Programmflyer_Bios_Waehner

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KARIN WAEHNER (1926-1999) – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt mit WEGEHEN, Celui sans nom–Rekreation 2018 und Rahmenprogramm verbindet Vergangenheit und Gegenwart Karin Waehners im Tanzen, Choreografieren und Lehren zwischen Generationen und Erfahrungen.

PROGRAMM

im DOCK 11 | Eintritt: 15 | 12 Euro WEGEHEN jeweils 19.00 Uhr 14. 3. Mittwoch: PREMIERE | 18.00 Uhr praktische Einführung mit B. G. 15. 3. Donnerstag | 18.00 Uhr praktische Einführung mit Bruno Genty 17. 3. Samstag | VORTRAG „Karin W..….er? Die Tanzvermittlerin / La passeuse de danse“ von Dr. Josephine Fenger PODIUMSDISKUSSIONEN jeweils 20.30 Uhr 14. 3. Mittwoch, Künstlergespräch 15. 3. Donnerstag, Kunst Migration Heimat (1): Geteilte Nachlässe in Europa am Beispiel Karin Waehners in Kooperation mit der Akademie der Künste, Berlin mit Stephan Dörschel, Dr. Josephine Fenger, Jean Masse 16.3. Freitag, Kunst Migration Heimat (2): Moderner Tanz in den transkulturellen Räumen des 20. Jahrhunderts in Kooperation mit dem gtf WORKSHOP FESTIVAL mit Dr. Josephine Fenger (D), Dr. Laure Guilbert (F), beteiligten Künstlern und Gästen (CH|A|D|F) 17. 3. Samstag, Geschichte(n) erben? in Kooperation mit dem gtf WORKSHOP FESTIVAL mit den Künstlern beider Projekte GASTSPIEL: 26. / 27. März zur TANZWOCHE Dresden, 2018 KOOPERATIONSPROJEKT: gtf WORKSHOP FESTIVAL TRANSNATIONALE KONZEPTE IM MODERNEN TANZ im DOCK 11 | Eintritt: 12 | 10 Euro 16. 3. – 18. 3. Workshops Lecture Demonstrations | Performances 16. 3. Freitag, 17.30 -21.30 Uhr + Vektortanz – Klütz – Vogelsang | Kirstin Seeligmüller + Grundprinzipien Chladek®-Tanztechnik | Eva Lajko & Doris Buche-Reisinger + Das choreographische Erbe von Rosalia Chladek heute | Doris Buche-Reisinger + Sigurd Leeder – Der übervolle Eimer | Karin Hermes & Tim Rubidge Schweizer Tanzpreis, Kulturerbe Tanz 2016 + Kunst Migration Heimat (2) in Kooperation mit dem TANZFONDS ERBE Projekt Umschlaggrafik: SLGM Foto: Karin Waehner: Jo Babout © Archiv Karin Waehner & Probenfoto WEGEHEN, 2017: Kamil Mrozowski


WEGEHEN ABLAUF Jean Masse, Selbstportrait 1. Aus „l'Exode“, Diagonale | mit Peter Jarchow, Klavier, inspiriert nach der Musik von Benjamin Hohagen. Jean Masse, Selbstportrait 2 | Musik: Franz Schubert: "Gute Nacht", Dietrich Fischer-Dieskau (voc) / Jörg Demus (p), 1966. Michael Gross, Selbstportrait. WEGE | Musik: RETIKHIY, Ricardo Villalobos & Max Loderbauer und Selbstportrait Annette Lopez Leal mit Zitaten aus: Khôra (Choreografie von Rui Horta, 1996) | Diving (Choreografie von Rui Horta, 1991) | Time Quarry (Choreografie von José Biondi, 2000). Bruno Genty, Selbstportrait mit Zitaten aus „Les Marches“ (Die Stufen, Choreografie von Karin Waehner, 1980). Celui sans nom – Rekreation 2018 | Musik: Thierry Estival, Celui sans nom, 1990. KARIN WAEHNER (1926-1999) – EIGENSINNIG IN ZWISCHENRÄUMEN. EIN TANZFONDS ERBE PROJEKT Idee / Dramaturgie / Organisation: Heide Lazarus WEGEHEN | Konzeption / Choreografie / Regie / Tanz: Bruno Genty in Kollaboration mit den Tänzern: Annette Lopez Leal, Michael Gross | Dramaturgie: Heide Lazarus Öffentlichkeitsarbeit: DOCK 11, Gesellschaft für Tanzforschung (gtf), Heide Lazarus Fotografie / Dokumentation: Solaja Rechlin, Kamil Mrozowski Grafik: Kirsten Seeligmüller Assistenz / Organisation: Katja Karouaschan Technik: Asier Solana Finanzen: Anja Vogel Wissenschaftliche Beratung: Dr. Josephine Fenger (D), Dr. Laure Guilbert (F), Dr. Claudia Fleischle-Braun (D) | Beteiligt im Rahmenprogramm: Stephan Dörschel vom Archiv der Akademie der Künste, Berlin sowie Mitwirkende des gtf WORKSHOP FESTIVALS


WEGEHEN … ein Schritt – 4 Tänzer, 4 Generationen, 4 Erfahrungen ... Gehen, Weggehen, Weitergehen, Begegnen, Queren, Auseinandergehen – gemeinsam getrennt, jenseits einer Vorstellung von Ankommen oder Weggehen. Es sind allgemein menschliche Situationen. Die Bezüge sind verschieden, die Bewegungen ähnlich. Die Unterschiede werden nicht durch die Diktatur einer perfekten Synchronisation ausgemerzt – weder für die Tänzer noch für das Publikum. In der Performance WEGEHEN werden mittels Zitaten aus verschiedenen Choreografien zudem einzelne Arbeitsprinzipien von Karin Waehner und ihre Relevanz heute zur Diskussion gestellt. Während Karin Waehner in Frankreich als eine Wegbereiterin des modernen und zeitgenössischen Tanzes gilt, sind ihr Name und ihr Werk in Deutschland eher unbekannt. Die künstlerischen und pädagogischen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts werden auch im Schaffen der Mary Wigman-Schülerin Karin Waehner erfahrbar: im heutigen Polen geboren, in Deutschland und den USA ausgebildet, in Frankreich sesshaft geworden, in Europa präsent, aber dennoch Deutschland als eine ihrer Heimaten wahrnehmend. Die choreografischen Auszüge in WEGEHEN erinnern außerdem an einen Spruch von Mary Wigman, der auch das tänzerische, choreografische und pädagogische Credo ihrer Schülerin Karin Waehner erfasst: „…the simplest, the most difficult, the most beautiful step – the walk. You must work on it all your life.“ (Mary Wigman, 1952)

Es ist wie Zwiebel schälen Gedanken zum Rekonstruieren und zum Arbeitsprozess von WEGEHEN Wir wollen keine Kopie. Die Choreografie ist das Modell, der Tänzer ist kein Modell. Jeder Tänzer hat seine Interpretation. Es gibt viele Möglichkeiten der Weitergabe und des Re-Konstruierens. Für alles gibt es unterschiedliche Voraussetzungen. Wir könnten eine Choreografie von Karin Waehner wie die für Bruno Genty, „Celui sans nom“ (UA: 1990) oder einzelne Sequenzen wie die Diagonale aus „l’Exode“ einstudieren und das entweder über den direkten Weg zusammen mit


dem ehemaligen Tänzer Bruno Genty oder/und mittelbar durch Zeitzeugen, Videoaufzeichnungen oder Notationsexperten. Zudem müssen wir klären, wie exakt wir vorgehen wollen. (Bruno Genty hatte „Celui sans nom“ bereits 2012/13 an Annette Lopez Leal übertragen.) Wir könnten uns aber auch auf choreografische Themen und Produktionsideen Karin Waehners wie die Gestaltung von Wegen oder das Arbeiten mit anderen Kunstgattungen und deren Künstlern konzentrieren. Wir müssten Fotos, Filme, Notizen, Skizzen, Erinnerungen auswerten und daraus eigene Skizzen schaffen. Wir könnten Leute und Materialien befragen und müssten daraus ein neues, eigenes Stück bilden. Wenn Karin Waehner eine Tanztechnik mit einem relativ stabilen Bewegungsrepertoire hinterlassen hätte, könnten wir dieses trainieren und für unser Stück verwenden. Wir könnten auch versuchen, diese Technik aus ihren per Video überlieferten Choreografien und ihren Notizen herauszufiltern. Bruno, Jean müssten uns trainieren. Das braucht viel Zeit. Außerdem: Welches Stück? Wir müssen uns entscheiden. Was wollen wir gemeinsam? Auf wie viel „Karin Waehner“ wollen wir uns einlassen? Wie viel „Karin Waehner“ muss noch erkennbar sein, damit es ehrlich bleibt? Was ist überhaupt möglich? „Celui sans nom“ (dt.: Namenlos) ist eines der letzten Stücke Karin Waehners, zu dem der Jazz-Musiker und Komponist Thierry Estival speziell eine Musik komponierte. Der Arbeitstitel von 1989 hieß „Derrière le mur“ (dt.: Hinter der Mauer). Zur Premiere 1990 am Théâtre Boris Vian hieß das Stück „Celui sans nom“. Das Solo wurde von Bruno Genty an Annette Lopez Leal und Michael Gross weitergegeben und wird nun mit „Celui sans nom–Rekreation 2018“ als Trio wiederaufgeführt. Außerdem bildet es den Ausgangspunkt die Performance&Lecture WEGEHEN. Es wird keine Kopie des Solos geben. Vielmehr wird das Solo verdreifacht und auf die Individualität der Tänzer bestanden. Wir beschränken uns lediglich auf die Schritte und die Originalmusik und nicht auf den Kontext von Kostüm und Licht. Wir sprechen deshalb auch nicht von einer Rekonstruktion, sondern von einer Rekreation oder Rekomposition. Diese Entscheidung ist während des Projektprozesses gefallen. Die Idee war zunächst, einen Trialog des Solos im Sinne einer Fuge zu gestalten, wobei das Bewegungsrepertoire hätte erweitert werden müssen. Das war interessant. Aber gleichzeitig ist die Raum- und Bewegungschoreografie von Karin Waehner „perfekt“. Wir respektieren sie. Deshalb entschieden wir, dass „die Schritte“ „identisch“ im Raum bleiben.


Das Solo wird lediglich durch eine Ein- und Ausleitung und die solistische Spur als Dreifachspur eines Trios sichtbar erweitert. Dennoch wird es keine Synchronisation nach dem „Modell“ von Bruno Genty geben. Die Reihenfolge des Erarbeitungsprozesses sollte erhalten bleiben: 1990: Bruno Genty/Karin Waehner | 2013: Annette Lopez Leal/Bruno Genty | 2017: Michael Gross/Annette Lopez Leal. Entsprechend wurde der Probenprozess gestaltet, der dadurch gelegentlich komische Züge annahm, wenn sich beispielsweise Bruno Genty bewusst bei der Probe und Korrektur wegdrehte oder den Raum verließ. Bruno Genty hat fast alle Choreografien von Karin Waehner getanzt. Er hat die Choreografie weitergegeben, keine Kopie. Annette Lopez Leal sowie Michael Gross finden ihre eigenen Bilder, Spannungen und Sichtbarkeiten. Es wird damit drei Interpretationen in ihrer ganzen Fülle geben. Das ist das Credo des Teams Karin Waehner-2018 zum Thema Tanzerbe, Weitergabe und Aktualisierung. Notizen des Karin Waehner-Team 2018, aufgeschrieben von Heide Lazarus.

Beteiligte Bruno Genty. Tänzer, Tanzpädagoge und Choreograf im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes für Theater und urbanen Raum in Europa. Tänzer und Assistent u.a. bei Karin Waehner. heute Dozent für Zeitgenössischen Tanz, Tanzpädagogik und Repertoire an verschiedenen Hochschulen und Ausbildungsstätten für Professionelle und Laien. | www.studio31.fr >>> ATOUTDANSE / Stage Estival >>> Professeurs >>> Bruno Genty | www.pesmd-bordeauxaquitaine.com/fr/users/bruno-genty | www.bruckneruni.at/de/institute/tanz-ida/ Annette Lopez Leal. Tänzerin bei S.O.A.P. Dance Theatre, Frankfurt/ Rui Horta. Zusammenarbeit und Tourneen u.a. mit José Biondi und MS Schrittmacher/Martin Stiefermann. Dozentin für Zeitgenössischen Tanz. Lehrt u.a. an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. | www.bruckneruni.at/de/institute/tanz-ida/ Michael Gross. Tänzer und Tanzpädagoge für Zeitgenössischen Tanz. U.a. Gast der PLAY Plattform in Frankfurt a.M. und Mitglied der Company SILK Fluegge in Linz. Jean Masse. Tänzer, Choreograf, Tanzpädagoge, ehemaliger Assistent von Karin Waehner. Verwalter des künstlerischen Erbes von Karin Waehner. Künstlerischer und pädagogischer Leiter der Compagnie Epiphane und des Centre Lafaurie Monbadon. Er ist Teil der nationalen französischen Expertengruppe für den


Bereich ‚Tanz in der Schule‘. | www.cie-epiphane.com/ | http://www.centrelafaurie.com Peter Jarchow. Pianist, Improvisator, Musikpädagoge, Dozent und Professor für Improvisation, Ballettkorrepetition und musikalische Zusammenarbeit im Tanz. Seine entscheidende Prägung erhielt er als Pianist im Unterricht von Gret Palucca. Unterstützt bis heute verschiedene Bildungs- und Bühnenprojekte. Kamil Mrozowski. Tänzer, Tanzpädagoge. Student am IDA der Anton-BrucknerPrivatuniversität in Linz. Solaja Rechlin. Tänzerin, Choreografin, Pädagogin und Coach für Tanz-, Körperarbeit und Yoga. Mitarbeiterin für psychosoziale Begleitung. Videokünstlerin für Tanzdokumentation. Kirsten Seeligmüller. Tanzpädagogin im Verständnis der Wigman-Schülerin Erika Klütz sowie Mitgründerin und -gesellschafterin, -intendantin, Kuratorin, Festivalleiterin von DOCK 11 sowie EDEN***** in Berlin, Grafikerin, Netzwerkerin mit der Verbindung von hohen Idealen und Pragmatik. | www.dock11-berlin.de Heide Lazarus. Kultur-, Theater-, Tanzwissenschaftlerin, Produktionsdramaturgin. Initiatorin&Leiterin bzw. Herausgeberin des digitalen Katalogs „Die Akte Wigman“ (Olms, 2007), der Veranstaltungsreihe SPUREN SEHEN innerhalb von LINIE 08, Dresden und „KARIN WAEHNER (1926–1999) – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt“ (2017/18). Mitgründerin/ -organisatorin von TanzNetzDresden (2010-14). Katja Karouaschan. Theaterwissenschaftlerin. Kulturmanagerin in den Bereichen Produktion, Organisation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Dramaturgie. Freiberufliche Grafik- und Webdesignerin. Asier Solana. Theater- und Veranstaltungstechniker. Technischer Leiter in den Dock 11 Studios. Lichtdesigner verschiedener Compagnies, u.a. Walter Bickmann, battleROYAL, Bale da Cidade de Sao Paulo, Modjgan Hashemian, Leyla Postalcioglu, Nir de Volff. Anja Vogel. Kultur-, Projektmanagerin für Projekte an der Schnittstelle von Kunst, Kultur, Bildung, Wissenschaft und Politik u.a. für Kulturbüro sauerbrey | raabe und Kulturprojekte Berlin. Josephine Fenger. Promovierte Kulturwissenschaftlerin, Publizistin, Editionswissenschaftlerin, früher Balletttänzerin. Trägt regelmäßig zur Tanzforschung als Autorin, Herausgeberin, Veranstaltungsorganisatorin sowie durch Forschungsprojektkonzeptionen bei.


Claudia Fleischle-Braun. Lehrte als Tanz- und Sportwissenschaftlerin am Institut für Bewegungs- und Sportwissenschaften der Universität Stuttgart. In den letzten Jahren in verschiedene historisch-pädagogische Recherche-Projekte zum Modernen Tanz involviert. Laure Guilbert. Promovierte Historikerin und Tanzwissenschaftlerin. Tanzdramaturgin und Herausgeberin an der Pariser Oper. Mitgründerin von Association des Chercheurs en Danse (zeitweise deren Präsidentin) und Recherches en Danse (digitale Zeitschrift). Habilitationsprojekt über die Exilanten der deutschsprachigen künstlerischen Tanzszene unter dem Nationalsozialismus bis 1949. Stephan Dörschel. Leiter des Archivs Darstellende Künste am Archiv der Akademie der Künste, Berlin. Wir danken ganz herzlich unseren Projektpartnern, Heidemarie Wiesner (Konzertpianistin), unseren Familien und den Teams von DOCK 11 und TANZFONDS ERBE (DIEHL + RITTER) und allen Weiteren hier nicht Genannten. Karin Waehner (1926-1999) - Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein Tanzfonds Erbe Projekt" - Koproduktion mit DOCK 11 von Heide Lazarus und Bruno Genty in Kollaboration mit Annette Lopez Leal und Michael Gross; gefördert von TANZFONDS ERBE – eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes und mit Genehmigung der Association Karin Waehner – Les Cahiers de l‘Oiseau; in Partnerschaft mit Institute of Dance Arts (IDA) der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Gesellschaft für Tanzfoschung, TANZWOCHE Dresden; in Zusammenarbeit mit Compagnie Epiphane/Jean Masse, Peter Jarchow sowie Katja Karouaschan, Kamil Mrozowski, Solaja Rechlin, Kirsten Seeligmüller, Asier Solana, Anja Vogel; unter wissenschaftlicher Beratung von Dr. Josephine Fenger, Dr. Claudia FleischleBraun, Dr. Laure Guilbert; unterstützt von: körperbewegt in Linz, Centre Lafaurie Monbadon, „Karin Waehner, une artiste migrante. Archive“ (Forschungsprojekt der Universität Paris 8).

Es erscheint parallel das Heft „Aufforderung zur Recherche“ um Karin Waehner (1926 – 1999) mit Originalbeiträgen von: Veronika Darian, Josephine Fenger, Claudia Fleischle-Braun, Bruno Genty, Michael Gross, Heide Lazarus, Susanne Linke, Annette Lopez Leal, Jean Masse, Julia Schröder, Stephanie Schroedter, Katharine Sehnert, Irene Sieben und Originalzitaten von Karin Waehner.


AUFFORDERUNG ZUR RECHERCHE

WEGEHEN

Entstanden im Rahmen von KARIN WAEHNER [1926 -1999] Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt Karin Waechter.indd 1

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Aufforderung zur Recherche. Karin Waehner (1926 - 1999) herausgegeben von Heide Lazarus

entstanden im Rahmen von

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WEGEHEN arbeiten. Annäherungen an Karin Waehner (1926-1999) Eigensinnig in Zwischenräumen Annette Lopez Leal | Bruno Genty | Michael Gross | Heide Lazarus

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Auf der Suche

Bruno Genty / Annette Lopez Leal, 2016 Was ist das Erbe von Karin Waehner? Worin besteht es? Welche Qualitäten ihres künstlerischen Schaffens und ihrer Persönlichkeit sind lesbar, fühlbar, tänzerisch nachvollziehbar? Das Solo „Celui sans nom“ steht einerseits im Zentrum unseres künstlerischen Forschungsprozesses. Andererseits wandelt es sich im Weitergeben. Wie ist ein Bewegungsnachlass wie „Celui sans nom“ überhaupt übertragbar und wie lässt sich die Differenz zwischen dem “Original”, was nicht mehr existiert und dem “Original”, welches durch den Tänzer bzw. die Tänzerin neu existiert, für uns Tanzende klären und für das Publikum vermitteln? Welche Wege und Schritte entstehen dabei? Eine andere Zeit, ein anderer Ort, der Alexanderplatz auf der Suche nach einer neuen Identität. Der Körper und der Geist verbunden… Der Ausdruck und die Geste verbunden… Der Darsteller mit seiner Persönlichkeit und seinem Atem verbunden… Der Tänzer als Kreateur! Aus dem Antrag zur Tanzfonds Erbe-Förderung, Herbst 2016

Foto oben: Kamil Mrozowski, links: Probe, 2017 / Foto rechts: Probe „Celui sans nom – Rekreation 2018“, 2018

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Celui sans nom [Namenlos]

Bruno Genty, 1990

Auf dem Alexanderplatz in Berlin im Jahr 1986, es war der Vorabend der Feier der Oktoberrevolution. Karin und ich saßen auf einer Bank mit Blick auf das Haus, in dem eine ihrer Freundinnen wohnte, die sie besuchen wollte. Wir warteten auf das Signal: Es sollte sich das Licht in ihrem Wohnzimmer drehen. Wir warteten. Fußgänger passierten. Sie gingen wie Automaten, den Blick auf den Boden gerichtet. Sie gingen leise und trugen ihre Plastiktaschen. Sie wollten nichts zeigen, nichts anschauen. Sie hatten sogar den Wunsch, allein in der Menge zu sein - eine Hoffnung. 4 Jahre später bestellte ich bei Karin ein Solo … … und es kam alles und alles war wieder da auf dem Alexanderplatz am 6. Oktober 1986

Foto oben: Kamil Mrozowski, Probe, 2017 Foto itte: Peter R. Fiebig, Annette Lopez Leal, 2014 Foto unten: privat, Probe mit Karin Waehner, 1990   Karin Waechter.indd 5

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Foto: Karin Waehner-Team 2018, Solaja Rechlin, 2017

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Schritte unseres Weges – Notizen

Michael Gross, Bruno Genty, Annette Lopez Leal

Gedanken zum Rekonstruieren und zum Arbeitsprozess von WEGEHEN „Re-konstruieren“? … ist wie Zwiebel schälen … Wir wollen keine Kopie. Die Choreografie ist das Modell, der Tänzer ist kein Modell. Jeder Tänzer hat seine Interpretation.

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Mai 2017 (MG): Wir arbeiten an „Celui sans nom“. Außerdem entscheidet Bruno, einen Ausschnitt aus „l’Exode“ zu verwenden. Er hat es alles getanzt. Allerdings ist „Celui sans nom“ ein Solo, „l’Exode“ ist eine Gruppenchoreografie. Von „l’Exode“ übernimmt er einen Weg. Eigentlich sind es dort zwei mal drei Tänzer. Wir sind drei, das passt. Wir arbeiten mit dem Video, schlechte Qualität. Jeder sucht sich eine Figur aus, dann wechseln wir je nachdem, wie es passt. Für mich fühlt sich das Solo allerdings reicher, dichter an. Es beinhaltet mehr Information und Konstruktion. Alle Bewegungsmöglichkeiten, der gesamte Bau werden auf eine Person konzentriert. Ich bekomme mehr Coaching für die Formung und den Bau, bis es meins wird. Im Oktober bekomme ich die Möglichkeit, im Hof der Tanz- und Theaterwerkstatt in Frankfurt (a.M.) einzelne Sequenzen vorzustellen. Es ist eine wichtige Übung für mich.

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(BG): „Celui sans nom“ ist das Zentrum meiner Arbeit mit der Erinnerung an Karin Waehner. Als wir es gearbeitet haben, fühlte es sich an wie ein gemeinsames Geschenk. Womit ergänze ich diese Arbeit, um das, was für mich an den Arbeiten von Karin Waehner typisch ist, zu zeigen. Jean (Masse) ist dabei. Das ist gut. Wenn ich ihn sehe, sehe ich Karin. Er wird uns eine Sequenz schenken. Er wird in diesem Stück Karin sein. Vielleicht nehme ich noch ein Duett aus „Les Marches“. Das braucht eine Frau und einen Mann und es ist klar, einfach, aber auch typisch und ganz anders als „Celui sans nom“. „l’Exode“? Ich will nicht die Choreografie zeigen, ich will einen technischen Aspekt zeigen. Karin hat dort viele Aspekte des Gehens verwendet. Ich nehme die eine Diagonale. Ich will in WEGEHEN diese Diagonale haben, als einen grafischen Aspekt. … Ich über-

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lege, was wichtig für WEGEHEN ist und was für mein Selbstportrait. Auf jeden Fall will ich die Entwicklung, die Evolution der Bewegung zeigen, die mit dem Alter und der Erfahrung verbunden ist. Karin hat diese Entwicklung immer genutzt. Sie ist als Choreografin meiner Evolution als Tänzer gefolgt: „Les Marches“ ist simpler, von einem Bein zum anderen – ich war Anfänger. „Exodus“ – anspruchsvoller. „Celui sans nom“ ist in der Bewegung und Struktur komplex. August 2017 (ALL:) Wir arbeiten immer wieder mit der Wiederholung von „Celui sans nom“ – es ist unser Forschungslabor: Bruno > Annette > Michael. Warum in dieser Trennung, warum arbeitet Bruno nicht mit Michael und mir zusammen, obwohl es Brunos Choreografie ist? Wir arbeiten mit der Idee der Rekonstruktion, Übertragung und Reformulierung. Dafür macht genau dieser Aufbau Sinn, denn unser rekonstruierendes Arbeiten ist ein Prozess der solistischen Arbeit einerseits und der Zwiesprache mit den Vorgaben andererseits. Außerdem hatte Bruno mir die Choreografie bereits 2013

übertragen. Eine Wiederholung machte keinen Sinn. Für mich war es auch die Chance, den Weg der Weitergabe selbstbestimmt zu gehen und dennoch mich immer rückversichern zu können. (BG:) Es ist manchmal kurios, wenn ich mich zwingen muss, den Raum zu verlassen oder mich umzudrehen. Das Arbeiten ist sehr spannend. Wenn ich zuschaue, vergesse ich, dass ich die Choreografie schon kenne, ich schaue nur die tanzende Person an. November 2017 (ALL): Bruno, du hattest entschieden, die Diagonale von Exodus von hinten links nach vorne rechts zu nehmen. Es ist also kein WEG GEHEN, sondern ein Wiederkommen, Zurückbringen, Wiederbringen, Wiederholen. Es gibt den Wendepunkt vorn beim Zuschauer. … Wie interpretieren wir diesen Moment? Wir fangen immer

wieder von vorn an? Wir holen etwas aus der Vergangenheit in die Gegenwart… Der Umkehrpunkt ist damit vorn = die Zukunft? = Die Erwartung? Es macht Sinn. Januar/Februar 2018: Wir bauen weiter. Unser Fokus liegt jetzt bei den Selbstportraits. Wir haben jeder für sich entschieden, was wir von uns einbringen wollen und unseren Tanz ausgearbeitet. Jetzt muss gefeilt und alles zusammengesetzt werden. Und immer wieder „Celui sans nom“ und die Diagonale – in der Wiederholung kommt die Sicherheit und das Eigene und das Gemeinsame.

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Bewegung Macht Was?! – Sind Rekonstruktionsprozesse für junge Tänzer noch sinnvoll? Annette Lopez Leal, 2016

Was macht Bewegung mit dem Tänzer? Welche Macht hat die Bewegung über den Tänzer? Was macht der Tänzer mit der Bewegung? Welche Macht hat der Tänzer über die Bewegung? Es geht um die Argumentation, warum Bewegungsmaterial und Inhalte auch aus den letzten 20 – 70 Jahren den Wert zur Weitergabe besitzen. Warum sollten jüngere Generationen, mit einer heutigen Tanzsprache, mit diesen Choreografien in eine Auseinandersetzung kommen? Welche Fertigkeiten können über Einstudierungen von Repertoire erworben werden, wozu könnten diese Fertigkeiten benutzt werden? Ist die Erarbeitung von historisch gewordenem Tanz noch sinnvoll in einer zeitgenössischen Tanzausbildung? Es geht also darum, die Relevanz von Einstudierungen vergangener Epochen im heutigen Tanzgeschehen zu beleuchten

Der Code Wir müssen unterscheiden: Zum einen haben wir das festgelegte Bewegungsmaterial als Träger von bestimmten Eigenschaften, sozusagen als eine stabile Ebene. Der „Code“ dient als Dokument, Score, Text, auf die abrufbare Erinnerungen und Muster „geladen“ wurden. Ich bezeichne dieses gesamte Bewegungsmaterial als „Code“, weil in ihm spezifische Eigenschaften eingeschrieben sind. Zum anderen ist der individuelle Körper und die Persönlichkeit des Tänzers zu beachten, die nun mit dem kodifizierten Bewegungsmaterial in Berührung kommt. Welche dieser Informationen kann man entschlüsseln oder transformieren? Der individuelle „Bewegungscode“ einer choreografischen Sequenz ist folglich einer DNA gleich – es gilt ihn zu entschlüsseln, zu übersetzen, zu übertragen. Es können Informationen auf diesen „Code“ hoch- oder runtergeladen, Teile eingefügt oder weggelassen werden.

