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Wie Ernst Lorenzi das Tal sieht

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Zwölf Fragen

Zwölf Fragen

Der Mann, ohne den wir das Ötztal nicht scharf sehen würden

Ernst Lorenzi ist, was man früher einen Tausendsassa genannt hätte. Er ist ein Ötztaler Original, geboren auf der Alp, aber mit der Sesshaftigkeit hatte er es nicht so. Er war Fußballer, Weltreisender, Rallyefahrer, Automechaniker und Skilehrer – und das ist noch lange nicht alles. Er lernte unzählige Prominente kennen, erfand die Papierfliegerweltmeisterschaft, und weil das noch immer nicht reicht, hat er auch eine beeindruckende Karriere als Fotograf hingelegt. „Die Wildspitze“ zeigt die besten Bilder Ernst Lorenzis aus den letzten fünfzig Jahren – und erzählt die Geschichten dahinter.

Start im Morgenrot

Zwischen vier und fünf Uhr früh beginnen die meisten Arbeiten auf der Weltcup-Piste auf dem Rettenbachgletscher. Pressechef Ernst Lorenzi ist in der Regel um sechs Uhr oben. Sein erster Weg führt ihn zum Start, weil sich oben bei gutem Wetter ein imposantes Bild bietet. Auf der Piste ist um diese Zeit bereits reger Betrieb. Schon im Halbdunkel besichtigen die Rennfahrer den Kurs, die Rutscher sind im Einsatz, um der Piste den letzten Schliff zu geben, Transparente werden angebracht, die Hilfskräfte vom Militär sind in Position. Wenn die ersten Zuschauer kommen, ist alles längst fertig. Oft nimmt Lorenzi Kollegen von TV-Anstalten mit auf den Gletscher, um sie mit dem unglaublichen Panorama zu überraschen. Das Bild auf dieser Seite wurde 2021 am Renntag aufgenommen – aus der Gondelbahn. Schon am Vortag hatte Lorenzi die Stimmung gesehen, aber keine Kamera dabei gehabt. Dieser Fehler passierte ihm nicht zweimal.

Die einen quälen sich, die anderen feiern

Aufgenommen beim Ötztaler 2021 auf der Abfahrt vom Jaufenpass. In Walten findet am Renntag der Kirtag statt, entsprechend wird gefeiert. Lorenzi bekleidet beim Ötztaler keine Funktion mehr, sondern begleitet ihn nur als Fotograf. Seine Bücher „Ich habe einen Traum“ und „Ein neuer Traum beginnt“ dokumentieren die Geschichte dieses Radmarathons von Beginn bis 2020. An diesem Tag fuhr er zuerst mit dem Auto an der Szene vorbei, sah die feiernden Männer am Straßenrand und kombinierte, dass die Kombination aus Sport und Spaß ein gutes Motiv ergeben würde. Er drehte um, gab eine Flasche Wein aus und drückte im richtigen Moment ab. Lorenzi: „Die Bauern, die da hocken, hatten eine Mordsgaudi, weil ich ihnen nachher das Bild geschickt habe. Es sind ja Leute, denen wir am Kirtag lästig sind, weil alle Straßen gesperrt sind. Da ist es das Mindeste, ihnen eine Flasche Wein auszugeben.“

Morgan zwischen den Felsen

Ernst Lorenzi, der frühere Rallyefahrer, hat ein besonderes Verhältnis zu schönen und starken Autos. Er besitzt nicht nur den Rallyekäfer (siehe S.14), sondern auch einen Morgan, das ideale Gefährt zwischen Oldtimer und unterhaltsamer Motorisierung. Kein Wunder, dass Ernst und sein Morgan im ganzen Ötztal bekannt sind. Auf diesem Bild befindet sich der Morgan auf einer Straße in den Dolomiten in der Nähe von Cortina. Im Wagen sitzt Ernsts Frau Bernadette, die sich persönlich weigert, das Fahrzeug selbst zu bewegen, Beifahrerin ist das Höchste der Gefühle. Um das Motiv zu erfassen, musste Lorenzi einen längeren Fußmarsch in Kauf nehmen, um schließlich mit einem 400er-Teleobjektiv den gewünschten Effekt zu erzielen. Das Bild wird im „Morgan-Kalender“ erscheinen – einem weiteren unter den zahllosen Projekten Ernst Lorenzis.

