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VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

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THEORIE UND PRAXIS

THEORIE UND PRAXIS

VORWORT

ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Vor mehr als zehn Jahren habe ich mit den ersten Seiten dieses Buches angefangen. Seitdem hat sich viel in meinem Leben verändert, wie ich das Yoga und Klettern lebe und wie ich Tag für Tag deren tiefen Verbindung erkunde. Gleichzeitig hat sich auch das allgemeine Bewusstsein zum Thema Yoga stark verändert, die Disziplin hat sich immer mehr in der Gesellschaft und in der Kletterszene verbreitet, was zahlreiche Vor -und Nachteile hat.

Vor zehn Jahren war Yoga bereits ein Begriff unter Kletterern und es gab einige berühmtere ”Yogi-Kletterer“, aber alles in allem waren es nur wenige, die tatsächlich Yoga praktizierten. In Italien gab es mit Ausnahme kleinerer Artikel keinerlei Quellen, die sich näher mit der Verbindung der beiden Disziplinen beschäftigten. Auch seitens der Klettergemeinschaft gab es noch kein explizites Interesse in diese Richtung.

Aus diesen Gründen war die Veröffentlichung von Yogascent eine Wette, deren Ergebnis voraussehbar war: viele erkannten und schätzten mit Sicherheit den Nutzen des Yoga beim Klettern, gleichzeitig zeigte sich die Kletterszene aber auch widerspenstig, das Klettern aus dem spirituellen Blickwinkel des Yoga oder anderen ”holistischen“ Disziplinen zu betrachten. Die Unsicherheit über den Erfolg des Buches spielte von Anfang an eine wichtige Rolle beim Schreiben der ersten Auflage, die bewusst einfach und möglichst effizient sein sollte. Das Ziel war es vor allem, einen, meiner Meinung nach, grundlegenden Aspekt zu verbreiten: was ist Yoga in Verbindung mit dem Klettern in dessen spiritueller Natur. Dabei wollte ich mich dem Klettervolk annähern, ohne allzu große Komplikationen zu schaffen. Der Schwerpunkt lag also auf der Beschreibung der Asanatechniken, der Pranayama und auf einer Einleitung, die das Ganze synthetisch, aber effizient (hoffe ich) in den Kontext der Philosophie des Yoga einbettet, ohne dabei auf ”fortgeschrittenere“ Konzepte einzugehen, die sehr viel mehr Platz verlangt hätten. Außerdem war alles ein Ergebnis meiner Erfahrung als Kletterer und frisch gebackener Yogalehrer, vereint mit den bis dato nur wenigen Erkenntnissen zum Thema Yoga und Klettersport.

Seit damals hat sich die Situation deutlich verändert. Auf persönlicher Ebene habe ich neben meiner fortschreitenden Weiterbildung als Yogalehrer damit begonnen, Yoga für Kletterer zu unterrichten, in zahlreichen verschiedenen Kontexten. Dadurch konnte ich hunderte Kletter*innen kennenlernen, egal ob Yoga-Anfänger oder Fortgeschrittene. Mit dem regelmäßigen Unterricht konnte ich mich mit ihnen austauschen und eine größere Sensibilität entwickeln, bei der Bewertung ihrer Reaktionen auf die Yogapraxis, ihrer Bedürfnisse und der unterschiedlichen Arten, wie Yoga in Beziehung zum Klettern aufgenommen wird.