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Das sind Berührungspunkte mit dem Archiv eines Tänzers. Es gibt bestimmte „Tools“, die dem Tänzer und dem Pädagogen dafür zur Verfügung stehen. „Tools“ die sich zunächst auf die Analyse der Zusammensetzung des Bewegungsmaterials beziehen. Bei diesen Entschlüsselungsprozessen entstehen spannende „Zwischenräume“, sozusagen als eine instabile Ebene. Es ergibt sich ein Freiraum, der genutzt werden kann, um den „Code“ dahingehend zu verändern, eine individuelle künstlerische Interpretation des Bewegungsmaterials zu erzeugen. Hier eröffnet sich also ein Feld der Kommunikation mit dem Bewegungscode“ sowie der Resonanz auf den „Code“. Dabei ist es den Rahmen von Inhalt und Form zu beachten, in dem der „Code“ eingebettet ist. Es gilt den Entscheidungsprozess wahrzunehmen, wie viel von Form und Inhalt gerechtfertigt bleiben soll.

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Der Prozess von Entschlüsselung – Aneignung – Neuschöpfung

Welche Richtlinie könnte dieser Entschlüsselungsprozess, diese Aneignung und Neuschöpfung verfolgen? Was könnte das verbindende Element sein zwischen dem Bestehenden, der stabilen Ebene, dem „Code“ sowie der instabilen Ebene einerseits und der „gelebten Bewegung“, der künstlerischen Neukreation andererseits? Hierzu möchte ich mich auf Alexander Kluge beziehen, der das Wort „Attunement“ folgendermaßen beschreibt: Um „Attunement“ herzustellen, bedarf es dreier Dinge: 1. Festigkeit, 2. Lockerheit, 3. rechter Zeitpunkt.

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Bei den Entschlüsselungsprozessen eines zu erlernenden Tanzstückes könnte dies Folgendes bedeuten: Festigkeit oder das „Hinhören“: Welche Informationen sind auf dem „Code“ hochgeladen worden, um dem Inhalt und der Struktur gerecht zu werden. Die stabile Ebene des „Codes“. Lockerheit: Welche Informationen können dem „Code“ zugefügt, können weggelassen oder verändert werden. Das ist der Transformationsprozess an sich. Die instabile Ebene des „Codes“. Rechter Zeitpunkt: Entscheidungen können „on the spot“ getroffen werden – „Kairo als“ Bild, Gefühl, Zustand, um die Bewegung am rechten Zeitpunkt am Schopf zu packen. Die variable „Konstante“ – die Interpretationsfreiheit im Moment der „gelebten Bewegung“ oder der Aufführung.

Der „Bindekünstler“ nach Alexander Kluge, der diese drei Elemente des „Attunements“ in sich vereint, entspricht für mich gleichzeitig der Rolle des Lernenden und des Lehrenden. „Sanftheit“, „Klugheit“ und „Viel Gefühl alles zusammenzubringen“ sind die Eigenschaften, die den „Bindekünstler“ unterstützen. Sie erzeugen und kreieren am Ende das Resultat dieses Entschlüsselungsprozesses. Es entsteht eine „Stimmigkeit“ zwischen Tänzer, „Code“ und Neuschöpfung.

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Foto: Solaja Rechlin, 2017 Karin Waechter.indd 12

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Gedanken | Selbstportraits

Unseren Tanz als eine aktuelle Kunst verstehend, beschäftigen wir uns nicht nur mit Vorgefertigtem, sondern auch mit unseren eigenen Aneignungsprozessen. Unsere Selbstportraits sind Teil dieser Überlegungen. Sie hegen die Hoffnung, unser Publikum jenseits von Stilfragen an unserer Arbeit teilhaben zu lassen. Wo stehe ich? Was ist für mich wichtig und zu einer Erinnerung geworden? Was hat meine Arbeit mit der Arbeit mit Karin Waehner zu tun? Wann habe ich mich geweigert, die Erinnerung von Bruno als „wahr“ anzusehen? In welcher Situation nehme ich meine Entscheidungen und Erinnerungen als „wahr“ an? Was hat unser Projekt gebracht? Hat es etwas verändert? Diese Fragen standen im Raum, als wir die Aussagen zu unseren Selbstportraits getroffen haben.

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Ich bin wie ich bin! Bruno Genty

„Ich bin der Raum wo ich bin” Gaston Bachelard in: Die Poetik des Raums. Ich bin 60 Jahre alt: ein Geschenk. Jeden Tag Rotwein trinken! Ich lebe nur in der Gegenwart und die Erinnerung gehört meiner Sprache nicht mehr. Jeden Tag beobachten! “La poèsie” ist mein Blut und mein Fleisch. André Gide schreibt in Neue Früchte: “O wohlschmeckende Frucht, von Wollust umhüllt, ich weiss, dass du dich selbst aufgeben musst, um Keim zu werden. Sterben soll sie, sterben, diese runde Süße! Sterben soll dieses üppige köstliche Fleisch, den es ist Besitz der Erde. Sterben soll es, damit du lebst. Ich weiß: wenn die Frucht nicht stirb, bleibt sie allein O Herr, lass mich sterben, ehe mich der Tod erwartet.” Bruno Genty, Tänzer, Tanzpädagoge und Choreograf im Bereich des Zeitgenössischen Tanzes für Theater und urbanen Raum in Europa. Tänzer und Assistent u.a. bei Karin Waehner. heute Dozent für Zeitgenössischen Tanz, Tanzpädagogik und Repertoire an verschiedenen Hochschulen und Ausbildungsstätten für Professionelle und Laien. | http://www.studio31.fr >>> ATOUT-DANSE / Stage Estival >>> Professeurs >>> Bruno Genty // http://www.pesmd-bordeaux-aquitaine.com/fr/users/bruno-genty // https://www.bruckneruni.at/de/institute/tanz-ida/

Den Tag; jeden Tag genießen! “Wenn ihr Alltag ihnen arm scheint, klagen Sie ihn nicht an; klagen Sie sich an, sagen Sie sich, dass Sie nicht Dichter genug sind, seine Reichtümer zu rufen…” Rainer Maria Rilke in Briefe an einem jungen Dichter. Jeden Tag üben: die Übung ist in der Übung! Die Disziplin, die Rituale, der Körper. Lesen. Schreiben. In Kontakt bleiben. Ja, ich bin wie ich bin. 25. Januar 2018, zwischen Paris und Linz

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Foto links: Kamil Mrozowski, Probe 2017 Foto mitte: N.N. Le Cycle des Princes 2011 mit Harmen Tromp Foto rechts: privat (Bruno Genty, „Celui sans nom“, UA, 1990) /

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Veränderung und Stillstand Annette Lopez Leal

Annette Lopez Leal: Bodenwege „Wegechoreographie“, Probenskizze 2017/18

Mein GEHENtanz wird sich auf die Idee der „Kugelgestalt der Zeit“ von Bernd Alois Zimmermann und seine pluralistische Kompositionstechnik beziehen. Sie stehen im Zusammenhang mit der Idee einer Simultanität der drei Zeiten: „die Gegenwart vom Vergangenen, die Gegenwart vom Gegenwärtigen und die Gegenwart vom Zukünftigen“ (Augustinus).

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Das GEHEN ist eine Grundlage des Tanzens. Das GEHEN symbolisiert für mich aber auch die Zukunft und die Gegenwart, den Blick nach vorn gerichtet, die Zeit schreitet dahin … Auf dem Weg begegne ich Zitaten aus der Vergangenheit. Sie sind eingeflochten in das Gehen. Das Ende vom GEHENtanz ist die Zukunft, die Erwartung, das Weitergehen… Mein GEHEN ordnet und organisiert die Zitate aus der Vergangenheit und wird zum „pluralistischen Zeit- und Erlebnisstrom“ (B. A. Zimmermann).

Drei Momente des Stillstands unterbrechen das GEHEN, die ständige Gegenwart symbolisierend – Veränderung und Stillstand werden ununterscheidbar. Zitate Khôra Choreografie Rui Horta, 1996 Diving Choreografie Rui Horta, 1991 Time Quarry Choreografie José Biondi, 2000

Alles verschmilzt zum Selbstporträt in einer Simultanität der Zeit, zu einer persönlichen Collage oder wie James Joyce sagt: „Put all space in a nutshell“

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Foto links : Peter F. Fiebig, „Celui sans nom“, 2013

Annette Lopez Leal, Uni.Doz., war Tänzerin bei S.O.A.P. Dance Theatre, Frankfurt/ Rui Horta. Zusammenarbeit und Tourneen u.a. mit José Biondi und MS Schrittmacher/Martin Stiefermann. Dozentin für Zeitgenössischen Tanz. Lehrt u.a. an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. https://www.bruckneruni.at/de/institute/tanz-ida/

rechts Kamil Mrozowski, 2017

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Foto links privat, 2014, in „Re-Cycling Prometheus“ (Choreographie: Rose Breuss) Foto oben: Kamil Mrozowski, Probenfotos WEGEHEN, 2017/18

Ist die Tanzgeschichte für mich wichtig? Michael Gross

Michael Gross, BA/MA, Tänzer und Tanzpädagoge für Zeitgenössischen Tanz. U.a. Gast der PLAY Platform in Frankfurt a.M. und Mitglied der Company SILK Fluegge in Linz.

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Ein interessanter Teil ist die Tanzgeschichte auf jeden Fall, denn durch das ganze Netz der Tanzgeschichte fließen auch heute zeitgenössische Einflüsse auf mich ein. Mit der Geschichte und dem Stil des Expressionismus oder Ausdruckstanzes identifiziere ich mich jedoch nicht. Dennoch sind diese auch Teil meiner Geschichte als Tänzer als „deutscher Tänzer“. Dem mich zu stellen und einerseits in meiner Zeit stehend, die Einflüsse miteinander zu verschmelzen, Grenzen miteinander zu verflechten und so die Geschichte zu einem Teil meiner zeitgemäßen Geschichte werden zu lassen das ist immer wieder ein spannender Prozess. Hier bin ich aufgerufen, meine eigene Position zu hinterfragen und zu behaupten. Die Zusammenarbeit mit reiferen Profis ist für mich immer wieder eine spannende Erfahrung, durch Gespräche, Prozesse andere Perspektiven zu sehen und verstehen zu lernen. Für mich steht dabei die Komposition im Vordergrund, der Aufbau und die Struktur der Bewegungsabläufe: Wie ist der Raum gestaltet? Welche Wege gibt es? Was

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waren damalige Strategien? Welche Differenz gibt es zu mir und heute? Werde ich mich ändern? Dies notierte ich zu Beginn unserer Planung, im Herbst 2016.

Notizen für eine Antwort am Ende unserer Proben, Januar 2018: Es war eine spannende Arbeit gemeinsam mit Bruno und Annette. Ich war ihr Schüler und war es nicht. Aus meinem Coaching (gemeinsam mit Annette) wurden mir wieder zwei wichtige Wege meiner Bewegungsforschung klarer: Die Möglichkeit, von einer bestimmten Emotion zur Bewegung zu kommen oder die Möglichkeit, die Bewegung auszuführen, die mich dann in eine bestimmte Emotion versetzt – also von der Bewegung zur Emotion. Wenn ich die Sequenzen aber wiederhole, arbeite ich aber vor allem an der Bewegung.

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So war es auch im Probenprozess vom „Celui sans nom–Rekreation 2018“. Die Geschichte der Person im Solo formt sich langsam zu meiner eigenen. Bilder helfen mir, die Organisation der Bewegung mehr zu verstehen, die den „Code“ der Choreografie und meine Bewegung reicher machen, sich mit meinem Zugang zur Emotion des Solos verwebt. Für mich verändert sich bis zuletzt alles durch das Wieder-Machen und Wieder-Erleben, wenn die Bewegungen klar artikuliert zu einem Ganzen verschmelzen und sich ein Sinn der Bewegung für mich bildet. Die Bewegung wird von mir klar und deutlich artikuliert, deutlich gesprochen, das macht den Fluss aus.

In meinem Selbstportrait merke ich, dass die Tanzgeschichte mir etwas beigebracht hat. Ich bin schon immer fasziniert von Kompositionstechniken. In dieser Arbeit war das Spannende, dass niemals etwas gleich, sondern ähnlich und deshalb ziemlich komplex ist.

Ich beziehe mich in meinem Selbstportrait eher auf diese Arbeitsweise für „Celui sans nom“, die choreographischen Prinzipien und die tänzerische Arbeitsweise von Karin Waehner. Für mich liegt die Freiheit nicht in der choreographischen Sequenz, sondern im Raum, der Nutzung des Raumes, der Amplitude.

Foto unten: Kamil Mrozowski, Probenfotos WEGEHEN, 2017/18

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Réflexions sur mon autoportrait Jean Masse

Jean Masse, Tänzer, Choreograf, Tanzpädagoge, ehemaliger Assistent von Karin Waehner. Verwalter des künstlerischen Erbes von Karin Waehner. Künstlerischer und pädagogischer Leiter der Compagnie Epiphane und des Centre Lafaurie Monbadon. Er ist Teil der nationalen französischen Expertengruppe für den Bereich ‚Tanz in der Schule‘. | http://www.cie-epiphane.com/ | http://www.centrelafaurie.com

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Les fractures du temps L‘ombre d‘un instant dépose sa trace dans le fracas du temps. Retour incertain de l‘impact d‘un rayon de lune sur l‘étang dont l‘écho incessant se répercute à l‘infini. Il en va de la vie comme de l‘amour : une invitation, une persistance ! [Musique : Berlin, Amsterdam ou ailleurs (Paroles et musique : Eva / Laurence Matalon ) Le chant est en référence aux origines germaniques de Karin et aussi à la nécessité que le mouvement est toujours un voyage, un désir, une recherche infinie de l‘ailleurs.] Là où l‘herbe est plus verte (hommage à Karin Waehner) Une rencontre, une révélation, un compagnonnage. Et dans le déroulement quotidien du temps, l‘interiorité de cette rencontre est un repère et une constante ! [Musique : Franz Schubert : Gute Nacht extrait de Winterreise Ce lied en particulier était pour Karin indissociable du mouvement, du flux et du reflux, de l‘alternance entre l‘intérieur et l‘extérieur, entre le visible et l‘invisible.]

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Karin Waehner

Biografische Notizen, zusammengestellt von Claudia Fleischle-Braun und Heide Lazarus

Foto: Jo Babout, Karin Waehner um 1960, mit freundlicher Genehmigung der Akademie der KĂźnste und Jean Masse

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Karin Waehner gilt als eine der künstlerischen Erben der Choreografin, Pädagogin und Tänzerin Mary Wigman (1886-1973). Sie wurde in Frankreich eine wichtige Wegbereiterin für den modernen und zeitgenössischen Tanz. Insbesondere Waehners tanzpädagogischer Ansatz bezieht sich auf die Lehrweise von Mary Wigman: „Was sie [Wigman] lehrte, war ein Schlüssel.“, so meinte Waehner. 1945 kam die junge Frau zusammen mit ihrer Mutter, die selbst Tänzerin und Tanzpädagogin war und nach den Lehren von Mensendieck, Dalcroze/ Chladek und Mary Wigman unterrichtete, als Sudetendeutsche nach Dresden. Dort begann sie ihre Körper- und Bewegungsschulung an der Menzler-Marsmann-Schule Hellerau bei Dresden, strebte aber stärker nach einem eigenen expressiven Ausdruck. 1946, nach Kriegsende fand sie so den Weg zu Mary Wigman nach Leipzig in deren private Tanzschule, wo sie später auch Anfänger-Klassen unterrichtete und in deren Tanzgruppe sie tanzte. 1949 erhielt sie von Mary Wigman ihr Diplom für Pädagogik, Choreografie und Bühnentanz. Nach einem Jahresengagement am Theater Gießen folgte sie 1950 zusammen mit ihrer Mutter ihrem Bruder aus finanziellen Gründen nach Buenos Aires. Dort tanzte und unterrichtete sie in der Tanzschule von Otto Werberg, einem ehemaligen Tänzer von Margarethe Wallmann und Kurt Jooss. In den 1950er Jahren kehrte sie nach Europa zurück und zog nach Paris. Hier konnte sie ihre ganze künstlerische Kraft entfalten, besuchte aber, soweit es ihr möglich war, bei Wigman jeden Sommerkurs, „um mir dort wieder ein bisschen Kraft zu holen für das Ausland“ (Interview mit Patricia Stöckemann 1990). Dem Rat von Marcel Marceau folgend, studierte sie zunächst bei Etienne Decroux Pantomime, verließ aber bald wieder diese Ausrichtung des künstlerischen Körperausdrucks. Mitte der 1950er Jahre begann die Zusammenarbeit mit weiteren Choreografen, Tänzern und Pädagogen des Modernen Tanzes, die damals in Frankreich zur bestimmenden Tanz- Avantgarde gehörten: Jacqueline Robinson, Françoise und Dominique Dupuy sowie Jerome Andrews. 1959 gründete sie ihre eigene Tanzgruppe Les ballets contemporains Karin Waehner, welche über mehrere Jahre tourte.

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Zudem gelang es ihr, in den 1950er Jahren erfolgreich den zeitgenössischen Tanz in die Ausbildung von Gymnastiklehrern an der damaligen Sporthochschule (ENSEP, École supérieure d’éducation physique) in Paris zu implementieren und gab in der Folgezeit an vielen weiteren französischen Sportinstituten Kurse zu ihrer Methode. Auf ihre Anregung hin erweiterte 1960 die traditionsreiche private Musikhochschule Schola Cantorum in Paris (heute: Hochschule für Musik, Tanz und Theater) ihre bisherige ballettzentrierte Tanzausbildung um eine Abteilung für Modernen Tanz, deren Leitung sie übernahm. Sie unterrichtete nach ihrer eigenen, mehr und mehr sich entwickelnden Philosophie und Lehrweise. In ihrem Unterricht wurden beispielsweise auch Entwicklungen in anderen Künsten (Musik, Bildende Künste, Dichtung) interpretiert und ebenso Aspekte der Philosophie, der Stimme oder des schöpferischen Handelns thematisiert. Dieser stilübergreifend kombinierende eklektizistische Ansatz war in der damaligen Ausbildungspraxis innovativ. Deshalb kamen viele Tänzer und Tänzerinnen zu ihr, um den Reichtum eines Tanzunterrichts zu erfahren, bei dem sich die Entwicklung von tänzerischer Technik und Kreativität miteinander vermischten. So studierten bei ihr u.a. Jean Masse, Kiliana Cremona, Jean Pomarès, Pierre Doussaint, Michèle Mengual, Odile Cougoule, Jean Christophe Bleton, Angelin Preljocai, Marie Devillers und Bruno Genty. Von 1971 bis 1978 unterrichtete Karin Waehner im Centre d’ Action Culturelle (CAC) an dessen Bühne „Les Gémeaux de Sceaux“ Modernen Tanz, danach lehrte sie am Konservatorium von Bagnolet. Neben ihrer Lehrtätigkeit war Waehner wieder stärker choreografisch aktiv. Anlässlich der Ausstellung Paris - Berlin (1900–1933) im Centre Pompidou in Paris wurde sie 1979 beauftragt, für einen Film über den deutschen Expressionismus (Regie: Pierre Defonds) sechs Choreografien zu schaffen. Im Zuge dieser Arbeit reflektierte sie ihre eigenen expressionistischen Wurzeln, die dann in ihren späteren Tanzstücken sich wieder deutlicher erkennbar wurden.

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1982 wird sie zur Professorin für Modernen bzw. zeitgenössischen Tanz an das Konservatorium für Musik und Tanz La Rochelle berufen. Damals war es in Frankreich das erste Konservatorium, das einen eigenen Lehrstuhl für modern-zeitgenössischen Tanz eingerichtet hatte. Nach fünf Jahren kehrte sie nach Paris zurück und war fortan vorwiegend als Gastlehrerin tätig. Sie gab Kurse am von ihr 1964 mitgegründeten Centre international de la Danse (CID) in Paris, arbeitete mit der Kompagnie von Joseph Russillo (Toulouse) und unterrichtete im professionellen Tanzausbildungszentrum von Walter Nicks (Poitiers) sowie am Centre de Danse Contemporaine et Afro-Américaine, Free Song in Paris. Außerdem lehrte sie als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, wie z.B. an der Tanzhochschule Turin sowie an der Universität Montpellier, Universität Bremen und an der Universität Strasbourg. Im Rahmen eines tanzwissenschaftlichen Kongresses an der Pariser Sorbonne (1990) referierte sie über „die Lehre eines evolutionären, wandlungsfähigen Tanzes“ und erläuterte ihr Tanzverständnis und ihren tanzkünstlerisch- pädagogischen Ansatz. Darüber hinaus leitete sie seit 1981 in Zusammenarbeit mit dem Psychomotoriker Jacques Garros (Körperarbeit) und dem Tänzer und Choreografen Jean Masse (Zeitgenössischer Tanz) regelmäßig bis zu ihrem Todesjahr 1999 Sommerkurse am Centre Laufaurie-Montadon in Castillon de Castets im Département Gironde. Diese wurden von vielen Tanzkünstlerinnen und -künstlern besucht, die zur Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes maßgeblich beigetragen haben. In den 1990er Jahren war sie zusammen mit Françoise und Dominique Dupuy am Ausbildungsinstitut für Tanz- und Musikpädagogik (Institut de formation des enseignants de la danse et de la musique, IFEDEM) in Paris im Rahmen der neu eingeführten staatlichen Diplom-Ausbildung für Zeitgenössische Tanzpädagogik engagiert und war mit Lehraufgaben und Konzeptionsaufgaben betraut. Darüber hinaus wirkte sie am Aufbau der von Dominique Dupuy geleiteten Tanzabteilung des Instituts für Musikalische und Choreographische Pädagogik (IPMC) mit. Diese Einrichtung war mit der Archivierung, Dokumentation, Forschung und Weiterbildung auf dem Gebiet der Zeitgenössischen

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Tanzkunst betraut und veranstaltete internationale Tagungen. Außerdem war sie noch an zwei der dezentralen Nationalen Choreografischen Zentren (CCN) tätig: 1992 auf Einladung von Dominique Bagouet am CCN von Montpellier und 1996 am CCN von La Rochelle sowie beim Ballet Atlantique Régine Chopinot (BARC) im Rahmen eines beruflichen Einführungsseminars für Tänzer. 1993 veröffentlichte Karin Waehner (mit Odile Cougoule) ihre ‚choreografische Toolbox „Outillage chorégraphique: manuel de composition“ (Paris: Vigot). In diesem Lehrbuch fasste sie ihren Ansatz zusammen und erläuterte die Strategien und die von ihr genutzten ‚handwerklichen‘ Mittel des Schaffensprozesses. 1999 wurde die Association Karin Waehner Les Cahiers de l‘Oiseau gegründet, damit das umfangreiche Schaffenswerk der Künstlerin und Pädagogin im kollektive-kommunikativen und kulturellen Gedächtnis von einer institutionellen Einrichtung heraus gesichert, gepflegt und weitergegeben werden kann. Einige beispielhafte Choreografien von Karin Waehner sind „l‘Oiseau qui n‘existe pas“ (Der Vogel, der nicht existiert, 1963); „Poème“ (Gedicht, 1965); „Labyrinthe“ (1972); „Les Marches“ (Die Stufen, 1980); „Sehnsucht“ (1982); „l‘Exode“ (Exodus oder Auswanderung, 1986); „Celui sans nom“ (Namenlos, 1990). Claudia Fleischle-Braun, Dr., lehrte als Tanz- und Sportwissenschaftlerin am Institut für Bewegungsund Sportwissenschaften der Universität Stuttgart. In den letzten Jahren in verschiedene historisch-pädagogische Recherche-Projekte zum Modernen Tanz involviert. Heide Lazarus, M.A., Kultur-, Theater-, Tanzwissenschaftlerin, Produktionsdramaturgin. Initiatorin und Leiterin bzw. Herausgeberin des digitalen Katalogs von Dokumenten der WigmanSchule-Dresden mit Kontextbeiträgen „Die Akte Wigman“ (Olms, 2007) als CD-ROM und „KARIN WAEHNER (1926–1999) – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt“ (2017/18). Promoviert derzeit zum Thema „Tanz als Beruf“.

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Zeitzeugen

Foto: privat © Archive von Compagnie Épiphane, Jean Masse und Karin Waehner, 1986

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MARY WIGMAN HAT NIE IN FRANKREICH GETANZT! Susanne Linke

Der „danse expressive“ oder „danse expressioniste“, wie man den Ausdruckstanz ja ganz richtig in Frankreich nennt, hatte in Frankreich immer schwer zu kämpfen, als eine eigene Tanzkunst anerkannt zu werden. Bis in die frühen 1970er Jahre stellte das Klassische Ballett mit seinen vielen von uns Deutschen empfundenen Manierismen alles andere in den Schatten. Obwohl schon zu dieser Zeit ca. 1973 die aus den USA kommende Carolyn Carlsson als der neue Star in der Hochburg der Pariser Opera mit dort eigener Gruppe „GRCOP“ als die große Hoffnung für die Zukunft des modernen Tanzes leuchtete. Es war Rolf Liebermann zu verdanken, der dafür als Intendant der Pariser Opera den enormen Mut hatte! So war meine Empfindung damals 1975, als ich zum ersten Mal am „Concours chorégraphique international de Bagnolet“, dem „Ballet pour Demain“ mit meiner Choreografie „Danse funebre“ teilnahm. Jaque Chaurand war der mutige Leiter. Zu meiner größten Überraschung bekam ich den 3. Preis neben Royston Maldoom – 1. Preis und Pat O‘Bine – 2. Preis.