Eilige Prozession

Das Motiv entstand bei einer Zusammenarbeit Ernst Lorenzis mit dem Regisseur Hubert Lepka, der im Ötztal mit „Hannibal“ und „Friedl mit der leeren Tasche“ nachhaltige Zeichen gesetzt hat. „Bei Huberts Inszenierungen sind immer Fahrzeuge im Spiel“, sagt Lorenzi. „Bei dieser Visualisierung der ,Klangwolke‘ auf der Ars Electronica spielte auch ich mit meinem VW Käfer eine Rolle – und natürlich dieses schöne Steyr-Lastauto, auf dem Hubert die Prozession arrangiert hat.“ Im Hintergrund ist schemenhaft die Kirche auf dem Pöstlingberg zu sehen. Das Motiv verwendete Ernst Lorenzi auch bei einer Kollaboration mit dem Karikaturisten Dietmar Kainrath. Wieder ein anderes Projekt.

Verpasster Wheelie auf dem Betondach

Die Radfahrerin, die auf diesem Bild das abschüssige Dach des 007 Elements auf dem Gaislachkogl hinauffährt, ist die zweifache Junioren-Weltmeisterin Laura Stigger. Das Bild entstand im Rahmen einer Promotion, die Ernst Lorenzi für die Bergbahnen Sölden und für Laura selbst fotografierte. Lorenzi: „Die Bergbahnen Sölden tun viel für den Radsport, speziell für Laura. Da machten wir eine kleine Promotion auf dem Dach des 007 Elements. Es ist zwar abschüssig, aber so wie Laura Rad fahren kann, wurde mir nicht bang. Das Dach ist auf der einen Seite zugeschüttet, aber auf der anderen Seite geht es in den Abgrund hinunter. Den Wheelie, den Laura gemacht hat, hab ich nicht ganz erwischt. Und ein zweites Mal wollten wir’s dann doch nicht versuchen. Der Berg im Hintergrund ist die Äußere Schwarze Schneide. Da gibt es richtig geile Skihänge – aber das nur nebenbei.“

Sport, Glamour und Prominenz

Großes Foto links: Petra Giuliani war 1986 Miss Tirol. Ernst Lorenzi lernte sie kennen, als er mit ihr Gymnastikfotos auf dem Rettenbachgletscher machte, und freundete sich mit ihr an: „Dieses Bild ist noch analog fotografiert. Wir machten es bei einem Trödler, einfach zum Spaß – wie eigentlich fast immer.“ Oben links: Snow-Speed-Rennen im Rahmen des Paracross-Events des Motorsportclubs Ötztal. Oben rechts: Jan Ulrich mit Frank Wörndl bei minus 17 Grad auf der Piste – Wörndl hatte eine Wette gegen das TelecomTeam verloren und musste mit einem Tanga Ski fahren. Mitte links: Le-Mans-Sieger Helmut Marko auf dem Skibob, Teil des Paracross 1975. Mitte rechts: J&B-Rafting-EM mit den besten Kajakfahrern aus aller Welt, erstes richtig großes Event auf der Ötztaler Ache. Unten links: Skilehrer-Freunde von Lorenzi beim Skifahren am Gletscherbruch des Rettenbachferners Mitte der Neunzigerjahre. Unten rechts: Olympiasiegerin Rosi Mittermaier schenkt Buggls Hans – Seilbahnchef Hans Falkner – ihren Olympiasiegerski. Das deutsche Skiteam war das erste, das auf dem Rettenbachgletscher trainierte. Hans hatte ihr zum Olympiasieg 1976 100 Rosen geschenkt. Das war Rosis Revanche.

Silvestertherme unter dem Nebel

Aufgenommen zu Silvester 2017 in Burgstein. Ernst und Bernadette verbringen in der Regel den Silvesterabend bei Freunden, die nicht weit entfernt wohnen. Als Ernst die besondere Wetterlage bemerkte – im Tal hing ein tiefer, transparenter Bodennebel –, verabschiedete er sich von der fröhlichen Runde und ging samt Kamera und Stativ hinauf nach Burgstein, weil er eine Vorahnung hatte, dass die Silvesterraketen rund um den AQUA DOME eine ganz besondere Stimmung erzeugen würden. Lorenzi: „Um Mitternacht bin ich in Burgstein droben gehockt, direkt am Abgrund, und hab diese unglaublichen Silvesterfeuer gesehen. Ich hatte mir schon gedacht, dass der Nebel von unten beleuchtet sein würde. Aber dass einzelne Raketen über den Nebel hinaufsteigen und ihn auch noch von oben beleuchten, war eine gelungene Überraschung.“ Das Bild ist mit offener Blende sechs Sekunden lang belichtet worden.

