Ich fliege!
Ein Menschheitstraum geht in Erfüllung Spurensuche einer Fliegerfaszination TEXT: KLAUS HOFMEISTER
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ur ein kleines Stück Wiese, leicht abschüssig, braucht der Achtjährige, um loszulaufen, erst langsam, dann immer schneller, er breitet die Hände aus und fliegt! So habe ich es getan und so tun es Kinder überall auf der Welt. Ein Spiel der Fantasie und ein Menschheitstraum! Genau fünfzig Jahre später stehe ich am Übungshang einer Gleitschirmschule in den Alpen, laufe die Wiese hinab, breite meine Hände aus und – fliege! Der Wind surrt leise durch die Leinen. Der Menschheitstraum geht in Erfüllung – für mich!
Warum Warum wollen wir das immer wieder erleben? Diesen magischen Moment, wenn wir „frei kommen“, wenn der letzte Schritt uns nicht mehr tragen muss, sondern wir plötzlich getragen werden von zwei Dutzend Quadratmetern Nylon über uns? Wenn von einem Augenblick auf den andern die irdische Schwere weg ist und wir eintauchen in diese andere Welt des Getragenseins? Das Getragensein erleben wir Gleitschirmflieger in unserem Gurtzeug intensi-
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ver als jeder andere Flugsportler. Das hat eine starke psychische Dimension. Jeder von uns hat das Getragensein als Körpererinnerung aus Kindertagen in sich. Und noch früher als das: Im Bauch der Mutter hatten wir schon einmal dieses ozeanische Gefühl des Fliegens, frei zu sein und zugleich getragen zu sein, in einer Welt ohne Ecken und Kanten. Taucher suchen und finden das in ihrem Element, wir finden es in unserem. Und wie verwandt die ersten Flugpioniere das Wasser und die Luft fanden, zeigt die Metaphorik der frühen Fliegerei, die ganz vom Wasser kam, wo Luft-„Schiffe“ im „Luftmeer“ von Flug-„Kapitänen“ bewegt wurden…
Gefühle „Hast Du nicht Angst da oben? Angst abzustürzen?“ Die Frage kommt oft. Die Fußgänger unter den Freunden sehen die Höhe und denken an bodenloses Fallen. Wir Flieger wissen, dass zwischen oben und unten nicht nichts ist, sondern Luft, ein tragendes Element spürbarer Dichte. Ich erlebe sie als ein mütterliches Element, genieße das Getragensein und die Geborgenheit unter dem Flügel. Und wenn es schaukelt und blubbert und ich
nicht gerade Thermik-Rodeo reiten muss, dann gefällt mir auch die Bewegtheit der Luft, das Auf und Ab. Vielleicht ist es ja die ferne Erinnerung an das vorgeburtliche Schaukeln und Schwimmen, an die Wohligkeit des Kopfüber und Kopfunter in der mütterlichen Ursuppe. Auf jeden Fall kann ich beim Kurven und Satten, beim Spiralen und Wingovern die Welt um mich und unter mir im Handumdrehen tanzen lassen. Und so die Umkehrung der irdischen Verhältnisse noch weiter treiben: Dann bin ich der Mittelpunkt der Welt und sie saust wie im Kettenkarussell um mich herum. Die Erde, angeblich „fest gegründet“, hier oben ist sie mein Spielball. Die Fesseln der Schwerkraft abwerfen: Beim Start ist das ein starker Moment. Aber am intensivsten erleben wir das in der Thermik. Da beginnt der fantastische Weg nach oben. Es ist eine Urkraft, mit der uns warme Luft – besonders in den thermisch hoch aktiven Alpen - nach oben trägt. Das Relief der umliegenden Berge versinkt und wird mühelos überstiegen. Über den heißen Fels-Wänden reitet man geradezu hinauf Richtung Gipfel. Wer nicht jeden Sinn für Poesie verloren hat, erlebt darin nichts anders als eine Himmelfahrt zu Lebzeiwww.dhv.de