FALTER Stadtgespräch 1-25

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Stadtgespräch 1–25 Die Dokumentation

Nr. 43a/13

w i e n e rsta d t g e s p rä ch F O T O S: C H R I S T I A N F I S C H E R , H E R I B E R T C O R N (1)

Alle 25 Falter-Gespräche · Resümee aller Stadtgespräche · Werner Muhm und Armin Thurnher bereden das Projekt Stadtgespräch · Peter Huemer schreibt über das Reden

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Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2422/2013

16.10.2013 14:06:28 Uhr


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FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Günter Wallraff beim Wiener Stadtgespräch mit Peter Huemer im dichtbesetzten AK-Kulturzentrum

Vorwort

Inhalt

Liebe Leserin, lieber Leser,

Wozu Wiener Stadtgespräche? Werner Muhm und Armin Thurnher erklären das Projekt

dieses Heft dokumentiert die ersten sieben Jahre des „Wiener Stadtgesprächs“. Das Stadtgespräch ist ein gemeinsames Projekt der Arbeiterkammer Wien und des Falter. Der Falter interviewt die Gäste des jeweiligen Abends und weist auf die Veranstaltung hin; die AK organisiert die Veranstaltung selbst. Wie diese Kooperation entstand, beschreiben AK-Direktor Werner Muhm und der Autor in einem Gespräch. Peter Huemer reflektiert in einem Essay den Bedeutungsverlust öffentlichen Redens und auch, warum es trotzdem getan werden muss. Vor jedem Stadtgespräch erscheint im Falter ein Vorabgespräch mit dem jeweiligen Gesprächspartner und der Gesprächspartnerin des Abends. Diese „Vor-Stadtgespräche“ werden hier dokumentiert. Da sie nicht genau in der Reihenfolge ihres Erscheinens abgedruckt werden, ist das Erscheinungsdatum jeweils beigegeben (ein Vorgespräch mit Daniel Cohn-Bendit kam nicht zustande und wurde durch ein späteres Falter-Gespräch mit ihm ersetzt). Benedikt Narodoslawsky hat alle Gespräche noch einmal durchgesehen und dazu die Videos der Abendgespräche mit Peter Huemer in kurzen Thesen zusammengefasst. So entsteht, ergänzt durch eine persönliche Reminiszenz des Moderators, ein Eindruck des Stadtgespräch-Abends. Bedanken möchten wir uns beim Team der Arbeiterkammer Wien, das die beeindruckende Liste von Gesprächspartnerinnen und -partnern ermöglicht hat, die wir hier dokumentieren, und bei Christian Fischer, der die Stadtgespräche fotografisch begleitet hat.

Jean Ziegler Über den Kampf gegen den Hunger und den Aufstand des Gewissens

Übers Reden schreiben Peter Huemer über das wechselnde Gewicht öffentlicher Reden

AR MIN THURNHER

Peter Sloterdijk Über den Weltinnenraum des globalen Kapitalismus Marlene Streeruwitz Über Prosecco-Faschismus und Dilett antismus als Widerstand Manfred Nowak Über Menschenwürde, Folter und die Folgen von 9/11 Alice Schwarzer Über die Generation iPorn, falsche Toleranz und Miniröcke Richard David Precht Über Occupy, die Zeit nach der Finanzkrise und dumm machende Siege Daniel Cohn-Bendit Über die Siege der Grünen, Europa und die Notwendigkeit von Kriegen Franz Schuh Über öffentliche Obszönität im Fall F. und über die Tyrannei der Intimität André Heller Über seine kulturelle Prägung, das Jahr 1968 und den Sinn des Lebens Kurt W. Rothschild Über den Börsenkrach von 1929 und die Krise von heute Colin Crouch Über die Gefahr, dass das Internet Instrument der Mächtigen wird Almaz Böhm Über ihren Werdegang vom Flüchtlingskind zur Chefin einer Hilfsorganisation Susan George Über drei Krisen: jene der Finanzwirtschaft, jene des Klimas und jene der Linken Günter Wallraff Über das rückständige Deutschland, den netten Herrn Dichand und eigene Unzulänglichkeiten Michael Haneke Über seine Gründe, keine netten Filme zu machen Oskar Negt Über die Legitimitätskrise der Politik und eine Ausgrenzungsfamilie namens Europa Frank Schirrmacher Über Computer und die Anwendung der Spieltheorie, die unser Leben verformt Feridun Zaimoglu Über das Feindbild Islam und „Fiffis“ wie Strache Giovanni di Lorenzo Über spießige 68er, die Vertreibung politischer Talente und die Fehleinschätzungen des Internets Ingo Schulze Über die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Politik, die blind den Märkten folgt Navid Kermani Über religiösen Analphabetismus und die integrative Leistung des deutschen Fußballs Karen Duve Über Massentierhaltung, Hammelbraten und banale Entscheidungen im Supermarkt Petra Reski Über die Mafia, die in Deutschland und Österreich Geschäfte macht Viktor Mayer-Schönberger Über den NSA-Skandal und dessen politische Konsequenzen Anthony Atkinson Über die Ungleichheit: wie man sie erforschen und wie man sie bekämpfen kann „Führen wir ein Stadtgespräch …“ Fotoeindrücke aus dem Bildungszentrum der AK Wien

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Impressum Falter 43a/13 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschrift en Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at, www.falter.at Redaktion: Benedikt Narodoslawsky, Armin Thurnher Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Raphael Moser; Lektorat: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh; Geschäft sführung: Siegmar Schlager Druck: Leykam Druck GmbH DVR: 047 69 86. Diese Beilage erscheint in Kooperation mit der AK Wien. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Off enlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/off enlegung/falter ständig abrufbar.

Einfach anschauen! Die Stadtgespräche als Video. Zu finden unter stadtgespraech.falter.at

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Werner Muhm und Armin Thurnher beim Gespräch im Büro des AK-Direktors

Wozu Wiener Stadtgespräch? Armin Thurnher: Herr Muhm, Können Sie

sich erinnern, wie es zur Idee des Stadtgesprächs kam? Die Idee ging von der Arbeiterkammer aus. Warum? Werner Muhm: Wir wollten uns öffnen. Wir wollten nicht den Standardgast der Arbeiterkammer, wir wollten jüngeres, durchaus auch intellektuelles Publikum anziehen, Leute, mit denen wir nicht ohne weiteres in Kontakt kommen. Weiters wollten wir einen Beitrag zum gesellschaftlichen Diskurs liefern, wir wollten Qualität haben, Stellung beziehen und schon auch so etwas wie ein Alleinstellungsmerkmal erreichen, um dieses Modewort zu gebrauchen. Thurnher: Gerade in Wien eine nicht so leichte Aufgabe. Das Angebot ist enorm. Muhm: Ja, also haben wir uns gefragt, wie können wir hier etwas Besonderes machen, das, obwohl es etwas Besonderes ist, trotzdem auch für ein breiteres Publikum interessant bleibt. Wir wollten den

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Werner Muhm und Armin Thurnher über das gemeinsame Projekt von AK-Wien und Falter

Saal füllen. Also haben wir überlegt: Wer hat Zugang zu jüngerem Publikum, wer hat Qualität, wer hat intellektuelle Leser? Die Wochenzeitung Falter. Und als Moderator Peter Huemer, ein bekannter, erfahrener Journalist. Thurnher: Die Entscheidung für einen Moderator ist natürlich ein wichtiges ­Qualitätskriterium. Huemer ist sicher in Österreich der Inter­viewer schlechthin, allein durch seine Gespräche auf Ö1 und seine Geschichte als Verantwortlicher des historischen „Club 2“. Für unsere Dokumentation schreibt er einen Essay über das Interviewen. Muhm: Dann ging es schon ans gemeinsame Konzipieren der Veranstaltung. Wir bieten ja nicht nur ein Interview, sondern es geht meist um die Vorstellung eines aktuellen Buches. Der Autor oder die Autorin legen ihre Standpunkte in einer kurzen Präsentation dar, man bekommt einen Eindruck von der Person, dann folgt das Gespräch mit Huemer und dann kommt das Publikum zu Wort. Thurnher: Als uns die Arbeiterkammer angesprochen hat, haben wir kurz überlegt. Uns schien in gewisser Weise die Arbeiterkammer eine konservative Institution – ich sehe, Sie zucken zusammen …

Muhm: Allerdings! Wir sind nicht konserva-

tiv, wir sind in vielen Fällen Gegenmacht! Thurnher:Ich schildere Ihnen nur unsere erste Reaktion. Muhm: Wenn wir die Einladungsliste anschauen, sehen wir klar, dass der wirtschafts- und gesellschaftspolitische Kurs, der hier vorkommt, nicht der Mainstream der Ökonomie ist. Die Arbeiterkammer vertritt auch nicht diesen Mainstream. Sozialkonservativ! Wenn ich daran denke, dass die Expertisen der Arbeiterkammer Schwarz-Blau stark unter Druck gebracht haben! Die Kombination der Experten der Arbeiterkammer und des ÖGB als historischer Kampforganisation hat da auch einiges bewirkt. Wir sind also eine Organisation, die Vorhaben der Regierungen analysiert und gegebenenfalls kritisiert. Thurnher: Also gut, ich revidiere „konservativ“ und sage „protektiv“. Vielleicht stellt sich dieses Protektive als beharrend dar und wird deshalb als konservativ empfunden. Muhm: Ja, aber das Schützen ist in der Welt, in der wir uns bewegen, bitter nötig! Wir sind keine Schreibtischtäter, wir nehmen im Jahr zwei Millionen Beratungen vor, von denen 70 Prozent das Arbeitsrecht betreffen. Es ist ein Unterschied, ob Sie etwa im Handel 100 Prozent Abdeckung durch Kol-

Foto: Christian Fischer

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ieben Jahre gibt es nun schon das Wiener Stadtgespräch als Gemeinschaftsprojekt von Falter und AK. Da ist ein Gespräch darüber fällig, wie es zu diesen Gesprächen kam. Armin Thurnher traf zu diesem Zweck Werner Muhm, den Direktor der Arbeiterkammer Wien.