Diesen Glücksstrahl bis heute verdanke ich allein Karin Waehner aus der Jury. Wie mir schien, war sie eine anerkannte Persönlichkeit innerhalb der Tanzwelt in Paris. Kein Wunder… denn sie sprühte vor Lebendigkeit mit Geist voll ehrlicher Direktheit, was für die Franzosen damals unüblich war. Sie hatte eine Schule und eine Gruppe – was sie mit viel Mühe und auch Erfolg durchzog. Auch Christine Brunel***, ehemals Schülerin von Karin Waehner, erzählte mir viel über sie. Ab 1975 verband uns eine innige Freundschaft eben als „Die Wigman Schülerinnen“. In den darauffolgenden Jahren konnte ich beobachten – mitunter als Jurorin – wie der Concours es ermöglichte, dass viele der wie Pilze neu aufsprießenden kleinen Gruppen ihre zum Teil sehr guten modernen Choreografien zeigen konnten. Es war hochspannend zu sehen, wie sich Frankreich von Jahr zu Jahr immer stärker zu einem der intensivsten Förderer des modernen Tanzes in Europa entwickelte!  Und Deutschland … befand sich noch im Tiefschlaf, gefangen in den noch recht starren Regeln der Stadttheaterinstitutionen! *** Christine Brunel (2017 gest.) war zudem Absolventin von Folkwang, tanzte 6 Jahre bis 1984 im Folkwang Tanzstudio, unternahm zahlreiche Auslandsgastspiele und unterrichtete später verstärkt. (http://www.brunel-tanzcie.com) Susanne Linke, Tänzerin, Choreografin, Tanzpädagogin, Honorarprofessorin an der Folkwang Universität. Ausgebildet bei Mary Wigman sowie an der Folkwang Hochschule. Tänzerin im Folkwang Tanzstudio unter der künstlerischen Leitung von Pina Bausch. Künstlerische Leitung des Folkwang Tanzstudios, Leiterin des Bremer Tanztheaters zusammen mit Urs Dietrich, Leiterin der Tanzsparte im Theater Trier. Künstlerische Leitung und Gründungsmitglied des Choreografischen Zentrums NRW (heute: PACT Zollverein). In all den Jahren national und international zahlreiche Workshops, Gastchoreografien, Gastspiele als Tänzerin und Choreografin. | www.susanne-linke.eu

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Gedanken und Erinnerungen

Katharine Sehnert

Bei einem Internationalen Sommerkurs im Mary-Wigman-Studio in Berlin lernte ich Mitte der 1950er Jahre Karin Waehner kennen. Sie lebte zu der Zeit bereits in Paris. Bei meinen sporadischen Besuchen in dieser Stadt, die auf uns damals eine große Anziehungskraft ausübte mit ihrer reichen Kulturlandschaft – Sartre, Juliette Greco, Chansons, Filme – vertiefte sich im Laufe der Zeit unsere Bekanntschaft. Das letzte Mal, als wir uns in ihrer Pariser Wohnung trafen – es war kurz nach ihrer Hüft-OP – führte sie mir, unter den fachmännischen Blicken ihres Mannes, ihr Reha-Programm vor: Es war der Walzerschritt (tief-hoch-hoch), mit dem sie ihr Gleichgewicht trainierte. Es war wahrscheinlich sehr lustig uns zu beobachten, wie wir gemeinsam durch die eingeschränkten „Frei“räume der Wohnung tanzten. In einem langjährigen Kampf hat sie dem Modernen Tanz in Frankreich den Boden bereitet. Mit ihrem pädagogischen und künstlerischen Einsatz hat sie immense Aufbauarbeit geleistet und dafür gebührt ihr höchste Anerkennung. Auf die Tanzentwicklung in Deutschland hatte das jedoch keinen Einfluss . Hier sehe ich die Entwicklungslinie von Mary Wigman über Dore Hoyer – Manja Chmièl – zu Gruppe MOTION Berlin – und letztlich auf dem Umweg über die USA die Gründung der Tanzfabrik Berlin und deren Arbeit in den ersten Jahren. Karin Waehner und Manja Chmièl, beide Schülerinnen der Leipziger Schule, waren sich sehr ähnlich in ihrem Temperament. Aufbauend auf dem grundsätzlichen Ansatz des Unterrichts bei Mary Wigman, die eigene Körperwirklichkeit und Präsenz zu finden, entwickelten sie ihre ganz eigene energetische, kraftvolle Bewegungssprache. Beiden gemeinsam war der große persönliche Einsatz, dem Tanz, der in den

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1950/60er Jahren nach der damaligen Terminologie Neuer Tanz bzw. Danse Contemporaine oder Zeitgenössischer Tanz genannt wurde, Akzeptanz und Anerkennung zu verschaffen - die Eine in Frankreich, die Andere in Deutschland. Manja Chmièl war, wie Dore Hoyer, eine herausragende Solistin - die es wieder zu entdecken gilt! Lehrerin am Berliner Wigman-Studio, war sie ein Bindeglied zwischen den Generationen. Mit ihr vollzog sich der Wandel von der „nur“ solistischen Arbeit hin zur Gruppenchoreografie. Auch die Besonderheit der Berliner Situation, wo ein anderes politisches Klima herrschte als im Westdeutschland Konrad Adenauers, spielte keine geringe Rolle. Das Infragestellen überkommener Strukturen grenzte auch die Kunst nicht aus. 1962 schlossen sich drei Wigman-Absolventen zu einem Tänzerchoreografen-Kollektiv zusammen und gründeten die „Studiogruppe für Neuen Tanz MOTION Berlin“, die einige Jahre fester Bestandteil der zeitgenössischen Tanzszene wurde mit zahlreichen Gastspielen im In- und Ausland. Neue choreographische Konzepte wurden ausprobiert. Bewegungsformen sollten nicht mehr als Ausdruck einer inneren Befindlichkeit gesehen werden, sie wurden „entpersonalisiert“. Von Bedeutung war allein der reine Bewegungsvorgang, der nur sich selbst darstellte mit seiner eigenen immanenten Wirklichkeit.Mit dieser Weiterentwicklung begann quasi die sogenannte Freie Szene. Der Blick nach außen zeigt übrigens die gleiche Umorientierung in der Tanzszene der USA, nahezu zeitgleich und völlig unabhängig von der Entwicklung in Deutschland. Inge Katharine Sehnert. Tänzerin, Choreografin, Tanzpädagogin, ausgebildet bei Mary Wigman in Berlin. Mitbegründerin der „Studiogruppe für Neuen Tanz MOTION Berlin“. Assistentin von Pina Bausch in Essen. Gründung der „Gruppe MOBILE Frankfurt“ und später des TANZRAUMs in Köln. In den vergangenen Jahren verstärkt engagiert, mit Seminaren, Vorträgen sowie Mitarbeit an Rekonstruktionen, das kulturelle Erbe Mary Wigmans für die Gegenwart und Zukunft zu erhalten. www.katharinesehnert.com

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Wie Karin Waehner 1980 die „WigmanTechnik“ nach Dresden an die Palucca Schule brachte – nach Erinnerungen von Hanne Wandtke Boris Gruhl

Boris Gruhl, freier Autor und Kulturjournalist in Dresden, Bereiche Ballett, Tanz, Musiktheater für Rundfunk, Tagespresse, Fachmagazine und Internet. Kurator und Moderator. Vorstands- und Jurytätigkeit, u.a. Tanzbühne Dresden e.V.. *** Karin Waehner: „Seit Mary grossen Geburtstagsfeier in Berlin, wo sie mir <handschr. verbessert „mich“> Palucca an das Herz legte, bewerbe ich mich in Dresden als Gastdozent u. wurde immer von Palucca ausweichend vertröstet – es kam mir immer etwas merkwürdig vor, nun klappt es, wo Palucca selbst nicht mehr an diesem Kursus unterrichtet.“ (gemeint ist die Feier bei Mary Wigman zum 85. Geburtstag, 1971. 1980 war Palucca vor Waehners Ankunft bereits in ihre Ferien abgereist. Notiz vom „14.02.1980 an Gruber und Praski; Fehler aus dem Typoskript übernommen.“, Fenger, 2017, S. 563).

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Im Rahmen der Internationalen Sommerkurse 1980 an der Palucca Schule Dresden gab Karin Waehner vom 23. Juni bis zum 5. Juli als Gastdozentin für modernen Tanz einen Kurs.*** Künstlerischer Leiter war Wolfgang Zeibig, Lehrer für Rhythmik nach Orff an der Palucca Schule Dresden (der heutigen Palucca Hochschule für Tanz Dresden). Der Versuch, Erinnerungen von damaligen Teilnehmenden wach zu rufen, gestaltet sich schwierig. Im Schriftwechsel mit Karin Waehner findet sich aber immerhin ein Brief vom 25. Mai 1980, in dem sie von ihrer Aufregung spricht, es sei ja für sie das erste Mal, dass sie in Ostdeutschland arbeite und dass sie deshalb, „ständig in Angst lebe, dass in der letzten Minute irgendetwas nicht in Ordnung ist.“ Professorin Hanne Wandtke, damals Lehrerin an der Schule, nahm aus Lust, Interesse und Neugier an dem Kurs von Karin Waehner teil. In einem Gespräch erinnert sie sich: In stärkster Erinnerung ist bei ihr Waehners „toller Humor“, allerdings nicht im Kurs sondern in der Freizeit, die man gerne miteinander verbrachte, auch mit dem Pianisten Professor Peter Jarchow, der sich daran ebenfalls vor allem erinnert. Was die von Karin Waehner vermittelten Inhalte angeht, wird die Erinnerung kritischer und eine leichte Ironie ist nicht zu überhören. Karin Waehner hatte den Anspruch, den Teilnehmenden eine „Wigman-Technik“ zu vermitteln. Da stellte sich aber schon die Frage, ob es diese denn in so ausgeprägter und autorisierter Weise überhaupt gäbe. Was dann zudem als „Wigman-Technik“ vorgegeben wurde, ging für Hanne Wandkte stark in Richtung Yoga-Übungen mit meditativen Körperhaltungen aus dem Repertoire der Feldenkrais-Methoden. Tänzerisch wurde es vornehmlich mit Anregungen für die Teilnehmenden zu Abfolgen von Ausfallschritten und einem Konglomerat verschiedenster Typisierungen. Manche erinnerten an kraftvolle Versatzstücke, wie man sie von Jean Weidt kannte, aber bei Waehner eben nicht in die für ihn so typische Gruppendynamik führten. Als Problem erwies sich auch, dass Waehners Vorgaben nicht so leicht zu befolgen waren, worauf sie zwar Wert legte, was sie aber aufgrund ihrer körperlichen Einschränkung nicht immer klar genug zu vermitteln vermochte. Kritische Korrekturen wurden hingegen den Teilnehmenden gegenüber sehr hart geäußert. Zudem habe es an konstruktiver Inspiration gemangelt. Improvisationen waren nicht erwünscht, lediglich das Befolgen der eben nicht so einfach erkennbaren Vorgaben. Wenig hilfreich für die Teilnehmenden war auch der mehrfach zu spürende Unterton, dass man ja hier überhaupt erst einmal Fundamente für modernen, zeitgenössischen Tanz etablieren müsse. Das war natürlich gerade an dieser Schule nicht unbedingt von motivierender Wirkung. Immerhin unterrichtete Patricio Bunster seit 1979 in den Fächern Zeitgenössischer Tanz und Choreografie und gehörte ebenfalls zu den Kursleitern dieses Jahrganges; Paluccas Improvisationsunterricht setzte ebenfalls Maßstäbe – man war es also durchaus gewöhnt, die Kreativität der Teilnehmenden zu fordern und somit zu fördern. Aber wenn die Kurse beendet waren, dann war die Stimmung ausgesprochen gut. Man traf sich in großen Runden und ließ die Tage beim gemeinsamen Essen ausklingen.

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Im Vorfeld und in Bezug zu den Mary-Wigman-Ehrungen anlässlich ihres 100. Geburtstages fanden Gastspiele des Ballets Contemporains Karin Waehner aus Paris unter anderem in Dresden und in Berlin-Ost statt.*** In meinen Erinnerungen an das Dresdner Gastspiel im Theater der Jungen Generation ist noch immer präsent, dass die Erwartungen hoch waren, die Eindrücke dann aber insgesamt eher zwiespältig. Dabei ging es mir nicht so, wie dem Rezensenten der Zeitschrift „Theater der Zeit“, dem es nicht leichtfiel, die Choreografien von Karin Waehner zu verstehen. Ich erinnere mich an gegenteilige Eindrücke. Mir war vieles zu klar, zu direkt. Für mich wurde immer wieder der politische, antikapitalistische Zeigefinger erhoben, sehr stark in der Choreografie zu den „Wiegenliedern einer proletarischen Mutter“. – Brechts Gedichte in der Vertonung von Hanns Eisler, deren Bebilderung es meines Erachtens nicht bedurfte. Für Dietmar Fritzsche in der Ausgabe 12/1986 in der „Festtags- Umschau“ der Zeitschrift „Theater der Zeit“ entstand eine Mischung aus „abstrakt“ und „real“, die auch für ihn nicht den „emotionstiefen und anspruchsvollen“ musikalischen Vorgaben entsprach. Für Ines Köthnig in der Sächsischen Zeitung vom 18.10.1986, die schon in der Überschrift auf ein „Eigenwilliges Ballett im Gastspiel aus Paris“ verweist und in der Unterzeile sogar von einer „Tanzgruppe“ spricht, erschließen sich hier allerdings „Bitterkeit und Kompromisslosigkeit einer Mutter, die trotz aller Nöte ihrem Kind den festen Willen und die Kraft mit auf den Weg gibt, für ein späteres besseres Leben zu streiten“. Insgesamt hat Ines Köthnig vier ganz unterschiedliche Ballette erlebt und macht keine kritischen Anmerkungen. In der Choreografie „Der Traum ein Vogel zu sein“ sah sie Varianten des uralten Menschheitstraumes, tänzerisch gestische Vielfalt und unterschiedlichste Ausdrucksformen, die sie allerdings nicht ansatzweise zu beschreiben weiß. Wichtig ist ihr, dass zu Bildern „heutiger Bedrohungen unserer Welt“ schrille, elektronische Musik erklingt. Höhepunkt des Gastspiels war für die Dresdner Rezensentin ebenso wie für den Berliner Autor die abschließende Choreografie „Die Stufen“ (Les Marches). Für Dietmar Fritzsche „stehen die Stufen als Sinnbild für menschliches Streben ‚nach oben‘ zu kommen.“ Bemängelte der Kritiker sonst wie bei der Choreografie l’Exode (Auswanderung) „zu oft Ähnlichkeiten in der Bewegung, im Dargestellten, zu verselbständigte Posen und Gesten“ – was für ihn insgesamt eine „konfliktgeladene, spannungsvolle Entwicklung des Geschehens“ hemmt – begegnen sich für ihn hier auf und im Umfeld der Stufen „unterschiedliche Charaktere und Temperamente mit eigenen, teilweise gegensätzlichen Zielen“. Der Berliner Rezensent kann sich jedoch letztlich einen ironischen Seitenhieb nicht verkneifen und schreibt: „Immerhin war zu erleben, wie Gänge, Schwünge aus der Hüfte, ‚sprechende‘ Arme in den Dienst einer Aussageabsicht gestellt wurden.“ Die Dresdner Rezensentin sah ebenfalls „egoistische Machtgefühle, die in jedem Menschen mehr oder weniger ihren Platz haben und die zur Genüge zu Katastrophen geführt haben“. Sie würden „auf der Bühne mit beeindruckender Dichte umgesetzt.“ Insgesamt für sie „ein eigenwilliger und beeindruckender Ballettabend.“ Meine eigene Erinnerung entspricht allerdings eher der ironischen Zusammenfassung von Dietmar Fritzsche.

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Erinnerungen an das Ost-Gastspiel des Ballets Contemporains Karin Waehner im Oktober 1986 Boris Gruhl

*** Karin Waehner: „Oft denke ich an den 13.10. zurück u. frage mich, ob ich das alles geträumt habe! Fred fragte mich am Abend dieses Tages, warum ich nicht glücklicher aussähe? Wahrscheinlich war es deshalb, weil ich wusste, dass Blumen, Erfolg, Komplimente kein Morgen sehen würden. Und so ist es nun auch. Ich bin zu meinem schweren Alltag zurückgekehrt, unterrichte 21 Stunden in der Woche, Schola u. La Rochelle u. kein Hahn kräht mehr nach Mary.“ („12.12.1986 an Gruber und Praski“, Fenger, 2017, S. 564)

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Über das Choreografieren von Karin Waehner Jean Masse

Sur l‘approche chorégraphique. Elle a eu des approches très diverses. Au début elle a écrit pour les danseurs des partitions de mouvements qu‘elle leur demandait d‘interpréter, en insistant sur les intentions qui étaient liées à telle phrase chorégraphique, en lien ou non avec les musiques. Même dans l‘apprentissage de chorégraphies écrites elle insistait sur le ressenti et l‘implication du danseur. Puis elle a insisté sur le travail d‘improvisation et demandé à ses danseurs d‘explorer des nuances de mouvements en fonction du thème qu‘elle voulait traiter. Elle partait alors de la forme exposée par les danseurs et ensuite composait pour donner une forme qui se structurait peu à peu.

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Elle a travaillé souvent sur des thèmes qu‘elle donnait aux danseurs. Ils improvisaient souvent sans musique et la bande sonore arrivait bien après. Il y avait une réelle connivence entre les danseurs et la chorégraphe. Elle attachait une grande importance à la personnalité créatrice de ses danseurs qu‘elle considérait comme un matériau qu‘il fallait modeler comme un sculpteur. Ainsi les processus de création étaient chaque fois différents. La durée du travail était chaque fois différente. Il lui arrivait de traiter la matière pendant de longues semaines, parfois l‘échéance qui arrivait la conduisait à travailler dans l‘urgence et elle pouvait demander à ses danseurs un travail où le temps n‘était pas compté. Il fallait arriver au bout.

Tous ses thèmes chorégraphiques étaient préparés à l‘avance et elle accumulait les documents de recherche soit sous forme de lecture, de peinture, de sculpture, d‘ouvrages où elle puisait sa recherche. Ainsi sa bibliothèque à la fin de sa vie était comme des strates successives qui s‘appuyaient les unes sur les autres et faisaient apparaître la diversité de ses intérêts et de ses recherches (lectures, musique, objets…).

Pour les reprises de rôle elle s‘appuyait sur des documents filmés, mais chaque fois elle recréait la partition en l‘adaptant à la personnalité du danseur ou de la danseuse. Elle était très exigeante et en même temps très respectueuse des gens avec qui elle travaillait. Elle établissait une relation de confiance telle que chacun donnait le meilleur de lui-même. Elle n‘était pas intéressée par la notion de répertoire, mais plutôt par la fonction d‘une recréation de ce qui avait eu lieu et qu‘il fallait renouveler pour ne pas scléroser la forme.

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Erinnerungen an die Arbeit mit Karin Waehner

Auszüge aus einem Gespräch von Heide Lazarus mit Bruno Genty, 2017

Du hast gesagt, dass Karin Waehner manchmal wie ein Dresseur war… (H.L.) Nicht pädagogisch! Eher im persönlichen Umgang. (B.G.) Was hieß das konkret für dich? (H.L.) Sie hat mein Leben kontrolliert, die Qualität meines Lebens: Nahrung, Gesundheit, wie eine Mutter. Ich wurde regelmäßig angerufen, zum Essen bei ihr eingeladen. Und wie war Karin Waehner als Pädagogin? (H.L.) Karins Erfahrung und Haltung war die einer Kämpferin. Das hat sie auch als Pädagogin geprägt. Sie verlangte eine eigene Forschung, Kreativität, Expressivität. Sie hatte hohe Interpretationsstandards, beeinflusst von Graham, Limón und Wigman. Man musste sich ihr als Choreographen hingeben. Sie war ein Handwerker - drastisch, despotisch, oft wie in der zeitgenössischen Malerei […] spontan und gequält. […]

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War das Training und das Choreographieren ein gemeinsamer Prozess oder war es getrennt voneinander? (H.L.) Training und Choreografie waren immer getrennt. (B.G.) Hat sie Euch regelmäßig zum Training bestellt, oder nur zu den Proben? (H.L.) Nur zu den Proben. Für sein Training war jeder selbst verantwortlich. Training hat sie nur für ihre Studenten gegeben. Aber wir könnten an diesem Unterricht teilnehmen. (B.G.)

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Wie hat Karin Waehner mit Euch „l’Exode“ und „Les Marches“ erarbeitet? (H.L.) „L’Exode“ in der originalen Version hat sie für das Konservatorium von La Rochelle gearbeitet. Es ist eine Anhäufung von Kombinationen für Studenten, vor allem Studentinnen. Dann hat sie für die Biennale de Lyon eine neue Version mit uns gemacht. Wir haben einige Schritte gelernt und haben sie auf uns adaptiert – mit unseren technischen Möglichkeiten, mit unseren Persönlichkeiten. Trotzdem war „L’Exode“ ein Kompromiss. Sie brauchte ein Stück für das Programm in Lyon und sie wollte oder konnte keine neue Kreation machen. Aber „Les Marches“ war eine richtige Kreation. (B.G.)

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Wie hat sie mit dir dabei gearbeitet? (H.L.) Für „Les Marches“ hat sie meine Partitur auf mich gebaut. Keine Improvisation. Ich habe alle Schritte von ihr gelernt. Ich war Anfänger, es war meine erste Rolle auf der Bühne. Es war wie eine Dressur. Sie war eine Bildhauerin mit mir. Für „Celui sans nom“ war es anders. Es gab Gespräche, Improvisation, viel Forschung. (B.G.) Musstet Ihr einzelne Parts selbst erarbeiten, so wie Ihr jetzt zum Beispiel eure Selbstportraits in WEGEHEN choreografiert? (H.L.) Ich nie (B.G.)

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Die Tanzpädagogin Karin Waechter.indd 34

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Karin Waehners Einfluss auf die Tanzerziehung im Rahmen der Leibeserziehung und Sportunterrichts in Frankreich Claudia Fleischle-Braun

Ab den 1960er Jahren war Karin Waehner verstärkt in der Lehre und in der Vermittlung ihres Ansatzes tätig. In dieser Zeit gelang es ihr, den modern-zeitgenössischen Tanz sowohl an der Schola Cantorum im Rahmen der tanzkünstlerischen Ausbildung als auch an der damaligen Sporthochschule (ENSEP, École supérieure d’éducation physique) in die Aus- und Fortbildung von Sport- und Gymnastiklehrer in Paris zu implementieren. Sie gab in der Folgezeit an weiteren französischen Sportinstituten Kurse im Modernen Tanz, in denen sie ihre Lehrmethode vorstellte. Dabei vermittelte sie den Studierenden und Lehrkräften vor allem ein neues Tanzverständnis, welches das kompositorisch-gestaltende Arbeiten im Tanz vor allem durch eine Idee motiviert betrachtete und nicht nur als eine Folge von auf Musik gesetzte Bewegungen. Durch ihr Engagement in der Lehrerbildung hatte Karin Waehner die Tanzdidaktik sowie den Tanzunterricht an Frankreichs Schulen maßgeblich und nachhaltig beeinflusst. Der von ihr vermittelte Moderne Tanz und das von ihr vertretene didaktische Konzept kam zu einem Zeitpunkt, als „das Rezitieren von Gesten auf einem musikalischen Rhythmus“ zunehmend als überholt galt „und es darum ging, einen neuen Blick auf die Ausdruckskraft des Körpers und die künstlerisch-ästhetische Bildung zu richten“. Der Impuls, dadurch einen neuen Sportunterricht schaffen zu wollen, geschah in Frankreich zur gleichen Zeit, als für die Tanzkunst und akademische Tanzpädagogik durch das Aufkommen des Modernen Tanzes eine neue Dimension anbrach. Die durch die Expression Corporelle-Strömung

beeinflussten didaktischen Ansätze hatten sich in der Lehrerbildung und im Curriculum im Rahmen der APEX (Activités physiques d’expression) in den 1980er Jahren oder als APA (Activités physiques artistiques) in den 1990er Jahren manifestiert. „Das plötzliche Eindringen des modernen Tanzes war der Auftakt einer veritablen Revolution in den Leibesübungen dieser Epoche, in der Konzeption der Bewegung und des sich bewegenden Körpers, und löste innerhalb dieser Schule, einer Flut von Forschungsarbeiten und Überlegungen über die körperliche Ausdruckskraft aus. Jenseits der Gebärden des Vergnügens sowie der formalen und analytischen Übungen unserer Gymnastik, die dazu dienen, gelenkig zu werden, Muskeln zu stärken, besser zu koordinieren und einen Körper mechanisch zu beherrschen (ein ausschließlich biomechanisches Bewegungskonzept eines maschinellen Körpers) war eine andere Bewegungsqualität zum Vorschein gekommen. Diese stellt Dynamiken und verschiedenartige Formen her, eine neue Art, sich zu bewegen, seinen Körper zu erleben und zu tanzen.“ (Peix-Arguel, 1990, S. 299, Übersetzung: C.F-B.) Mit diesen Worten beschrieb beschrieb Mireille Peix-Arguel, die zur ersten Generation der von Waehner ausgebildeten Tanzdozentinnen gehörte, das Auftauchen des modernen Tanzes im Bereich der Körperund Sporterziehung in einem Beitrag für das Grundlagenwerk von Jaqueline Robinson zur Entwicklung des Modernen Tanzes in Frankreich (1990).

Foto: Siegfried Prölß, Sommerkurs 1980, © Palucca Hochschule für Tanz Dresden

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Karin Waehner unterrichtete nach ihrer eigenen Philosophie und Lehrweise, die sich im Laufe der Zeit mehr und mehr zu einem Konzept verdichtet hat. Dabei wollte sie die Tanzenden für einen gefühlten bzw. verinnerlichten Tanz zugänglich machen („une danse sentie“ bzw. „une danse intériorisée“). Sie war der Auffassung, dass keine Bewegung ohne innerliche Beteiligung geschieht und lehnte daher auch in Übungs- und Trainingsprozessen eine systematische Mechanisierung entschieden ab, denn „in der kleinsten Geste oder in der kleinsten körperlichen Anstrengung […] das ganze Individuum, der ganze Körper dabei“. Waehner sah ihren Ansatz in der historischen Traditionslinie der Wegbereiter des Modernen Tanzes und verweigerte somit jede Kodifizierung im Sinne eines Systems. Vielmehr ging sie wie auch ihre Lehrmeisterin Mary Wigman von einem ganzheitlichen Entwicklungsprozess der Vermittlung aus, bei dem individuell-persönliche oder zeitbedingte Entwicklungen des Lebensumfeldes Transformationen hervorrufen, die dann in den tänzerischen Objektivationen ebenfalls spür- und sichtbar werden („danse evolutive“). Daher vertrat sie die Einstellung, dass sich ‚Modernität‘ jeweils durch die Berücksichtigung von Zeit und Raum widerspiegeln würde. Nach ihrem Verständnis erwächst und entwickelt sich ein Tanz aus spontan-intuitiven, durch Imaginationen erzeugten Reaktionen. Dieser Prozess führt dann mehr und mehr zu einer Bewusstheit, mit einer Balance von Körper und Geist, die auch Spiritualität beinhalten kann. Ausgangspunkt ist jeweils ein innerer Impuls, der die Substanz des Tanzes entdecken lässt und die dann gesuchten oder erspürten Bewegungen können entsprechend der Parameter Raum, Zeit, Intensität und Qualitäten vielfach variiert werden. Das methodische Vorgehen „Thema mit Variationen“ hatte sie bei Mary Wigman erfahren. Für die körpertechnische Ausbildung nutzte Karin Waehner die Bodenarbeit und Elemente aus dem Repertoire amerikanischer Modern Dance-Techniken (Graham, Limón, Cunningham), nicht zuletzt, weil diese in ihrer Bein- und Fußarbeit eine Nähe zum Klassischen Tanz

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Das tanzpädagogische Konzept von Karin Waehner Claudia Fleischle-Braun

hatten. In ihrer Lehre hatte sie versucht, eine Symbiose zwischen den Modern Dance-Techniken und der Lehrweise von Wigman herzustellen, indem sie bei der Vermittlung der Bewegungsabläufe und ihrer spezifischen Qualitäten diese weniger unter formalen Gesichtspunkten unterrichtete, sondern vielmehr mit imaginativen Vorstellungsbildern und kinästhetischen Wahrnehmungserfahrungen verband. So versuchte sie beispielsweise, „den Boden von Grahams Standpunkt her zu betrachten (Rollen, Fallen), ihn aber auch in das Wigman-Universum zu integrieren (indem sie für ihn eine emotionale Motivation findet)“. Aus ihrer eigenen Erfahrung als Tanzpädagogin und Choreografin war sie wie Wigman der Auffassung, dass die technischen Herausforderungen vor allem der Entwicklung der Tänzerpersönlichkeit dienen sollten. In ihrem Unterricht nutzte sie das ganze Bewegungsspektrum von Schwüngen, Spiralen und Sprüngen sowie die Spannungsskalen und Kategorien des bewegungsanalytischen Laban-Systems (Bewegung, Zeit, Raum, Beziehungen). Diese letztgenannten Analyse-Kategorien bildeten für Waehner eine wesentliche Grundlage für das Lernen und Choreografieren von Tanz. Karin Waehner war in Frankreich die erste Künstlerin, der es gelungen war, in der Tanz- und Tanzpädagogen-Aus- und Weiterbildung von akademischen Institutionen das Monopol des Klassischen Balletts aufzubrechen. Zusammen mit Françoise und Dominique Dupuy wirkte sie noch in den 1990er Jahren in Paris im Rahmen der neu eingeführten staatlichen Diplom-Ausbildung für Zeitgenössische Tanzpädagogik mit und lehrte in den Vorbereitungskursen zur staatlichen Diplôme d‘Etat-Prüfung. Bis heute finden sich in den Konzepten und Arbeitshilfen zur tänzerischen Grundausbildung und zur zeitgenössischen Tanzvermittlung des CND Spuren ihrer Lehre

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Karin Waehner, die Tanzpädagogin Jean Masse Karin Waehner disparue depuis peu, a développé l’approche d’une danse évolutive mettant en évidence une pédagogie axée sur l’improvisation et les lois fondamentales du mouvement. Ayant introduit la danse moderne à la Schola Cantorum dès 1958 elle crée le département danse en 1960 dont elle a assuré la direction jusqu‘à sa mort. D‘autre part elle a été à l‘origine du cursus de danse-thérapie à la Schola Cantorum dont elle a assuré les cours en pédagogie de la danse.

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Elle a été une pédagogue féconde éveillant les personnes à une découverte en profondeur de leur dimension humaine et artistique. Son intérêt pour toute forme de mouvement, pour toute proposition l’a conduite à renouveler sans cesse sa propre manière d’enseigner. Refusant toute codification qu’elle considérait comme un système figé, elle avait, inscrite en elle, cette modernité qui est avant tout un état d’esprit, une prise en compte du temps et de l’espace insistant à temps et à contretemps, sur ce que Wigman disait déjà, à savoir que l’exigence technique est au service du danseur pour sa propre évolution. A travers son itinéraire elle rejoint tous ces courants qui ont traversé le siècle, elle relie l’être dans toutes ses dimensions affirmant que l’art est le grand chemin de la réalisation de l’homme.

Über die Tanztechnik von Karin Waehner Jean Masse

Il me semble important de signaler que Karin ne parlait pas de technique, mais plutôt de style. Elle n‘a pas cherché à créer une méthode, mais elle a utilisé tous les outils auxquels elle s‘est confrontée. Dans ses cours elle citait toujours ses sources. Aussi quand elle enseignait la contraction Graham, elle disait cela vient de Martha. Sur les tours et les spirales elle disait c‘est du Wigman. De même quand elle travaillait sur la parallèle elle disait que cela lui venait de Merce Cunningham. Pour les chutes elle se référait à Humphrey et Limon. Ainsi elle a su, au fil de ses expériences, assimiler de nombreux éléments qu‘elle a intégrés dans son enseignement.

Elle était extrêmement soucieuse de conduire les danseurs professionnels ou amateurs sur la qualité de la sensation du mouvement. Ainsi elle a été amenée à parler dès les années 1980 d‘une danse évolutive et s‘insurgeait contre une codification du mouvement qu‘elle considérait comme un abrutissement. La personne était pour elle le lieu de l‘incarnation du geste pour exprimer l‘essentiel et rejoindre ce qui est humain dans l‘homme.

