Schlüsselerlebnis SL Krimi Kapitel 6

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SECHS Paula ging nach und nach ihre Aufzeichnungen durch. Die Pinocchio-Figur lag zwischen ihr und Vivaldi auf dem Teppich des Gästezimmers. Vielleicht würde sie sich daran erinnern, wo sie diese schon einmal gesehen hatte, wenn sie sich mit etwas anderem beschäftigte. Also nahm sie die Notizen eines Gesprächs zur Hand, das sie wenige Tage vor dem Einbruch mit einer Restauratorin geführt hatte. Maximiliane Troster lobte zunächst ihre eigene Arbeit über den grünen Klee, um dann über ihre Mitbewerber herzuziehen. So erzählte sie Paula unter dem Siegel der Verschwiegenheit, dass einer ihrer Mitbewerber regelmäßig Stilmöbel nachbauen ließ. Irgendwo im Osten. So genau wusste sie es denn doch nicht. Jedenfalls trimmte er diese Reproduktionen mit speziellen Techniken auf alt und verkaufte sie als antiquarische Einzelstücke um teures Geld an neureiche, ahnungslose Kunden. Paula hatte sich alles angehört, obwohl sie bereits wusste, dass sie nichts davon für ihre Reportage verwenden konnte. Egal, ob an diesen Gerüchten etwas Wahres dran war oder ob sie nur unter böses Getratsche fielen. Maximiliane Troster sah das anders. Sie erwarte sich einen großen Enthüllungsartikel, ließ sie Paula wissen. Und damit das besagtem Mitbewerber nicht entging, werde sie ihn rechtzeitig vorwarnen. Paula hatte versucht, ihr klarzumachen, dass sie niemals einen derartigen Artikel schreiben würde. Doch die Frau hatte nur gelacht und gemeint, dass sie ihm diesen auf jeden Fall androhen würde. Hatte Frau Troster dem Mitbewerber tatsächlich etwas gesteckt? Und war er dann bei Paula eingebrochen, um den Artikel zu verhindern? Aber warum sollte ihr eine Frau, die sich kein Blatt vor den Mund nahm und die Konkurrenz denunzierte, heimlich dieses Kuvert zustecken? Und was sollten diese Listen mit ihrem Mitbewerber zu tun haben? Das machte doch alles keinen Sinn. Paula dröhnte der Kopf. Intuitiv nahm Paula die Seiten mit den Straßennamen zur Hand. Sie versuchte sich den Stadtplan von Wien vorzustellen, doch bei ihrem Orientierungssinn kam sie nicht weit. Wie gut, dass ihr Notebook einen mobilen Internetzugang hatte. Kurzerhand tippte sie den ersten Straßennamen in Google-Map ein. Dann noch weitere. Auf einem Stadtplan markierte sie die Punkte. Alle befanden sich im achtzehnten Bezirk. Paula fand Gefallen an der Arbeit. Unermüdlich tippte sie weiter und siehe da, alle Straßennamen auf dem anderen Blatt Papier lagen im zweiten Bezirk. Dann probierte sie es mit den Abkürzungen. Paula gab das Kürzel MTB in die Suchmaschine ein. Es war die Abkürzung für Mountain Terrain Bike oder kurz: Mountainbike. CB war dann möglicherweise eine Kurzform für City Bike. LCD war klar, ebenso wie die Abkürzungen DVD und PC. Sollte das bedeuten, dass diese Gegenstände in diesen Wohnungen zu finden waren? „Eine Auftragsliste für Einbrecher!“, fiel es Paula wie Schuppen von den Augen. Sie wusste nicht, ob sie beeindruckt oder schockiert sein sollte. Wenn schon die Projekte so gut koordiniert waren, dann sicher auch die Termine der Einbrecher. Organisierte Kriminalität im wahrsten Sinn des Wortes, resümierte Paula. Und für die interne Kommunikation verwendeten sie wohl die Gaunerzinken. Paula erinnerte sich an eine Studie, die sie im Sicherheitsmagazin von Security Land gelesen hatte. Dafür waren einsitzende Einbrecher über ihre Gewohnheiten und Arbeitsweisen interviewt worden. Paula konnte sich aber nicht entsinnen, von solch logistisch ausgetüftelten Plänen gelesen zu haben. Sie versuchte, sich auf den Schlüssel zu konzentrieren. Welche Rolle spielte der in diesem Plan? Das wusste nur die Person, die ihr diesen Umschlag zugesteckt hatte. Und dann fiel Paula ein, wo sie die Pinocchio-Figur schon einmal gesehen hatte. Sie war, noch intakt, auf dem Tisch von Anne Maierl, der guten Seele eines großen Secondhand-Ladens gestanden, den Paula am vergangenen Donnerstag aufgesucht hatte. Der Chef Manfred Kovas war nicht zu sprechen gewesen, stattdessen hatte ihr die Assistentin freundlich Auskunft gegeben. Es war ein sehr nettes Gespräch gewesen und Paula hatte der jungen Frau ihre Visitenkarte gegeben. Wenn Paula es recht überlegte, war Anne Maierl die


Einzige, die in letzter Zeit die Möglichkeit gehabt hatte, ihr den Brief zuzustecken, der dann mitsamt den anderen Unterlagen in ihrer Reisetasche gelandet war. Aber warum hätte sie das tun sollen? Paula googelte nach dem Namen. Es dauerte nicht lange, bis sie die Gesuchte gefunden hatte, samt privater Anschrift und Telefonnummer. Es war gleichermaßen bequem wie beunruhigend, wie rasch man Informationen über beliebige Personen im Internet erhalten konnte. 20 Uhr. Früh genug, um noch einen Anruf zu starten. Skrupel, die Frau an ihrem Privatanschluss anzurufen, hatte Paula keine. Immerhin ging es um die gute Sache. Doch die musste warten, denn es hob niemand ab.


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