Das Ötztaler Original

Wie Ernst Lorenzi zum Ötztaler Kreativzentrum wurde. An welche Regeln er sich sicher nicht halten wollte. Und warum es mit dem Fotografieren so gut geklappt hat.

Könnte sein, dass ihn diese Sommer in den Bergen geprägt haben. Als Ernst Lorenzi ein Bub war, wurde er bei Nale und Nene, den Großeltern, die eine Bauernschaft hatten, als Hirte auf die Alm geschickt. Das Gefühl, das er von dort mitbrachte, nennt er heute noch „grenzenlose Freiheit“. Und auf die Frage, was eigentlich sein angestammter Beruf ist, antwortet Ernst Lorenzi: „Ich bin Freigeist.“

Das bedeutet im konkreten Fall, dass sich Ernst Lorenzi die Freiheit herausnahm, nicht einen Beruf zu ergreifen, sondern mehrere, und zwar hintereinander, übereinander und nebeneinander, je nachdem.

Am Anfang, nachdem er in Stams in der Schule unglücklich gewesen war, wollte er Fußballer werden. Auf Umwegen: Er heuerte als Mechanikerlehrling beim Präsidenten von Wacker Innsbruck an, dem damals noch stolzen Tiroler Fußballklub. Am Tag seiner Gesellenprüfung überlegte er es sich anders: Er wanderte nach Schweden aus, wo er eine Freundin hatte. Als er wieder zurückkam, arbeitete er in der Werkstatt und als Skilehrer, lernte seine heutige Frau kennen und zog sicherheitshalber mit seinem Freund Florian Falkner erst einmal nach Paris. Kehrte zurück. Die nächsten Jahre beschreibt er in seinen eigenen Worten so: „Meisterprüfung gemacht und gescheitert. Rallye gefahren. Formelwagen gefahren. Gepfuscht und überlebt.“ Damals war Ernst Lorenzi 25 Jahre alt.

Er begann Veranstaltungen zu erfinden und auszurichten. Nach dem vom Motorsportclub Ötztal organisierten „Paracross“, einer mutigen Kombination aus Motocross, Skibob und Schwimmen, zu der Prominente wie Niki Lauda, Derek Bell und Henri Pescarolo nach Sölden kamen – „Walter Röhrl kommt noch immer“, sagt er –, waren es erst Motorradrennen auf Schnee, dann Profi-Skirennen, die Lorenzi mit seinen Freunden Michael Falkner und André Arnold organisierte. Nach amerikanischem Vorbild installierten sie WisbiRennstrecken (Wisbi = Wie schnell bin ich?), auf denen sich Touristen und Amateure an den Zeiten gestandener Rennfahrer orientieren konnten. Ernst gründete eine Agentur. Fuhr mit dem braunen VW 1302, der auch am Aufmacherbild zu sehen ist, elf Jahre lang Rallye und erntete zahlreiche Klassensiege.

Auch wenn er mit vielen potenten Firmen zusammenarbeitete, blieb Lorenzi stets selbstständig. Bei den meisten Großveranstaltungen im Ötztal hatte er die Finger im Spiel, vom Ötztaler Radmarathon über den „Hannibal“ bis zur Ötztal Classic.

Seine Kamera war immer dabei, und weil Ernst Lorenzi nicht nur ein Gefühl für Action, sondern auch für Ästhetik besitzt, entstand nicht nur ein Archiv des bunten Treibens, sondern auch das eines ganzen Lebens, natürlich als Freigeist.

Ernst Lorenzi in seinem Büro. Für eine Ordnung im klassischen Sinn sind weder er – noch das Büro – gemacht. Kreative Ordnung sieht nämlich anders aus.

Könnte auch von Henri Cartier-Bresson sein, ist aber der erste Lorenzi: erstes selbst geschossenes Foto des jungen Mannes, das die Eltern in Venedig zeigt.

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