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STADTGESPR ÄCH lektivverträge haben oder, wie in Deutschland, nur 40 Prozent. Alle anderen haben Leiharbeit, und auch die ist bei uns besser geregelt. Also diese Schutzfunktion besteht sehr zu Recht. Thurnher: Ich wollte nur darauf hinweisen, dass nicht nur für manche im Publikum, auch für uns selber die Partnerschaft überraschend war. Und zwar weniger inhaltlich gesehen als kulturell. Sie haben ja sicher auch überlegt – wir und der Falter, ist das für uns der richtige Partner? Sind das nicht unberechenbare linkslinke Chaoten oder so? Muhm: Nein, gar nicht. Das ist nicht unsere Position dem Falter gegenüber. Thurnher: Ich rede von der Anlaufphase. Wenn ich in Ihrem Büro sitze und mich so umsehe, sehe ich ja ganz anderes, viel mit Liebe gesammelte Kunst zum Beispiel. Aber ich muss sagen, bei uns war die Idee, das Image der Arbeiterkammer zu ändern, auch gut angebracht. Muhm: Wir haben ganz hohe Zustimmungsraten zu unserer Arbeit. Das Notenbankbarometer sagt, dass 68 Prozent der Bevölkerung zu unserer Arbeit sehr großes Vertrauen haben. Aber es ist richtig, wird sind natürlich eine starke Organisation, und da kann man schon einmal den Eindruck gewinnen, die sind, wie Sie es formulieren, konservativ. Wir verstehen uns so nicht, aber wenn die Wirklichkeiten auseinanderfallen, muss man daran arbeiten. Daher auch die Idee, jüngeren, intellektuell interessierten Menschen zu signalisieren, uns liegt viel am Diskurs und an gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Thurnher: Die Einladungsliste zu den Stadtgesprächen gibt Ihnen Recht. Da stehen nicht nur Linke darauf. Muhm: Ja, uns ging es um ein breites Spektrum von Menschen, die zu kulturellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Themen der Gegenwart Stellung beziehen. Thurnher: Ich erinnere mich daran, dass wir alle über den Besuch des ersten Gesprächs verblüfft waren. Gast war Jean Ziegler, und das Publikum war nicht das, mit dem wir gerechnet, und wohl auch nicht das, mit dem Sie gerechnet haben. Weit über 700 Leute! Das waren Attac-bewegte, fast nur junge Leute, die den Saal regelrecht gestürmt haben. Was sind Ihre Erinnerungen daran? Muhm: Wir waren froh, dass wir mit der Auswahl des ersten Referenten so einen Zuspruch hatten. Ein guter Start war wichtig, und Ziegler hat das mit seiner bekannten Art glänzend gemacht. Es hat sich von Anfang an bewährt, dass der Falter mit einem Interview vorweg auf die Veranstaltung hinweist und damit einen zusätzlichen Impetus gibt. Thurnher: Vielleicht sollten wir erklären, wie jemand überhaupt zu einem Stadtgespräch eingeladen wird. Etwa zwei- bis dreimal jährlich treffen wir uns hier in Ihrem Büro zu einer richtigen Redaktionssitzung, wir, das sind Sie, Peter Huemer, die Mitarbeiterinnen der Arbeiterkammer – am Anfang Thomas Fessler, Arthur Ficzko und Ilse Wintersberger, jetzt Nina Matousek und Roman Berka –, Falter-Geschäftsführer Siegmar Schlager und ich. Wir wälzen die Vorschläge hin und her, die jeder mitbringt. Oft geht man mit einem Kandidaten hinaus, an den man vorher gar nicht dachte, manchmal ist man sich auch schnell einig. So entsteht dann die Wunschliste, und man muss sagen, die meisten Gäste, die wir eingeladen haben, sind auch gekommen. Muhm: Im Rückblick fällt auch auf, wie breit das Feld ist! Von Petra Reski, die einen äu-

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„Wir sind nicht konservativ! Wir sind in vielen Fällen Gegenmacht!“ – „Ich schildere Ihnen nur unsere erste Reaktion“

Zur Person Werner Muhm (63) ist Direktor der Arbeiterkammer Wien Armin Thurnher (64) ist Herausgeber und Chefredakteur des Falter

Zum Nachsehen unter www.wienerstadtgespraech.at und stadtgespraech.falter.at finden Sie Aufzeichnungen der bisher geführten Gespräche Okto-TV sendet das Stadtgespräch zeitversetzt in voller Länge www.okto.tv

ßerst spannenden und höchste interessanten und brisanten Vortrag über die Mafia gehalten, hat bis zu Karen Duve, die sich mit dem Ernährungsthema befasste. Thurnher: Können Sie eine politische Wirkung eines einzelnen Gesprächs konstatieren? Wir haben ja viele Gäste, die nicht aus Österreich kommen. Muhm: Wenn ich nur an das bislang letzte Gespräch mit Viktor Mayer-Schönberger denke, war ich selber so beeindruckt, dass ich gebeten habe nachzudenken, ob wir nicht in unseren Forderungen an die neue Bundesregierung ein paar der von ihm angesprochenen Punkte aufnehmen. Wir diskutieren das intern, viele Kolleginnen und Kollegen haben auch nach anderen Veranstaltungen das eine oder andere in unserem Haus noch einmal zum Thema gemacht. Thurnher: Und wie steht es mit den Ökonominnen und Ökonomen? Muhm: Einige Gespräche, etwa jene mit Tony Atkinson und Colin Crouch, strahlten weit über den Saal hinaus und fanden auch größeres Echo in anderen Medien. Das ist wichtig, weil der Siegeszug des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus nach dem Zusammenbruch der Kommandowirtschaften im Osten 2008 in die Katastrophe geführt hat. Und hätte der vielgescholtene Staat nicht eingegriffen, hätten wir nicht nur die größte Wirtschaftskrise gehabt, sondern eine wirkliche Katastrophe. Also diese Präsentationen, die den Mainstream hinterfragen, sind sehr wichtig, und wenn ihr Einfluss nur über einen Sickerprozess all derer stattfindet, die dort teilnehmen. Thurnher: In jüngster Zeit wird da und dort artikuliert, dass wir eine zweite Aufklärung brauchen und man dafür ein Netz der linken, linksliberalen, auch zivilgesellschaftlichen Kräfte in Europa knüpfen muss. Ist es zu groß angetragen, wenn man das Stadtgespräch als Punkt in einem solchen Netz definiert? Ich glaube nicht. Muhm: Wir arbeiten an so etwas wie dieser zweiten Aufklärung. Wir meinen auch, dass das Stadtgespräch ein solcher Punkt ist. Wir haben vor einiger Zeit eine umfangreiche Netzwerkanalyse gemacht mit der Frage: Wo sind ähnlich denkende Organisationen in Österreich, die sich gesellschaftlichen Themen wie Verteilungsgerechtigkeit und Fairness widmen, die sich fragen, wohin geht dieser Kapitalismus, dient er noch den Menschen? Im November machen wir im AK-Bildungszentrum eine Reichtumskonferenz, wo wir mit einigen Organisationen wie Attac, der Armutskonferenz und anderen diese Themen weiter bearbeiten. Thurnher: Die feministische Politologin Nancy Fraser geht in einem Aufsatz der Frage nach, warum die Linke nicht gewinnt. Sie konstatiert, dass anders als in den 1930er-Jahren nicht mehr nur die neoliberalen Marktentfessler und die sozial-protektiven Kräfte, wie etwa die Sozialdemokratie, einander gegenüberstehen. Ihr zufolge sind nun die emanzipativen Kräfte dazugekommen, von Frauen-, Schwulenbewegung bis zu den NGOs. Sie verändern das Bild, weil sie Allianzen mit den neoliberalen Kräften eingehen und die protektiven Kräfte eben konservativ erscheinen lassen. Wir haben also eine neue Situation, in der es zu neuen Konstellationen kommt. Der Neoliberalismus hat sein Charisma teilweise von den emanzipativen Bewegungen geborgt, die protektive Linke ist in der Defensive, um es nur anzudeuten. Muhm: Die Sozialdemokratie hat zu einigen kritisierten Entwicklungen wesentlich bei-

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getragen, Schröder und Blair haben an der Entfesselung des Kapitalismus heftig mitgewirkt. Gerhard Schröder hat den Niedriglohnsektor geschaffen, die sogenannte Deutschland-AG zerschlagen und den Börsenkapitalismus vorangetrieben, und Tony Blair hat alle Möglichkeiten genutzt, den Finanzplatz London von allen Fesseln freizumachen. Ich denke, viele haben erkannt, dass hier auch von der Sozialdemokratie wenig dagegengehalten wurde. Dieser Diskurs ist jetzt zu führen. Der angeblich rational entscheidende Homo œconomicus und die entfesselten Märkte garantieren eben nicht Wohlstand. Da halte ich es eher mit Jürgen Habermas: erstens die europäische Karte stärker zu spielen und zweitens, da der Kapitalismus keine Alternative hat, zu fragen, wie geht’s im Kapitalismus weiter. Es gibt Hoffnung auf menschenwürdige Systeme, die wohlfahrtsstaatliche Aspekte haben und nicht den Markt in alle Lebensbereiche als entscheidend hineinbringen. Ich hoffe, dass der Dialog, der in diesen Veranstaltungen auch mit der Zivilgesellschaft geführt wird, hier einen Beitrag leisten kann. Thurnher: Wenn man an Diskussionen mit Susan George, Jean Ziegler oder auch Ingo Schulze denkt, ganz sicher. Oder auch an Oskar Negt, dessen konzise Analyse mich sehr beeindruckt hat. Welches Gespräch hat Ihnen in diesem Sinn am meisten gebracht, wo haben Sie am meisten gelernt, wo haben Sie am meisten mitgenommen? Muhm: Ich habe immer wieder bei Rothschild etwas gelernt, es war wunderbar, diesen klugen Mann zu hören. Er hat in Österreich lange keine Professur erhalten. Ehe Hertha Firnberg Wissenschaftsministerin wurde, war es im Österreich der 1960erJahre nicht möglich, dass linke Ökonomen eine Professur bekommen! Heute unvorstellbar. Rothschild bringt die Dinge immer ganz einfach auf den Punkt. Und Colin Crouch natürlich, in seiner Analyse, in den Schlussfolgerungen weniger. Thurnher: Sie meinen, weil die Rolle der Zivilgesellschaft merkwürdig unpräzise bleibt. Muhm: Ja. Und Viktor Mayer-Schönberger hat einige Entwicklungen in Sachen Big Data aufgezeigt, die mir so klar nicht vor Augen waren. Dass man der Verurteilung nicht entkommt, auch wenn man die Tat noch gar nicht begangen hat, das hat mich schon sehr nachdenklich gestimmt. Thurnher: Bemerkenswert war für mich, dass durchaus auch bürgerliche Autoren wie FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher auftraten, der mit seiner digitalen Skepsis allerdings in große Differenzen mit vielen Bürgerlichen geraten ist. Was mir auch am Stadtgespräch gefällt, ist, dass sie zwar medial unterstützt werden durch die VorabInterviews … Muhm: … und die Gespräche, die man auf der AK-Website nachlesen und auch im TVSender Okto nachsehen kann … Thurnher: … ja, aber dass sie eben auch eine eigene Gesprächsöffentlichkeit schaffen. Man glaubt zwar, es gäbe viel davon, aber in dieser Qualität kann es wohl nicht genug geben. Wichtig scheint mir aber auch der Rahmen. Die Referenten laufen nicht weg. Muhm: Nein, sie signieren Bücher, reden mit dem Publikum. Da findet eine Nachbearbeitung statt, das funktioniert wirklich gut. Ich denke, das alles zusammen macht den Erfolg aus. Sieben Jahre, 25 Gespräche, das spricht gewiss für die weitere Zusammenarbeit. F

