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Zur Produktivität der Gewalt
Gewalt.
Zur Produktivität von Gewalt
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Annäherung an das Wesen eines umstrittenen Begriffs
Sich dem Begriffder Gewalt kritisch zu nähern, erfordert zunächst die Überwindung eines Unbehagens. Gewalt lässt Leid vermuten. Sie verweist auf destruktive Momente in der Geschichte menschlicher Interaktion. Die Norm, dass Gewalt schlecht sei, beinflusst jede Auseinandersetzung mit derselben. Legt man die Unbehaglichkeit ab und wendet sich einer Kritik der Gewalt zu, geschieht das zumeist aus einer Position heraus, die meint, Gewalt durch Vernunft ersetzen zu können oder bereits überwunden zu haben. Das Credo, gewaltfreie Zustände herzustellen, bleibt stets bestehen. Am deutlichsten wird dies im Diskurs um Gewalt als legitimes Mittel. Zwei besonders prominente Positionen dieses Diskurses teilen dasselbe Ziel und unterscheiden sich lediglich in Hinblick aufdie jeweiligen Beurteilungen der Gewalt als Instrument: entweder soll stets aufsie verzichtet werden oder sie soll genutzt werden, um einen als gewaltvoll erachteten Zustand zu überwinden. Diese beiden Argumentationen fußen auf der Prämisse,
dass Gewalt schlecht ist und widmen sich erst dann dem eigentlichen Phänomen: dem Wesen der Gewalt. Im folgenden plädieren wir dafür, den oftmals für selbstverständlich befundenen Ausgangspunkt einer vermeintlichen Gewaltfreiheit als Ziel zu problematisieren.
Paradigmatisch für eine negative Konzeption der Gewalt ist Hannah Arendts Essay Macht und Gewalt von 1970. Arendt diskutiert die beiden Begriffe (‘Macht’ und ‘Gewalt’) in Hinblick aufdie Frage nach der Konstituierung sozialer Ordnungen. Weil insbesondere Gründungsakte sozialer Ordnung von Bedeutung seien, problematisiert Arendt ein rein instrumentelles Verständnis von Gewalt (vgl. Arendt 1970: 8ff.; 47; 53ff.). Die Gestaltung sozialer Ordnung basiert für Arendt deshalb vielmehr aufMacht, welche nur da entsteht, wo Menschen miteinander interagieren. Macht ist Grundlage der Politik, das Ziel der Politik sei die Freiheit –anders: Politikund Freiheit fallen ineinander(vgl. Arendt 1994). Dieser Zusammenhang verdeutlicht die Rollen von Macht und Gewalt in Bezug aufPolitik: Macht konstituiert Politik, Gewalt gefährdet diese. Arendt konzipiert Macht und Gewalt als qualitativ verschieden, weil sie jeweils nach unterschiedlichen Logiken funktionieren. Macht ist das Hervorbringende, das, was den Bereich der Politik konstituiert und Grundlage der Freiheit ist. Dagegen ist Gewalt das andere der Politik, notfalls ihr Mittel; notfalls Mittel, um die Macht der Anderen zu zerstören. Gewalt kann für Arendt nie am Anfang der Macht und damit der Politikstehen. Sie ist lediglich der Destruktion fähig und muss bei jedem Versuch, etwas zu schaffen, versagen. Was aber, wenn die Gewalt, entgegen dieser These, doch am Anfang steht? Was, wenn sie uns als hervorbringende Kraft vorausgeht?