Die Praxis und das Studium beider Disziplinen ermöglichten mir, die verschiedenen Facetten eines spirituellen Zugangs zum Klettern zu vertiefen, wobei ich auch neue Zusammenhänge entdecken konnte. Das führte zwangsweise zu einer Erweiterung von Bewusstsein und Erfahrung, die über die Inhalte der ersten Auflage hinausgehen. Daraus entstand auch das -vor allem persönliche- Bedürfnis, einige Konzepte aus teils neuen Blickwinkeln zu erarbeiten oder zu vertiefen, aber auch, um den Bedürfnissen der Kletterer, die sich dem Yoga annähern, entgegenzukommen, die ich früher gar nicht wahrgenommen hatte. Das ist die Grundlage, auf der ich mit dieser zweiten Auflage begonnen habe, vieles wurde erweitert, anderes überarbeitet und einiges kam ganz neu dazu. Neben meinen persönlichen Anliegen ist diese zweite Auflage auch eine Folge auf die starke Verbreitung der Yogadisziplin im Kontext des Kletterns. In den letzten zehn Jahren haben sowohl Yoga als auch das Klettern einen Boom erlebt, der sie zu wahrhaftigen ”In-Sportarten“ gemacht hat. Einige haben sich dem Yoga mit dem Ziel angenähert, eine tiefere Beziehung zum eigenen Selbst zu entdecken; viele andere ließen sich von der Neugierde treiben und dem Medienrummel, der die beiden Disziplinen begleitet. Diese Situation führte dazu, die erste Auflage in Hinblick auf zwei verschiedene Aspekte zu überarbeiten: Auf der einen Seite können all die Argumente, die ich bei der ersten Auflage als zu ”kompliziert“ für eine erste Annäherung an diese Disziplin gehalten hatte, jetzt einfacher angegangen werden, da die Kletterszene ein größeres Bewusstsein für das Yoga entwickelt hat. Aus diesem Grund werden die theoretischen und holistischen Aspekte in dieser Auflage ausführlicher behandelt. Auf der anderen Seite führte Verbreitung des Yoga oft zu einer gewissen Oberflächlichkeit bei der Praxis, wobei oft die spirituelle Komponente außen vorgelassen wird, die jedoch der unerlässliche Grundpfeiler der Disziplin ist. Das hat zu großer Verwirrung geführt: in dieser zweiten Auflage habe ich versucht, die Bedeutung der Yogatechniken auf spiritueller und holistischer Ebene tiefergehend zu beschreiben, in der Hoffnung, verständlich zu machen, dass Yoga mehr ist als einfach nur Gymnastik. Außerdem ist die Aufgabe des Lehrers gerade in Hinblick auf den Zusammenhang Yoga-Klettern besonders anspruchsvoll. Der Weg, den das Yoga vorschlägt, findet in den Asana sicherlich einen wichtigen Ausgangspunkt, der nicht in zweiter Reihe stehen darf und kann. Das gilt umso mehr, wenn wir, dank Yoga, das Ziel haben, beim Klettern ein neues Bewusstsein zu erreichen. Trotzdem ist es für einen gelungen Start wichtig, die Bedeutung von Körper und körperlicher Praxis im Kontext der Yogaphilosophie zu betrachten. Genau hier liegt das Risiko, das die Kletterer eingehen. Wir wissen sehr gut, dass das Klettervolk aus extrem zielbewussten Sportlern besteht, die sehr diszipliniert und methodisch trainieren.

Genau diese zugespitzte Leidenschaft kann jedoch zu einer gewissen geistigen Steifheit, ungesundem Konkurrenzdenken bis hin zur ”Paranoia“ führen. Wenn man dann in gleicher Weise an die Yogapraxis herangeht, als eine Suche nach der Realisierung einer möglichst extremen Position, tut man klarerweise nichts anderes, als dem yogischen Weg komplett entgegengesetzte Aspekte hervorzuheben. Man muss also unausweichlich feststellen (was ich in den letzten Jahren bestätigen konnte), dass viele Kletterer, die mit der Yogapraxis beginnen, nicht auf der Suche nach größerem Bewusstsein und neuen Perspektiven beim Klettern sind, sondern nur ihr Konkurrenzdenken und die exzessive Zielstrebigkeit auf das Yoga übertragen wollen. Yoga – wenn richtig unterrichtet – kann den Kletterern helfen, das Klettern selbst als ein inneres Wachstum zu verstehen, was jedoch keinen Verzicht darauf bedeutet, sein Können auf die Probe zu stellen und an die eigenen Grenzen zu gehen. Fortgeschrittene Asana, anspruchsvolle Sequenzen, Boulder oder Routen am Limit müssen für uns ein essentielles Instrument werden, um unsere Grenzen zu entdecken und aus der Komfortzone auszubrechen, das wir jedoch als Mittel leben, um einen meditativen Zustand und spirituelles Wachstum zu erreichen. Genau hier liegen die schwierige Aufgabe eines guten Yogalehrers für Kletterer und einer der Hauptgründe für die Neuauflage von Yogascent. Bei der Überarbeitung für die zweite Auflage war meine Freundin Cristine eine wichtige Hilfe, sie hat mich beim Schreiben mit ihrem Wissen als Yogalehrerin, Heilpraktikerin und ”Kollegin“ beim Lehren und unserer gemeinsamen Praxis unterstützt. Wir haben gemeinsam studiert, diskutiert, vertieft, überarbeitet und sie hat die Bearbeitung verschiedener Themen übernommen, da sie in ihrem Kompetenzbereich liegen (z.B. Yogapraxis während und nach einer Schwangerschaft, Mudra etc.). Aus diesem Grund ist sie Co-Autorin dieser zweiten Auflage.

Sicherlich gibt es noch viele Aspekte, die eine Abhandlung verdient hätten. Außerdem werden Studien, Praxis und Erfahrung in den nächsten Jahren wahrscheinlich weitere Facetten des Yoga im Zusammenhang mit dem Klettern ans Licht bringen. In diesem Zusammenhang würde ich mich sehr über euer Feedback freuen, eigene Erfahrungen zum Thema Yoga und Klettern oder Vorschläge für eine Erweiterung dieser Arbeit in der Zukunft. Der Wunsch, zu teilen ist mit Sicherheit der Hauptgrund dafür, dass ich vor Jahren mit der mühsamen, aber genauso fantastischen Aufgabe des Schreibens begonnen habe!

Viel Spaß beim Lesen und beim Yoga! Alberto Milani, Januar 2021

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