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Choreografische Arbeitsweisen

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Tanz und Alter(n) als Teil des Lebens und Alter(n) s insgesamt ist in der westlichen Kultur ein lange Zeit unbeachtetes, nahezu tabuisiertes Thema gewesen. Zumindest in Europa ist dieses Thema erst in jüngster Zeit – und dies ist sicher auch den hiesigen demografischen Entwicklungen und deren Spiegelungen in Politik und Medien geschuldet – in größerem Maße von Tänzer, Choreografen und auch der Kulturpolitik ‚entdeckt‘ worden. Das Nederlands Dans Theater III hat es Anfang der 1990er zumindest für ein paar Jahre vorgemacht. Zunehmend mehr Choreografen fielen ebenfalls mit Arbeiten nicht nur über das Alter, sondern mit älteren Tänzern auf und das unter anderem aus Bundesmitteln geförderte „Modellprojekt“ DANCE ON für Tänzer und Tänzerinnen über 40 verankerte das Thema auch im tanzkulturellen Mainstream. Drei Aspekte scheinen auf den ersten Blick leitend zu sein beim Tanz rund um das Alter(n): erstens die Betonung des Erfahrungsaspektes älterer Tänzer und Tänzerinnen – gegenüber deren vermeintlich nachlassenden körperlichen Fähigkeiten; zweitens der intergenerationelle Austausch, der vielfach mit Fragen des tanzkulturellen Erbes – einem weiteren aktuell relevanten und auch geförderten kulturpolitischen Thema – in Verbindung steht; und drittens die zunehmende Arbeit mit Laien. Dass dabei ein vierter Aspekt nicht immer – und meines Erachtens noch viel zu wenig – zum Tragen kommt, scheint auffällig: die Erforschung des alt(ernd) en Körpers, die – gegenüber einer oftmals biographisch motivierten, mitunter auch narrativ abgerundeten Reflexion eines Lebens – den Körper in seiner Materialität und Endlichkeit zur Disposition stellt.

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Tatsächlich wird beim Thema „Alter der Prozess des Alterns“ oftmals weniger in den Blick genommen, als vielmehr das „Alter als Stereotyp und Drama“ in Szene gesetzt. Schon 1970 stellte die Schriftstellerin Simone de Beauvoir in ihrem mächtigen Essay „Das Alter“ (Originaltitel: „La Vieillesse“) fest, das Thema des Alters sei in der Literatur seit dem alten Ägypten immer als Stereotyp behandelt und der alte Mensch wie unter Schablonen begraben worden, so dass man weder das Alter noch sich selbst darin erkennen könne. Da kann es durchaus fruchtbar sein, den „Skandal der Endlichkeit“, wie der Altersforscher Gerd Göckenjan es in seinem im Jahr 2000 erschienen Buch „Das Alter würdigen: Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters“ eher pejorativ gefärbt formuliert, als Potenzial einer sich der eigenen Vergänglichkeit bewusstwerdenden Lebendigkeit hervorzukehren – unabhängig vom eigentlichen Alter. Und wo könnte dies besser gelingen, als in der körperbasierten, ja, sogar körperfokussierten Kunstform Tanz, in der man es neben modellhaften Idealkörpern eben auch und basal mit Leibern zu tun bekommt, gerade wenn diese ihr Alter(n) nicht zu verhehlen haben. Da kann Alter(n) plötzlich und unverhofft wieder alle (be-)treffen.

Der Tanz um das Alter(n) Veronika Darian

Veronika Darian, Juniorprofessorin für Theaterwissenschaft transkulturell am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Leipzig. Aktuell vor allem mit den Themen Biografie und Theater, Alter(n)s- und Fremdheitsforschung beschäftigt. http://theaterwissenschaft.gko.uni-leipzig.de

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Stichpunkte zur Musik im Tanz des 20. Jahrhunderts Julia H. Schröder

Karin Waehner kam als Schülerin von Mary Wigman aus einer Tanztradition, die sich von der Musik emanzipiert hatte. Bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es Tanz ohne Musik, Tänzerinnen und Tänzer begleiteten sich selbst auf Perkussionsinstrumenten, getanzt wurde zu Lyrik-Rezitation und Choreografien entstanden vor ihrer Musikbegleitung, so dass ein Komponist zunächst Rhythmus und wechselnde Metren des Tanzes niederschreiben musste, um sodann eine Komposition innerhalb dieser Vorgaben zu schaffen. Kurz: die Musik war nicht mehr notwendigerweise taktangebend. Die Choreografen schufen autonome Körperrhythmen. In den folgenden Jahrzehnten nutzten die Choreografen gern Musikaufnahmen, die ihnen Unabhängigkeit von anwesenden Musikern erlaubte, was auch finanzielle Vorteile hatte. Alle Musikstile waren so verfügbar und populäre Musikrichtungen wurden ebenso für Bühnentanz eingesetzt wie Ballettmusik. Anhand von Musik auf Reproduktionsmedien – also Schallplatten, Tonbändern, CDs und digitalen Audiomedien – konnten Choreografen unmittelbarer mit Musik umgehen. Sie stellten Collagen aus unterschiedlichen Musikstilen zusammen. Aber auch in direkter Zusammenarbeit mit Komponisten entstanden weiterhin neue Kompositionen. Karin Waehner schuf laut ihrem Werkverzeichnis Choreografien auf Musik ihrer kompositorischen Zeitgenossen, wie Mauricio Kagel – den sie möglicherweise noch in Argentinien kennen gelernt hatte, bevor beide nach Europa kamen –, Bruno Maderna oder Iannis Xenakis – der wie Waehner als Migrant in Paris lebte. Wie genau zusammengearbeitet wurde und welchen Austausch es gab, muss noch erforscht werden.

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Aufschlussreich in Hinsicht auf ihren Musikeinsatz sind die Erinnerungen des Tänzers Bruno Genty bezüglich Waehners Vorgehen in „Celui sans nom“ (1990). In einer Findungsphase improvisierten Choreografin und Tänzer teils ohne Musik, teils mit verschiedenen Musiken. Musik setzte Waehner dabei zur Entwicklung einer speziellen Stimmung oder eines emotionalen Ausdrucks ein. Genty erinnert sich an Kompositionen von Paul Hindemith und Lieder von Franz Schubert, an afrikanische Perkussionsmusik und ungarische Volksmusik. Anhand dieser Musiken wurden die einzelnen Teile entwickelt und zusammengesetzt, so dass die Choreografie auf eine Reihe aneinandergeschnittener, sehr unterschiedlicher Musikstücke fertiggestellt wurde. Diese Musik war nur vorläufig, so wie ein Kinofilm oft auf einen Temp-Track, einen temporären Musiktrack aus präexistenter Musik geschnitten wird, die dann zugunsten einer komplett neuen Komposition aus einer Hand entfällt. Waehner nennt diesen Umgang mit Musik in ihrer Veröffentlichung 1993 eine mögliche Quelle von Überraschungen und Schätzen für die choreografische Arbeit. Sie hat die verschiedenen Umgangsformen mit Musik – von musiklosem Tanz über die Zusammenarbeit mit Komponisten bis zur Choreografie auf präexistente Musik – theoretisch reflektiert und praktisch umgesetzt. Damit ist ihr Schaffen exemplarisch für den Musikeinsatz im modernen Tanz der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Julia H. Schröder, promovierte Musikwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten in Musik des 20. Jahrhunderts, Klangkunst, Musik und Tanz sowie Sound Studies. Hierzu liegen verschiedene Veröffentlichungen vor.

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Hören mit dem Muskelsinn – oder: wieviel Musik braucht der Tanz? Stephanie Schroedter

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Bedeutung der Musik für tänzerische Ausdrucksformen bzw. choreographische Prozesse radikal in Frage gestellt. Freilich ist diese Entwicklung als Reaktion, genauer: Gegentendenz zu der (Musik-)Tradition der klassisch-romantischen Ballettästhetik zu verstehen – und hat vor diesem Hintergrund auch ihre Berechtigung. Dennoch wurde und wird rund um den Globus zu Musik getanzt – und das betrifft keineswegs nur den Bühnentanz. Gerade in populären Musik-/Tanzpraxen wird die Rezeption bzw. die Perzeption von Musik scheinbar selbstverständlich mit (Körper-) Bewegungen verbunden. Es handelt sich hierbei also keineswegs um ein kulturell und historisch gebundenes Konstrukt, sondern ein kulturanthropologisches Phänomen, dessen Ausprägungen zeitlich und räumlich/geographisch gebunden sind. Wie lässt sich das erklären? Unabhängig von der Frage, ob Musik tatsächlich eine Bewegung ist bzw. ihr Bewegungen (letztlich physikalische Schwingen) zugrunde liegen, verstehen bzw. konzeptualisieren wir Musik (kognitiv) als Bewegung. Es handelt sich dabei allerdings keineswegs um einen Konzeptualisierungsprozess, der ausschließlich in unserem Gehirn stattfindet, sondern der durch neurophysiologische Vorgänge in unserem gesamten Körper ausgelöst bzw. ‚getriggert‘ wird. Anders gewendet: Wir hören nicht nur mit unseren Ohren, sondern für die Verarbeitung auditiver Reize sind ebenso sich über unseren gesamten Körper erstreckende Propriozeptoren, die die Wahrnehmung unserer eigenen Bewegungen und Bewegungskoordination in Relation zu unserem Umraum steuern, verantwortlich. Unter dieser Voraussetzung erscheint es umso dringlicher, Hören nicht als eine Universalie hinzunehmen, sondern zwischen unterschiedlichen Hörmodi zu differenzieren.

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In Hinblick auf den Tanz erscheint mir ein spezifisch körperliches Bewegungshören – ein situiertes Bewegungshören bzw. Embodied Movement Listening – von Interesse, das Musik in Bewegung, zu Bewegung und als Bewegung erlebt und versteht. Dabei kann die Musik hörbar, kaum noch oder nicht (mehr) hörbar beziehungsweise ausschließlich in einer inneren Vorstellung präsent sein. Zudem können die (Körper)Bewegungen sichtbar wie unsichtbar, d.h. imaginär sein. Dieses Hören umschreibe ich auch als ein kinästhetisches Hören im Gegensatz zu einem kinetischen Hören, bei dem die Musikwahrnehmung unmittelbar mit einer deutlich erkennbaren physischen Bewegung gekoppelt ist, die mit ihr kongruiert, weil der musikalische Rhythmus zu einem Bewegungsmotor avanciert. Seit der Tanzavantgarde des frühen 20. Jahrhunderts schienen sich die Tänzer und Choreografen zunehmend gegen dieses gleichsam instinktiv-reflexartige, kinetische Hören zu wehren, um stattdessen umso mehr Sensibilität für ein kinästhetisches Hören zu entwickeln und es künstlerisch-kreativ zu gestalten. Eine rigorose Ablehnung von Musik fand nur in Einzelfällen statt. Sie scheint sich unserer körperlichen Wahrnehmungskonstitution zu widersetzen, die – nicht nur in künstlerischen Prozessen – gerne alle Sinne ins Spiel bringen möchte. Stephanie Schroedter, habilitierte Tanz- und Musikwissenschaftlerin, derzeit Leiterin eines von der Deutsche Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts zu „Körpern und Klängen in Bewegung“ zur Erarbeitung von Modellen einer musikchoreografischen Inszenierungs- und klangperformativen Aufführungsanalyse.

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Weitere Erinnerungen des Tänzers Bruno Genty an die Arbeit mit Karin Waehner für „Celui sans nom“ (1989/90):

„Für mich war die choreografische Komposition von Karin spontan, unbedarft, sie folgte ihren Emotionen und ihrer Intuition. Sie hatte sicherlich einen Plan. Das erkennt man ja auch an ihren Notizbüchern. Aber sie hat immer erst an Einzelsequenzen und einzelnen Qualitäten gearbeitet Die Gesamtkomposition kam immer ganz am Ende. Wie bei einem Puzzle. So war es auch mit der Musik. […] Als das Solo fertig war, haben wir es dem Musiker zusammen mit den Kassetten von Karin präsentiert. Er betrachtete zuerst das Solo und hörte Karins musikalische Vorschläge und rhythmischen Forderungen. Ich nahm auch an der Diskussion teil. Dann improvisierte er zu meinem Solo am Klavier und machte sich Notizen. Später hatten wir dann seine Musik auf Kassette und begannen, die Treffpunkte zwischen Musik und Tanz zu fixieren. Ich erinnere mich, dass Karin und ich um einige Veränderungen baten, die sich auf Dauer und Intensität bezogen. Wichtig war für Karin und mich vor allem, dass die Musik auf die Bewegung trifft. Für dieses Solo habe ich damit zwar musikalische Referenzen, aber ich muss der Musik nicht folgen. Ich fühle immer, dass die Musik mir folgt. Ich hatte eine Freiheit der Wahrnehmung von Musik, entsprechend meiner Erinnerungen und Gefühle. Das Publikum sieht sicherlich eine andere Geschichte, wichtig bleibt aber die Intensität.“

Aus Karin Waehner/ Odile Cougoule, „Outillage chorégraphique“, 1993 übersetzt von Claudia Fleischle-Braun

„Traditionsgemäß tanzt man „auf die Musik“. […] Jedoch kann sich das Verhältnis zwischen Tanz und Musik nicht auf diese einfache zeitlich bestimmte Bindung beschränken. Wenn man sich entscheidet, mit Musik zu arbeiten, dann muss man akzeptieren, ihr einen Platz im choreografischen Aufbau zu geben und sie nicht nur als ein Zubehörteil zu betrachten, sondern als integrierender Bestandteil des Werks.“ „Eine aufgezeichnete Musik zu wählen bedeutet, sich einem bestimmten Stil anzupassen: Schönberg, Satie, […]. „Andererseits bietet die Stille alle Möglichkeiten. Die Stille ist nicht die Abwesenheit des Tons. Sie verleiht dem Tanz einen geheimnisvollen Anblick […]. Schweigend zu arbeiten, das bedeutet allein zu sein. Aus der Stille können Töne entstehen: Atmen, das Klopfen der Füße auf den Boden, der Fall, das Stöhnen, …einen Rhythmus mit den Tönen schaffen, die Stille interpunktieren. Schweigend in Gang kommen und die Musik in der Folge kommen lassen, … ALLES IST MÖGLICH! [...]“ (S. 25-26, mit freundlicher Genehmigung der Autorinnen und Jean Masse)

(Bruno Genty zur Celui sans nom-Arbeit 1990 an Heide Lazarus, 2017.)

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Gedankenschnipsel | Zeitgenössischer Tanz? „Dass ich zum Beispiel nicht zwischen dem, was ›modern‹ ist und dem, was ›zeitgenössisch‹ oder vielleicht gegenwärtig ist, unterscheide. Manche Tänzer […] werden es mir verübeln (…).“ „Für mich gibt es erst einen zeitgenössischen Tanz, seitdem zu Anfang dieses Jahrhunderts die Idee einer nicht überlieferten gestischen Sprache aufkam.“ |Laurence Louppe (1997, dt.: 2009)

„Der Zeitgenössische Tanz versteht sich nicht auf der Basis nur einer Technik oder ästhetischen Form, sondern aus der Vielfalt heraus. Er sucht Grenzüberschreitungen zwischen den Künsten und bricht immer wieder mit vorhandenen Formen. Zeitgenössischer Tanz in diesem Sinne hat eine offene Struktur, die sich bewusst von festgelegten, linearen Entwürfen der Klassik und Moderne distanziert. Zeitgenössische Tänzer und Choreographen verstehen ihre Arbeit als Suche, als Entwicklung. Dabei spielt der Prozess der Arbeit eine entscheidende Rolle.“

Du musst dich jeden Moment auf der Bühne fragen: Was tust Du hier? Es gibt keinen durchgängigen Schutz von Vorgaben. Jeder Moment ist Regie. Wir müssen umgehen lernen mit Lücken, Unterbrechungen, Wiederholungen. Es geht nicht um eine Kopie des Alltags, sondern um eine Konstruktion von Alltag und eine Phantasie von Leben – aber eben nicht mit unserem Sprechen, sondern mit unseren Bewegungen. Das ist für uns ein Zeitgenössischer Tanz; er nimmt die Techniken des Modernen Tanzes auf. Jeder muss sie selbst zusammensetzen. Es gibt keinen Schutz in nur einer Technik. Du musst mehr in deinen Rucksack tun. Du musst auf der Hut sein. Ein einsames Arbeiten. Eine Überforderung. Du musst eine Lösung finden – jeder für sich. Das ist auch Karin Waehner. Karin Waehner-Team 2018

|Johannes Odenthal (1998

Michal Freriks, aus der Aktion von K3 - Zentrum für Choreographie | Tanzplan Hamburg, 2017

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Transnationalität & Wandel in Europa

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Zum „Bewegungsangebot“ einer Stadt wie Gleiwitz, dem Geburtsort von Karin Waehner, gehörte – wie für alle größeren Städte des deutschsprachigen Raums der Zwanzigerjahre des letzten Jahrhunderts – selbstverständlich auch „Mensendieck“. Die für Gleiwitz zuständige Mensendieck-Lehrerin war Waehners Mutter! Dass am Beginn der Biographie von Waehner also der Name Bess M. Mensendieck (1864–1957) steht, kann vielleicht noch mit familiärer Nähe erklärt werden. Den Namen in Zusammenhang mit Rosalia Chladek zu hören, belehrt einen aber eines Besseren, denn jetzt erst wird der wahre Stellenwert von Mensendieck für das Werden des Modernen Tanzes im deutschsprachigem Raum klar. Auf die – freilich erst in späten Jahren – gestellte Frage, auf welchem Körperkonzept ihr System nun eigentlich beruhe, antwortete Chladek gelassen: „Auf Bess Mensendieck!“. Bekannt ist beispielsweise ebenfalls, dass Dorothee Günther, die ihre Schule zusammen mit Gunild Keetman und Carl Orff in den Zwanzigerjahren in München aufbaute, Mensendieck-Absolventin war und dass auch an der Wigman-Schule in Dresden zur gleichen Zeit Pädagoginnen lehrten, die eine Mensendieckausbildung absolviert hatten. Zentrum der Mensendieck-Bewegung war freilich Berlin, wo das Zentralinstitut zur Ausbildung von Gymnastiklehrerinnen nach dem Mensendieck-System florierte und folglich bereits auch Schülerinnen der amerikanischen Ärztin holländischer Abstammung selbsttätig lehrten. Schon 1906 hatte Mensendieck in Deutschland ein Buch über Körperkultur veröffentlicht, das bisher in acht Auflagen erschienen ist. Und dass sie auch in der französischen Hauptstadt zugegen war, erfährt man aus verschiedenen Quellen, darunter auch im Buch von Jacqueline Robinson, der engen Mitarbeiterin von Waehner im Paris der Fünfzigerjahre.

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Der Tanzmoderne die Körperbasis gegeben – Bess M. Mensendieck Gunhild Oberzaucher-Schüller

Wer also war Mensendieck? Und welche Bedeutung kommt ihrem pädagogischen Wirken zwischen der Jahrhundertwende und der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu? Heute oft und leicht irreführend nur als Teil der „Gymnastikbewegung“ gesehen, wurde Mensendiecks Köperkonzept – das letztlich im amerikanischen Delsartismus wurzelnd – die Basis für die Formierung von künstlerischer „Körperbildung“. Dies deswegen, weil es insbesondere Frauen geholfen hatte, sich der „Ummantelungen“ des 19. Jahrhunderts zu entledigen. Dadurch war die Möglichkeit gegeben, jene Körperfunktionen zu erspüren und zu gestalten, die die Basis von Mesendiecks Lehre waren. Durch das gewonnene Körperbewusstsein und das daraus entstandene körperliche Fundament konnten die großen Bewegungsutopien des frühen 20. Jahrhunderts – die Rhythmusbewegung oder die Lehren von Rudolf von Laban – realisiert werden. Diese These wissenschaftlich zu belegen, dazu das Tun von Mitstreiterinnen oder Schülerinnen von Bess Mensendieck (etwa Hedwig Kallmeyer, Hedwig Hagemann, Elsa Gindler) zu beleuchten, wäre ein dringliches Forschungsanliegen der nächsten Zeit. Gunhild Oberzaucher-Schüller, Dr., Tanzhistorikerin, Autorin zahlreicher Publikationen, verantwortlich für den Tanzteil von „Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters“, Ausstellungskuratorin, internationale Vortragstätigkeit. Lehrte an den Universitäten Wien, Bayreuth und Salzburg und leitete die Derra de Moroda Dance Archives.

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Tanz als Kunstform in der Schweiz? Ursula Pellaton

Die Bühnentanzgeschichte der Schweiz unterscheidet sich deutlich von der gewohnten Abfolge der Epochen in Europa. Denn sie begann hier überhaupt erst nach 1900. Besser: Am Genfer Konservatorium gab damals Èmile Jaques-Dalcroze den Anstoß zur Schulung des Körperrhythmus. Und in der Deutschschweiz wurde durch die Labanschulen auf dem Monte Verità und in Zürich eine Ausdruckstanz-Lawine losgetreten. Dass die heute unter dem Begriff des „Ausdruckstanzes“ zusammengefasste neue Tanzästhetik bis zur Jahrhundertmitte dominierte und den zeitgenössischen Tanz später stark beeinflusste, hängt meiner Meinung nach mit der Schweizer Mentalität zusammen. Die Reformpädagogik, das Postulat der Natürlichkeit und die Fokussierung auf Freiheit, Selbstbestimmung und Individualität machten ihn attraktiv. Im

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Gegensatz zu Deutschland und Österreich blieb der Ausdruckstanz politisch immer unabhängig, wurde weder gefördert noch instrumentalisiert oder zensiert. Und der 2.Weltkrieg veränderte zunächst wenig: Pionierinnen wie Suzanne Perrottet in Zürich und Katja Wulff in Basel unterrichteten bis ins hohe Alter weiter. Zu den Internationalen Sommerkursen des Schweizerischen Berufsverbands für Tanz und Gymnastik (SBTG, 19461988) in Interlaken, Magglingen und Zürich kamen in den ersten Jahren vor allem die Koryphäen des Ausdruckstanzes, also Rudolf von Laban, Mary Wigman, Kurt Jooss, Sigurd Leeder, Rosalia Chladek und Harald Kreutzberg. Im Rahmen der Sommerkurse traten Dore Hoyer 1956 und die Jooss-Schülerin Pina Bausch 1958 mit eigenen Tänzen auf. Doch schon 1949 gab Hans Züllig auch den Kurs „Klassisches Training für moderne Tänzer“. „Klassisches Ballett“ hieß dann das Fach ab 1950, das von Mme Nora aus Paris, Vera Karalli und Victor Gsovsky unterrichtet wurde. Das Fach „Modern

Dance“ begann 1955 mit Anna Sokolov und wurde danach von Laura Sheleen, Alwin Nikolais, Pearl Lang, Annemarie Parekh-Rychiger und Yuriko fortgeführt. Neben den zu Beginn einzigartigen Sommerkursen entstand seit den frühen 1950er Jahren sukzessiv ein Nebeneinander unterschiedlicher Tanzstile. Der Ausdruckstanz indes verlor seine Vitalität nicht: Kreutzberg unterrichtete 1955-68 in Bern, und Leeder gab 1964-81, unterstützt von Grete Müller sein immenses Wissen an der Sigurd Leeder School of Dance in Herisau weiter. Ihre Schüler entwickeln das Erbe individuell weiter. Eine eher rudimentäre Ausbildung in akademischem Tanz war bekannt. Neu war jedoch die Entdeckung der Ballettklassiker auf den Bühnen in Basel, Genf und Zürich, bald gefolgt von der Neoklassik. Auch das Interesse für Modern Dance verbreitete sich: Tanzschaffende wie Alain Bernard und Annemarie Parekh eigneten sich Jazz-Tanz und Graham Technik in New York an und

gründeten dann in Bern ihre Schulen. 1980 eröffnete Noemie Lapzeson ihr Studio in Genf. Die Gleichzeitigkeit der heterogenen Tanzformen machte die 1970er und 1980er Jahre besonders spannend und fruchtbar. Die Formen rieben sich aneinander, vermischten sich mit Einflüssen des deutschen Tanztheaters und der Post-Moderne. Und damit setzte auch der Aufbau einer erfolgreichen Freien Szene ein, die sich schweizweit Ursula Pellaton, Dr., Ballettkritikerin, Kulturjournalistin, Autorin tanzhistorischer Recherchen. Dozentin für Tanzgeschichte an der Tanz Akademie Zürich der Zürcher Hochschule der Künste. Mitarbeit am Projekt Schweizer Theaterlexikon und am „Historischen Lexikon Schweiz“.*** Fachreferentin des SAPA, Schweizer Archiv der Darstellenden Künste (vormals Schweizer Tanzarchiv). *** http://tls.theaterwissenschaft.ch | http:// www.hls-dhs-dss.ch

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Zitate aus Briefen von Mary Wigman zur transnationalen Arbeitssituation

an Karin Waehner nach 1945

„Überlege mir auf welche Weise ich Dir zu einer Freistelle im Schweizer Sommerkurs verhelfen könnte. Es würde aber nur eine Freistelle für die Kursteilnahme herauskommen können. Nicht für Reise und Aufenthalt.“ (09.04.1953, in Fenger, 2017, S. 498).

„Margret Dietz ist allem Anschein nach sehr glücklich drüben. Aber die Arbeit an einer gut fundierten Univer=sität in der Verbindung mit Musik- und Schauspielabteilungen ist ja auch anders gelagert, als die an einer Privaten Schule, die sich ganz auf tänzerische und gymnastische Aufgaben stützen muss. Und drü=ben wohl auch noch in ganz ande=rem Maasse als bei uns, die Laien [unterstrichen] Arbeit zu berücksichtigen hat. Ich kann Dir also weder zu- noch abraten, Karin. […] Ich kann es nur zu gut verstehen, dass Du an der persönlichen Freiheit des Arbeitens hängst, und Dir dabei oft genug das Wasser bis zum Halse steht.“ (08.05.1954, in Fenger, 2017, S. 504-505). „Diese komischen Amerikaner! Dass sie aus der Tatsache einer ostzonalen Geburt – wobei dieses staatliche Gebil=de ja knapp 10 Jahre alt ist! – eine Art Verbrechen konstituieren und das Einreisevisum verweigern! […] Bei Dir tut es mir so besonders leid, weil ich Dir diesen unmittelbaren Sprung in die andere Welt so sehr gewünscht hätte. Weiss ich doch dass Deine persönliche Empfangsbereit=schaft und Deine künstlerische Ehr=lichkeit so Hand in Hand gehen, dass Du alle Anregungen richtig ausarbeiten würdest.“ (1955, in Fenger, 2017, S. 510) „Dass man nach langer Totalverausgabung mal in einen Zustand […] der Müdigkeit gerät kann, bei Gott, passieren. Aber ich frage mich oft ob es nötig oder gar richtig ist, die Türen hinter sich zumachen zu wollen, und partout wo anders etwas Neues anfangen zu müssen. Du hast Dir in Paris einen Hintergrund geschaffen, der Dich trägt, vergiss es nicht.“ (26.01.1971, in Fenger, 2017, S. 533)..

Foto: Josephine Fenger, „Karin Waehner im Pariser Studio der Tänzerin Rose-Marie Paillet (ca. 1958 – seit 1958 lehrte Waehner dort). Paillet traf Waehner und Robinson 1954, folgte ihnen in einen Sommerkurs bei Wigman in Berlin und tanzte in Waehners Compagnie. Vgl. Robinson (wie Anm. 55), S. 275f.“ (in Fenger, 2017, S. 521).