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Über das Reden schreiben W

er über das Reden nachdenkt, sollte an Heinrich von Kleist denken und an seinen wundervollen Essay: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“. Wenn du etwas wissen willst, „mein lieber, sinnreicher Freund“, heißt es da, dann wende dich nicht an einen, der sich gut auskennt, sondern an den nächsten Bekannten, dem du begegnest. „Es braucht nicht eben ein scharfdenkender Kopf zu sein“, rät Kleist, denn du sollst ihm auch gar nicht zuhören, sondern im Gegenteil selber reden, die Frage, die dich bewegt, formulieren und begründen und so die Antwort finden: „Aber weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist.“

Essay: Peter Huemer

Kleist bezeichnet dies, wie wir es heute be-

zeichnen würden, als „lautes Denken“: einen Zusammenhang nicht durch aufmerksames Zuhören begreifen – was natürlich auch geht –, sondern durch tastendes Reden. Jeder kennt diese Erfahrung: wie wir durch das Darüber-Reden selbst draufkommen, was wir eigentlich meinen und sagen wollen, weil sich während des Redens das dadurch angeregte Denken verselbstständigt hat. Und jeder kennt die umgekehrte Erfahrung, dass uns jemand etwas sagt und wir erwidern: „Das hab ich mir auch schon gedacht.“ Und die Antwort kann richtig und falsch zugleich sein. Solange nämlich etwas, was wir im Kopf haben, nicht seinen sprachlichen Ausdruck gefunden hat, ist es nicht zu Ende gedacht, daher nicht wirklich da und nicht abrufbar. Das Denken braucht die Sprache. Hier führt ein kurzer Weg von Kleist zu Wittgenstein. Zur sprachlichen Formulierung, deren das Denken bedarf, können wir „durch ein vielleicht stundenlanges Brüten“ (Kleist) gelangen oder durch Aufschreiben, leichter wird es uns durchs Reden gelin-

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„Wenn wir unser Reden ernsthaft auf das beschränken wollten, wovon wir wirklich etwas verstehen, dann hätten wir nicht viel zu sagen“

gen. Dessen Grenzen formuliert Wittgenstein im Vorwort zum „Tractatus“ unerbittlich: „Was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muß man schweigen.“ Ein Drittes gibt es nicht. Auf diesen Gegensatz weist schon Kleist hin: dass er uns einerseits empfiehlt, ins Unreine draufloszureden, um dadurch Klarheit in unser Denken zu bringen und im Vorgang des Redens zu entdecken, was wir meinen, und dass er uns andererseits rät, nur von dem zu reden, wovon wir etwas verstehen. Der Widerspruch ist nicht auflösbar, und im Übrigen: Wenn wir unser Reden ernsthaft auf das beschränken wollten, wovon wir wirklich etwas verstehen, dann hätten wir nicht viel zu sagen. So reden wir mit und reden mitunter auch Blödsinn. Aber das macht nichts. Denn das Reden, vor allem das öffentliche Reden, hat stark an Bedeutung verloren. An den Talkshows im Fernsehen kann man das ablesen. Die sind so zahlreich, weil sie billig und weil sie wirkungslos sind. In diesem Zusammenhang scheint ein Hinweis auf den „Club 2“ im ORF sinnvoll, der im Herbst 1976 begonnen hatte. Dieses Format wurde ziemlich bald nach seiner Entstehung eine medienpolitische Sensation und ein Modell für den Sprachraum. Das hängt damit zusammen, dass die Gestalter der Sendung es halbwegs gut gemacht haben, aber das ist nicht der Hauptgrund und darum geht es nicht. Es geht darum, wie wichtig das öffentliche Reden jeweils genommen wird, und das wiederum hängt davon ab, ob eine Gesellschaft optimistisch oder pessimistisch gestimmt ist. Die Nachkriegszeit war schwierig gewesen,

doch in den 50ern begann ein unaufhaltsam scheinender wirtschaftlicher Aufstieg, in den 60ern fing die verängstigte Gesellschaft an, sich zu öffnen, was nicht ohne größere Konflikte abging. Trotz gescheiterter Illusionen, die bis in den Terrorismus führten, wurden die 70er zum sozialdemokratischen Jahrzehnt mit überfälligen Reformen, und das heißt: Die Menschen blieben zuversichtlich. Im Zeichen des historischen Optimismus aber kommt dem Reden besondere Bedeutung zu, das Wort hat

Gewicht, weil die Welt veränderbar scheint. Bevor sie sich aber ändert, muss darüber nachgedacht und geredet werden, und wir alle denken und reden mit. Das ist deswegen so wichtig, weil den Worten Taten folgen sollen. Die Welt soll ja nicht nur verschieden interpretiert werden, „es kömmt drauf an, sie zu verändern“. Alles ist möglich, sagt der historische Optimismus. Alles ist möglich, sagt heute die Lottowerbung. Der Unterschied ist bezeichnend. In den 80ern ist das Klima in der Gesellschaft allmählich gekippt. Es begann mit Thatcher und Reagan zu Beginn des Jahrzehnts und deren ökonomischem Denken, das zunächst als „Thatcherism“ und „Reagonomics“ bezeichnet und später unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammengefasst wurde. Der Neoliberalismus bringt nicht nur finanzielle Verluste für die Unterschicht und große Teile der früheren, nun zerbröselnden Mittelschicht mit sich, sondern auch einen radikalen Bedeutungsverlust von Gesellschaft und deren Gestaltungsmöglichkeiten. Gesellschaft gibt es gar nicht, behauptete Margaret Thatcher. Ab nun regieren wirtschaftliche Sachzwänge und die alternativlose Vernunft der Ökonomie. Eine kleine Minderheit wird steinreich, der Großteil wird zur disponierbaren Masse. Das macht Menschen traurig und wütend. Die Konsequenz liegt auf der Hand. In solchen

Zeiten des historischen Pessimismus, da der Einzelne immer wieder seine Ohnmacht zu spüren kriegt, verliert das Reden seine ­Bedeutung, weil es nichts ändern kann und weil auch niemand auf die Idee kommt, es könnte etwas ändern. Das macht ­Talkshows heute so unerheblich, selbst wenn sie ­intelligent und interessant sind. Weil es in Wirklichkeit um nichts geht, weil keine Hoffnungen damit verknüpft sind. Das macht den Vergleich zwischen dem „Club 2“ der 70er und frühen 80er mit der vor einiger Zeit wieder eingestellten Neuauflage des ­„Club 2“ so unfair. Nostalgie ist ein menschliches Grundbedürfnis, aber dabei soll nicht übersehen werden: Der ursprüngliche „Club 2“ begann in den Zeiten des historischen Optimismus, schien daher wichtig zu sein,

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Ernst und heiter, immer informativ: Peter Huemer hat – mit zwei Ausnahmen – alle Abende der Wiener Stadtgespräche moderiert

FOTOS: CHRISTIAN FISCHER

Die Bedingungen öffentlichen Redens haben sich gewandelt. Dennoch müssen wir reden. Reflexionen über Wirkung, Wirkungslosigkeit und Wichtigkeit von öffentlicher Rede. Und ein Aufruf zur Bescheidenheit und ging in den frühen 90ern ruhmlos unter, nachdem ein buchstäblich schrankenlos gewordener Kapitalismus drauf und dran war, die Welt in den Griff zu kriegen. Die Neuauflage des „Club 2“ vor etlichen Jahren fand unter ebendiesen Bedingungen statt und hatte daher nicht die geringste Chance, auch nur scheinbar wichtig zu werden. Erschwerend kam hinzu, dass er mit seinem gleichnamigen Vorgänger verglichen wurde. Es gibt noch einen weiteren Unterschied: Wenn die Gesellschaft veränderbar scheint, dann quillt sie über von Streitthemen, die beredet werden müssen. Und dann wird auch entsprechend heftig gestritten: weil es um etwas geht. In der Frühzeit des „Club 2“ waren die wichtigsten Themen Frauenbewegung und Ökologiebewegung, daneben zahllose kleinere. Heute jedoch geht es um eine einzige Frage: ob die Politik in der Lage sein wird, die Macht von einer international weltweit vernetzten Oligarchie, die auch die Steuern verweigern kann, zurückzuerobern, und ob in Zeiten der ökonomischen Sachzwangherrschaft die Demokratie überleben kann oder ob sie zur entleerten postdemokratischen Hülle wird, wie Colin Crouch meint. Ehe das nicht geklärt ist, ist es zwar interessant, trägt aber zur Lösung der Probleme kaum bei, über Weltbevölkerung, Klimawandel, Hunger usw. zu reden. Man kann es tun, aber wozu, wenn die von uns Gewählten nichts zu entscheiden haben? Die Machtfrage ist daher das Thema, über das zu reden ist – wobei wir uns allerdings bewusst sein sollten, dass darüber reden und öffentliche Meinung die Entscheidung in dieser Frage kaum beeinflussen können. Abschließend dazu: So kam es, dass dem „Club 2“ in den späten 70ern und frühen 80ern eine gesellschaftliche Wirkung zugesprochen wurde, die er in Wirklichkeit wohl nicht gehabt hat, aber alle, Politik, Wirtschaft, die Institutionen, glaubten damals an die Macht des Wortes – die Gestalter der Sendung übrigens auch. Das hat das Format insgesamt spannend gemacht, selbst wenn einzelne Ausgaben langweilig und missglückt waren. Da gilt aber auch der Umkehrschluss: In Zeiten des historischen Pessimismus ist das Format an sich

