlung durch 30


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Fachleute“, d. h. die Dynamik, die zu einer Symptomeskalation bei den Kindern führte, wird noch verstärkt. Ähnlich der Dynamik im Kampfmuster wäre auch im Abgabe- / Abnahmemuster ein „Teufelskreis“ entstanden, indem eine bestimmte Form von Lösungsversuchen (das Abgabe- / Abnahmemuster) zu einer Zunahme von Problemen führt, die durch „abnehmende Arbeit“ zu lösen versucht werden, was zu mehr Problemen führt, die durch mehr „abnehmende Arbeit“ zu lösen versucht werden usw. Im SIT-Modell wird angenommen, dass Eltern selbst fast immer und selbstverständlich Probleme mit ihrem Kind lösen wollen und können. Was sie im Abgabe- / Abnahmemuster daran hindert, ihrem Kind genügend Orientierung zu geben, sind vor allem die drei Glaubenssätze des Musters. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das Muster zu verändern, wenn man den Eltern eine aktive Rolle im Hilfeprozess ermöglichen will. Diese Musterarbeit bedeutet im Abgabe- / Abnahmemuster, die Eltern von den drei „blockierenden Glaubenssätzen“ zu befreien damit sie selbst wieder aktiv werden und in ein Kooperationsmuster kommen können. 1.8 Wie aus dem Abgabe- / Abnahmemuster aussteigen? Die Aufgabe der Musterarbeit für SIT-Mitarbeiter(innen) stellt sich im Abgabe- / Abnahmemuster ähnlich wie auch im Kampfmuster. Auch in diesem Muster werden wesentliche Auslöser für das Verhalten der Eltern in bestimmten Denk- und Verhaltensmustern der Fachleute gesehen. Die Aufgabe ist also auch hier, diese Denk- und Verhaltensmuster zu identifizieren und „abzustellen“. Im Abgabe- / Abnahmemuster ist dies genauso schwierig wie im Kampfmuster. Viele abnehmende Verhaltensmuster laufen nahezu automatisiert ab und sind daher kaum bewusst und willentlich veränderbar. Die Aufgabe besteht vor allem darin, sich so zu verhalten, dass nicht permanent die drei deaktivierenden Glaubenssätze der Eltern bestätigt werden. Das heißt, sich in Bezug auf jeden der drei Glaubenssätze „gegenteilig“ zu positionieren:

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• Ein realistisches (Gegen-)Bild der Fachkräfte vermitteln: Sie können zwar mit dem Kind arbeiten und sicherlich auch einiges erreichen, ob sie jedoch die Veränderungen erzielen können, die Eltern sich wünschen (z. B.: Das Kind soll wieder Respekt vor den Eltern haben, es soll morgens aufstehen oder es soll Schularbeiten machen, wenn die Eltern dies wollen, etc.), ist fraglich. • Ein positives Gegenbild der Kinder vermitteln: Das Verhalten der Kinder wird weniger durch diagnostische Begriffe oder ihre Persönlichkeit erklärt als dadurch, dass die Kinder auf den Rückzug der Eltern aus ihrer Elternfunktion reagieren, d. h. es wird angenommen, dass die Kinder ihr „gestört“ wirkendes Verhalten durchaus verändern können und es möglich ist, dass sogenannte Störungen weitgehend zurückgehen oder sogar verschwinden. • Ein positives Gegenbild den Eltern vermitteln: Das bisherige Scheitern der Eltern wird ihnen natürlich „geglaubt“. Es wird jedoch nicht durch ihre Unzulänglichkeit und / oder Störungen des Kindes erklärt. Als pragmatische Erklärung für ihr Scheitern wird vielmehr angeboten, dass sie „einfach auf eine Art versuchten Einfluss zu nehmen, die nicht wirkte“, d. h. es wird angenommen, dass die Eltern natürlich Einfluss haben und diesen wieder ausüben können. Es ist nur nötig herauszufinden, was sie statt der bisherigen Vorgehensweisen tun könnten, um wieder eine positive Wirkung beim Kind zu erzielen. Diese Überzeugungen werden zwar auch verbal vermittelt, wichtiger ist es jedoch das praktische Handeln im Hilfeprozess danach auszurichten. Einige der praktischen Umsetzungen sind z. B.: • SIT-Mitarbeiter(innen) vermeiden generalisierende und festschreibende Fachtermini und Persönlichkeitsbeschreibungen der Kinder (z. B. „verhaltensauffällig“, „kann sich nicht konzentrieren“, „Schulverweigerer“) • Sie reden nur über Verhalten der Kinder in bestimmten Situationen (z. B. statt „verhaltensauffällig“: „er verhält sich manchmal anders 32