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Screenshot von https://prezi.com/ytuxy5kzm2sa/ausdruck-mobil-von-ms-schrittmacher vom 5.3.18) PREZI Dokumentation/Präsentation zu AUSDRUCK-MOBIL - eine Recherche-Installation der MS Schrittmacher über die Emigration und Flucht deutscher AusdruckstänzerInnen. Produziert im Rahmen des POST-Ausdruckstanz Festivals im DOCK 11 in Berlin 2015. Information zum Projekt und den Beteiligten: http://www.msschrittmacher.de/ausdruck-mobil/

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Die Nachkriegszeit im Tanz stand in Deutschland im Zeichen verfeindeter Lager: Hier das aufstrebende klassische Ballett, dort der durch die Nazis verdrängte Freie, Neue oder German Dance, deren Individualisten – Dore Hoyer, Harald Kreutzberg, Manja Chmièl, Roger George, Marianne Vogelsang – auf Off-Bühnen knapp überlebten. Gefördert wurden sie nicht. - Diese Stiltrennung gab es in England und USA längst nicht mehr. - Tatjana Gsovskys hochdramatische Ballette mit expressionistischem Flair und halsbrecherisch modernen Kompositionen von Blacher, Klebe, Nono und Henze bestimmten in Berlin die Avantgarde. Die Russlandflüchtige profitierte von der einst revolutionären Kraft des Ausdruckstanzes, sparte aber nicht mit Spott für die „Tieftänzer“ in Opposition zu ihren „Hochtänzern“. 1957 studierte Mary Wigman mit Gsovskys Operntänzern Strawinskys „Sacre“ ein, Dore Hoyer als „Erwählte“. Eine gelungene Liaison. In der Folkwang-Hochschule entwickelte Kurt Jooss indes mit Labans Choreutik, auf klassischer Basis, die Grundlage für das, was in den 1970er Jahren erblühte: das Tanztheater neuen Stils um Pina Bausch, Reinhild Hoffmann, Susanne Linke... In Berlin wurde die Trennung der Metiers 1961 durch den Bau der Mauer auch politisch manifestiert. Das knapp subventionierte Dahlemer Studio der alternden Mary Wigman war zwar noch immer ein Magnet für US-Studenten, doch das Klientel aus dem sowjetischen Sektor blieb aus. Zuvor war bereits Marianne Vogelsang in den Ostsektor nach Weißensee gegangen. Statt ihrer wurde die Tschechin Manja Chmièl - ab 1946 bei Wigman in Leipzig ausgebildet - 1952 die Assistentin von Mary Wigman, nachdem sie sich von den Ballets Jooss gelöst hatte. Chmièl gehörte mit ihrer erdigen, glutvoll-rhythmischen Qualität zu den stärksten Inspiratoren der neuen Generation und zu einem Katalysator dessen, was heute Zeitgenössischer Tanz genannt wird. Sie verwendete für ihre raumdynamischen Solo- und Gruppentänze meist elektronische Musik. Nicht zuletzt auch Cunninghams erstes Berlin-Gastspiel hatte bei den Studenten die Lust an Abstraktion und Reduktion entfacht – contra Pathos und Emotion. 1962 gründeten drei Wigman-Absolventen die Gruppe MOTION (Brigitta Herrmann, Inge Katharine Sehnert, Hellmut Gottschild), kurz darauf folgte Manja Chmièl mit der Gruppe Neuer Tanz Berlin. Ihr Pamphlet „Mein Tanz ist nicht Ausdruckstanz“ präzisiert, wie sie ihre Kunst sah: „Ich will, dass die Struktur meiner Tänze mit der Struktur unserer Zeit identisch ist...“ Folglich trennten sich Wigman und Chmièl, die ihr eigenes Studio eröffnete (bis 1968). 1967 schließt das Wigman-Studio; viele Kritiker formulieren ihr Unverständnis für den Neuen Tanz; das Publikum schwindet. MOTION wanderte nach Philadelphia aus. Erfolgreich! „Ableger“ gründeten 10 Jahre später die Tanzfabrik Berlin. Dore Hoyer wählte den Freitod. Manja Chmièl zog sich knieverletzt nach Hannover zurück und unterrichtete bis 2005 vor allem Laien. Auf ihrem Weg von Japan nach New York suchten Eiko&Koma bei ihr nach den Wurzeln des Ausdruckstanzes. Gerhard Bohner – oft Gast im Wigman-Studio und Gsovskys markantester Charaktertänzer – profilierte sich indes als Fusions-Choreograph. Er brach mit spektakulärer Pionierarbeit aus den Opernballettzwängen aus und gründete 1972 sein erstes Tanztheater an einem subventionierten Theater; Pina Bausch folgte 1973. Später förderte die Akademie der Künste West Bohners freie solistische Erforschungen. Die Bühne im Hansaviertel war in den 1960er Jahren Heimat der frühen Freien Szene, seit den 1970er Jahren avancierte sie zum Kultort für die internationale Szene des zeitgenössischen Tanzes und der Freien Szene in Berlin, die sich erst nach der Gründung der Tanzfabrik 1978 wieder lebendig zeigte.

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Abstraktion und Reduktion contra Pathos und Emotion – Die 1960er Jahre im deutschen Tanz Irene Sieben

Irene Sieben, Tänzerin, Tanzpädagogin, Feldenkrais-Lehrerin, Journalistin, Autorin für somatisches Lernen. Schülerin von Mary Wigman und Manja Chmièl. Mitglied der Gruppen Neuer Tanz Berlin und MOTION sowie später Mit-Gründerin der TanzTangente in Berlin.

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Sammlungsgeschichten

Notiz von Karin Waehner zur Probenarbeit an „Celui sans nom“ in Fonds Karin Waehner (1926-1999). Cahiers de notes. 1981-1990. „Toulouse-Poitiers déc. 88 – Turin fév. 89 // Heidelberg fév. 89 – Frankfurt juin 89/oct. 89“, BnF, http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b531438464/f85. image.r=KArin%20Waehner, mit freundlicher Genehmigung durch Jean Masse

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Von Tänzen und Texten: passer la danse, passer le texte Josephine Fenger

„Passer la danse“ betrifft die Vermittlung der Philosophie des Tanzes, denn auch, wenn Bewegung von Körper zu Körper übertragen wird, wird dem Rechnung getragen, dass die choreographische Form zeitbedingt und individuell wandelbar ist. Im Verlauf des zeitlichen Diskurses von Textdokumenten und Tänzen verändert sich zwar ihre Rezeption, dennoch erfolgen Eindrücke der Unmittelbarkeit, die zwischen Leser und Zuschauer und den historischen Dokumenten vermitteln. Erst nach Karin Waehners Tod kamen im Diskurs der boomenden Tanzforschung auch im zeitgenössischen Tanz Tendenzen auf, die, kontrastierend oder auch ergänzend zur formal rekonstruierenden Forschung in Form von Notationen und Recherchen zu historischen Fakten, unter dem Begriff „artistic research“ zusammengefasst, in Bewegungsexperimenten, -analysen u. v. m. eine erfahrbare dialogische Form der Tanzvermittlung zwischen Tanztheorie und -praxis intendieren. Die Praxis des „re-enacting“ fokussiert eine Idee analytischer Erinnerung. „Passer la danse“ als choreographische Technik, wie sie auch an Soli Karin Waehners vorgenommen wurde, gehört deutlich in einen vergleichbaren Kontext.*** Diese wenigen von ihr erhaltenen Choreographien werden jedoch nicht kulturgeschichtlich rekonstruierend

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aufgeführt, wie es das „re-enacting“ impliziert. Im Fokus stehen vielmehr die Nachvollziehbarkeit der Bewegungsphilosophie und die im Tanz ausgedrückte Erfahrung und Emotion. Die Vermittlung via Körpergedächtnis – wie sie das „passer la danse“ vollzieht – sowie die modifizierte Auffassung der Parafaktoren der Tanzdarbietung anhand des „re-enacting“ verdeutlichen, dass auch der Umgang mit schriftlichen Materialien für die Befragung von Tanzgeschichte verändert ist. So werden Dokumente als Spuren historischer Aufführungen als Fragestellung und Inspiration für neue Tanzwerke analysiert. Das dynamische Zusammenwirken aller Fakten erzeugt eine Annäherung, die nicht reproduzierend sein will und Raum lässt für die Erfahrbarkeit der zeitlichen Distanz. Das Potential der Archive, in deren Sammlungen diese akkumulierten Informationen zu rumoren beginnen, wenn eine gezielte Befragung sie zueinander in Beziehung setzt, kann als komplexer Wiederbelebungsfaktor kaum überschätzt werden. Josephine Fenger, Dr., promovierte Kulturwissenschaftlerin, Publizistin, Editionswissenschaftlerin, früher Balletttänzerin. Trägt regelmäßig zur Tanzforschung als Autorin, Herausgeberin, Veranstaltungsorganisatorin sowie durch Forschungsprojektkonzeptionen bei. *** Neben den Motiven aus „Celui sans nom“ war „L’Oiseau qui n’existe pas“ (1963) seit 2008 wiederholt Gegenstand kreativer Transferierungsprojekte.

Die KarinWaehnerSammlung im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Stephan Dörschel

Die Künstlerarchive der Akademie sind eine Errungenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich in der gerade gegründeten DDR wie auch in Westberlin jeweils eine Akademie der Künste als Fortführung der preußischen Akademie, die 1796 installiert wurde, wiedergründeten. Anlass für die Einrichtung von Künstlerarchiven war für beide Institutionen der Versuch, die von den Nationalsozialisten verfemten, verfolgten, verjagten und ermordeten Künstler mit ihrem Werk wieder zurückzuholen in ihre Heimat. Sehr schnell weitete sich das Spektrum der Personalarchive auch auf die Mitglieder und die maßstabsetzenden Künstler aus.

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In beiden Akademien wurden auch jeweils Mitgliedersektionen für Darstellende Kunst neu gegründet und auch in den Archiven wurden von Anfang an auch Künstler des Theaters und somit auch des Tanzes aufgenommen. Die Karin-Waehner-Sammlung der Akademie der Künste befindet sich daher in guter Gesellschaft zu den anderen Beständen aus dem Tanzbereich. In der online-Datenbank der Archivbestände der Akademie (https://archiv.adk.de) kann man im sogenannten Bestandsviewer erste Informationen zu der Sammlung einsehen (https:// archiv.adk.de/bigobjekt/32317). Eine Spezialität des Genre-übergreifenden Archivs sind natürlich auch die Verknüpfungen mit anderen Beständen. So ergibt eine Such nach Karin Waehner über den verzeichneten Gesamtbestand 329 Fundstellen, die die Karin-Waehner-Sammlung betreffen und 16 Treffer aus anderen Archiven.

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Im Verwaltungsarchiv der Ost-Akademie wird z.B. überliefert, dass im August 1986 die damalige Leiterin der Archivabteilung Aune Köpping-Renk nach Paris fährt zwecks „Übernahme eines Teilbestandes des Archivs von Karin Waehner“. Als DDR-Bürgerin musste Frau Köpping-Renk dafür ein so genannter Reisekader sein. Es ging, das wird in dieser Überlieferung deutlich, vor allem um die Mary Wigman-Briefe. 1986 wurde sowohl in der West- wie in der Ost-Akademie der 100. Geburtstag von Mary Wigman, einer der Gründerinnen des Ausdruckstanzes, gefeiert, im Westen bewahrte man den künstlerischen Nachlass, dem man im Osten nun mit den bis dahin unbekannten Wigman-Briefen etwas entgegensetzen wollte. 1986 wird Karin Waehner daher nicht nur in der West-Akademie am Hanseatenweg mit ihrem Ballets contemporains auftreten, sondern auch eine DDR-Tournee durchführen können – war das der „Preis“ für die Wigman-Briefe? Immer wieder und immer wieder vergeblich hatte Karin Waehner zuvor versucht,

in der DDR oder in der Bundesrepublik aufzutreten. Die Schenkung Karin Waehners an die Ost-Akademie ist auf 1987 datiert. 1992, also nach der Vereinigung Deutschlands, aber noch vor der Vereinigung der beiden Akademien ein Jahr später, schreibt Karin Waehner einen Brief an den damaligen Direktor des Ost-Archivs, Volker Kahl, in dem sie bewundernd feststellt, „mit welcher unwahrscheinlichen Präzision und mit welchem Respekt die vielen Arbeitsunterlagen und sämtliche Zeugnisse einer sehr bewegten künstlerischen Laufbahn sorgfältig aufbewahrt und sortiert sind.“ (Archivakte Waehner, Karin Waehner an Volker Kahl, 17.3.1992). Und 1998 schreibt Karin Waehner an Renate Rätz, die Nachfolgerin von Aune Renk in dem Begleitschreiben zu einer Videokassette:

„Ansonsten bin ich noch immer sehr tätig und sollte Ihnen allerhand Material zukommen lassen. Doch bin ich ständig überfordert, habe Gesundheitsprobleme und die Dokumente sind nicht geordnet.“ (Archivakte Waehner, Karin Waehner an Renate Rätz, 24.7.1998) In ihrem Antwortschreiben bestätigt Frau Rätz das Interesse des Archivs an dem Werk von Karin Waehner, auch wenn es ungeordnet sein sollte – es gehe um die möglichst umfassende Bewahrung der Dokumente ihrer künstlerischen Gesamtpersönlichkeit. Mit dem Tode Karin Waehners 1999 brach der Kontakt ab. Erst Jahre später ergaben Recherchen, dass der eigentliche künstlerische Nachlass Karin Waehners in Frankreich gesichert ist. Stephan Dörschel, Leiter des Archivs Darstellende Künste am Archiv der Akademie der Künste, Berlin.

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Zur Karin-WaehnerSammlung in Frankreich. Erinnerungen von Jean Masse

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Im Juli 1996 schrieb Karin in einem Brief: „Es ist ein echtes Leiden, das mich dazu gebracht hat, einen Film zu wünschen, der wie ein Archiv das meiste von dem beinhalten könnte, was ich in dem Moment fühle, wo ich gerade bin. Ich werde von vielen Schülern und Freunden, Tänzern, Lehrern und Forschern, die sich des Einflusses meiner Arbeit im gegenwärtigen Panorama des europäischen Tanzes bewusst sind, in dieses Unternehmen gedrängt. Ich denke zum Beispiel an einen jungen Choreografen wie Angelin Preljocaj, der mein Schüler war, oder an die Tatsache, dass Dominique Bagouet zu seiner Zeit und kürzlich Régine Chopinot mich gebeten haben, mich an ihrer professionellen Arbeit zu beteiligen. In der Person von Jean Masse jedoch erkenne ich meinen Haupterben in Bezug auf die expressionistische Tradition, und ich vertraue auf ihn, diese Übertragungsarbeit fortzusetzen, falls mir etwas zustoßen sollte.“

Ich konnte mir damals, als sie gerade ihren 70ten Geburtstag feierte, nicht vorstellen, dass es mir drei Jahre später wirklich oblag, diesen Weg fortzusetzen. Bei der Bekanntgabe Ihres Todes kam ich, um sie auf diesem letzten Weg zu begleiten. Mit der Einwilligung ihres Ehemannes Victor Franceschi und ihres Bruders Hanns Waehner habe ich mich dann intensiv für die Ordnung der Archive eingesetzt, die sie in der Schola Cantorum und in ihrer Wohnung in der 83 Rue Vieille du Temple gesammelt hatte. Dank der Hilfe von mehreren Leuten, darunter Carole Mougeolle, Paule Rouat, Anita Bernard und Patricia Bungener, haben wir alles, was wir gefunden haben, gesammelt und in Kartons verpackt. Dann wurden alle diese Kartons zum Espace Karin Waehner in Castillon de Castets in der Gironde transportiert. Eine erste Aufräumaktion wurde vor Ort durchgeführt und mehrere Tänzer, Forscherinnen und Forscher kamen in dieses Archiv.

2004 hat mich Susan Buirge über die Existenz des IMEC für die Aufnahme von Archiven informiert. Nachdem sie 2012 Françoise Dupuy eingeladen hatte, einen Tanzworkshop durchzuführen, erzählte sie mir von der Französischen Nationalbibliothek (BnF), wohin diese mit Dominique Dupuy eine erste Spende ihres Archivs gemacht hatten. Auf ihren Rat hin traf ich Joël Hutwohl, Direktor des Theaterarchivs in der BnF. Nach einem Austausch mit der Nichte und dem Neffen von Karin schien es natürlich und organisch, das Archiv von Karin Waehner an die BnF zu spenden, eine Spende, die im Sommer 2013 erfolgte.

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Nach der Schenkung von Françoise und Dominique Dupuy machte der Inhaber des Archivs von Jerome Andrews den gleichen Schritt, und in den folgenden Monaten trafen die Rechteinhaber von Jacqueline Robinson die gleiche Entscheidung. So sind heute alle Archive über die Pioniere des modernen Tanzes in Frankreich zusammengetragen, die so viele verschiedene Strömungen gesät haben, die auf diesem Boden gediehen sind.

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Ich möchte Joël Hutwohl, Joëlle Garcia, Corinne Gibello und Valérie Nonnemacher für ihre Unterstützung bei diesem Transfer, ihre Begrüßung und ihre vernünftigen Ratschläge danken. Außerdem danke ich Guillaume Sintès, Mélanie Papin und Sylvia Pagès*** für ihre effektive und gründliche Forschungsarbeit. Als Verwahrer einer Arbeit, die uns übertrifft, sind wir lediglich die Überbringer dessen, was wir erhalten haben. Jean Masse, Tänzer und Choreograf Nachlassverwalter der künstlerischen Arbeit von Karin Waehner(Arbeitsübersetzung)

*** Diese drei Tanzwissenschaftler bilden die Forschungsgruppe „Karin Waehner, une artiste migrante. Archives, patrimoine et histoire transculturelle de la danse“ (Karin Waehner, eine Wanderkünstlerin – Archiv, Erbe und transkulturelle Geschichte des Tanzes) innerhalb der 2015 gegründeten Forschungsgruppe an der Universität Paris 8: „Histoire contemporaine du champ chorégraphique en France“ (Zeitgeschichte des choreografischen Feldes in Frankreich). Diese Forschungsgruppe hat die Rekonstruktion von „l’Oiseauqui-n’existe-pas“ (Der Vogel, der nicht existiert, 1963) durch Aurélie Berland initiiert. Diese wurde in Zusammenarbeit mit Émilie Georges nach der Benesh Notation von Véronique Gémin-Bataille und mit Unterstützung durch Barbara Falco und Jean Masse erarbeitet.

Permalink zur französischen Karin-Waehner-Sammlung im Archiv der Bibliotheque National de France (BnF): http://data.bnf. fr/12952055/karin_waehner/

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Vom „absoluten“ zum „evolutiven“ Tanz Josephine Fenger

Als „Zwischengeneration“ bezeichnet ist die Nachkriegszeit und die Epoche des Kalten Krieges, in denen Waehner hauptsächlich choreographierte, tanzte und lehrte. Künstlerisch auf den ersten Blick wenig bedeutend, ist jedoch die Kommunikation zwischen verschiedenen europäischen und amerikanischen Strömungen des Tanzes signifikant, die erst gegen die Jahrtausendwende Resultate der Innovationen aus all diesen Einflüssen zeigten. Ich habe 2017 den Briefwechsel zwischen Karin Waehner und Mary Wigman transkribiert und ausgewertet, aus dem in dieser Broschüre Weniges auch zitiert wird.*** Der Briefwechsel ist auch ein Spiegel eines Segments dieses Kommunikationsprozesses und reflektiert Aspekte der französischen und deutschen Tanzgeschichte der Epoche. Die thematisierten Vorträge und Schriften Waehners dokumentieren die Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes generell – und die der Choreographin und Pädagogin Waehner individuell: Ihr seit 1983 mit den Rückbesinnungen auf die Ästhetik des Ausdruckstanzes operierender Stil, ihre Erfahrungen mit der Mime corporel als

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Ausdruckform zeichnen sie als eine profunde Vertreterin und Analytikerin des expressionistischen, des „absoluten“ Tanzes Wigmanscher Prägung aus – mit einem entscheidenden Unterschied gegenüber ihrer Lehrerin: Wigman lehrte aus der Emotion, Waehner entwickelte hierfür Techniken. Während ihrer gesamten Karriere arbeitete Waehner daran, für das Formen der Form, die aus der Emotion entsteht, Instrumente und vermittelbare Praktiken zu entwickeln, die Wigmansche Expression in eine lehrbare Strategie zu überführen. Das akademische analytische Tanz-Denken, wie es sich erst in den 1980er Jahren im Diskurs der Etablierung der Tanzforschung als Hochschuldisziplin entwickelte und sich auch in der Tanzpraxis widerspiegelte, klingt in dem Briefwechsel zeitgenössisch charakteristisch an. *** Fenger, Josephine: „Mitteilungen von Mensch zu Mensch.” Der Briefwechsel von Mary Wigman und Karin Waehner. In: Jungmayr, J. & M. Schotte (Hg.): Opera minora editorica. Editorische Beiträge zur Kulturwissenschaft. Weidler Verlag, Berlin 2017, S. 457–572.

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Aufforderung zur Recherche . Karin Waehner (1926 - 1999)

herausgegeben von Heide Lazarus entstanden im Rahmen von „KARIN WAEHNER (1926 – 1999) - Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt

Einband Grafik Redaktion Kontakt

Karin Waehner von Jo Babout © Archiv Karin Waehner & Probenfoto WEGEHEN, 2017 von Kamil Mrozowski SLGM Heide Lazarus Dresden | Berlin, 2018 laz_dd@web.de Die Verwendung des generischen Maskulinums ist stilistisch begründet und schließt keine Geschlechter aus. Alle Rechte liegen bei den Autoren. Quellen und Literaturverweise bitte anfragen unter laz_dd@web.de.

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Karin Waehner (1926-1999) Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein Tanzfonds Erbe Projekt

Koproduktion mit von in Kollaboration mit gefördert von mit Genehmigung in Partnerschaft mit in Zusammenarbeit mit mit wissenschaftlicher Beratung von unterstützt von

DOCK 11 Heide Lazarus und Bruno Genty Annette Lopez Leal und Michael Gross; TANZFONDS ERBE – eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes der Association Karin Waehner – Les Cahiers de l‘Oiseau Institute of Dance Arts (IDA) der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz, Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Gesellschaft für Tanzfoschung (gtf), TANZWOCHE Dresden Compagnie Epiphane/Jean Masse, Peter Jarchow, Kamil Mrozowski, Solaja Rechlin, Anja Vogel Dr. Josephine Fenger, Dr. Claudia Fleischle-Braun, Dr. Laure Guilbert körperbewegt in Linz, Centre Lafaurie Monbadon, „Karin Waehner, une artiste migrante. Archive, patrimoine et histoire transculturelle de la danse“ (Forschungsprojekt der Universität Paris 8)

S ERBE NZFOND ng des Bundes rt von TA Geförde Kulturstiftu tive der eine Initia

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14.-18. März 2018 im DOCK 11

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g t f W O R K S H O P -F E S T I V A L - Tr a n s n a t i o n a l e K o n z e p t e i m m o d e r n e n T a n z -

KARIN WAEHNER (1926 – 1999) - Eigensinnig in Zwischenräumen Ein TANZFONDS ERBE Projekt Die künstlerischen und pädagogischen Migrationsbewegungen des 20. Jahrhunderts werden im Schaffen der Mary Wigman-Schülerin Karin Waehner erfahrbar: im heutigen Polen geboren, in Deutschland ausgebildet, in Frankreich sesshaft geworden, in Europa präsent, aber dennoch Deutschland als eine ihrer Heimaten wahrnehmend. CELUI SANS NOM („Namenlos“) ist eines der letzten Stücke Waehners. Weitergegeben und erweitert, bildet es den Ausgangspunkt für die Lecture Performance WEGEHEN mit Bruno Genty, Annette Lopez Leal und Michael Gross. Die Vergangenheit und Gegenwart im Tanzen und Choreografieren, Lernen und Lehren von Karin Waehner wird im Trialog zwischen Generationen und Erfahrungen verbunden. 

Weitere Partner : Association Karin Waehner – Les Cahiers de l’Oiseau | Compagnie Epiphane/Jean Masse | Archiv der Akademie der Künste, Berlin | Institute of Dance Arts der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz | Gesellschaft für Tanzforschung |Dr. Josephine Fenger | Dr. Claudia FleischleBraun | Solaja Rechlin | Peter Jarchow | Dr. Laure Guilbert | Centre Lafaurie Monbadon | „Karin Waehner, une artiste migrante. “ (Universität Paris 8)

Gastspiel : TANZWOCHE 2018 in Dresden

unter Schirmherrschaft der Deutschen UNESCO-Kommission

IN KOOP. MIT DOCK 11 EDEN*****

BERLIN Kastanienallee 79

14.-18. MÄRZ 2018

Das Workshop-Festival widmet sich den Migrationsbewegungen von Tanzkünstler_innen in Europa im Übergang zwischen der ersten und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen die „Grenzgänger“ und „Brückenbauer“ – zwischen „alten“ und „neuen“ Konzepten der Bühnenkunst und den Methoden der Tanzvermittlung. Sie haben mit dem Modernen Tanz elaborierte Instrumente und differenzierte Arbeitsweisen für das tänzerische Körper- und Bewegungstraining und das choreografische Schaffen entwickelt. Es werden aktuelle und nachhaltige Anregungspotenziale erforscht. Die künstlerischen Recherchen dienen als Ausgangspunkt für eine vergleichende Auseinandersetzung mit Fragen zu transnationaler Arbeitsweise und Werkentwicklung, Vermittlung und Weitergabe im modernen bzw. zeitgenössischen Tanz.  Karin Waehner [1] zwischen Deutschland und Frankreich | Leitung: Jean Masse, Bruno Genty, Annette Lopez Leal  Rosalia Chladek [2] zwischen Deutschland, Österreich und weiteren Ländern Europas | Leitung: Eva Lajko, Doris Buche-Reisinger  Erika Klütz [3] und Marianne Vogelsang [4] zwischen Ost- und Westdeutschland | Leitung: Kirsten Seeligmüller  Sigurd Leeder [5] zwischen Deutschland, England, Chile, Schweiz | Leitung: Karin Hermes

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Ein Projekt der [4]

Gefördert von TANZFONDS ERBE – eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes

| Information | Termine | mit Outdoorperformance – Vortrag – Diskussionen : www.tanzfonds.de/projekte/dokumentation-2017/ |Gesamtleitung | Kontakt | Heide Lazarus : laz_dd@freenet.de

| Information | Termine

: www.gtf-tanzforschung.de

| Kontakt | Dr. Claudia Fleischle-Braun :

claudia.fleischle@arcor.de

| Foto links: Kamil Mrozowski | Fotos rechts : [1] Jo Babout © Archiv Karin Waehner | [2] © IGRC | [4] Fritz Eschen (1949) © SLUB/Deutsche Fotothek | [5] Bill Dagens © Schweizer Tanzarchiv |

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WORKSHOP-FESTIVAL

Transnationale Konzepte im modernen Tanz 16.-18. März 2018 Ι DOCK 11, 10435 Berlin, Kastanienallee 79 Das Workshop-Festival widmet sich den Migrationsbewegungen von Tanzkünstler_innen in Europa im Übergang zwischen der ersten und zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt stehen „Grenzgänger_innen“ und „Brückenbauer_innen“ zwischen „alten“ und „neuen“ Konzepten der Bühnenkunst mit ihren Methoden der Tanzvermittlung, wie z.B. Sigurd Leeder (1902-1981), Rosalia Chladek (1905-1995), Erika Klütz (1908-2005), Marianne Vogelsang (19121973) und Karin Waehner (1926-1999). Jene hatten elaborierte Instrumente für das tänzerische Körpertraining und differenzierte Arbeitsweisen für das choreografische Schaffen entwickelt, deren aktuelle und nachhaltige Anregungspotenziale beim Workshop-Festival in verschiedenen Tanz-Laboratorien erforscht werden. Vier europäische künstlerische Recherche-Projekte dienen als Ausgangspunkt für eine vergleichende Auseinandersetzung mit Fragen zu transnational verbreiteten Arbeitsweisen und Werkentwicklungen sowie zur Vermittlung und Weitergabe im zeitgenössischen Tanz. Das gtf-Workshop-Festival „Transnationale Konzepte im modernen Tanz“ findet in Verknüpfung mit dem TANZFONDS ERBE-Projekt „Karin Waehner – Eigensinnig in Zwischenräumen“ im DOCK 11, Berlin statt. In Kooperation mit:    

SIGURD LEEDER-Projekt (Leitung: Karin Hermes, hermesdance Bern) INTERNATIONALE GESELLSCHAFT ROSALIA CHLADEK e.V. WIEN (Leitung: Eva Lajko) DOCK 11, BERLIN: Projekt VEKTORTANZ (Leitung: Kirsten Seeligmüller) KARIN WAEHNER (1926 – 1999) - Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt (Gesamtleitung: Heide Lazarus) mit Compagnie Epiphane (Jean Masse)

Dachverband Tanz Deutschland e.V.

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Konzeption, Organisation, Redaktion: Dr. Claudia Fleischle-Braun Fotos: Bill Dagens © Schweizer Tanzarchiv; IGRC © MUK Privatuniversität Wien/ Theatermuseum Wien; © Erika Klütz-Schule Hamburg; Fritz Eschen (1952) © Deutsche Fotothek; Jo Babout © Archiv Karin Waehner; Doris Buche-Reisinger; Daniel Schneeberger; Kamil Mrozowski; Margrit Bischof. Mit besonderem Dank an das DOCK 11/ EDEN*****-Team: Kirsten Seeligmüller, Katja Karouaschan (Organisation) sowie an Asier Solana mit seinem TechnikTeam (Technik / Licht) und an Heide Lazarus für die Koordinierung mit dem Tanzfonds Erbe-Projekt Karin Waehner: Eigensinnig in Zwischenräumen. Ebenso danke ich Alexa Junge (GTF-Geschäftsstelle) und Annaelle Toussaere für die hilfreiche Unterstützung.