Wir glauben, dass eine differenzierte Betrachtung des Phänomens Gewalt eine Ambivalenz zum Vorschein bringt, die neben ihrer zerstörerischen Wirkung aufeinen produktiven Gehalt verweist. Gewalt kann Recht einrichten. Gleichzeitig scheint sie ein maßgeblicher Faktor bei der Herausbildung des Subjekts zu sein. Diese beiden Aspekte –Gewalt als rechtseinrichtend und subjektbildend –wollen wir im Folgenden betrachten, um, vom produktiven Charakter der Gewalt ausgehend, die Frage nach dem Wesen der Gewalt neu zu stellen. Dabei mahnt Arendt uns, Gewalt und Macht sorgfältig zu trennen und als separate Phänomene zu behandeln. 1 Einen ersten Anhaltspunkt dafür, Gewalt als produktiv zu betrachten, liefert Judith Butler. In ihrer
1 Aufgrund dieser Unterscheidunggreifen wir explizit nicht aufMichel Foucault zurück. Bei ihm könnte von einer Produktivität der Gewalt gesprochen werden: „Recht, Frieden und Gesetze werden im Blut und im Schlamm der Schlachten geboren“ (Foucault 1999: 61). Die Gefahr bei Foucault ist, dass man sich mit ihm nicht explizit dem Phänomen derGewalt nähert, sondern dem derMacht. Vgl. Foucault, Michel (1999): S. 52-75. Kritik der ethischen Gewalt zeigt sie eindrücklich die Schwierigkeiten auf, die mitderAufgabe verbunden sind, Rechenschaft von sich zu geben. Weil das Subjekt von zahlreichen Faktoren abhängig ist, die außerhalb seiner selbst liegen, ist es letztlich unmöglich, eine umfassende Erzählung des eigenen ‘Ich’ zu geben (vgl. Butler 2014: 178f.). Aufgrund dieser uns vorausgehenden Verwobenheit mit und in der Welt, wäre Gewalt für Butler jener Moment, in dem sich das Subjekt gegen diese ‚Relationalität’ stellt –Gewalt als Akt, “durch den ein Subjekt seine Herrschaft und Einheit wiederherzustellen sucht” (ebd.: 88). Butlergehtes darum, angesichts permanenter Gewalt die Potentialität gewaltfreier Handlungen auszuloten. Indem sie diese Gewaltfreiheit nicht rechtfertigt, verfällt sie der Prämisse, gewaltlose Zustände als Ziel vorauszusetzen. Sie übersieht, dass Gewalt ihrer Argumentation zufolge das Subjekt konstituiert, was sich in der Abwesenheit eines expliziten Gewaltbegriffs in diesem Zusammenhang ausdrückt. Denn mittels Lévinas und Laplanche versucht sie zwar deutlich zu machen, dass allein der Andere dazu führt, dass das ‘Ich’ reflexiv wird und nur auf dieser Basis letztlich ein handlungsfähiges Subjekt entsteht. Obwohl sie davon schreibt, dass der Andere uns “umzingelt und verschlingt” (101), dass er uns “nicht nur verfolgt, sondern belagert” (121), dass “etwas […] unaufhörlich im Begriffist, meine Stelle einzunehmen” (121), weigert sie sich aber, genau diese “primären Übergriffe” (alle ebd.: 101) an den meisten Stellen als Gewalt zu bezeichnen. 2 Für uns scheint die Gewalthingegen gerade in jenen Akten derSubjektkonstitution präsent zu sein –und zwar genau deshalb, weil diese Übergriffe “nicht gewollt und nicht gewählt sind” (ebd.: 118). Der Versuch, Rechenschaft von sich zu geben, sich also reflexivaufsich zu beziehen, setzt bei Butler erst mit dem Einwirken des Anderen aufdas Ich ein. Die Gewalt wäre demzufolge nicht nur jene “physische Verletzbarkeit, der wir nicht entrinnen können” (ebd.: 136), sondern zugleich die uns hervorbringende Kraft. Dieses ambivalente Urteil über die Gewalt müsste Butler aussprechen –sähe sie einmal von der Prämisse, gewaltfreie Zustände einzurichten, ab. Stattdessen fordert sie einzig, “das selbstgenügsame, als Besitz verstandene ‘Ich’ hinter sich zu lassen” (ebd.: 180).
In einem Kommentar zur Kritik der Gewaltvon Walter Benjamin denkt Butler die Möglichkeit, der Gewalt ein produktives Moment anzuerkennen. Am von BenjamingewähltenBeispielderNiobe stelltsie die These auf, dass erst das Gesetz als mythische Gewalt das rechtliche
2 Die einzige Ausnahme scheint unseres Erachtens nach dort zu liegen, wo sie nach derVerantwortungundeinermöglichen Antwort fragt (vgl. Butler2014: 133; 134f.). Ihre Antwort –die Öffnung für das Andere –fragt jedoch nicht danach, ob und wie Gewalt dazu beiträgt, überhaupt erst ein Subjekt hervorzubringen, was zu dieser Öffnung fähig ist.
Gewalt.