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als Sie es sich von ihm wünschen“; statt „Schulverweigerer“: „er steht manchmal morgens nicht auf und geht manchmal nicht in die Schule“; statt „kann sich nicht konzentrieren“: „manchmal, wenn Sie ihm sagen, er soll schreiben, tut er das nicht, sondern guckt er aus dem Fenster“) • Sie versuchen nicht, selbst die Probleme mit dem Kind zu lösen oder zeigen dabei zumindest immer klar ihre Grenzen auf („Ich kann vielleicht erreichen, dass Ihr Sohn mir gegenüber Respekt aufbringt, aber nicht dass er dies auch Ihnen gegenüber tut“). Wenn die Eltern nicht mehr ungewollt zum „Abgeben“ eingeladen werden, stellt sich ähnlich wie im Kampfmuster die Frage, was man stattdessen tun oder anbieten kann. Der Grund, warum Eltern überhaupt Hilfe für ihr Kind wollen, ist zumeist, dass es problematische Verhaltensweisen des Kindes gibt, die alltäglich immer wiederkehren und den Eltern einen normalen Alltag mit dem Kind erschweren oder gar unmöglich machen. Hinter dem Wunsch nach Hilfe für das Kind steht also ein Bedarf nach einer Veränderung der problematischen Verhaltensweisen des Kindes. Genau an diesem Bedarf wird nun der Hilfeprozess ausgerichtet. Es wird den Eltern also angeboten, dass nicht die Fachleute, sondern sie selbst das Verhalten ihres Kindes positiv verändern können, und die Fachleute sie nur dabei unterstützen, herauszufinden, wie sie als Eltern das schaffen können. Sinnvoll ist also, dass Eltern während des Hilfeprozesses die Zuständigkeit für Verhaltensänderungen des Kindes behalten. Das lässt sich oft nur realisieren, wenn sie auch weiterhin die Möglichkeit haben, zumindest Alltagsbereiche mit ihrem Kind bewältigen zu können. Die für die Eltern schwierigen Verhaltensweisen der Kinder werden nun in ihrem interaktionellen Kontext mit den Eltern betrachtet und verändert. Es wird an einzelnen Situationen, z. B. der „Aufsteh-Situation am Morgen“ gearbeitet. Mit Hilfe von Rollenspielen, Videoanalysen oder Live-Coaching variieren die Eltern ihr eigenes Verhalten dem Kind gegenüber so lange, bis sich das Verhalten des Kindes positiv ändert. Die Rolle der Mitarbeiter(innen) ist 33


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es, die Eltern in diesem Such-Prozess zu unterstützen, Sie ermöglichen den Eltern z. B. in strukturierten Rollenspielen „aus der Rolle des Kindes“ heraus ihre eigene Wirkung zu spüren, spielen jedoch auch eigene Vorschläge, wie die Eltern sich anders verhalten können, vor. Der Unterstützungsprozess zielt darauf ab, dass Eltern tatsächlich die Wirkung alter und neuer Muster erleben und spüren können. Von daher wird eine verbale Beratung in Form von Ratschlägen in der Regel vermieden, sie ist auch meist nicht wirkungsvoll. Einzelne Schritte eines Hilfeprozesses sind also: • Es wird ein Zielplakat erstellt, auf dem die bisherigen problematischen Verhaltensweisen des Kindes aufgenommen und in positive Gegenbilder (Ziele) überführt werden (z. B.: „Meine Tochter schreit mich an, wenn ich sie morgens aufwecken möchte – ich möchte erreichen, dass sie stattdessen ‚Guten Morgen, Mama‘ sagt und aufsteht.) • Es wird mit „leichteren Situationen“ begonnen, damit die Eltern die Erfahrung erster Erfolge machen können (z. B. mit der Begrüßungssituation; statt „den Kopf abwenden und an der Mutter vorbeischauen“: „die Mutter anschauen und ‚Hallo Mama‘ sagen“) • Die problematische Situation wird erst nachgespielt, um so eine „Musterdiagnose“ erstellen zu können. In der Musterdiagnose ist vor allem wichtig herauszufinden, wie die Eltern bisher erreicht haben, dass sie scheitern (z. B. ein bettelnder Tonfall). Genau diese Elemente werden dann versucht zu verändern, indem die Eltern einen veränderten Tonfall vorgespielt bekommen (z. B. ruhig und bestimmt eine Anforderung stellen): Die Eltern gehen dazu in die Rolle des Kindes und spüren aus der Rolle des Kindes heraus, ob dieser Tonfall eine andere Wirkung hat. Wenn dies der Fall ist, versuchen sie selbst diesen veränderten Tonfall zunächst im Rollenspiel umzusetzen. In die Rolle des Kindes gehen dann zu Übungszwecken andere Eltern oder Mitarbeiter(innen). Meist ist es so, dass Veränderungen, die im Rollenspiel wirksam waren, auch in der Realität (bei dem „wirklichen Kind“) eine positive Wirkung haben. 34