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Grußwort Tanz ohne Grenzen Das bevorstehende gtf-Workshop-Festival Transnationale Konzepte im modernen Tanz befasst sich mit den Migrationsbewegungen von Tanzkünstler_innen in Europa. Ausgehend von vier europäischen künstlerischen Recherche-Projekten geht es nebst den Fragen zu transnational verbreiteten Arbeitsweisen und Werkentwicklungen vor allem auch um Erinnern und Aufbruch, um Grenz- und Begegnungsräume und schließlich um Austausch und Bewegung. Damit reiht sich die Veranstaltung in die gesamteuropäische Auseinandersetzung mit dem Kulturerbe ein – eine Auseinandersetzung, welche die EU und der Europarat im Jahr 2018 unter dem Motto «Sharing Heritage» besonders fördern wollen. Dieses Motto kann als Aufforderung interpretiert werden, Kulturerbe zu teilen, am Kulturerbe anderer teilzuhaben oder auch das Kulturerbe anderer mitzubenutzen. Mit zahlreichen Veranstaltungen zelebrieren die einzelnen Länder ihr vielfältiges kulturelles Erbe. Entsprechend haben sich in den Ländern Institutionen gebildet, welche sich dieser Aufgabe annehmen. In der Schweiz zum Beispiel läuft die Kampagne unter KULTURERBE2018 und steht unter dem Patronat des Bundespräsidenten. Ziel ist es, mit öffentlichen und privaten Partnern das Kulturerbe den Menschen näher zu bringen und dadurch das Potential des Kulturerbes für eine demokratische und nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft sichtbar zu machen. In Deutschland gibt es entsprechende Initiativen und die Website https://sharingheritage.de/ listet eine Vielzahl an Projekten auf. Im Internetauftritt werden fünf Leitthemen genannt, welche die Anliegen des Europäischen Kulturerbe-Jahres 2018 verdeutlichen. Davon greife ich drei heraus, von denen ich überzeugt bin, dass sie mit unserer Veranstaltung etwas zu tun haben: Mit Europa: Austausch und Bewegung ist ein grenzenüberschreitender akademischer Wissenstransfer gemeint, der sich speziell an junge Menschen richtet, um sie für eine Partizipation und Gestaltung der zukünftigen Kulturarbeit zu gewinnen. Mit Europa: Erinnern und Aufbruch soll versucht werden, sich in Europa als eine Art historische Schicksals- und kulturelle Wertegemeinschaft zu verstehen und dadurch eine europäische Identität zu entwickeln, welche wiederum die regionalen und nationalen bereichern kann. Und mit Europa: Grenz- und Begegnungsräume soll bewusst gemacht werden, wie viel Einfluss andere Kulturen auf das bestehende lokale Erbe hatten, damit es leichter fällt, neue kulturelle Prägungen vor Ort willkommen zu heißen. Im Schwerpunkt «Grenzgänger» und «Brückenbauer» zwischen «alten» und «neuen» Konzepten der Bühnenkunst des Workshop-Festivals spiegeln sich somit wichtige Anliegen des Kulturerbe-Jahres. Lassen wir uns davon zu einer zeit- und grenzenüberschreitenden Debatte mit dem Tanzerbe anregen! Ich wünsche allen Teilnehmer_innen und Referent_innen eine belebende Auseinandersetzung mit unserem speziellen Kulturgut des Tanzes. Margrit Bischof 1. Vorsitzende der Gesellschaft für Tanzforschung

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gtf-Workshop-Festival „Transnationale Konzepte im modernen Tanz“

17:30 - 18:00 Uhr Bühne

Freitag, 16.3.2018 14:00 - 15:00 Uhr Begrüßung und Poster-Präsentation Studio Transnationale Konzepte des Modernen Tanzes - Karin Waehner: Zwischen Deutschland und Frankreich - Erika Klütz, Marianne Vogelsang: Zwischen Ost- und Westdeutschland - Rosalia Chladek: Zwischen Österreich, Deutschland und weiteren Ländern Europas Sigurd Leeder: Zwischen Deutschland, England, Chile, Schweiz 15:15 - 17:00 Uhr Studio

Workshop 1 Karin Waehner: Der individuelle Ausdruck der Bewegung Leitung: Bruno Genty, Jean Masse, Annette Lopez Leal Wie kann eine einfache Bewegung zu einem spannenden Ereignis werden? - Mit dieser Frage ist das Wirken von Karin Waehner und ihrer „evolutiven Pädagogik“ verbunden. Im Workshop werden über eine körperliche Vorbereitung Bewegungssequenzen aus dem Solo Celui sans nom individuell erarbeitet. Dabei eröffnen sich Möglichkeiten der persönlichen Interpretation, jedoch ohne den Zwang, den Körper spüren zu müssen.

Lecture Demonstration Vektortanz unter Einbezug von Studienmaterial von Erika Klütz, Marianne Vogelsang u.a. Leitung: Kirsten Seeligmüller Das Erbe des Modernen Tanzes und Ansätze des Zeitgenössischen Tanzes werden von Kirsten Seeligmüller wie Folien übereinandergeschichtet und verbunden, vergleichend mit den Parametern der Vektorgraphik. Vektortanz steht auch für das Prinzip „Motion  Emotion  Motion“, das bedeutet, dass z.B. somatische Vorschläge und Vorgänge Emotionen hervorrufen und umgekehrt. Die emotionale Interpretation kann jedoch bei den Bewegenden und Zuschauenden ganz unterschiedlich sein.

18:15 - 19:00 Uhr Bühne

Lecture Demonstration Grundprinzipien der Chladek®-Tanztechnik Leitung: Doris Buche-Reisinger und Eva Lajko Die Tanztechnik des Chladek®-Systems beruht im Wesentlichen auf anatomisch-physiologischen Gesetzmäßigkeiten. Doris Buche-Reisinger wird die drei Prinzipien der Chladek®-Tanztechnik (Schwerpunktveränderung, Bewegungsansätze und Körperverhalten) in freier und performativer Weise demonstrieren, kommentierend begleitet von Eva Lajko. Um dem Publikum einen Einblick in das Chladek®-Systems zu geben, werden diese zunehmend ineinander verwoben. Die Performerinnen zeigen auf, wie die Prinzipien im heutigen zeitgenössischen Tanz individuell künstlerisch umgesetzt werden können.

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19:00 - 19:25 Uhr Bühne

Lecture Performance Das choreografische Erbe von Rosalia Chladek heute Choreografie/ Tanz: Doris Buche-Reisinger

19:30 - 20:15 Uhr Bühne

Doris Buche-Reisinger zeigt zwei Tanzstücke, die auf der Basis von zwei rekonstruierten Tänzen von Rosalia Chladek entstanden sind:

Sigurd Leeder- Der übervolle Eimer Choreografie / Tanz: Karin Hermes und Tim Rubidge Karin Hermes und Tim Rubidge tanzen aus Werken von Sigurd Leeder und geben humorvolle wie auch tiefsinnige Einblicke in das Leben von Sigurd Leeder. Dabei zeigen sie ihre zeitgenössischen künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Form der Etüden der Choreutik und Eukinetik.

Den Slawischen Tanz Nr. 8 (Musik: Antonin Dvořák) hatte Rosalia Chladek 1923 in der Schule HellerauDresden als Achtzehnjährige erstmals aufgeführt. 1988 studierte Chladek diesen Tanz der Wiener Staatsoperntänzerin Fara Grieco ein. Aus dieser Version hat Doris Buche-Reisinger ihr Tanzstück Way entwickelt.

Ausschnitte und zeitgenössische Bearbeitung von folgenden Werken Leeders: Danse macabre (1935), War memorial (1936, 1956), Sommer (1952), Rain (1952), Mobile (1975).

In Danse tournante setzt sich die Tänzerin zunächst mit dem Original des Drehtanzes von Rosalia Chladek (1928 Brünn, Musik: Issac Albéniz) auseinander. In einem nächsten Arbeitsschritt hat sie das Tanzstück in ihrer eigenen künstlerischen Lesart weiterverarbeitet.

Mit Unterstützung der IGRC e.V. und des Bundeskanzleramts Österreich

Lecture Performance

Mit Unterstützung von hermesdance Bern 20:30 - 21:30 Uhr Bühne

Podiumsdiskussion (in Kooperation mit KARIN WAEHNER – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt) Kunst Migration Heimat : Moderner Tanz in den transkulturellen Räumen des 20. Jahrhunderts Mit Dr. Laure Guilbert, Dr. Josephine Fenger und beteiligten Künstler_innen sowie weiteren eingeladenen Gästen.

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Samstag, 17.3.2018 10:00 - 11:45 Uhr Workshop 2 Studio Vektortanz unter Einbezug von Studienmaterial von Erika Klütz, Marianne Vogelsang u.a. Leitung: Kirsten Seeligmüller

13:15 - 15:00 Uhr Studio

Ursache und Wirkung in der tänzerischen Bewegung: Die Prinzipien der Chladek®-Technik Leitung: Eva Lajko Ein Schwerpunkt wird auf die Bewegungsansätze gelegt. Wenn wir unserer Bewegung bewusst Aufmerksamkeit schenken, steckt zumeist eine willkürliche Bewegungsaktion, ausgehend von einer bestimmten Körperregion dahinter. Auf jede Bewegung erfolgt eine Reaktion, deren anatomisch-muskuläre Verkettung beispielhaft näher betrachtet werden soll. Im Workshop werden Bewegungszusammenhänge bewusst wahrgenommen, erforscht und in strukturierten Tanzimprovisationen angewendet bzw. integriert. Die ästhetisch-sinnliche Erfahrung bildet den Zugang für das Verstehen der Bewegungszusammenhänge auf ganzheitliche Weise.

Verschiedene Ansätze der eigenen Tanzbiografie, wie z.B. die Einflüsse durch die Ausdruckstänzerin Erika Klütz und die intensive Auseinandersetzung mit Studienmaterial von Marianne Vogelsang werden im Workshop wie Folien übereinander gelegt, um dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich zu machen und um eine eigene, zeitgenössische Melange zu kreieren. Es werden die Parameter der Vektorgraphik aufgegriffen und neben räumlichen Dimensionen auch Emotionen, Worte, Atmosphären sowie die klassischen Improvisationsvektoren wie Zeit, Dynamik und Kraft genutzt. rasen, hasten, laufen, sausen, stürmen, flitzen, eilen, fegen, sprinten, spurten, wetzen, hetzen, sich abhetzen, jagen, joggen, rennen, anecken, anrennen, anschlagen, rammen, sich stoßen, prallen gegen, prellen gegen, spritzen, ausschreiten, brausen, fliegen, galoppieren, hasten, huschen, preschen, rasen, sausen, eilen, pfeifen, eilen, hetzen, hasten, fortjagen, haschen, hinterherjagen, nachjagen, nachstellen, pesen, pirschen, dauerlaufen, langlaufen, angreifen, anstürmen, attackieren, vorstürmen, vorstoßen, beeilen, schwirren, springen, stieben, stürzen, traben, wühlen

Workshop 3:

15:30 - 17:15 Uhr Studio

Workshop 4 (Tanz-Laboratorium) Sigurd Leeder- Etüden und Notationen Leitung: Karin Hermes, Tim Rubidge Etüden von Sigurd Leeder sind Inspiration für eine heutige künstlerische Auseinandersetzung. Im Workshop bearbeiten wir choreutische und eukinetische Etüden von Sigurd Leeder. Diese Werkstrukturen werden anhand von Tanzpartituren vermittelt. Die entstehenden Arbeitsprozesse zwischen Schrift und Tanz sind Teil des spielerischen Workshops.

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18.00 - 18.45 Uhr Bühne

Vortrag (in Kooperation mit KARIN WAEHNER – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt)

B. Genty lehnt es ab, „ein Modell“ zu sein oder Kopien zu vermitteln. A. Lopez Leal und M. Gross finden ihre eigenen Bilder und Sichtbarkeiten. Unterschiede werden nicht durch die Diktatur einer perfekten Synchronisation ausgemerzt - weder für die Tänzer noch für das Publikum; weder in der Kreation noch in der Rekonstruktion. Deshalb wird hier von einer Rekreation gesprochen.

Josephine Fenger : 
 Karin W..….er? Die Tanzvermittlerin / La passeuse de danse Eine biografische Einführung mit Textpassagen aus Briefen von Karin Waehner und Mary Wigman. 19:00 - 20:15 Uhr Bühne

Der Ausgangspunkt für WEGEHEN lag in einem Solo für Bruno Genty, eines der letzten Stücke Karin Waehners. Der Arbeitstitel vor 1989 hieß Derrière le mur/ Hinter der Mauer). Zur Premiere 1990 hieß das Stück celui sans nom/ Namenlos. Es wurde in einem speziell definierten Probenprozess weitergegeben und wird als Trio wiederaufgeführt.

Performance (in Kooperation mit KARIN WAEHNER – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt) WEGEHEN mit celui sans nom - Rekreation 2018 Choreografie/Tanz: Bruno Genty, Annette Lopez Leal, Michael Gross ... 3 Tänzer, 3 Generationen, 3 Erfahrungen, 3 Interpretationen ... Ein Wandel in die Zukunft mit Bruno Genty, Annette Lopez Lea , Michael Gross. Special Guests: Jean Masse ( Choreograf, Tänzer und künstlerische Nachlassverwalter von Karin Waehner) sowie Peter Jarchow (Pianist und Improvisator). In der Performance WEGEHEN werden mittels Sequenzen aus verschiedenen Choreografien einzelne Arbeitsprinzipien von Karin Waehner und ihre Relevanz heute zur Diskussion gestellt. Es geht um menschliche Situationen. Die Bezüge sind für jeden verschieden, die Bewegungen ähnlich.

20:30 - 21:30 Uhr Bühne

Podiumsdiskussion (in Kooperation mit KARIN WAEHNER – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt) Geschichte(n) erben? Wie haben wir gearbeitet / was ist entstanden? – Eine Diskussion mit den beteiligten Künstler_innen und Tanzwissenschaftler_innen über die Möglichkeiten von Rekonstruktionen und Lecture Performances sowie über die Erinnerungsarbeit im Weitergeben.

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Sonntag, 18.3.2017 10:00 - 12:30 Uhr Gemeinsames Laboratorium mit allen WorkshopStudio Leiter_innen): (Neue) Perspektiven durch künstlerische Recherchen zu ästhetischen und pädagogischen Konzepten der Tanzmoderne nach 1945 in Europa? Welche Relevanz besitzen diese Konzepte für die zeitgenössische Tanzvermittlung (Tanztechnik & Choreografie)? In welcher Weise werden die Themen der tanzpädagogischen Ansätze von Leeder, Chladek, Klütz, Vogelsang, Waehner u.a. heute vermittelt und weitergegeben? 12:30 - 13:00 Uhr Studio

Ein vorläufiges Fazit? Bedeutung der Recherchen zum europäischen Tanzerbe der Moderne für die zeitgenössische Aus- bzw. Weiterbildung, Tanzforschung sowie für die Tanzvermittlung im Rahmen der Kulturellen Bildung. Visionen und Desiderate ?

Biographische Notizen zu den Akteuren des WORKSHOP-FESTIVALS Doris Buche-Reisinger studierte Klassischen Tanz bei Prof. Berti Handl und Tänzerische Bewegungserziehung am Konservatorium der Stadt Wien (heute: MUK Privatuniversität der Stadt Wien). Als Tänzerin realisierte sie in Österreich und international neben der fünfjährigen Zusammenarbeit mit dem Tanz Atelier Wien diverse tänzerische und choreographische Projekte, u.a. mit Hof-Dantzer, Wire Monkey Dance Company (USA), tanztheater homunculus, Tanz*Hotel, Cie Willi Dorner und dem Tanz-Musik-Duo zweiacht sowie mit Musikern der Wiener Philharmoniker. Sie erarbeitete und rekonstruierte für die Internationale Gesellschaft Rosalia Chladek e.V. Tänze von Rosalia Chladek und ist Repräsentantin für Frankreich im Vorstand. Neben choreografischen Tätigkeiten für das österreichische Generalkonsulat in Straßburg und schulischen Tanzprojekten unterrichtet sie an der Ecole BolérO Oberhausbergen, am Maison des Arts Lingolsheim und im CSC Fossé des Treize in Straßburg. Josephine Fenger, Dr., arbeitete nach einer Ausbildung im Klassischen und Modernen Tanz als Ballett-Tänzerin in Südamerika. Sie studierte Theaterwissenschaft, Publizistik, Wissenschaftsmanagement und Editionswissenschaft. Die promovierte Kulturwissenschaftlerin ist Co-Herausgeberin (zusammen mit Johannes Birringer) der gtf-Jahrbücher Tanz im Kopf – Tanz und Kognition (2005) und Tanz und WahnSinn (2011). Zudem ist sie Autorin von Auftritt der Schatten (2009). Zu ihren aktuellen Forschungsaktivitäten gehören Studien über choreomanische und rituelle Aspekte im Tanz, besonders in der Volkstanzkultur Süditaliens sowie die historiographische Vermittlung von Tanzgeschichte. Sie organisiert tanzwissenschaftliche Konferenzen und referiert und veröffentlicht regelmäßig Beiträge zur Tanzforschung. Ihre kommentierte Edition von Mary Wigmans Briefen an Karin Waehner wurde unter dem Titel „Mitteilungen von Mensch zu Mensch. Der Briefwechsel von Mary Wigman und Karin Waehner“ in: Jungmayr, J. & M. Schotte (Ed.) (2017): Opera minora editorica. Editorische Beiträge zur Kulturwissenschaft publiziert.

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Claudia Fleischle-Braun, Dr., war wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin für Gymnastik und Tanz am Institut für Bewegungs-und Sportwissenschaften der Universität Stuttgart (1978–2006). Sie promovierte über die Geschichte und Vermittlungskonzepte im Modernen Tanz (1999). Sie arbeitete im Vorstandsteam der Gesellschaft für Tanzforschung (gtf) mit (2005–2015) und war mehrfach mit der Konzeption und Leitung von tanzwissenschaftlichen Tagungen und Symposien befasst. Ferner initiierte sie, dass der Moderne Tanz mit seinen Stil- und Vermittlungsformen auf der bundesweiten Liste des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCOKommission verzeichnet wurde. Mitherausgeberin (zusammen mit Ralf Stabel) von Tanzforschung & Tanzausbildung (2008), Tanzerfahrung und Welterkenntnis (2012, zusammen mit Claudia Behrens, Helga Burkhard und Krystyna Obermaier) sowie Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes (2015, zusammen mit Krystyna Obermaier und Denise Temme). Bruno Genty erhielt seine Ausbildung Klassischem, Modernem und Zeitgenössischem Tanz u.a. bei Joseph Russillio, am Centre International de Dance und an der Scola Cantorum in Paris. Neben Waehners Ansatz einer evolutiven Pädagogik und der von ihr vermittelten choreografischen Trainingsmethode nach Mary Wigman wurde er durch die Tanztechnik von Aaron Osborne nach José Limon, die body-work-Techniken von Peter Gross und die Mimen-Techniken nach Pinok et Matho beeinflusst. Bereits während seines Studiums wurde Waehner eine seiner wichtigsten Mentoren und später wurde er ihr Assistent. Genty war zudem langjähriger Tänzer in der Company von Karin Waehner, Michel Caserta und zuletzt bei Philippe Tresserra, bevor er eigene Wege ging. Er unterrichtete und choreografierte seit den 1990er Jahren in zahlreichen Opern, Theatern, Universitäten und Tanzschulen. Stationen waren u.a. die Schola Cantorum in Paris, die Karls Universität in Prag, das Prager Kammerballett von Pavel Šmok, die Oper des Slowakischen Nationaltheaters in Bratislava, Staatliche Oper und Ensemble Trakia in Bulgarien/Plovdiv, das Dance Place-Center in Washington DC, SZENE Salzburg oder das Landestheater Linz. Zudem war er 1989/1990 Ballettmeister beim Europa Ballett von Chalon-sur-Saône, dem auch Michaël Denard verbunden war. Seine Themen sind die Einsamkeit, das Bedürfnis

nach Freundschaft und Kommunikation, Toleranz und Selbstachtung. Sein Stil basiert auf einem intensiven Training, ist aber nicht auf Technik ausgerichtet. Er entsteht durch die individuellen Erfahrungen, die Erforschungen zu poetischen Geschichten und deren Übersetzungen mittels Improvisation in eine absurde, fiktive Realität. Auf dieser Grundlage arbeitet er auch häufig mit Laien und im öffentlichen Raum wie beispielsweise 1998, als er zu einem inszenierten Ball auf der Grundlage von M. Duras Indiasong einlud. 2009/2010 war er in die choreografische und tanztechnische Rekonstruktion von Les Marches für deren Verschriftlichung eingebunden. Seitdem beschäftigt er sich verstärkt mit dem modernen choreografischen Repertoire des 20. Jahrhunderts. Zudem ist er seit einigen Jahren Dozent für Zeitgenössischen Tanz, Repertoire und Didaktik der Tanzpädagogik an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz sowie am Pôle d'Enseignement Supérieur Musique et Danse der Universität Michel de Montaigne in Bordeaux, welche ein staatliches Diplom für Tanzpädagogik vergibt. Laure Guilbert, Dr., promovierte nach ihrem Studium in Geschichte und Literatur in Lille und Paris am Instituto Universitario Europeo in Florenz mit der Dissertation Danser avec le IIIe Reich. Les danseurs modernes sous le nazisme (2000, 2011 erweitere Ausgabe). Sie hat an mehreren Universität in Frankreich Geschichte und Theorien des Tanzes und des Theaters gelehrt. Parallel dazu leitete sie Forschungsprojekte für die Cité de la musique und das Centre national de la Danse (CND) in Paris. Seit 2002 ist sie Tanzdramaturgin an der Pariser Oper. Sie war außerdem 2007 Mitbegründerin der aCD (Association des Chercheurs en Danse) und bis 2014 deren Präsidentin. Von 2015–2017 war sie mit dem deutsch-französischen Forschungszentrum für Geistes- und Sozialwissenschaften Centre Marc Bloch in Berlin assoziiert und zugleich BRAIN-Marie Curie-Gastwissenschaftlerin an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), wo sie mit einem Habilitationsvorhaben über das Exil der deutschsprachigen künstlerischen Tanzszene zwischen 1933 und 1949 befasst war. 2016 hatte sie von der Hochschule für Musik und Tanz Köln ein Forschungsstipendium für das Forschungskolleg Tanzwissenschaft erhalten. Aktuell arbeitet sie wieder als Dramaturgin an der Pariser Oper, setzt ihre Forschung über Exilanten fort

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und veröffentlicht regelmäßig tanzhistorische Beiträge, u.a. in der von ihr 2014 mitbegründeten tanzwissenschaftlichen digitalen Zeitschrift der aCD Recherches en Danse. Michael Gross, MA, ist freischaffender Tänzer und Tanzpädagoge. Er studierte an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz im BA und MA-Programm für movement studies and performance. Während seines Studiums nutzte er die Möglichkeit, mit verschiedenen Choreografen zusammenzuarbeiten. So wirkte er u.a. in Produktionen von Bruno Genty mit Harmen Tromp in Le Cycle Des Princes, Klaus Obermair zur Eröffnung des Soundframe Festivals in Wien, Rose Breuss und der C.O.V./ Cie ff Verticality company mit dem Stück Re-Cycling Prometheus, das auf dem Leo Festival in Wroclaw (PL) gastierte. Michael Gross ist Mitglied der SILK Fluegge dance company (Linz) und wirkte beim Schäxpir-Festival in dem Stück BOOOM!!! (Choreografie: Silke Grabinger) mit, das anschließend mit dem STELLA 15 AWARD ausgezeichnet wurde. Seit 2016 unterrichtet er im Raum Frankfurt a.M. Modernen und Zeitgenössischen Tanz, Ballett sowie Improvisation und Komposition und ist Gast der PLAY Plattform in Frankfurt a.M. 2017 absolvierte er ein Praktikum bei der Dresden Frankfurt Dance Company. Karin Hermes ist Choreografin, Tänzerin, Spezialistin für Kinetographie Laban und Tanzpädagogin. Ihre Ausbildung zur Bühnentänzerin absolvierte sie an der Ballettakademie Zürich und der School of American Ballet New York City. Nach Engagements am Schauspielhaus Zürich, Staatstheater Stuttgart und YNO-Tanztheater studierte sie Tanzpädagogik am Institut für Bühnentanz der Musikhochschule Köln. Während dieses Studiums erhielt sie ein Stipendium für das Conservatoire National Supérieure de Musique et de Danse de Paris für das Studium der Bewegungsanalyse und -notation (System Laban), welches sie mit dem Cycle de perfectionnement abschloss. Sie arbeitete als Ballettmeisterin für das Atelier d’Envol und spezialisierte sich auf die Bearbeitung und Einstudierung notierter Tanzwerke des 20. Jahrhunderts. Für das Junior Ballet Lyon rekonstruierte sie in Zusammenarbeit mit Anna Markard Big City, eine Choreografie (1932) von Kurt Jooss. Diese Arbeit wurde vom WDR aufgezeichnet. Karin Hermes reali-

sierte mehrere Tanzfilmdokumentationen in Zusammenarbeit mit Heidemarie Härtel des Deutschen Tanzfilminstituts. Sie notierte Choreografien von François Malkovsky, Lucinda Childs und Ether Winter. 2004–2007 war Karin Hermes künstlerische Leiterin des atempo repertory dance ensemble und experimentierte mit zeitgenössischen Auseinandersetzungen zu Werken von Yvonne Rainer, Dominique Bagouet, Anna Sokolow, Helen Tamiris, Lester Horton. 2007 gründete sie hermesdance in Bern (CH) und entwickelt seither eine eigene Tanzsprache, welche mit Schichten des Sichtbaren experimentiert. Als Künstlerin und Pädagogin hat sie unzählige Projekte für Kinder, Jugendliche und Profis verwirklicht. Von 2011–2015 leitete sie das Research Panel des International Council of Kinetographie Laban. Derzeit forscht sie über Re-Interpretationsprozesse historischer Tanzwerke und entwickelt ihr Spezialgebiet der Tanznotationen weiter. Hermes arbeitet eng mit bildenden Künstlern zusammen, u.a. mit Carmen Perrin für das Projekt Maternité am Krankenhaus Genf. Mit ihrem professionellen Ensemble hermesdance tourt sie international, realisierte Koproduktionen mit dem Centre National de la danse, Pantin-Paris und Zentrum Paul Klee Bern. Hermes ist Gastkünstlerin und -dozentin an Theatern und Hochschulen in Paris, Lyon, The Place und Trinity Laban London, Israel und Deutschland. Ihre Arbeit Betwixed and Between – Dialog with „Rooms“ by Anna Sokolow wurde für die ARTE-Produktion Dance-Rebells 2009 aufgezeichnet. 2016 hat sie den Schweizer Tanzpreis für das Projekt Sigurd Leeder, Kulturerbe Tanz erhalten. 2017 wurde ihre Arbeit mit dem Kulturvermittlungspreis des Kantons Bern ausgezeichnet. 2009 und 2017 erhielt sie vom Kanton Bern Werkbeiträge für ihre Choreografien In der grünen Ecke des Kreises und human rights. Peter Jarchow, Dr. Prof. em., war während seines Studium in Klavier, Komposition und Improvisation an der Hochschule für Musik "Hanns Eisler" Berlin fünf Jahre als Pianist bei Jean Weidt und seiner Gruppe Junger Tänzer. Er absolvierte in dieser Zeit zudem Praktika an den Ballettschulen der DDR (Berlin, Leipzig, Dresden) und wurde Pianist zu den Internationalen Sommerkursen des Tanzes der Palucca Schule Dresden (heute Palucca Hochschule für Tanz Dresden), wo er 33 Jahre lang blieb. 1975–2004 übernahm

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er zusätzlich die Leitung (zeitweise in Co-Regie) der gattungsübergreifenden Winterkurse für Improvisation an der Palucca Schule Dresden. Nach seinem Studium wurde er 1967 musikalischer Mitarbeiter und Pianist in dem von Palucca vertretenen Unterrichtsfach Neuer Künstlerischer Tanz an der Palucca-Schule, bevor er 1975 an die Hochschule für Musik in Leipzig (heute: Hochschule für Musik und Theater "Felix Mendelssohn Bartholdy" Leipzig) wechselte und dort bis 2010 Improvisation und Ballettkorrepetition lehrte (1992–1999 Professur). In dieser Zeit kam er auch an die neu gegründete Abteilung für Choreographie der damaligen schauspielzentrierten Theaterhochschule „Hans Otto“ in Leipzig an, wo er ab 1977 für 10 Jahre deren Bereichsleiter für musikalische Ausbildung war. Parallel arbeitete er 1979–1992 als Pianist, Improvisator und Musikdramaturg beim Ballettensemble der Sächsischen Staatsoper Dresden (1985–1987 stellv. Ballettdirektor). Seine Promotion zum Thema Spezifik der Ballettmusik schloss er 1986 an der Universität Leipzig ab. 1994 kam er an die Palucca-Schule als deren Direktor zurück (bis 1997); gründete 1998 das Deutsche Institut für Improvisation und nahm ein Jahr später den Ruf zum Professor für Tanzund Balletmusik an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin (bis 2010) an, wo er bereits seit 1988 ebenfalls lehrte. Außerdem war er an verschiedenen Hochschulen und Universitäten Dozent und Gastprofessor sowie als Musiker international tätig. Peter Jarchow hat darüber hinaus zahlreiche Texte zum Verhältnis Musik und Tanz und zur Geschichte des Modernen Tanzes in Deutschland veröffentlicht. Er war mehrfacher Preisträger beim Weimarer Improvisationswettbewerb (1970 1. Preis) und hat langjährige Erfahrungen als Jurymitglied (auch Vorsitzender) bei Wettbewerben für Choreografie, Tanz und Improvisation im In- und Ausland. Zudem war er Mitglied oder Vorsitzender von Findungskommissionen verschiedener deutscher hochschulischer Tanzinstitute. Seit seiner Emeritierung arbeitet er mit verschiedenen Weiterbildungseinrichtungen zusammen.