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„Aber auch wenn es nichts bewirkt, hört das Reden nicht auf. Wir können nicht anders. Dazu gehört auch: das Reden vor Publikum in einem Saal“

uninteressant, und sei die einzelne Ausgabe noch so geglückt. Einschub, um den Unterschied noch klarer zu machen: In historisch optimistischen Zeiten werden die Bücher über die Liebe von Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Psychoanalytikern, Ethnologen, von Geisteswissenschaftlern also, geschrieben. In historisch pessimistischen Zeiten lesen wir Bücher über die Liebe von Biologen, Medizinern, Genetikern, Biochemikern, Ethologen, von Naturwissenschaftlern also. Optimistisch ist die Milieutheorie: Der Mensch ist lernfähig und veränderbar. Reden ist wichtig. Pessimistisch ist die Vererbungslehre: Der Mensch ist weitgehend festgelegt. Reden ist unwichtig. Im einen Fall dominieren die Geisteswissenschaften, im anderen die Naturwissenschaften. Ökonomisch heißt das: Keynes contra Hayek. Aber auch wenn es nichts bewirkt, hört das Reden nicht auf. Wir können nicht anders. Dazu gehört auch: das Reden vor Publikum in einem Saal. Das kann natürlich selbst dann gelingen, wenn keine Hoffnungen auf Veränderung damit verknüpft sind. Es muss aber genügend informativ sein, ausreichend intelligent, nicht langweilig (ganz besonders wichtig!), sollte im Gegenteil manchmal kurzweilig sein, denn die Gesellschaft will unterhalten werden. Der eingeladenen Gast sollte möglichst prominent sein und – zumindest bei einem älteren Publikum – als provokant gelten, um den Saal zu füllen (Jean Ziegler, Alice Schwarzer, Dany Cohn-Bendit, André Heller usw.), oder das Thema sollte hochaktuell, aber noch nicht totgeredet sein, wie zuletzt beim Wiener Stadtgespräch über Big Data mit einem sehr kompetenten Professor aus Oxford, dessen Name jedoch zuvor nur Eingeweihten bekannt war. Mit Politikern (nicht mit allen!) ist es schwierig, wenn sie öffentlich auftreten, und ganz besonders, wenn sie in einem audiovisuellen Medium auftreten. Das liegt vor allem an deren Art zu reden. Die wird trainiert, und es gibt in diesem Geschäft offenbar festgelegte Regeln, die sich nicht am Einzelnen und dessen Möglichkeiten, Stärken und Schwächen orientieren, sondern die jedem wie ein strammes Korsett übergestülpt werden. So müssen intelligente,

eher weich wirkende Menschen, bei denen man sich vorstellen kann, dass sie beim Reden nachdenken, dass sie zögern und sich selber fragen, ganz offensichtlich gegen ihr Naturell mit einer sturen Entschlossenheit sondergleichen reden, die kein Wenn und Aber kennt, dadurch eher dumm wirkt und die Zuhörerschaft quält, weil alles falsch klingt. Und dann fragt man sich unwillkürlich: Kann dieser künstlich entfremdete Mensch noch ganz normal und weniger nachdrücklich beim Kellner eine Nudelsuppe bestellen? Oder redet er dort schon genauso? So, wie manche über- oder jedenfalls falsch trainierte Politiker reden, redet aber niemand. Das bringt sie uns auch nicht näher. Sie scheitern nicht nur an ihren begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten, sie scheitern schon beim Reden. Zum Schluss: Es ist unbestritten, dass der

Anfang des Johannesevangeliums „Im Anfang war das Wort“ ins Lateinische und später dann ins Deutsche aus dem Original falsch oder jedenfalls sinnverkürzt übersetzt worden ist – worüber sich bekanntlich auch Faust in seiner Studierstube intensiv den Kopf zerbricht. Faust gelangt unter anderem zur Version „Im Anfang war die Tat“. Das entspricht zwar nicht dem Wortlaut des Originals, trifft aber einen Punkt: Worte sind besonders dann wichtig, wenn sie etwas bewirken können. Vom Wort zur Tat – das gilt im Positiven wie im Negativen: die Bibel, „Der Gesellschaftsvertrag“, das „Manifest der Kommunistischen Partei“, „Der Judenstaat“, „Mein Kampf “. Dabei sollten wir uns erinnern, dass der Aufstieg des, bis dahin, Totalversagers Hitler als Redner begann. Weil er das konnte und weil man ihm zugetraut hat, dass er den Worten Taten folgen lassen würde. Hier gilt tatsächlich: Im Anfang war das Wort, dessen Bedeutung allerdings schwindet, wenn nichts dahintersteht. „Worte, Worte, Worte“, klagt Hamlet. Wenn aber Worte nichts gelten, wozu darüber reden und was soll man dazu sagen, über das Reden schreibend? Vielleicht das: Durchs Reden kommen die Leut zsamm. Klingt banal, ist es auch und als Einsicht bescheiden, aber nicht falsch, selbst wenn das Ergebnis zuweilen dürftig ist. F

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Jean Ziegler Falter: Sie sind nach Jahrzehnten als Universitätsprofessor und Parlamentsabgeordneter nun UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Ist das auch eine Rückkehr zu Ihren Wurzeln? Jean Ziegler: Mein Schlüsselerlebnis war im Kongo, da war ich ein ganz junger Mann. Ich arbeitete damals – Mitte der 60er-Jahre – für die Uno. Das war ja das erste Mal, dass die Weltorganisation ein Land übernommen hat. Wir saßen in unserem Luxushotel in Kinshasa, das war bewacht von den Gurkhas, den nepalesischen Blauhelmen. Täglich kamen Kolonnen halbverhungerter Kinder aus der Stadt. Die Köche warfen ihnen Speisereste über den Stacheldraht. Die Kinder kletterten in den Draht, rissen sich

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23.3.2006 Der Moralist und Bestsellerautor über den Kampf gegen den Hunger und den Aufstand des Gewissens Gespräch: Robert Misik

die Finger auf. Die Gurkhas schlugen ihnen auf den Kopf, damit sie nicht rüberkommen. Damals habe ich mir geschworen, nie wieder auf der Seite der Henker zu stehen – auch nicht zufällig. Später hatten Sie dann ein berühmtes Zusammentreffen mit Che Guevara. Ziegler: Zunächst fuhr ich mit der kommunistischen Jugendorganisation nach Kuba. Schon damals trafen wir Fidel Castro und Che Guevara. So habe ich die beiden kennengelernt.

nächtliche Skyline von Genf und antwortete: „Schau, das ist das Hirn der Bestie, hier musst du kämpfen.“ Dann drehte er sich um und ging. Ich war zutiefst verletzt. Ich dachte, der hält mich für einen verklemmten helvetischen Kleinbürger. Aber natürlich hatte er Recht.

Wie wurden Sie dann Ches Chauffeur? Ziegler: Als Che Guevara zur Zuckerhandelskonferenz nach Genf kam, haben die Kubaner mich und ein paar andere gefragt, ob wir ihnen helfen – sie hatten ja keine Botschaft, nichts. Sie hatten drei Hotelzimmer für zehn Leute gemietet. Ich besaß einen kleinen Morris und wurde der Chauffeur von Che. Am letzten Abend habe ich zu ihm gesagt: „Commandante, ich möchte mit euch gehen.“

Seither kämpfen Sie gegen die Bestie. Sie haben sich nun den Welthunger vorgenommen. Ziegler: Ich stehe jetzt damit dem ­gegenüber, was eigentlich die Essenz unserer Wirtschaftsweise ist. 100.000 Menschen sterben täglich an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 856 Millionen Menschen sind schwer unterernährt – einer von sechs Menschen auf diesem Planeten. Und das auf einem Erdball, der vor Reichtum überquillt. Schon heute könnten ohne Probleme zwölf ­Milliarden Menschen ernährt werden – also das Doppelte der Weltbevölkerung. Das heißt: Ein Kind, das heute an Hunger stirbt, wird ermordet.

Er war bestimmt begeistert? Ziegler: Che, der ja etwas Rigides, Kaltes hatte, blickte aus dem Fenster über die

Aber kann man das dem globalen Kapitalismus anlasten? Gehungert wird doch dort, wo er kaum Wurzeln geschlagen hat.

Foto: Christian Fischer

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ean Ziegler war Soziologieprofessor in Genf und langjähriger Parlamentsabgeordneter der Schweizer Sozialdemokraten. Die streitbare, global operierende linke Kämpfernatur nahm nach seinem Ausscheiden aus dem Parlament 1999 das Amt eines UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung ein – gewissermaßen als Hungerbekämpfer der Weltorganisation. Die Strukturen der Hungerökonomie hat er mehrfach in seinen Büchern analysiert.

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STADTGESPR ÄCH Jean Ziegler, 79, Soziologe, Politiker und Sachbuchautor. Er war Genfer Abgeordneter im Nationalrat für die Sozialdemokratische Partei und bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Ziegler ist Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNMenschenrechtsrats und gilt gleichzeitig als einer der prominentesten Globalisierungskritiker. Für seine Bestseller („Wie kommt der Hunger in die Welt?“, „Der Hass auf den Westen“) wurde er mit mehreren Ehrendoktoraten und Preisen geehrt

Der Artikel erschien in Falter 11/2006 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/ziegler

Ziegler: Der Hunger hat schon mit einer

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

mörderischen Monopolisierung der Reichtümer zu tun. Die 500 größten multinationalen Konzerne kontrollieren 52 Prozent des Weltsozialprodukts. Sie haben heute eine Macht, die kein Papst, kein König, kein Kaiser je hatte.