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• Wenn die Eltern die eigene Wirksamkeit wieder merken und die Kinder durch die positive Ansprache wieder mehr Orientierung durch die Eltern annehmen, werden auch schwierige Situationen verändert. • Die Auswirkung dieses Prozesses ist in der Regel, dass nach und nach die problematischen Verhaltensweisen des Kindes / Jugendlichen weniger werden und angemessenes Verhalten in den Vordergrund tritt. In vielen Fällen gehen Verhaltensweisen, die zuvor zu einer Diagnose führten, so deutlich zurück oder verschwinden sogar, dass die Grundlage für die Diagnose entfällt. • Parallel dazu verändern sich auch die Eltern. Zum einen müssen sie in der Regel an ihrem Zustand arbeiten, damit sie überhaupt eine positive Wirkung beim Kind erzielen können. Wenn sie z. B. gereizt oder aggressiv, drohend oder im anderen Extrem schwächlich, ängstlich, verwirrt oder gar alkoholisiert versuchen, auf ihre Kinder einzuwirken, reagieren die Kinder weiter in ihrem bisherigen Symptomverhalten. Treten die Eltern jedoch ruhig, bestimmt und souverän auf (dieser Zustand wird im SIT-Modell „Elternenergie“ genannt) gibt es meist eine positive Reaktion des Kindes / Jugendlichen, d. h. für die Eltern ist ein SIT-Prozess weniger das Erlernen einer raffinierten Pädagogik, um ein „schwieriges Kind zu bändigen“. Es ist mehr eine permanente Arbeit an den eigenen Stimmungen und Zuständen. Darüber stellen sich dann Erfolge beim Kind ein, die oft von einem geradezu spektakulären, vorher kaum vorstellbaren Ausmaß sind (dafür stehen auch die beiden Fallgeschichten A und B, siehe Kapitel 2). Die Eltern merken, was für positive Wirkungen sie haben. So nimmt ihr Selbstwertgefühl enorm zu. Der Zustand der Eltern verändert sich in diesem Prozess also in genau dem Maße, wie sich auch der Zustand des Kindes verändert. So gehen auch bei den Eltern im Verlauf des Veränderungsprozesses unangenehme Zustände (u. U. Ängste, depressive Stimmungen, Suchtverhalten, vermeintliche psychische Störungen) in der Regel stark zurück oder verschwinden. 35


In der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH wird nun schon seit mehr als zehn Jahren auf Basis der „Systemischen Interaktionstherapie“ (nach Michael Biene) in unterschiedlichen Angeboten und Projekten elternaktivierend gearbeitet. Dort wurde diese Form der Elternaktivierung implementiert und in einem gemeinsamen Prozess mit Michael Biene, dem Begründer der „Systemischen Interaktionstherapie“, weiterentwickelt. Von daher ist es an der Zeit, die Praxis der Elternaktivierung, wie sie im Evangelischen Kinderheim Herne stattfindet, unter die Lupe zu nehmen und diese der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. In sieben Beiträgen berichten mehrere Autoren, die alle Mitarbeiter der Ev. Kinderheim Jugendhilfe Herne & Wanne-Eickel gGmbH sind oder waren, sowie Herr Biene aus unterschiedlichen Systemen, Projekten und pädagogischen Angeboten aus ihren verschiedenen Rollen und Perspektiven über die Erfahrungen aus dieser Praxis.

FRISCHTEXTE Verlag · Herne


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