Eva Lajko erhielt ihre Tanzausbildung am Konservatorium der Stadt Wien (heute: MUK-Privatuniversität der Stadt Wien). Sie unterrichtet Kreativen Kindertanz und zeitgenössische Tanzimprovisation für Erwachsene, leitet Kurse und Workshops in der Chladek®-Tanztechnik, Körperwahrnehmung und Yoga. Seit 2000 lebt sie in Saarbrücken und ist als Tänzerin, Choreografin und Pädagogin in Deutschland und Österreich tätig. Gemeinsam mit dem Künstler Miguel Bejarano Bolívar gründete sie 2001 das MUsikTANzTHeater-Laboratorium MUTANTH, mit dem sie bereits zahlreiche MusikTanztheater-Produktionen in Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstlern und Künstlerinnen unterschiedlicher kultureller und künstlerischer Herkunft verwirklichte. Darüber hinaus lehrte sie regelmäßig als Dozentin in der Berufsbegleitenden Ausbildung der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek e.V. zur Bewegungs- und TanzpädagogIn im Chladek®-System. Seit 2009 ist sie die Leiterin der berufsbegleitenden IGRC-Ausbildung in Wien. Darüber hinaus führt sie an Grundschulen und in Kindergärten TanztheaterProjekte durch. Heide Lazarus, M.A., ist freie Produktionsdramaturgin, Kultur-, Tanz- und Theaterwissenschaftlerin. Arbeitsmittelpunkt ist Dresden. Dort war sie u.a. an der Sächsischen Staatsoper Dresden, dem Deutschen Hygiene Museum Dresden, der Trans-Media-Akademie Hellerau sowie bei den Festivals TANZWOCHE und tanzHERBST dramaturgisch oder organisatorisch tätig und hat als langjährig praktizierende Physiotherapeutin an der Palucca Hochschule für Tanz Dresden Anatomie unterrichtet. Sie ist die Initiatorin und Herausgeberin der CD-ROM Die Akte Wigman (2007), einem digitalen Katalog von Dokumenten der Wigman-Schule-Dresden und weiterer lokaler Schulen mit dem Digitalisat der Zeitschrift Tanz-Gemeinschaft (1929–1930), dem noch existierenden Auszug aus dem Hörspiel Trommel, Trommel, Gong von Eugen Kurt Fischer mit dem Geräuschstudio der Wigman-Schule-Dresden (1932) sowie weiteren kontextualisierenden Essays. Von 2007–2010 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Systemische Körper? Kulturelle und politische Konstruktionen des Schauspielers in schauspielmethodischen Programmen Deutschlands 1945–1989 (Leitung: Prof. Dr. Anja Klöck, Leipzig). Innerhalb von LINIE 08 von TanzNetzDresden ent-

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wickelte sie die Idee zur Reihe Spuren sehen, die sie auch kuratierte. Außerdem ist sie die Initiatorin von „KARIN WAEHNER (1926–1999) – Eigensinnig in Zwischenräumen. Ein TANZFONDS ERBE Projekt“, dessen Gesamtleitung sie innehat. Aktuell beendet sie ihre Dissertation zum Thema Tanz als Beruf, die mit einem Stipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst unterstützt wurde. Sie war Mit-Initiatorin und vier Jahre Mit-Organisatorin von TanzNetzDresden sowie deren Veranstaltungsreihe LINIE 08 und ist zudem Mitglied in verschiedenen Berufs- und Interessenverbänden im Bereich Tanz und Theater. Annette Lopez Leal, Univ.Doz., tanzte fünf Jahre beim S.O.A.P. Dance Theatre, Frankfurt (künstlerische Leitung: Rui Horta). 1999 war sie Gasttänzerin bei Carte Blanche Danseteatre Bergen und realisierte 2000 und 2004 Prjekte mit Biondidanza (künstlerische Leitung: José Biondi und A. Lopez Leal) mit Tourneen in Finnland, Norwegen und Spanien. 2001 war sie in einem Projekt mit MS Schrittmacher, Berlin und dem Staatstheater Oldenburg (künstlerische Leitung: Martin Stiefermann) beteiligt. Sie lehrte an den Tanzhochschulen in Frankfurt und Dresden und war Assistentin und Trainingsleiterin für das Tanzensemble des Staatstheaters Oldenburg. Seit dem WS 2008/09 lehrt sie an der Anton Bruckner Privatuniversität in Linz. Dort habilitierte sie 2015 im künstlerisch-wissenschaftlichen Bereich mit dem Thema: my body – my instrument. Als Universitätsdozentin lehrt sie Zeitgenössischen Tanz, Repertoire und Didaktik. Zudem ist sie zuständig für künstlerische Projekte im interdisziplinären Bereich der Universität – so z.B. 2018 zum 100. Geburtstag von Bernd Alois Zimmermann mit dem Forum Kammermusik der Universität in Linz. Ferner wird sie als Gastlehrerin gern eingeladen, u.a. für verschiedene Tanzensembles (Städtische Bühnen Osnabrück, Staatstheater Oldenburg, Theater Luzern) sowie an die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a.M. 2011/12 realisierte sie verschiedene Produktionen im Rahmen der Veranstaltungsreihe LINIE 08 von TanzNetz Dresden in HELLERAU-Europäischen Zentrum der Künste Dresden. Mit Bruno Genty verbindet sie eine von José Limón sowie physischer Dynamik und analytischer Musikalität inspirierte Arbeitsweise.

Jean Masse studierte in Paris Zeitgenössischen Tanz bei Karin Waehner. Er war Mitglied ihrer Tanzkompagnie und später auch ihr Assistent. 1974 wurde er beim Concours chorégraphique international de Bagnolet ausgezeichnet und gründete die Kompagnie Epiphane, für die er seitdem choreografiert. Gleichzeitig baute er zusammen mit dem Psychomotoriker Jacques Garros das Centre Lafaurie-Monbadon auf (seit 1977 in Castets-et-Castillon, in der Nähe von Bordeaux). Dieser Ausbildungs- und Residenzort für zeitgenössischen Tanz, in dem sich Professionelle und Amateure begegnen, entwickelte sich in der Region Aquitanien mit Verbindungen nach Südeuropa und bis Beirut (bis 2009). Von 1981–1984 war er am Roy Art Theatre beteiligt und lehrte von 1993–1995 beim Ballet Atlantique (BARC, Leitung: Régine Chopinot). Für BARC war er sowohl als Berater als auch 1995–1996 als Tanzpädagoge für die angegliederte Berufsausbildung tätig. Seit seiner staatlichen Anerkennung als diplomierter Tanzpädagoge (1992) ist Jean Masse für den zeitgenössischen Tanz auch auf dem Gebiet von „Tanz in Schulen“ der nationale Experte für die Region Aquitanien. Darüber hinaus ist er pädagogischer und künstlerischer Co-Direktor des Centre Lafaurie Monbadon, das mit den Prinzipien des zeitgenössischen Tanzes nach Karin Waehner sowie der Körperarbeit nach Hilde Peerboom (eine Schülerin von Rosalia Chladek und Partnerin von Yvonne Berge) arbeitet. In den Kursen wurde eine große Anzahl von Tänzer_innen unterrichtet, die für den zeitgenössischen Tanz in Frankreich bedeutsam wurden. Andere Tänzer_innen wurden in ihrer Grundausbildung unterstützt und sind heute anerkannte zeitgenössische Choreografen und Tanzpädagogen in Frankreich. Jean Masse ist Gründungs- und Vorstandsmitglied der Gesellschaft Karin Waehner - Les Cahiers de l'Oiseau. Als Kenner und offizieller Vermittler der Arbeitstechniken von Waehner ist er seit 1999 deren treuhänderischer Verwalter. Dadurch ermöglichte er beispielsweise drei Notationsprojekte: die Benesh-Notation des Solos L'Oiseau qui n'existe pas/ Der Vogel, der nicht mehr fliegt durch Véronique Gemin-Bataille (2006) sowie die LabanNotationen von Teilen der Choreografie Les Marches/ Die Stufen durch Elena Bertuzzi (2010) und des Trios aus Sehnsucht durch Christine Caradec (2012).

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Tim Rubidge studierte Tanz und Tanzpädagogik bei Sigurd Leeder in Herisau (CH). Seit 1975 erarbeitete und entwickelte er viele Werke im modernen bzw. zeitgenössischen Tanz. Mit diesen Solo- und kleinen Ensemble-Choreografien ist er nicht nur in Städten und Gemeinden Großbritanniens, sondern international in Europa, den USA und Südafrika aufgetreten. Parallel dazu entwickelte und leitete er Kooperations- und Partizipationsprojekte sowie Residenzen in verschiedenen Kultureinrichtungen und auch in nichtkünstlerischen Settings, wobei mittels Tanz Themen wie Identität und Beziehungen mit anderen thematisiert wurden. In den letzten Jahren hatte sich seine Arbeit auf Site-Spezific-Choreografien konzentriert, die durch städtische und ländliche Orte und ebenso durch ihre spezifische physische als auch soziale Umgebungen inspiriert waren. Mittels eines fantasievollen Prozesses erkundete und realisierte er dabei Performances, die im Tanz sowohl den Dialog zwischen den Tänzern, als auch die Identität des Platzes sowie die physischen und sensorischen Erfahrungen verbunden haben. Tim Rubidge war an kulturellen Austauschprogrammen beteiligt und hat an verschiedenen Universitäten unterrichtet. Beispielsweise war er von 2008– 2011 an der Northumbria University in Newcastle upon Tyne (UK) Gastprofessor für Choreografie. 2015/2016 hat er das Forschungsprojekt Make/ Shift konzipiert und geleitet, das der Frage nachging, wie sich zeitgenössische choreografische Praxis mit der Flüchtlingserfahrung der Vertreibung und Migration beschäftigen könnte, vermittelt über die Ungleichheit des Kontextes von verschiedenen Teilnehmergruppen. 2016/17 entwickelte er für sich die Hope Etudes, das sind vier einander verbundene Miniatur-Choreografien, die aufgeführt werden, um eine Art „Hoffnungslandschaft” zu schaffen; die Inspiration dazu waren Solo-Dialoge mit der Vergangenheit und Gegenwart. Im Laufe der Jahre hat Tim Rubidge viele Subventionen und Preise für seine Arbeit erhalten.

Kirsten Seeligmüller ist Mitbegründerin und Mit-Geschäftsführerin des DOCK 11 & EDEN***** GmbH (gemeinnützig) in Berlin. Sie hat eine Graphiker- und Schriftsetzer-Ausbildung absolviert und eine Tanzausbildung an der Erika Klütz Schule Hamburg. 1994 gründete sie in Berlin zusammen mit Wibke Janssen das Kulturzentrum DOCK 11, das gleichzeitig sowohl eine Schule als auch ein choreografisches Zentrum und ein Aufführungs- und Probenort ist. 2004 wurde mit EDEN***** ein zweiter Standort aufgebaut. Zudem war sie in der Koalition der freien Szene Berlin aktiv. 2006 initiierte sie zusammen mit Anja Weber das Recherche-Projekt Im Prinzip Tanztechnik? – Zeitgenössische Tanztechniken, Tanzmethoden, Tanzsysteme im Vergleich für das Berliner Hochschulübergreifende Zentrum Tanz. Sie leitete u.a. 2015 das Projekt POST – Ausdruckstanz in Israel, Deutschland und im Butoh. Beim gtf-Workshop Festival wird sie den Spuren ihrer eigenen Tanzbiografie nachgehen und mit den Ergebnissen ihrer tänzerischen Recherchen zum Modernen Tanz verknüpfen.

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Biografische Notizen zu den thematisierten „Grenzgängern“ und „Brückenbauern“ des modern-zeitgenössischen Tanzes in Europa Rosalia Chladek (1905-1995) Die Tänzerin, Choreografin und Tanzpädagogin wurde 1905 in Brünn (Brno, heute Tschechoslowakei) geboren, wo sie in ihrer Jugend bei Margarete Kalab eine rhythmisch-musikalische Basiserziehung erhielt (1918-1921). Anschließend studierte sie drei Jahre an der Schule für Rhythmus, Musik und Körperbildung Hellerau bei Dresden. Nach ihrem Studienabschluss (Lehrdiplom für Körperbildung) wurde sie 1922 Mitglied in der Tanzgruppe Kratina der Schule Hellerau, in der sie einige Rollen kreierte (z.B. in Kratinas Choreografie Der holzgeschnitzte Prinz oder in Der Mensch und seine Sehnsucht). Im darauffolgenden Jahr hatte sie außerdem in Dresden ihr Debüt als Solotänzerin. 1924 bis 1928 lehrte sie an der Schule Hellerau und nach deren Übersiedlung nach Österreich (1925) in die Nähe von Wien, an der Schule Hellerau-Laxenburg; 1926 trat sie in Wien mit Suite im alten Stil auch als Solotänzerin auf. 1928 erhielt sie eine Einladung zum 2. Deutschen Tänzerkongress in Essen und trat erstmals in Berlin auf. Anschließend nahm Chladek das Angebot zur Leitung der Ausbildungsstätte für Gymnastik und Tanz am Konservatorium Basel (Schweiz) an und begann, ausgehend von den Grundlagen der gymnastischen Körperschulung ein eigenes System der modernen tänzerischen Erziehung zu entwickeln, dessen Bewegungen aus den Gesetzmäßigkeiten des Körpers abgeleitet werden. Gleichzeitig leitete sie die Tanzgruppe des Basler Konservatoriums und war als Choreografin am Stadttheater Basel tätig, wo sie u.a. die Stücke Die Geschichte vom Soldaten, Petruschka, Don Juan und Pulcinella inszenierte. Mit ihrer Basler Tanzgruppe nahm sie am 3. Deutschen Tänzerkongress in München teil und danach wurden in Wien Elemente-Zyklus, Rhythmen-Zyklus und Figuren aus Petruschka aufgeführt. Von 1930 bis zur Schließung der Schule 1938 durch die Nationalsozialisten war Rosalia Chladek die künstlerische Leiterin der

Tanzgruppe und sie hatte an der Schule Hellerau-Laxenburg auch die gymnastische und tänzerische Ausbildung geleitet. 1931 war sie bei den Wiener Festwochen beteiligt, die unter dem Motto Festliche Tanzsuite standen. 1932 gewann sie in Paris mit Les Contrastes den 2. Preis beim Großen Internationalen Wettbewerb für Choreografie und 1933 ebenfalls den 2. Preis beim Ersten Internationalen Wettbewerb für Künstlerischen Tanz in Warschau. Bis 1952 wirkte sie regelmäßig bei den Festspielen in Italien mit und absolvierte Gastspiele in Paris. 1934 choreografierte und tanzte Chladek die Hauptrollen in Marienleben und Jeanne d'Arc. Zum zehnjährigen Bestehen der Schule Hellerau-Laxenburg, deren Ausbildungskurse damals von einer internationalen Schülerschaft besucht wurden, schuf Chladek 1935 die Choreografie La Danza. Ein Jahr später wirkte sie in Totengeleite mit und erarbeitete die Mythologische Suite mit Narcissus, Pythia und Waffentanz der Penthesilea. Nach Kriegsende ergänzte sie diesen Zyklus noch mit den Stücken „Daphne“ und „Agaue“ (1946). Mit ihrer Tanzgruppe absolvierte Chladek Gastspiele in Paris und Rom, 1938 fand noch eine Tournee durch Schweden, Estland, Lettland, Polen und die Niederlande statt, in der u.a. die Erzengel-Suite zur Aufführung kam, 1940 hatte sie ein Gastspiel in Rom und ging mit Alexander Swaine auf eine Tournee durch Indonesien. Im selben Jahr führte Chladek mit Orpheus und Eurydike (1940) erstmals Regie an der Wiener Staatsoper und wurde als Choreografin und Solotänzerin an die Deutsche Tanzbühne in Berlin verpflichtet. Sie leitete dort zwei Jahre die Moderne Tanzausbildung an den Deutschen Meisterstätten für Tanz. Nach ihrer Rückkehr nach Wien übernahm sie die Leitung der Ausbildungsstätte für Bühne und Lehrfach am Konservatorium der Stadt Wien (1942 bis 1952). In dieser Zeit entstanden u.a. Ein romantisches Liebesschicksal – Die Kameliendame (1943) und mit Echo-Gesänge (1946) gesprochene und getanzte Lyrik. Es folgten weitere Arbeiten, wie z.B. die choreografische Gestaltung des Jedermann (1947) bei den Salzburger Festspielen. Ab 1948 internationale Gastlehrertätigkeit (u.a. Internationale Sommerkurse des Schweizer Berufsverbandes für Tanz und Gymnastik sowie zahlreiche Gastkurse im gesamten europäischen Raum. 1949 choreografierte sie Die vier Temperamente, Pantea sowie Peter und der Wolf (Regie: Gustav Manker) und 1951

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gab sie ein Gastspiel in New York sowie Auftritte der Tanzgruppe Rosalia Chladek in Wien, u.a. mit Afro-amerikanischer Lyrik und From Morning to Midnight sowie Tourneen durch Italien, Deutschland und die Schweiz. 1952 wird Rosalia Chladek schließlich zum Vorstand der Abteilung für künstlerischen Tanz an der Akademie für Musik und Darstellende Kunst in Wien berufen, 1967 wird sie zur Hochschulprofessorin ernannt und von 1962 bis 1977 leitete sie den eigenständigen Hochschullehrgang „Moderne tänzerische Erziehung und Tanzpädagogik – System Rosalia Chladek“. 1972 erfolgte die Gründung der Internationalen Gesellschaft Rosalia Chladek (IGRC) mit Arbeitsgemeinschaften, die in Österreich, Deutschland, in der Schweiz, Italien und Frankreich aktiv sind und in Kursen die von ihr entwickelte Technik und ihre Lehrweise verbreiten. Rosalia Chladek hatte als herausragende Ausdruckstänzerin und Pädagogin ein immenses choreografisches Werk geschaffen, nicht nur im Bereich des künstlerischen Bühnentanzes, sondern auch im Rahmen von Schauspiel, Oper, Operette, Film und Fernsehen. Für ihr Lebenswerk wurde Rosalia Chladek u.a. 1960 mit dem Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse ausgezeichnet und 1971 erhielt sie die Goldene Ehrenmedaille der Stadt Wien 1971, sie war Ehrenmitglied der Deutschen Akademie des Tanzes und außerdem wurde ihr der Eschilo d’Oro Italiens verliehen,

Sigurd Leeder (1902-1981) Bereits als Student an der Hamburger Hochschule der Bildenden Künste und war Sigurd Leeder - ohne eine professionelle Ausbildung erhalten zu haben - als Schauspieler, Tänzer sowie Kostüm- und Bühnenbildner an den Hamburger Kammerspielen engagiert. Sein erstes Solo Tanz ohne Musik schuf er 1920, seit 1921 kreierte er in Hamburg auch Tanzstücke für seine Tanzgruppe und gab Solo-Tanzabende. 1923 tanzte er bei einer Tournee mit der Münchner Tanzgruppe von Jutta von Collande. 1924 begründete er mit Kurt Jooss das Ensemble Neue Tanzbühne am Theater Münster und war bis 1947 engster Mitarbeiter und Partner von Kurt Jooss, mit dem er gemeinsame Tanzabende gestaltete (u.a. Zwei Tänzer). Ab 1927 bauten

Kurt Jooss und Sigurd Leeder zusammen in Essen die Folkwang-Schule und das Folkwang-Tanz-Theater-Studio auf, welches später als Ballets Jooss weltweit tourte und für das Leeder als Tänzer, Ballettmeister und Kostümbildner arbeitete. Als Kurt Jooss 1933 mit seinem gesamten Ensemble nach England emigrierte, folgte ihm Sigurd Leeder. Ab 1934 führten Jooss und Leeder in Dartington Hall (GB) gemeinsam die Jooss-Leeder-School of Dance. Nach Auflösung der Ballets Jooss und der gemeinsam geleiteten Ausbildungsstätte in Dartington gründete Sigurd Leeder 1947 in London eine eigene Schule mit Studiogruppe, die in England eine der renommiertesten Ausbildungsstätten für Modernen Tanz war. Er unterrichtete eine internationale Schülerschaft und wurde als ein herausragender, geradezu begnadeter Tanzpädagoge geschätzt, der international als Referent zu Gastkursen eingeladen wurde, u.a. zu den Sommerkursen des Schweizer Tanzund Gymnastiklehrerverbandes, wie auch Mary Wigman, Rosalia Chladek, Harald Kreutzberg etc. Seine Unterrichtsmethodik zur Vermittlung der tanztechnischen Grundlagen des Modernen Tanzes baut sich in Spiralform vom Einfachen zum Komplexen, vom Kleinen zum Großen auf und er griff außerdem auf die Lehren Labans zurück. 1959 übergab er die Leitung seiner Schule an seine Assistentinnen June Kemp und Simone Michelle und nahm einen Ruf als Gastprofessor an die Universität von Santiago de Chile an. Von 1959 bis 1964 leitete Sigurd Leeder die Tanzabteilung der Universität von Santiago de Chile. Die Londoner Schule musste 1965 aufgrund der in Großbritannien starken Hegemonie des Klassischen Tanzes und der Konkurrenz von Schulen, welche den aus USA kommenden Modern Dance unterrichteten, endgültig schließen. Sigurd Leeder lehrte von 1964 bis zu seinem Tod 1981 mit Grete Müller an der Sigurd Leeder School of Dance in Herisau und bildete eine beträchtliche Zahl angehender Tanzschaffenden und Tanzpädagog_innen aus, die nicht nur aus der Schweiz kamen, sondern auch von Nachbarländern. Dadurch hat Sigurd Leeder auch maßgeblichen Anteil an der Entwicklung der Freien Tanzszene und des zeitgenössischen Tanztheaters genommen. Leeder konnte Tanzbewegungen präzise und differenziert analysieren und er motivierte die Tanzstudierenden, auch in den zu Trainingszwecken komponierten Tanzetüden ihren eigenen persönlichen

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Bewegungsausdruck zu suchen. Sein Lehrkonzept entwickelte er auf der Basis des Laban-Systems, auch wenn er selbst nicht zu dessen unmittelbarem Schülerkreis gehörte. Die von ihm geschaffenen grundlegenden Etüden in Tanztechnik, Eukinetik und Choreutik hat er mit seinen Studierenden in der Labanotation schriftlich aufgezeichnet. Sigurd Leeder wurde 1959 in den International Council of Kinetography Laban (ICKL) berufen und gab wichtige Impulse für die Weiterentwicklung der Kinetografie Laban. 1979 wurde er zum Vorsitzenden des ICKL gewählt.

Erika Klütz (1908-1905) Erika Klütz arbeitete als klassisch ausgebildete Tänzerin in Schwerin und Rostock. Ihr Interesse für den Modernen Tanz führte sie auf andere Wege: „Nur der moderne Tanz mit seiner aus den natürlichen Bewegungsmöglichkeiten entwickelten Technik“ ist imstande, „das veränderte Lebens- und Zeitgefühl der zwanziger Jahre aufzugreifen und zu gestalten.“ Sie gab in Rostock ihre Stellung als Solotänzerin auf und begann ihr Studium 1929 in der Wigman Schule Berlin bei Margarethe Wallmann und später in Dresden, wo sie auch ihre Abschlussprüfung ablegte. Nach Abschluss der Tanzpädagogik-Ausbildung wurde Erika Klütz zusammen mit ihrer Kollegin Gisela Sonntag von Mary Wigman als Assistentinnen engagiert. An der WigmanSchule unterrichtete Erika Klütz die Anfängerklasse der Tanzausbildung und die Kinderklassen. 1934 wurde sie Mitglied der Mary Wigman Tanzgruppe, die auf ausgedehnten Gastspielreisen in ganz Europa auftrat. Nach Auflösung der Tanzgruppe von Mary Wigman lehrte sie an den Meisterstätten für Tanz in Berlin (1936 bis 1939). Auf diese Weise arbeitete sie mit Harald Kreutzberg, Max Terpis, Tatjana Gsovsky, Tamara Rauser, Marianne Vogelsang und Mary Wigman zusammen. Sie übernahm den Unterricht von Mary Wigman, wenn diese nicht in Berlin war und trat als Solotänzerin in der Freien Volksbühne Berlin auf. Während der Kriegsjahre wurde Erika Klütz Ballettmeisterin und erste Solotänzerin am Staatstheater Schwerin und leitete die Abteilung Tanz am Mecklenburgischen Konservatorium. Mit einem von der englischen Militär-

behörde organisierten Künstlertransport kam Erika Klütz nach Hamburg und wurde zunächst Ballettmeisterin und Leiterin der Kinder- und Elevenausbildung an der Hamburgischen Staatsoper. Nach der Rückkehr des in Gefangenschaft geratenen Ballettmeisters Max Aust eröffnete Erika Klütz in Hamburg ihre eigene Schule für Theatertanz und Tanzpädagogik und entwickelte auf der Grundlage der Zusammenarbeit mit Mary Wigman im Laufe ihrer jahrzehntelangen Unterrichtspraxis ihren ganz eigenen Stil und eine offene Haltung, die sie fast 60 Jahre an Generationen von Tänzer_innen weitergegeben hat.

Marianne Vogelsang (1912-1973) In ihrer Heimatstadt Dresden besuchte Marianne Vogelsang das MädchenGymnasium und gehörte danach von 1929 bis1933 zum Kreis von Gret Paluccas ersten Schülerinnen. Ihr Diplom für Tanz und Tanzpädagogik erhielt sie am 31. Mai 1933. Zudem gehörte sie bis 1934 neben Herta Fischer und Charlotte Hölzner dem bekannten Palucca-Trio an, die u.a. mit dem Arabesque-Stück (nach Cassado) auftraten oder mit Grazioso, einer Volksmusikadaption. Des Weiteren tanzte Marianne Vogelsang mit Palucca auch in Cantion (Musik: Granados). 1935 gab sie dann ihren ersten Tanzabend und ging zu Rudolf von Laban an die Deutsche Tanzbühne und unterrichtete an dieser Einrichtung zur kostenlosen Weiterbildung von arbeitslosen Tänzer_innen Modernen Tanz. 1936 ging sie als Lehrerin an die von Laban mitgegründeten Meisterstätten für Tanz in Berlin, und von 1938 bis 1940 lehrte sie an der Folkwang-Schule in Essen. Während des Krieges kehrte sie nach Berlin zurück und unterrichtete dort zwei Jahre an mehreren klassischen Tanzschulen, u.a. bei Tatjana Gsovsky und Tamara Rauser. Nach dem Krieg war Marianne Vogelsang in Rostock als Leiterin der Arbeitsgruppe Tanz der Hochschule für Musik engagiert. An der der Rostocker Musikhochschule unterrichtete sie bis 1948. Sie trat weiterhin als Tänzerin auf. Sie tanzte nach der Musik von Corelli, Bach, Rameau, Chopin und Skrjabin, ferner gibt es Verweise auf einen Zyklus mit dem Titel Ahnung - Ferne – Zwiespalt – Weg. Ebenso nahm sie Musik von Ullrich Keßler (z.B. beim

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Tanzzyklus Die sieben Todsünden) und ein breites Spektrum europäischer Musik und Volksweisen als Vorlage für ihre Tänze. 1948 übernahm sie eine eigene Ausbildungsschule in Berlin und war zusätzlich bis 1950 Mitarbeiterin des Mary Wigman-Studios. Als ihre eigene Schule in Weißensee später mit der Staatlichen Fachschule für künstlerischen Tanz Berlin vereinigt wurde, leitete sie dort von 1951 bis zu deren Auflösung 1958 die Abteilung für Modernen Tanz. Danach gastierte sie an verschiedenen Berlinern Theatern und beim Deutschen Fernsehfunk, choreografierte Iphigenie in Aulis an der Deutschen Staatsoper „Unter den Linden“ und tanzte die Rolle der Marte Rull in einem Ballett zu Kleists Der zerbrochene Krug (Ch.: Anni Peterka). Ferner wirkte sie in einer berühmten Faust-Inszenierung von Wolfgang Langhoff mit, in der Ernst Busch den Mephisto spielte. Nach ihrer pädagogischen Tätigkeit am Institut für Bühnentanz in Köln (1963-1965) war sie ab 1965 Dozentin an Volkshochschulen verschiedener West-Berliner Bezirke und als freie Mitarbeiterin an der Musikhochschule Hannover aktiv. Ihre letzten Choreografien schuf sie 1972 und 1973 mit den Fünf Präludien aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach, die sie nur wenige Wochen vor ihrem Tod in Dresden an Manfred Schnelle übertrug. Sie sind ein beispielhaftes Zeugnis, in welchem Tanzverständnis sie arbeitete und wie sie Tänzer, Bewegung, Raum und Musik zu einem Gesamtwerk gestalten vermochte. In der von ihr verantworteten Tanzausbildung gehörten die Einführung in die Musik und die Vermittlung von Technik und tänzerischer Gestaltung zusammen, entsprechend dem Verständnis einer praktischen Musikerziehung, bei der Formenlehre, Stil, rhythmische Gegebenheiten und motivische Charakteristika vermittelt wurden. Ihr Hauptanliegen war es, dass die Tänzer_innen selbst zur Gestaltung ihrer Tänze finden. Mit dieser Tanzauffassung entstehen die Technik und die künstlerische Form aus der Idee des Tanzes. Marianne Vogelsang griff in ihrem Unterricht auch Beispiele aus dem Historischen Tanz auf. Ihre Studierenden erlernten Renaissancetänze oder erarbeiteten alte Musik in freier Gestaltung und am Beispiel von Béla Bartók erfuhren sie mögliche Bezüge zur zeitgenössischen

Musik. Tänze zu Musiken von Brahms und Robert Schumann fanden eine Ergänzung durch eine Bezugnahme zur Bildenden Kunst, beispielsweise zu Barlach. Für eine Filmproduktion des Fernsehens hatte sie mit Tänzern Barlach-Gestalten interpretiert.