Ist der Hunger ein Nebenprodukt oder ist er die Folge einer inneren Logik des Systems? Ziegler: Die Kausalkette ist kompliziert. Es gibt den konjunkturellen Hunger – der klassische Mangel, die Katastrophen, Klima, Heuschreckenplagen, Kriege, all das, was schwache Ökonomien kollabieren lässt. Zehn Prozent der Hungernden auf der Welt sind Opfer solcher Krisen. Viel bedeutender ist der strukturelle Hunger. Die Ursachen dafür: kein Zugang zum Land, fürchterliche Pachtverträge, Kleinstbetriebe, die gegen die Konkurrenz nicht bestehen und die die Menschen nicht ernähren können. Permanent fehlendes Einkommen, informelle Ökonomie. Und diese Struktur wird bestimmt von der Weltordnung und der multinationalen Ökonomie. 90 Prozent der Hungertoten gehen auf das Konto des strukturellen Hungers. Die Konzerne betreiben Profitmaximierung – mit Rendi-

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Jean Ziegler: Der Hass auf den Westen. C. Bertelsmann, 2009

Jean Ziegler: Wir lassen sie verhungern. C. Bertelsmann, 2012

ten bis zu 100 Prozent – und zahlen kaum mehr Steuern, was die öffentlichen Haushalte austrocknet. Also: Der Hunger ist kein Nebenprodukt, er ist ein zentrales Produkt dieses Systems. Aber kann man nicht auch sagen: Wo der Kapitalismus Wurzeln schlägt, rottet er auch den eklatanten Mangel aus – Beispiel China? Ziegler: Die neoliberale Irrlehre glaubt, wenn nur Bedingungen wie Liberalisierung, freier Kapitalverkehr, ein schlanker Staat verwirklicht würden, gäbe es einen wahren Goldregen – das ist so irrational wie das Paradies im Christentum. Die Fakten sehen anders aus: Goldberge türmen sich auf und daneben Leichenberge. Infolge des Prinzips der Profitmaximierung bekämpfen sich die Multis untereinander – und sie führen Krieg gegen die Menschen. Natürlich kommen die Spitzenmanager nicht morgens ins Büro und sagen: „Heute hungern wir Bangladesch aus.“ Aber sobald das Wort Gemeinwohl diffamiert und eliminiert wird, verschwinden hunderte Millionen Menschen. Auch in China gibt es noch ganz fürchterlichen Mangel. Und Indien, das boomende Indien mit Wachstumsraten von acht, neun Prozent, erwirtschaftet heute Reichtümer in der Hochtechnologie, gleichzeitig sind 400 Millionen Menschen unterernährt. Die Hälfte der unterernährten Menschen der Welt lebt in Indien. Ginge es diesen Ländern besser, wenn der globale Weltkapitalismus an ihnen vorbeiginge? Ziegler: In Brasilien sind 44 Millionen Menschen schwer unterernährt. Lula, der Präsident, will den Hunger bekämpfen, hat aber eine exorbitante Auslandsschuld geerbt. Hinzu kommt: Die Multis transferieren Devisen zu ihren Muttergesellschaften. Für Lizenzen, für Saatgut werden unerhörte Summen bezahlt. Das fruchtbare Land ist monopolisiert. All das bedeutet: Es gibt keinen Spielraum für Reformen. Am Ende steht der Hunger, stehen die Favelas, stehen die Kinder, die von Ratten gebissen werden, stehen die Frauen, die mit 30 Jahren aussehen, als wären sie 80. Wie könnte man das ändern? Was etwa kann die EU tun? Ziegler: Die EU müsste ihre Export- und Produktionssubventionen in der Landwirtschaft abschaffen. Alle Industrieländer zusammen haben 2004 für Produktions- und Exportsubventionen landwirtschaftlicher Güter 349 Milliarden US-Dollar ausgegeben – fast eine Milliarde Dollar am Tag! Die Zerstörung der lokalen Märkte in Entwicklungsländern durch Billigexporte aus der EU ist ein schon lange bekannter Skandal. Auf dem Markt in Dakar im Senegal können Sie europäisches Gemüse aus Frankreich, Portugal oder Spanien zu einem Drittel des einheimischen Preises kaufen. Die senegalesischen Bauern rackern sich 16 Stunden unter brennender Sonne ab. Auf dem Markt entdecken sie dann das Dumpinggemüse der EU. Sie haben keine Chance. Was wir brauchen, sind gerechte Regeln. Erscheint Ihnen Ihr Kampf nicht manchmal aussichtslos? Ziegler: Jeder Mensch hat ein Recht auf Glück. Dem muss die Natur, die Wirtschaft unterworfen werden. Ich möchte einen Aufstand des Gewissens befördern. F

Ziegler sprach über den Mord namens Hunger

☛ Der Moderator

Als ich ihn in den 70er-Jahren kennenlernte, setzte er sich mit Schweizer Banken und Multis auseinander. Im Zuge der Globalisierung weitete er seinen Zorn aus. Im AK-Gespräch beschrieb der damalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung ein weltweites mörderisches Ausbeutungssystem. Seine Empörung sei unerträglich ohne die Hoffnung, die er nicht aufgeben wolle. Der Einstieg in die neue Gesprächsreihe war fulminant: Der Saal war überfüllt. Das Gespräch wurde deshalb auch in andere Räume übertragen. :: Huemer über Ziegler:

Zur Person

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FALTER

Die Thesen

Punkt 1: Wir stehen im theoretischen Klassenkampf

Unser Kollektivbewusstsein wird von neoliberalen Wahnideen beherrscht, die auch in die Sozialistische Internationale eingedrungen sind. Der Neoliberalismus steht in diametraler Opposition zur Aufklärung, deren Erbe wir sind – institutionell stehen dafür etwa die Republik oder die Menschenrechte. Der Neoliberalismus besagt, es seien Naturgesetze, die die Wirtschaft beherrschen. Den Menschen als historisches Subjekt gibt es nicht mehr. Wir stehen nun im theoretischen Klassenkampf. Die Waffen sind da: Es sind die intellektuellen Instrumente, die organisatorischen Werte der Französischen und Amerikanischen Revolution. Punkt 2: Die Mörder heißen Auslandsschuld, Agrarpolitik und Weltmarkt

Es gibt mehr als genug zu essen, wer heute verhungert, wird ermordet. Es gibt mehrere Kausalitäten, die dieses tägliche Massaker produzieren, und keine davon ist objektiv begründet. Wer sind die Mörder? Die Auslandsverschuldung der Entwicklungsländer tötet, denn es bleibt kein Geld für soziale Investition oder Infrastruktur. Ebenso die Agrarpolitik der Industrieländer, die ihre eigenen Bauern mit Milliarden subventionieren und Bauern in Entwicklungsländern keine Chance lassen. Schließlich tötet auch der Weltmarkt, also die multinationalen Konzerne, die den Rohstoffmarkt beherrschen, auf dem der Börsenpreis für Lebensmittel verhandelt wird. Punkt 3: Es gibt Hoff nung!

Benjamin Franklin sagte, hinter den Menschenrechten stünde eine Macht, die unbezwingbar sei, nämlich die Macht der Scham. Das ist eine historische Macht. Weil in uns der kategorische Imperativ lebt, gibt es Hoffnung. Er hat zu einer neuen planetarischen Zivilgesellschaft geführt. Es gibt viele Bewegungen wie etwa die Attac-Bewegung, die Hoffnung geben. In einer Demokratie gibt es keine Ausrede fürs Nichtstun.

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Stadtgespr äch Zur Person Peter Sloterdijk, 65, ist Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zählt zur ersten Liga der Denkerprominenz. Sloterdijk ist schon seit seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (1983) ein Star des Geisteslebens. Mit seiner Trilogie „Sphären I–III“ entwarf er eine große neue Zeitdeutung

Der Artikel erschien in Falter 22/2006 und wurde leicht gekürzt. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/sloterdijk/

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eter Sloterdijk, 58, ist Rektor an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien und zählt spätestens seit der TV-Sendung „Das Philosophische Quartett“ (ZDF) zur ersten Liga der Denkerprominenz. Doch eigentlich ist Sloterdijk, der mittlerweile seinen Lebensmittelpunkt in Wien hat, schon seit seinem ersten Buch ein Star des Geisteslebens: 1983 schlug seine „Kritik der zynischen Vernunft“ ein wie der Blitz. Auch danach erwies sich Sloterdijk immer wieder als Denker, der aufs Ganze geht: Mit seiner Trilogie „Sphären I–III“ entwarf er eine große neue Zeitdeutung. Vergangenes Jahr erschien schließlich Sloterdijks Theorie der Globalisierung: „Der Weltinnenraum des Kapitals“. Falter: In einer Rede über die 68er

haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft? Peter Sloterdijk: Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, löst sich in eine gewisse Konfusion auf. Heißt das umgekehrt, dass die Systematik unproduktiv ist?

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21.11.2006 Ein Philosoph durchmisst den Weltinnenraum des globalen Kapitalismus G esp r ä c h : Robert Misik

Sloterdijk: Nicht in jeder Hinsicht. Doch

bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In Ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich? Sloterdijk: Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Es gibt zum Beispiel Weltzustände, in denen Helden noch möglich sind, und Weltzustände, in denen Helden nicht mehr möglich sind. Wenn der Staat noch nicht existiert, ist der Heros der Mann der Stunde. Ist der Staat eingerichtet, wird der Heros kontraproduktiv. Dann kommt er ins Verbrecheralbum, und der Beamte übernimmt das Kommando.

Das verändert die Menschen? Sloterdijk: Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus.

Sie haben Recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

Der Heros als Figur der undichten Zeit, der Beamte als jene der dichten? Sloterdijk: Genau. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas

Globalisierung ist also Stau? Sloterdijk: Wo immer man hinkommt, man hat einen Vordermann. Der Entdecker ist derjenige, der als Erster ankommt. Seine Epoche endete mit dem Polarfieber, an dem waren übrigens sogar die Österreicher beteiligt – was in der Eroberung des „FranzJoseph-Landes“ gipfelte. Als die koloniale Expansion an ihr Ende kam, hat man Eisschollen besetzt? Sloterdijk: Das zeigt, wie wichtig es damals war, irgendwo als Erster zu sein – und wenn es nur eine Insel voller Gletscher war. Sig-

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Peter Sloterdijk

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Starb der Heros wirklich aus? Ist der zeitgenössische Heros nicht der Unternehmer, der Märkte erobert? Sloterdijk: Der Liberalismus und der Neoliberalismus versuchen, dem faustischen Syndrom ein Nachleben zu ermöglichen, obwohl seine Spielzeit abgelaufen ist. Während die Welt als Ganzes sich eher umstellt auf den Typus des Kooperateurs, bleibt der Unternehmer weiter auf Eroberung und Expansion orientiert. So werden Ersatzkontinente für Expansion geschaffen. Deshalb der ungeheure Ansturm auf die Kapitalmärkte – sie sind die heutigen Kolonien und Franz-Josephs-Länder. In der Realwirtschaft ist der Raum schon dicht, dort ist das Gesetz der gegenseitigen Behinderung längst voll entfaltet. Nur auf den Kapitalmärkten geht der imperiale, expansive Gestus noch in die Verlängerung. Diese Welt nennen Sie den „Weltinnenraum des Kapitals“, in dem Erlebnisse im strikten Sinn nicht mehr möglich sind – selbst wenn man reist, kommt man nicht mehr anderswohin. Paradoxerweise finden viele Menschen diesen „Komfortraum“, von dem Sie auch sprechen, gar nicht so angenehm. Es gibt diese Ausbruchssehnsucht. Sloterdijk: Die Menschen leben im Kapitalismus unter Bedingungen, die dem Aufenthalt in einem Treibhaus gleichkommen. Umso spontaner regt sich das Postulat, es müsse noch ein Außen geben. Interessant daran ist, dass man sich dieses Außen doch wieder wie ein anderes Innen ausmalt, wo man unter angenehmen Bedingungen abenteuerliche Erfahrungen machen kann.

funden, mit der Wut dieser jungen Männer etwas anzufangen.

„Fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen“

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Laut Ihrer These gibt es aber doch auch einen Weltaußenraum – eine Antwort auf Toni Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch „Empire“ von einem kapitalistischen Orbit ohne Zentrum, aber auch ohne Außen ausgehen. Was ist denn das für ein Außen, von dem Sie sprechen? Sloterdijk: Negri hat ein strategisches Interesse daran, auch die Armutswelten und die Nichtkomfortzonen für das Empire zu reklamieren, weil er dort die Rekruten seiner Multitude findet, also die Leute, die dagegen sind, die Revolutionäre von morgen. ... die findet er drinnen aber auch. Sloterdijk: Der Traum vom Zusammenschluss der inneren mit der äußeren Opposition ist die Fortsetzung des Traums von der kommunistischen Sammlung. Das ist ein Gedanke, dem ich ein in Kürze erscheinendes neues Buch gewidmet habe – unter dem Titel „Zorn und Zeit“. Ich zeige da, wie die klassische Linke als Zornbank funktioniert hat, bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wussten, dass ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und deswegen funktioniert das Prinzip links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn. Als im letzten November in Frankreich die BanlieueUnruhen ausbrachen, hat sich ja keine der linken Parteien dazu fähig oder bereit ge-

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Was ist der Grund für diesen Zorn? Sloterdijk: Der Aufenthalt im Weltinnenraum des Kapitals impliziert eine Art Lebensversicherung für alle. Das Versprechen des Wohlfahrtsstaats lautete: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut, sondern schlimmstenfalls das Absinken in ein Kleinbürgertum, unter zwar traurigen, aber nicht elenden Bedingungen. Seit klar ist, dass diese Garantie nicht mehr zu halten ist, wächst die Spannung. Doch fürs Erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen. Ein Reflex auf die Globalisierung ist auch der Partikularismus. Ist die Resistenz des Lokalen die Gegenwahrheit zur Globalisierung? Sloterdijk: Das trifft zumindest für Orte zu, die nicht völlig verwüstet werden, nicht völlig zu Transiträumen, Orten ohne Selbst werden – wie die Flughäfen, Hotels. Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das kann man in Mittelund Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo eine Lebenskunst zu Hause ist. Solange diese weltoffene Art des Am-Ort-Seins existiert, ist so etwas wie Bürgerlichkeit im guten Sinn möglich. Auch im Bereich des Transitlebens können erstaunliche Kultivierungsleistungen entstehen. In den gehobenen internationalen Hotelketten wurden für Menschen, die zu viel unterwegs sind, ziemlich lebenswerte Luxusoasen eröffnet. Kennen Sie Menschen, die an solchen Orten glücklich sind? Sloterdijk: Nun ja, das Glück ist eine flüchtige Größe – Freud suggerierte sogar, es sei für den Homo sapiens von der Evolution nicht vorgesehen. Der Mensch muss schon froh sein, wenn er in gewöhnlichem Unglück residiert statt im neurotischen Elend.

Peter Sloterdijk: Die nehmende Hand und die gebende Seite. Suhrkamp, 2010

Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Suhrkamp, 2013

Während man bei der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule immer bereit sein muss, sich deprimieren zu lassen, sind Sie doch eher ein Denker des Fröhlichen. Wie können Sie da sagen, der Mensch ist fürs Unglück bestimmt? Sloterdijk: Die Kritische Theorie war einmal meine theoretische Heimat. Sie war durch die Erfahrung des Holocaust geprägt, durch die Universalentmenschung. Diese lieferte die generationsprägende Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte. Im Übrigen war die Stimmung des französischen Existenzialismus auch nicht viel heller. Die Jahre nach 1968 haben dann einen Test darauf gemacht, wie weit solche Beschreibungen noch taugen – nicht wirklich, wie sich zeigte. Deshalb trat die Nach-68er-Linke als hedonistische Linke auf. Man war sich sicher, dass man durch die eigene Libidoentfesselung das Glück der Menschheit herbeiführt. Sie waren Ende der 70er-Jahre bei der Sanjassin-Sekte, lebten eine Zeitlang bei Bhagwan in Poona. Sloterdijk: Das Indienabenteuer war bei mir

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ein Ausfluss dieser 70er-Jahre-Stimmung. Und hinzu kam die Überzeugung, dass ein rein materialistischer Revolutionsbegriff unzureichend ist. Man wollte damals Basis und Überbau umkehren und den mentalen Faktor ins Zentrum stellen. Manche sagen: „Einmal Trotzkist, immer Trotzkist“. Kann man auch sagen: „Einmal Sanjassin, immer Sanjassin?“ Sloterdijk: Im Grunde ja. Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer Recht hat. F

Sloterdijk: „Glück ist eine flüchtige Größe“

☛ Der Moderator

:: Huemer über Sloterdijk: Der Saal war voll, damit hatte ich bei einem Gespräch mit einem Philosophen nicht gerechnet. Wir diskutierten über Fragen der Globalisierung aus der Sicht der Philosophie, mit denen sich Sloterdijk seit 1999 intensiv beschäftigt hat. Sloterdijk ging dabei zurück bis zum Zeitalter der Entdeckungen um 1500. Die Figur des Seefahrers beschäftigt ihn ebenso wie die Figur des Unternehmers.

mund Freud hat das intuitiv erkannt und seinen Eroberungsdrang nach innen gerichtet, auf das Es – da wollten die anderen nicht hin. Die letzten weißen Flecken lagen im Inneren des Subjekts: das wahre innere Afrika.

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Die Thesen

Punkt 1: Die Günstlingswirtschaft des Glücks

Der moderne Kasinokapitalismus hat einen Traum popularisiert, der von Anfang an in der europäischen Neuzeitgrammatik mitangelegt war: Im 16. Jahrhundert holten die Europäer Göttin Fortuna aus der Antike zurück. Im Gegensatz zur Günstlingswirtschaft der Höfe stand sie für eine Günstlingswirtschaft des Glücks. Das ist eine demokratische Form von Ungerechtigkeit, mit der die Menschen nach wie vor sympathisieren. Punkt 2: Die Gesellschaft der Lottospieler

Die spekulative Ökonomie ist derart demoralisierend, weil sie das Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Belohnung auflöst. Sie erzeugt eine Gesellschaft von Lottospielern. Menschen erwarten sich keinen Leistungslohn, sondern eine Überbelohnung. Dort, wo alle Überbelohnungen erwarten, löst sich die traditionelle kapitalistische Moral auf. Leute, die an der Börse spielen, glauben, Return on Investment sei eine gottgewollte Form der Einkommensbeschaffung. Punkt 3: Unterhaltung als Ernstfall

Die Unterhaltung ist zu einem mächtigen Faktor unserer Realitätsgestaltung geworden. Für all die Menschen, die das Gefühl haben, es geht um nichts mehr und alle wesentlichen Aufgaben sind gelöst oder unlösbar, kann man nur noch Unterhaltung machen. Hier wird Unterhaltung zum Ernstfall.

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Marlene Streeruwitz Falter: Sie hören gerade Rufus Wain–

wright – Begleitmusik wozu? Marlene Streeruwitz: Zum Arbeiten. Diese melodiöse Jammerei ist einerseits ohnehin Grundlage der Gestimmtheit hierzulande, andererseits ein Vergnügen.

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24.10.2006 Die Schriftstellerin über ProseccoFaschismus im Kulturbetrieb und den Dilettantismus als Widerstand G e sp r ä c h : Klaus Nüchtern

Man kann nach der Wahl und der Wahlkartenauszählung doch auch wieder ein bisschen Freude zeigen, oder? Streeruwitz: Ein bissl getanzt hab ich schon. Aber nur ein bissl, und wahrscheinlich ist in Demokratien mehr auch gar nicht richtig. Wie das?

Streeruwitz: Wir haben ja nicht das Mehr-

heitswahlrecht, bei dem dann die einen oder die anderen gewinnen – was ich ja an sich für besser halte, weil es diese Mauscheleien und Unausgesprochenheiten, die wir haben, nicht zulässt. Waren Sie über das Wahlergebnis überrascht? Streeruwitz: Eigentlich schon. Angesichts der Hoffnungslosigkeit der dunklen Wolken, die diese sechs Jahre über uns ausgebreitet haben, war das der rosige Schimmer am Horizont.

Worauf dürfen wir nach der Wahl hoffen?

Streeruwitz: Ich hoffe auf einen Rücktritt

von Schüssel und dass damit Schluss ist mit dem herablassend pädagogischen Ton der ÖVP. Und ich hoffe, dass sich dadurch etwas bewegt. Es muss eine Geschichtsdiskussion geben, damit endlich diese Lager beschrieben werden, die nicht mehr so sind wie früher, aber noch immer so tun, als wären sie es. Ich würde auch sehr gerne wissen, was die ÖVP eigentlich mit „christlich“ meint. Ich finde, dass die Ausländerhasswahnvorstellungen offen benannt und beschrieben werden sollten. Dann kann man auch darüber sprechen, dass es ein Ablenkungsmanöver ist. Was meinen Sie mit „Ablenkungsmanöver“? Streeruwitz: Die Rechte suggeriert: Wenn die Ausländer weg wären, wär’s gut! In Wirklichkeit wird der Mittelstand zerrieben, und die Lebensformen, die unsere Identität be-

Foto: Christian Fischer

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nmittelbar nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses 2006 und der damit verbundenen Aussicht auf einen Machtwechsel begann auch die Spekulation darüber, wer denn Franz Morak als Kunststaatssekretär nachfolgen oder einem neu zu schaffenden Kulturministerium vorstehen könnte. Als eine der ersten Künstler und Künstlerinnen meldete sich Marlene Streeruwitz zu Wort und stellte Forderungen nicht nur an die (Kultur-)Politik, sondern auch an die Kunst: „Kunst und Literatur müssen wieder in ihrer Aufgabe gesehen werden, die Suche nach den gesellschaftlichen Wahrheiten des Jetzt zu betreiben.“

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STADTGESPR ÄCH Zur Person Marlene Streeruwitz, 63, ist eine österreichische Schrift stellerin und Regisseurin. Sie studierte Slawistik und Kunstgeschichte, 1986 veröffentlichte sie ihr erstes literarisches Werk. Für ihre Theaterstücke, Romane und Novellen („Waikiki Beach. Und andere Orte“, „Verführungen“, „Nachwelt“, „Kreuzungen“) erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Hermann-Hesse-Preis, den Literaturpreis der Stadt Wien und den Droste-Preis. Streeruwitz gilt als eine der politisch engagiertesten deutschsprachigen Gegenwartsautorinnen