Subjekt hervorbringt (vgl. Butler 2006: 208f ). Rechtliches Subjekt zu sein, kennzeichnet sich laut Butler in diesem Falle dadurch, ein schuldiges Subjekt zu sein. Die Götter setzten das Gesetz gewaltsam als Antwort aufNiobes Handlung und Niobe verantworte sich ihnen gegenüber, indem sie die vorausgegangene Handlung als die eigene Tat rechtfertige. Das Rechtssubjekt legt Rechenschaft ab und reflektiert damit aufHandlungen, die es als die eigenen anerkennt. Erst dadurch wird das Subjekt schuldig.
Warum aber scheint Gewalt mit dem Recht in einem Verhältnis zu stehen? Diese Frage behandelt Walter Benjamin in seinem oben erwähnten Aufsatz. Er stellt die These auf, dass Gewalt Recht als dessen Ursprung überhaupt erst ermöglicht. Geltendes Recht gründet seinem Verständnis nach aufeiner mythischen Gewalt, die zunächst Recht hervorbringt, im selben Moment aber in eine Gewalt umschlägt, die das gesetzte Recht erhalten soll. Gewalt tritt damit als rechtsetzend und zugleich rechtserhaltend in Erscheinung. In dieser zyklischen Figur muss das Recht seine gewaltvolle Setzung stets re-affirmieren, was nichts anderes bedeutet, als den Gewaltakt zu wiederholen und so ein Gewaltmonopol zu beanspruchen –nicht aber mit dem Ziel, die Rechtszwecke (bspw. Freiheit oder Gerechtigkeit) zu sichern, sondern, um das „Recht selbst zu wahren“ (Benjamin 1991: 183). Das Ergreifen des Gewaltmonopols ist für Benjamin ein Ausdruck von Macht, den er als „Akt [... ] unmittelbarer Manifestation der Gewalt“ versteht (ebd.: 198). Er sieht in der Politik und der Herausarbeitung eines Rechtszustandes keine Überwindung der Gewalt, lediglich ihre Verrechtlichung und darin die Verschleierung ihres eigenen gewaltvollen Ursprungs. Das Recht nimmt die Rolle einer gewalteinhegenden Instanz ein, die sich durch Gesetze den Anschein gibt, gewalt-avers zu sein. Dagegen meint Benjamin, dass „jede Gewalt als Mittel[... ] anderProblematikdesRechtsüberhauptteilhat [und] eine völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals aufeinen Rechtsvertrag hinauslaufen kann“ (ebd.: 190). Diesem Gedanken folgend, werden zwei Aspekte deutlich: erstens ist ein gewaltloser Rechtszustand unmöglich, weil dieser in seinem „Ursprung“ aufGewalt verweist und in seinem „Ausgang“ Gewalt da anwendet, wo ein Rechtssubjekt vertragsbrüchigwird (ebd.). Zweitens tritt Gewalt als eine produktive Kraft hervor, weil ohne sie kein Recht gesetzt werden kann.
Wir halten also fest: Es gibt kein rein gewaltfreies Verhältnis zur Gewalt. Treten wir einen Schritt zurück von der omnipräsenten Destruktivität der Gewalt, wird ein neutralerer ZugriffaufGewalt ermöglicht, der auch ihre produktiven Momente sichtbar macht. Doch es bleiben folgende Fragen: Wie genau wirkt Gewalt, um das Subjekt zu konstituieren? Wie schafft sie es, Recht zusetzen? Diese Fragen nachderWirkungskraftderGewalt beantworten weder Butler noch Benjamin direkt. Doch zu fragen, warum die Gewalt fähig ist, produktiv inErscheinungzutreten, istessentiell. Vonhierauswäre die Frage nach dem Wesen der Gewalt neu zu stellen.
| Markus Hennig und Micha Steinwachs
Literatur
Arendt, Hannah (1970): Macht und Gewalt. München: Piper.
Arendt, Hannah (1994): Freiheit und Politik. In: Ludz, Ursula (Hg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München: Piper, 201–226.
Benjamin, Walter (1991): Zur Kritik der Gewalt. In: Gesammelte Schriften. Band II.I. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 179-203.
Butler, Judith (2006): Critique, Coercion, and Sacred Life in Benjamin’s „Critique ofViolence“. In: de Vries, Hent (Hg.): Political Theologies. Public Relations in a Post-Secular World. New York: Fordham University Press, 201-219.
Butler, Judith (2014): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Foucault, Michel (1999): In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Frankfurt am Main: Suhrkamp.