Karin Waehner (1926-1999) Karin Waehner gilt als eine der künstlerischen Erben der Choreografin, Pädagogin und Tänzerin Mary Wigman (1886-1973). Sie wurde in Frankreich eine wichtige Wegbereiterin für den modernen und zeitgenössischen Tanz. Insbesondere Waehners tanzpädagogischer Ansatz bezieht sich auf die Lehrweise von Mary Wigman: "Was sie [Wigman] lehrte, war ein Schlüssel", so meinte Waehner. 1945 kam die junge Frau zusammen mit ihrer Mutter, die selbst Tänzerin und Tanzpädagogin war und nach den Lehren von Mensendieck, Dalcroze/ Chladek und Mary Wigman unterrichtete, als Sudetendeutsche nach Dresden. Dort begann sie ihre Körper- und Bewegungsschulung an der Menzler-Marsmann-Schule Hellerau bei Dresden, strebte aber stärker nach einem eigenen expressiven Ausdruck. 1946, nach Kriegsende fand sie so den Weg zu Mary Wigman nach Leipzig in deren private Tanzschule, wo sie später auch Anfänger-Klassen unterrichtete und in Tanzgruppe tanzte. 1949 erhielt sie von Mary Wigman ihr Diplom für Pädagogik, Choreografie und Bühnentanz. Nach einem Jahresengagement am Theater Gießen folgte sie 1950 zusammen mit ihrer Mutter ihrem Bruder aus finanziellen Gründen nach Buenos Aires. Dort tanzte und unterrichtete sie in der Tanzschule von Otto Werberg, einem ehemaligen Tänzer von Margarethe Wallmann und Kurt Jooss. In den 1950er Jahren kehrte sie nach Europa zurück und zog nach Paris. Hier konnte sie ihre ganze künstlerische Kraft entfalten, besuchte aber, soweit es ihr möglich war, bei Wigman jeden Sommerkurs, "um mir dort wieder ein bisschen Kraft zu holen für das Ausland" (nach einem Interview mit Patricia Stöckemann 1990). Dem Rat von Marcel Marceau folgend, studierte sie zunächst bei Etienne Decroux Pantomime, verließ aber bald wieder diese Ausrichtung des künstlerischen Körperausdrucks.

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Mitte der 1950er Jahre begann die Zusammenarbeit mit weiteren Choreografen, Tänzern und Pädagogen des Modernen Tanzes, die damals in Frankreich zur bestimmenden Tanz-Avantgarde gehörten: Jacqueline Robinson, Françoise und Dominique Dupuy sowie Jerome Andrews. 1959 gründete sie ihre eigene Tanzgruppe Les ballets contemporains Karin Waehner, welche über mehrere Jahre tourte. Zudem gelang es ihr, in den 1950er Jahren erfolgreich den zeitgenössischen Tanz in die Ausbildung von Gymnastiklehrer_innen an der damaligen Sporthochschule (ENSEP, École supérieure d’éducation physique) in Paris zu implementieren und gab in der Folgezeit an vielen weiteren französischen Sportinstituten Kurse zu ihrer Methode. Auf ihre Anregung hin erweiterte 1960 die traditionsreiche private Musikhochschule Schola Cantorum in Paris (heute: Hochschule für Musik, Tanz und Theater) ihre bisherige ballettzentrierte Tanzausbildung um eine Abteilung für Modernen Tanz, deren Leitung sie übernahm. Sie unterrichtete nach ihrer eigenen, mehr und mehr sich entwickelnden Philosophie und innovativen Lehrweise. In ihrem Unterricht wurden beispielsweise auch Entwicklungen in anderen Künsten (Musik, Bildende Künste, Dichtung) interpretiert und ebenso Aspekte der Philosophie, der Stimme oder des schöpferischen Handelns thematisiert. Dieser stilübergreifend kombinierende eklektizistische Ansatz war in der in der damaligen Ausbildungspraxis innovativ und deshalb kamen viele Tänzer und Tänzerinnen zu ihr, um den Reichtum eines Tanzunterrichts zu erfahren, bei dem sich die Entwicklung von tänzerischer Technik und Kreativität miteinander vermischten. So studierten bei ihr u.a. Jean Masse, Kiliana Cremona, Jean Pomarès, Pierre Doussaint, Michèle Mengual, Odile Cougoule, Jean Christophe Bleton, Angelin Preljocai, Marie Devillers und Bruno Genty. Von 1971 bis 1978 unterrichtete Karin Waehner im Centre d’ Action Culturelle (CAC) an dessen Bühne „Les Gémeaux de Sceaux“ Modernen Tanz, danach lehrte sie am Konservatorium von Bagnolet. Neben ihrer Lehrtätigkeit war Waehner wieder stärker choreografisch aktiv. Anlässlich der Ausstellung Paris-Berlin (1900–1933) im Centre Pompidou in Paris wurde sie 1979 beauftragt, für einen Film über den deutschen Expressionismus (Regie: Pierre Defonds) sechs Choreografien zu schaffen. Im Zuge dieser Arbeit reflektierte sie ihre

eigenen expressionistischen Wurzeln, die dann in ihren späteren Tanzstücken wieder deutlicher erkennbar wurden. 1882 wird sie zur Professorin für Modernen bzw. zeitgenössischen Tanz an das Konservatorium für Musik und Tanz La Rochelle berufen. Damals war es in Frankreich das erste Konservatorium, das einen eigenen Lehrstuhl für modern-zeitgenössischen Tanz eingerichtet hatte. Nach fünf Jahren kehrte sie nach Paris zurück und war fortan vorwiegend als Gastlehrerin tätig. Sie gab Kurse am von ihr 1964 mitgegründeten Centre international de la Danse (CID) in Paris, arbeitete mit der Kompagnie von Joseph Russillo (Toulouse) und unterrichtete im professionellen Tanzausbildungszentrum von Walter Nicks (Poitiers) sowie am Centre de Danse Contemporaine et Afro-Américaine „Free Song“ in Paris. Außerdem lehrte sie als Gastdozentin an verschiedenen Universitäten, wie z.B. an der Tanzhochschule Turin sowie an der Universität Montpellier, Universität Bremen und an der Universität Strasbourg. Im Rahmen eines tanzwissenschaftlichen Kongresses an der Pariser Sorbonne (1990) referierte sie über „die Lehre eines evolutionären, wandlungsfähigen Tanzes“ und erläuterte dort ihr Tanzverständnis und ihren tanzkünstlerischpädagogischen Ansatz. Darüber hinaus leitete sie seit 1981 in Zusammenarbeit mit dem Psychomotoriker Jacques Garros (Körperarbeit) und dem Tänzer und Choreografen Jean Masse (Zeitgenössischer Tanz) regelmäßig bis zu ihrem Todesjahr 1999 Sommerkurse am Centre Laufaurie-Montadon in Castillon de Castets im Département Gironde. Diese wurden von vielen Tanzkünstlerinnen und -künstlern besucht, die zur Entwicklung des zeitgenössischen Tanzes maßgeblich beigetragen haben. In den 1990er Jahren war sie zusammen mit Françoise und Dominique Dupuy am Ausbildungsinstitut für Tanz- und Musikpädagogik (Institut de formation des enseignants de la danse et de la musique, IFEDEM) in Paris im Rahmen der neu eingeführten staatlichen Diplom-Ausbildung für Zeitgenössische Tanzpädagogik engagiert und war mit Lehr- und Konzeptionsaufgaben betraut. Darüber hinaus wirkte sie am Aufbau der von Dominique Dupuy geleiteten Tanzabteilung des Instituts für Musikalische und Choreographische Pädagogik (IPMC) mit. Diese Einrichtung war mit der Archivierung, Dokumentation, Forschung und Weiterbil-

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dung auf dem Gebiet der Zeitgenössischen Tanzkunst betraut und veranstaltete internationale Tagungen. Außerdem war sie noch an zwei der dezentralen Nationalen Choreografischen Zentren (CCN) tätig: 1992 auf Einladung von Dominique Bagouet am CCN von Montpellier und 1996 am CCN von La Rochelle sowie beim Ballet Atlantique Régine Chopinot, BARC) im Rahmen eines beruflichen Einführungsseminars für Tänzer. 1993 veröffentlicht Karin Waehner (zusammen mit Odile Cougoule) ihren „choreografischen Werkzeug-Kasten“ Outillage chorégraphique (Paris: Vigot). In diesem Lehrbuch fasste sie ihren Ansatz zusammen und erläuterte die Strategien und die von ihr genutzten „handwerklichen“ Mittel dieses Schaffensprozesses. Einige beispielhafte Choreografien von Karin Waehner sind l'oiseau qui n'existe pas/ der Vogel, der nicht existiert (1963), Poème/ Gedicht (1965), Labyrinthe (1972), Les marches/ die Treppen (1980), Sehnsucht (1982), exode/ Exodus (1988) und celui sans nom/ Namenlos (1990). 1999 wurde die Association Karin Waehner Les Cahiers de l'Oiseau gegründet, damit das umfangreiche Schaffenswerk der Künstlerin und Pädagogin im kollektiv-kommunikativen und kulturellen Gedächtnis von einer institutionellen Einrichtung heraus gesichert, gepflegt und weitergegeben werden kann.

Literatur Biographie Erika Klütz. Zugriff unter http://www.kluetzschule.de/uber-uns/ biographie Fleischle-Braun, Claudia (2017): Das tanzpädagogische Konzept von Sigurd Leeder und seine transnationale Verbreitung. In: Tanzwissenschaft Nr. 12. Digitale Zeitschrift für Tanzwissenschaft, Tanzgeschichte und Tanzforschung. Zugriff unter https://www.sk-kultur.de/tanz/tw/ tw12.pdf Fleischle-Braun, Claudia (2018): Zur Verbreitung des Modernen Tanzes und sein Einfluss auf die Tanzpädagogik in Frankreich. In: Andreas Luh/ Norbert Gissel (Hg.) Neue Forschung zur Kulturgeschichte des Sports (i. Dr.). Hamburg: Feldhaus. Giel, Ingrid/ Lajko, Eva/ Schebrak-Carcich (2017): Das System und die Lehr weise von Rosalia Chladek. In: Claudia Fleischle-Braun/ Krystyna Obermaier/ Denise Temme (Hg.): Zum immateriellen Kulturerbe des Modernen Tanzes (S. 141-168). Bielefeld: transcript. Oberzaucher-Schüller, Gunhild/ Giel, Ingrid (2002): Rosalia Chladek. Klassikerin des bewegten Ausdrucks. München: Kieser. Robinson, Jacqueline (1990): L’aventure de la danse moderne en France (1920-1970). Paris: Bougé. Schnelle, Manfred: Marianne Vogelsang. In: tanz (1990/ Heft 10). Zugriff unter https://www.der-theaterverlag.de/tanz/.../mariannevogelsang-marianne-vogelsang/ Waehner, Karin (1993): Outillage Chorégraphique. Manuel de composition. Paris: Vigot.

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Exposer / performer l’archive au CN D

Karin Waehner, une artiste migrante


Soirée conçue par Sylviane Pagès, Mélanie Papin et Guillaume Sintès dans le cadre des activités du Groupe de recherche : Histoire contemporaine du champ chorégraphique en France / Musidanse, université Paris 8 Montage d’archives Stéphane Caroff Avec le soutien du Labex Arts-H2H et de Musidanse – équipe Discours et Pratiques en danse – université Paris 8 En partenariat avec la Bibliothèque nationale de France – département des Arts du spectacle Avec le concours du CN D, de l’Ina et de la Maison de la danse de Lyon et la collaboration du Ballet Théâtre Épiphane, de la compagnie Gramma, de l’Akademie der Künste de Berlin et de l’université de Linz (Autriche) Ce projet bénéficie d’une aide de l’Agence nationale de la recherche au titre du programme Investissements d’avenir (ANR-10-LABX-80-01). Avec l’aimable autorisation de Jean Masse et le concours de Laurent Barré, Marion Bastien, Aurélie Berland, Olivier Bioret, Jean-Christophe Bleton, Christine Caradec, Stéphane Caroff, Pauline Cellard, Olivier Chervin, Odile Cougoule, Mireille Delsout-Drancourt, Céline de Dianous, Stephan Dörschel, Barbara Falco, Josephine Ulrike Fenger, Véronique Gémin-Bataille, Bruno Genty, Émilie Georges, Corinne Gibello-Bernette, Dominique Hervieu, Joël Huthwohl, Isabelle Launay, Wilson Le Personnic, Heike Helen Meier, Michèle Mengual, Mathilde Monnier, Valérie Nonnenmacher, Fabien Plasson, Géraldine Poels, Laurent Sebillotte Le projet « Karin Waehner, Exposer / performer l’archive » se poursuit avec le colloque international à la Bibliothèque nationale de France – site Tolbiac – Galerie Jules Verne, le 16.12.2017.


Karin Waehner, une artiste migrante 15.12.2017 « Trios de femmes » ou « Le trio de Brecht » extrait de Sehnsucht (1981)

Chorégraphie Karin Waehner Montage musical d’après les œuvres de György Ligeti, Gustav Mahler Chansons et poèmes Bertolt Brecht, Hanns Eisler Interprétation Lola Atger, Aurélie Berland, Claire Malchrowicz Travail sonore Jean-Luc Télesfort Proposition d’Olivier Bioret, d’après la partition Laban réalisée par Christine Caradec, accessible dans le fonds Aide à la recherche et au patrimoine en danse du CN D.

Remonter une danse taillée sur mesure pour la personnalité des interprètes originaux tendait deux pièges : celui de l’imitation et celui de l’assèchement. Nous avons donc joué le jeu de remonter de la trace du mouvement vers l’intention, à rebours des processus de création initiaux, en tentant, au cas par cas, de trouver les réponses les plus pertinentes aux questions soulevées par ces traces. Travail souvent intuitif, presque artisanal, il s’agissait de trouver parmi les nombreuses informations d’une très riche partition, celles qui résonnaient pour le reconstructeur et les danseuses, qui cristallisent l’interprétation du mouvement.

Celui sans nom (1990) Chorégraphie Karin Waehner Musique originale Thierry Estival Interprétation Bruno Genty, Annette Lopez Recréation 2017 Bruno Genty, Annette Lopez, Michael Gross dans le cadre du projet Karin Waehner (1926-1999) – Eigensinnig in Zwischenäumen porté par Heide Lazarus, soutenu par le programme allemand Tanzfonds Erbe/Dance Heritage Fund

Solo de Karin Waehner créé pour Bruno Genty en 1990. Retour de Karin Waehner dans une Allemagne déchirée, séparée par le Mur. À la veille de la Révolution d’octobre, Karin Waehner et Bruno Genty sont assis, ce soir du 6 octobre 1986, sur un banc de l’Alexanderplatz à Berlin. Ils attendent le signal émis depuis les


fenêtres d’une maison de l’autre côté du mur : une lumière qui s’allume puis s’éteint. Puis, ils attendent celui qui les fera traverser le mur. Cette recréation interroge autant la question de la réappropriation d’une œuvre par son interprète d’origine, plus de 25 ans après sa création, que celle d’un pays pour sa propre histoire. Comment retrouver dans son corps les souvenirs de mouvements passés  ? Et comment les transmettre ? Ce solo acte bien évidemment le retour de Karin Waehner à ses origines géographiques et à l’expressionnisme allemand initié quelques années plus tôt à l’occasion de l’exposition « Paris-Berlin » au Centre Pompidou en 1978. Comme un écho à L’Oiseau-qui-n’existe-pas, ce dernier solo de Karin Waehner sera dansé en miroir : face à face, Bruno Genty, interprète original, et Annette Lopez performeront ce solo créé entre l’Ouest et l’Est.

L’Oiseau-qui-n’existe-pas (1963) Chorégraphie Karin Waehner Musique originale Paul Arma Interprétation Aurélie Berland Proposition d’Aurélie Berland, Émilie Georges d’après la partition Benesh réalisée par Véronique Gémin-Bataille, accessible dans le fonds Aide à la recherche et au patrimoine en danse du CN D avec le concours de Barbara Falco et Jean Masse

Six minutes de danse, mais tant de questions. Cette reconstruction représente un travail collectif, commencé par Aurélie Berland il y a un an, avec Émilie Georges qui lui a transmis le solo d’après la partition Benesh réalisée par Véronique Gémin-Bataille. Barbara Falco – dernière interprète du solo – et Jean Masse – gardien bienveillant du répertoire de Karin Waehner – ont accepté de poursuivre la recherche sous le regard d’Andréa Samain, notatrice Laban qui témoignera de ce travail par une nouvelle partition. Le paysage du solo s’est aussi constitué de détours : la lecture des exercices et des études de technique Wigman enseignés par Gundel Eplinius, notés en Laban par Anja Hirvikallio et la consultation du fonds Waehner à la BnF. D’une partition Benesh à une partition Laban, d’une génération à une autre, d’un texte à un corps, d’un corps à un autre corps et d’un corps à un texte, ce travail d’enquête en vases communicants est sans fin, tiraillé tout comme le suggère le thème du solo inspiré par la musique de Paul Arma, à propos duquel Karin Waehner dit : « Il y avait ce son qui avait une résistance… notion extrêmement importante dans tout mon travail. Ce n’est pas seulement de la résistance, c’est aussi de créer des contraintes. Elle a donné conscience à mon thème de fond... un thème très expressionniste : l’herbe ailleurs est meilleure, c’est-à-dire de ne jamais être sur place mais toujours désirer autre chose qu’on a… c’est un fond qui va très loin au point de vue être humain mais aussi au point de vue technique, corporel, c’est-à-dire l’instabilité, toujours le transfert, ce que j’appelle toujours le voyage. »


Partir de la figure de Karin Waehner pour une histoire collective et transationale de la danse en France Depuis l’automne 2015, le Groupe de recherche : Histoire contemporaine du champ chorégraphique en France (Musidanse, université Paris 8), soutenu par le Labex Arts-H2H, consacre ses activités à un projet collectif autour de la chorégraphe, danseuse et pédagogue Karin Waehner. Ce projet « Karin Waehner, une artiste migrante : Archive, patrimoine et histoire transculturelle de la danse » consiste à analyser le fonds d’archives Karin Waehner déposé à la BnF, afin d’étudier le parcours et l’œuvre de l’une des artistes les plus engagées dans l’émergence de la danse contemporaine en France, sous le signe des circulations et des migrations chorégraphiques. Née en Haute-Silésie (ancienne province de Prusse) en 1926, Karin Waehner devient, après-guerre, l’élève de Mary Wigman à Leipzig, puis part danser en Argentine avant de s’installer en France en 1953. Elle poursuit des études de mime auprès d’Étienne Decroux. À Paris, elle rencontre également un petit groupe de danseurs et chorégraphes modernes qui commence à se constituer : Françoise et Dominique Dupuy, Jerome Andrews, Jacqueline Robinson. Avec ces deux derniers, elle forme les Compagnons de la danse. Puis elle fonde sa propre compagnie, Les Ballets contemporains Karin Waehner, en 1959. L’année suivante, elle est nommée professeur et dirige l’organisation des cours de danse à la Schola Cantorum, poste qu’elle occupe jusqu’à son décès survenu en 1999. Elle enseigne également à l’École normale supérieure d’éducation physique (ENSEP), à l’occasion de nombreux stages de fédérations sportives et d’associations de danse, dans des centres de formations professionnels (CEFEDEM et IFEDEM), des conservatoires (La Rochelle et Bagnolet), comme dans des universités (Turin, Montpellier 3 et Paris 8), en France mais aussi un peu partout en Europe (Italie, Suisse, Allemagne, Europe centrale). Karin Waehner est également une chorégraphe prolifique, auteure de plus d’une cinquantaine de pièces. Le parcours de Karin Waehner croise ainsi l’histoire de l’émergence de la danse moderne en France, l’histoire de la pédagogie et de la formation du danseur, ou encore l’histoire des circulations de gestes entre l’Allemagne, les États-Unis et la France. Comment ce fonds d’archives permet de retracer la pensée esthétique et pédagogique de Karin Waehner, qui semble nourrir de manière plus ou moins visible, plus ou moins identifiée ou référencée les pratiques chorégraphiques et pédagogiques contemporaines aujourd’hui ?

Agencer les documents, cheminer parmi les archives En consacrant la première phase de notre programme de recherche à une mission de traitement, de description et d’analyse des archives du fonds Karin Waehner, nous nous sommes placés dans un entre-deux, entre l’archiviste et l’historien. Cette posture est venue rendre poreuses deux fonctions habituelle-


ment distinctes. Cette soirée-recherche donne en partage les questionnements qui traversent notre recherche autant que cette immersion dans l’archive, rendant visibles nos gestes et nos regards face aux documents : classer, répertorier, mettre en série ou choisir, isoler, faire un focus. D’emblée, s’affirme la diversité des sources auxquelles nous avons eu accès : émissions de radio ; interviews filmées, enregistrées ou retranscrites ; captations filmées de performance en plein air, de représentation, de stage ; photographies de scène ou de répétition ; cahiers de travail de Karin Waehner… Ces documents sont exposés avec l’altération du temps et, parfois, en dépit de la mauvaise qualité des enregistrements ou des captations. Mettre en partage ces archives, c’est se demander ce qu’elles ouvrent comme questionnements, comme pistes théoriques, historiographiques, heuristiques, comme potentiels de gestes aussi. Si le point de départ de notre recherche est bien l’archive, dans un rapport plutôt distancié dans un premier temps à Karin Waehner, elle nous a inévitablement plongés dans l’intime de la pensée de la chorégraphe que traduisent les cahiers, les notes, les correspondances, le rythme particulier de son phrasé. Les enregistrements restituent l’évolution du grain de la voix. Ce moment d’exposition de la recherche ouvre aussi une nouvelle phase dans la recherche collective : permettant un temps de dialogue et de partage avec les témoins, les compagnons de route ou les élèves de Karin Waehner.

Exposer / performer l’archive Nous avons pris le parti d’exposer l’archive, sans la commenter mais en l’agençant aux grands thèmes qui ont forgé le parcours et la carrière de Karin Waehner. Cet agencement de documents permet de tracer des lignes de force, de poser des questions, sans pour autant tout dire, loin s’en faut, de l’entièreté du parcours de Karin Waehner, de ses collaborations, ou encore de toutes ses œuvres. Les documents ne révèlent pas tout de la relation fondatrice qui la lie à Mary Wigman, ni de l’histoire discontinue de l’empreinte wigmanienne dans son travail. Ils n’expliquent pas complètement les raisons de son besoin d’aller chercher aux États-Unis, du côté de la modern dance, et en particulier de Martha Graham et Louis Horst, une « technique » à transmettre. Difficile aussi, à travers quelques films, de montrer les évolutions de son enseignement de la danse, tout comme l’élaboration de sa pensée d’une « pédagogie évolutive ». Seuls quelques focus sur des moments, des cours techniques ou des ateliers de composition et d’improvisation, laissent entrevoir à quel point elle a investi ce champ de la pédagogie. Impossible non plus de rendre compte de la cinquantaine d’œuvres créées par la chorégraphe. Les documents choisis nous permettent néanmoins d’appréhender son travail de création, sous l’angle du rapport à l’objet et au costume, des spatialités construites par les scénographies ou la composition pour un grand nombre de danseurs. Enfin, il convenait aussi de pouvoir plonger dans


les œuvres chorégraphiques, à travers quelques extraits, filmés comme le solo de Michèle Mengual dans Les Marches, ou dansés et recréées pour cette soirée. L’archive est alors également « performée » dans le sens où les recréations de trois pièces emblématiques, de notre point de vue, sont le résultat d’un travail mené par des artistes chorégraphiques à partir de notations, d’archives vidéos, de textes et des différents échanges avec les chercheurs.

Étude des œuvres Il s’est d’abord agi, dans l’optique de l’analyse des processus de création chorégraphique et des principes pédagogiques développés par Karin Waehner, de procéder à une étude de cas laquelle a abouti au remontage d’un solo L’Oiseau-qui-n’existe-pas. D’autres documents audiovisuels dont le film Passeurs de danse qui met en scène la transmission du solo de Karin Waehner à Christine Brunel, contribuent à dessiner non pas une génétique (en amont) mais une généalogie (en aval) de l’œuvre, son évolution, sa transformation par sédimentation des interprétations successives. Notation, captation ou film documentaire − dont l’objet initial est d’apporter un regard spécifique sur l’œuvre − réunis à l’occasion d’une même recherche, ne disent plus la cristallisation du « geste dansé dans une unique version » ; mais revêtent – outre leur fonction de support à l’étude de l’œuvre – le statut d’archive. Bien que ne faisant pas directement partie du fonds Waehner à proprement parler, ils ne peuvent pour autant plus être considérés comme lui étant exogènes. Cette documentation est bien entendu complétée et enrichie par des archives sur l’œuvre elle-même (photographies, carnets de notes, indications techniques, etc.) issus du fonds conservé à la BnF, mais aussi des documents qui permettent de recontextualiser le solo à sa création et dans ses reprises ultérieures. Aussi, plus que de recréation, nous parlons à dessein d’étude chorégraphique dans cette démarche. Celle-ci faisant d’abord partie d’un processus de travail sur l’archive et n’en constitue pas l’objectif ou la finalité. Raison pour laquelle nous avons associé à cette recherche deux danseuses, Aurélie Berland et Émilie Georges, dont l’approche est aussi (et avant tout) celle de notatrices. Un même processus de travail s’est mis en place sur un extrait de Sehnsucht avec le travail du notateur et danseur, Olivier Bioret. Cette recherche collective sur Karin Waehner s’est déployée alors selon différents points de vue, réunissant artistes et chercheurs. Elle vient enfin entrer en résonance avec un autre projet, témoignant de l’actualité de la recherche sur Karin Waehner en Allemagne, « Karin Waehner (1926-1999) − Eigensinnig in Zwischenräumen − Ein Tanzfonds Erbe Projekt ». L’invitation de Bruno Genty à danser avec Annette Lopez la pièce Celui sans nom s’inscrit dans ce dialogue entre des équipes allemandes, autrichiennes et françaises.


CN D Centre national de la danse 1, rue Victor-Hugo, 93507 Pantin cedex - France 40 ter, rue Vaubecour, 69002 Lyon - France Licences 1-1077965 / 2-1077966 / 3-1077967 SIRET 417 822 632 000 10

Directrice générale Mathilde Monnier

Réservations et informations pratiques + 33 (0)1 41 83 98 98 cnd.fr

Impression I.M.S. Pantin

Le CN D est un établissement public à caractère industriel et commercial subventionné par le ministère de la Culture.

Conception graphique Casier / Fieuws et les équipes du CN D Typographie Trade Gothic — Papier Munken Lynx 170 gr/m2


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