Der Artikel erschien in Falter 42/2006 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/streeruwitz

stimmen, werden in Mobilität und Unsicherheit aufgelöst. Es geht also nicht um das Ausländerproblem, das so groß nicht ist, sondern um die Frage, wie sich Europa in den nächsten 15 Jahren noch erhalten kann oder ob es Zweite Welt wird, in der 80 Prozent der Menschen unter schwierigsten Bedingungen arbeiten, um die Infrastruktur für die restlichen sehr reichen 20 Prozent zu erhalten. Wie erklären Sie sich die starken Verluste der ÖVP auch in Kernländern wie Niederösterreich? Streeruwitz: Die Wahlkampagne der ÖVP war sehr einschließend und vermittelte: Wir stehen gut da! Da muss man aber dann halt dazugehören, und es gehören weniger dazu, als die Herrschaften von der ÖVP sich das vorgestellt haben. Offenbar haben viele doch gemerkt: Was erzählen mir die? Ich steh nicht gut da! Das soziale Problem darf ja bei uns immer erst benannt werden,

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wenn die bedürftigen Massen schon weinend auf der Straße liegen. Immer musste der Nachweis erbracht werden, dass es tatsächlich genug gibt, denen es nicht so gut geht, und dass eine berechtigt depressive Stimmung herrscht, die niemanden dazu beflügeln kann, großartig positive Werke oder Ideen zu entwickeln. Das Klischee von Künstlerkreativität besagt gerade das Gegenteil: Großes Leid schaff t große Kunst. Streeruwitz: Das hat mit vordemokratischen Gesellschaften zu tun: Wenn einem die Fürsten den Pass verweigert haben und man seine Gedichte anderswo nicht vorlesen konnte, war das natürlich ein Leidensdruck, der Werke erzwang. In einer Demokratie kann es aber nicht bloß darum gehen, dass man alles sagen darf, sondern dass es für jeden und jede einen Raum gibt, Kunst zu entwickeln und davon auch leben zu können. Und das ist im Augen-

„Wir Autorinnen und Autoren werden wie Millionäre besteuert und können deswegen nicht einmal mehr Mittelstandsexistenzen bestreiten“

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blick nicht der Fall. Vor 2000 konnte man gerade noch leben, heute bastelt jeder nur an seiner Existenz. Was ist dazwischen passiert? Streeruwitz: Es gibt keine Strukturen, die Förderung im Projekt betreibt. Durch die Kürzungen können zum Beispiel Literaturhäuser nicht mehr so viele Lesungen veranstalten – da fällt vieles weg, aus dem man sich früher ein Leben zusammengesetzt hat. Sie haben einen deutschen Verlag, werden an deutschen Theatern gespielt ... Streeruwitz: ... und versteuere alles in Österreich. Ich will auch keine Steuern hinterziehen, bin aber knapp am Minimum – und ich verdiene ganz gut. In einem Steuersystem, das für Unternehmer geschaffen wurde und auf Abschreibung ausgerichtet ist, brennt man wie ein Luster, wenn man nichts abzuschreiben hat. Wir Autorinnen und Autoren werden wie Millionäre besteuert und können deswegen nicht einmal mehr Mittelstandsexistenzen bestreiten. Und wenn ich mir was auf die Seite legen könnte, um mir zwei Jahre zu finanzieren – für ein Romanprojekt –, falle ich aus der Sozialversicherung raus und verliere alle Ansprüche. Rudolf Burger würde Ihre Kritik wohl dem „Sklavenaufstand der Moral“ zurechnen. Der Kleinen Zeitung gegenüber hat er gemeint, dass der angeblich von der SPÖ geschürte Hass die „leichtlebige Gestalt“ des Finanzministers nur deshalb getroffen habe, „weil er ein schöner Mann ist“. Streeruwitz: Der Herr Burger soll seine Stellungnahmen lieber auf der Grundlage von Hobbes’ Schriften treffen. Es ist unerträglich, dass Leute sich nur noch mit ihren privaten Gekränktheiten zu Wort melden. Woher weiß der Burger denn Bescheid über die Gründe für den angeblichen Hass auf Grasser? Hat er eine Sozialstudie oder eine Erhebung gemacht oder wenigstens im P1 alle jungen Frauen gefragt? Außer eine Meinung zu haben, hat er auch nichts gemacht! Er hat mitverloren als philosophischer Berater Schüssels. Das macht nicht fröhlich. Sie selbst haben wie viele Künstler eine „Ministerkompetenz zu Kunst und Kultur“ gefordert. Ist das nicht das josephinische Erbe: Gebt uns unseren Ressortmonarchen zurück? Streeruwitz: Wenn es schon Ministerien gibt, dann bitte auch eines für die Kultur. In einem System wie Österreich hat eine Ministerverantwortlichkeit schon ein anderes Gewicht. Von gleich auf gleich ist das richtiger. Ich würde freilich meinen, dass ganz viele Agenden dem Wirtschaftsministerium übertragen werden könnten. Festspiele haben in einem Kunstministerium eigentlich nichts zu suchen. Warum das? Streeruwitz: Weil sie nichts mehr mit Kunst zu tun haben. Wenn immer nur die Umwegrentabilität beschworen wird, dann soll sich das selber tragen und keine Kunstmittel verschlingen. Wie sähe denn Ihrer Meinung nach ein vernünft iges Festival aus? Waren zum Beispiel die Wiener Festwochen schon mal gut? Streeruwitz: Nein, waren sie nie. Aber es war schon mal besser. In der Ära von UrsuFortsetzung nächste Seite

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Fortsetzung von Seite 13

Aber Kleinbühnen sind doch nicht automatisch besser? Streeruwitz: Nein, aber Staatstheater sind einfach sadistische Maschinerien, die nur Unterhaltung produzieren können. Auf einer bestimmten Ebene ist Dilettantismus heute der einzige Widerstand, den man gegen die alles bedeckende Soße einer gleichgeschalteten Perfektion leisten kann. Wer soll uns denn Mut zur Eigenständigkeit machen? Braucht’s da wirklich einen charismatischen, supersensiblen Künstler als Kunstminister oder kann das ein cooler, pragmatischer Beamter auch machen? Streeruwitz: Ich glaube sowieso, dass so einer oder eine viel besser wäre. In den Ministerien gab es ja auch sehr erstaunliche,

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fürsorglich und umfassend agierende Beamte und, wenn sie dorthin aufsteigen dürfen, Beamtinnen. Warum charismatisch? Letztendlich ist Kunstminister dann auch ein Job wie jeder andere. Jemand, der sich mit allen IGs und Verbänden bespricht und sich umfassend über das informiert, was gebraucht wird, ist mir lieber als ein Jack Lang, der sehr gut reden kann, aber dann wieder nix für die Künstler macht. Ich habe überhaupt nichts gegen eine still vor sich hin werkelnde Bürokratie, die sich demokratisch überprüfen lässt. Es muss auch nicht gleich das Paradies eingerichtet werden. Jemand versucht etwas, beendet seine Arbeit, und dann kommt der Nächste und schaut, ob’s richtig war.

der Prosecco-faschistischen Innenwelt der Seitenblicke-Kultur: Wir trinken nach der Vernissage in der Albertina unter den goldenen Kandelabern noch ein Glaserl vom Geld der Steuerzahler auf uns als Aufsteiger in die Sponsorenkohorten. Faschistisch? Nicht eher feudal? Streeruwitz: Nein. Weil feudal sich aus dem Besitz heraus unverantwortlich fühlt, während sich hier ein Zirkel bildet, der mit dem politischen Zugriff auf die Ressourcen ohne jegliche demokratische Überprüfung und Verantwortung über diese verfügt – so was nenn ich faschistisch. Aber das ist doch nicht unbedingt an Parteien gebunden? Streeruwitz: Doch. Die ganzen Donnerstagsdemonstrationen gegen Schwarz-Blau wurden einfach ignoriert. Das ist eine Weigerung, mit dem Souverän zu sprechen. Früher sind die Mächtigen wenigstens auf den Balkon getreten und haben ...

Fällt Ihnen ein Name auch noch ein für jemand, der’s könnte? Streeruwitz: Franz Morak hat doch Gerhard Ruiss genannt. Das find ich gut. Der ist eingearbeitet, leistungsfähig und hat Freude an allen Künsten – sodass er auch keine Bevorzugungsängste auslösen würde. Ist die Politik nie in irgendeiner Form an Sie herangetreten? Streeruwitz: Heinz Fischer hat mich als Parlamentspräsident einmal eingeladen, mich gefragt, ob es wirklich so schlimm ist, hat mir sein Buch geschenkt, und dann bin ich wieder gegangen. Es war sehr nett. Ich vermeide allerdings auch alle Berührungen mit

... gewunken. Streeruwitz: Ja, wenigstens gewunken. Marlene Streeruwitz: Die Schmerzmacherin. Fischer, 2011

Die Demonstranten wollten mit Schüssel & Co reden? Streeruwitz: Wenn 200.000 Menschen am Heldenplatz stehen, erwarte ich mir schon, dass sich eine Regierung dazu verhält oder

Foto: Christian Fischer

la Pasterk wurde uns die Globalisierung in der Kunst vorgetanzt. Diese Riesenproduktionen, die nur mehr vom Budget her gedacht werden, weil sie durch fünf verschiedene Festivals geschleust werden, waren das Erste, was wir – neben McDonald’s – von der Globalisierung gesehen haben. Gleichzeitig ist das Geld dem eigenen Raum entzogen: den Kleinbühnen zum Beispiel. Es kann da nichts mehr geleistet werden, es gibt keine Schauspieler und Regisseurinnen, die sich da bewähren können, keine Werkstätten des Eigenen, die etwas entwickeln könnten.

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STADTGESPR ÄCH Kurz vor dem Gespräch wurde die ÖVP-BZÖRegierung abgewählt. Streeruwitz analysierte den Zustand des Landes

„Die Avantgarde braucht, um überhaupt entstehen zu können, den väterlichen Widerstand. Der wurde 1968 endgültig zerbröselt – zu Recht“

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haupt entstehen zu können, den väterlichen Widerstand. Der wurde 1968 endgültig zerbröselt – zu Recht. Ich würde 68 immer verteidigen! Man hat der unglaublich starren Welt der alten Nazis eine neue Sprache entgegengesetzt. Die Linke hat darin versagt, dass diese Sprache sich in der Konstruktion frei fickender Männer aufgezehrt hat und weder für die Emanzipation der Frau noch des Kindes wirklich zur Verfügung gestanden ist. So ist die Aufklärung wie so oft in einer halbvollendeten Befreiung steckengeblieben. Das beste Beispiel für einen ins Leere rennenden Avantgardisten war Claus Peymann, der sich Jörg Haider suchen musste, weil es keinen Vater mehr gab, gegen den er anrennen hätte können. Und die katholischen 68er wie Wolfgang Schüssel, der aus der katholischen Hochschuljugend kommt, hauen überhaupt – wie im Hochgefühl einer Polsterschlacht – alles beim Fenster raus. Bloß: Der schiere Verlust einer Konvention ist ja noch kein Fortschritt. Die katholischen 68er sind keine Erwachsenen, die Verantwortung übernehmen, es sind keine großen Brüder, die uns als Führer durch eine schreckliche Welt an der Hand nehmen ... Was dann? Letztlich doch die kleinen Ministranten, die wissen, wo die Hostien aufbewahrt sind. Das genügt ihnen auch. F

☛ Der Moderator

:: Huemer über Streeruwitz: Aus aktuellem Anlass – die Schüssel-Haider-Regierung wurde kurz vor dem AK-Gespräch abgewählt – änderten wir die Dramaturgie. Streeruwitz las aus „So ist das Leben“ vor, ihrem Internet-Fortsetzungsroman zur Nationalratswahl 2006. Dazwischen sprachen wir über den Zustand des Landes, den Feminismus und das Leben im Neoliberalismus als „schicksalhafte Naturkatastrophe“.

irgendwas sagt. Aber es wurde einfach ausgesessen. Das hängt mit diesen neuen Sesselklebern zusammen – Männer wie Tony Blair, Gerhard Schröder oder Wolfgang Schüssel müssen wegprügelt werden, weil sie nicht gehen. Sie beschließen eine Karriere für sich und fühlen sich nur sich selbst gegenüber verantwortlich. Gibt es auch so was wie eine schwarz-blaue Ästhetik? Streeruwitz: Das glaube ich schon. Die Albertina-Umbauten von Direktor Klaus Albrecht Schröder etwa folgen einer Investorenästhetik, und die wird nun mal von der ÖVP getragen. Wir leben ja überhaupt in einer Investorenwelt: Nur wer was hineinsteckt, kriegt etwas heraus – die ganze Gesellschaft wird von Geld penetriert. Wir gehen alle nicht zu den Salzburger Festspielen, weil sie uns zu blöd sind ...

verkommene Sache?! Und der Politikerliebling Jürgen Flimm führt Salzburg nun endgültig ins milde Schaumbad der Musikfilmästhetik. Ich mein, mir ist es recht: Die Oper wird dran kaputtgehen.

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Wenn man die harten Töne von Politikerinnen hört, dann haben bürgerliche Frauen das große Problem, bürgerliche Männer übertreffen zu müssen. Sie werden viel härter und haben nie ein Differenzdenken entwickelt, das ihnen eine Einsicht in oben und unten ermöglicht. Sie haben sich immer mit dem Mann identifiziert – und sind einer.

Und darüber sind Sie froh? Streeruwitz: Darüber bin ich froh. Nur die Musik geht leider auch kaputt, genauso wie die Kleinigkeiten, die daran richtig waren. So werden wir zu identitätslosen Postsubjekten: Nicht einmal am Falschen kann man sich festhalten, weil die letzte Regierung sich selbst auch noch das genommen hat, was einmal „Heimat“ geheißen hat.

Abstrakt formuliert: Es gibt keine Territorien mehr, wo man weiß, was überhaupt noch gespielt wird? Streeruwitz: Richtig. Weil mühsam gewachsene politische Konventionen im Rausch der Selbstbejubelung weggeschoben wur... vor allem zu teuer! den. Demonstrationen werden ignoriert, Streeruwitz: Zu teuer und zu blöd. Egal. Es Gesetze nicht mehr zur Begutachtung vorist schlicht obszön, wie Salzburg von den gelegt – speed kills! Leuten, die das Geld haben, genommen wird. Der öffentliche Raum, der ohnedies Hat die Linke da nicht auch den Fehler schon karg genug ist, wird durch die Priva- gemacht, Konventionen generell als Ballast tisierungen unglaublich zurückgestutzt. Die der Reaktion zu betrachten und sich nie die Massen sitzen draußen und schauen sich Frage zu stellen: Was gilt es zu bewahren? die Opern auf der Videoleinwand an, und Was ist wert, auch verteidigt zu werden? das Hochkulturpublikum darf wirklich ins Streeruwitz: Ich glaube, es ist ein AvantgardeFestspielhaus. Was ist denn das für eine problem. Die Avantgarde braucht, um über-

Die Thesen

Punkt 1: Politikerinnen wollen härter sein

Punkt 2: Das Problem der Emanzipation

Bei der Arbeiteremanzipation ist es ähnlich wie bei allen Emanzipationen – egal ob bei Frauen oder Schwarzafrikanern. Es kann immer eine Form von Freiheit und Möglichkeiten erworben werden, aber all diese Emanzipationsbewegungen schaffen es nicht, ihre Errungenschaften über die Generationen weiterzugeben. Die Töchter meiner Generation sagen also: „Emanzipation kann die Mama machen, aber mich soll sie damit im Kraut lassen.“ Punkt 3: Das geschlechtlose Zeitalter

Marlene Streeruwitz: Entfernung. S. Fischer, 2006

Die Männer sind sich nicht im Klaren, in welcher Situation sie sind. Durch den neoliberalen Umbau der Welt haben wir kein Geschlecht mehr. Wir sind alle nur noch durch die Frage definiert: Haben oder Nichthaben. Das Geschlecht ist eine reine Performanz und gibt den Männern nur noch einen winzigen Vorsprung – vor allem in einer konservativen Gesellschaft wie in unserer haben sie noch Vorteile.

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n den vergangenen Jahren hat Manfred Nowak viel Elend gesehen. Als UNSonderberichterstatter für Folter reiste er in die schlimmsten Gefängnisse dieser Welt, erhob seine gewichtige Stimme für die Machtlosen, übte international Druck aus, um den Gepeinigten zu ihrem Recht zu verhelfen. Nowaks Kampf für die Menschenrechte dauert bis heute an.

Falter: Herr Professor Nowak, wie erklären Sie einem siebenjährigen Kind, was Menschenrechte sind? Manfred Nowak: Menschenrechte sind Grundprinzipien über die Frage, wie Menschen miteinander umgehen, ob im Rahmen einer Familie, eines Staates oder eines Krieges. Dabei gilt die goldene Regel: Was du nicht willst, das dir angetan wird, das tu auch keinem anderen an.

Zugespitzt formuliert haben die USA diese Regel nach 9/11 ins Gegenteil verkehrt: Weil sich unsere Feinde nicht an die

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22.2.2007 Der österreichische Völkerrechtler über Menschenwürde, Folter, George W. Bush und die Folgen von 9/11 Gespräch: Stefan Apfl

Menschenrechte halten, können wir diese uns im Kampf gegen sie auch nicht leisten. Nowak: Genau das war das Fatale nach 9/11. In einer streitbaren Demokratie sollten Rechtsstaat und Menschenrechte stark genug sein, um nicht die eigene Werteordnung infrage zu stellen. In den USA war dies aber leider der Fall. Die Anschläge haben gezeigt, wie fragil das amerikanische System ist und wie schnell es sich von seinen eigenen Werten verabschiedet, wenn es im Kern getroffen wird.

te: Wenn man schon Menschenrechte anwendet, dann gelten sie nur für das Territorium der USA, aber nicht für Guantánamo Bay oder Abu Ghraib. Auch das ist rechtlich falsch, weil Regierungen für extraterritoriale Handlungen verantwortlich sind. Zuletzt hat Bush die Definition von Folter mit fragwürdigen Rechtsgutachten stark eingeengt, indem er sagte, unmenschliche Behandlung würde erst dann zur Folter, wenn sie schwere langfristige physische und psychische Folgen hat.

Die Regierung Bush hat das absolute Folterverbot relativiert. Wie hat man das zu legitimieren versucht? Nowak: Zunächst hat man gesagt, es handle sich um einen Krieg, den „war on terror“. Aber kann ein Land mit einer losen Organisation wie al-Qaida völkerrechtlich überhaupt Krieg führen? Bush jedenfalls verhängte das Kriegsrecht, ignorierte aber, dass auch im Krieg ein absolutes Folterverbot herrscht. Das nächste Argument laute-

Oft wurde das „ticking-bomb scenario“ bemüht: Wenn wir die Informationen nicht aus dem Terroristen herausbringen, könnte es zu einem zweiten 9/11 kommen. Nowak: Ja, und ich bin auch überzeugt, dass die CIA durch Folter zu Informationen gekommen ist, die für sie von großem Nutzen waren. Umso schwerer ist es, den Leuten klarzumachen, dass das Recht auf Leben letztlich sogar weniger wichtig ist als das Recht, nicht gefoltert zu werden. Wenn

Foto: Heribert Corn

Manfred Nowak

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STADTGESPR ÄCH Manfred Nowak, 63, Jurist und seit 2007 Professor für internationalen Menschenrechtsschutz am Institut für Europarecht an der Universität Wien. Er war Mitgründer des LudwigBoltzmann-Instituts für Menschenrechte, von 1993 bis 2006 hatte er verschiedene Funktionen als UN-Experte für erzwungenes Verschwindenlassen inne. Bis 2003 war er einer von acht internationalen Richtern an der Menschenrechtskammer für Bosnien und Herzegowina, von 2004 bis 2010 übte er das Mandat des UNSonderberichterstatters für Folter aus. Für seine Arbeit wurde er 2007 mit dem Bruno-Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte geehrt

Der Artikel erschien in Falter 36/2011 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/nowak

die Tötung eines Geiselnehmers die letzte Möglichkeit ist, eine andere Person zu retten, ist dies moralisch, rechtlich und philosophisch rechtfertigbar. Folterung hinge- Manfred Nowak: gen kann niemals gerechtfertigt werden. Die Folter. Kremayr & Bush-Regierung hat sogar die Verrechts- Scheriau, 2012 staatlichung von Folter gefordert. Wenn sich ein US-Polizist in einem ticking-bomb scenario befindet, sollte nicht er, sondern ein Gericht entscheiden, ob gefoltert werden darf. Das ist das Horrorszenario. Dann sind wir wieder in der Zeit Karls V., wo ein großer Teil der Strafprozessordnung davon handelte, wie und warum jemand gefoltert werden darf. Welche Mechanismen haben versagt, dass sich ausgerechnet die USA in einen feudalen Staat zu verwandeln drohten? Nowak: Die Amerikaner wurden erstmals auf ihrem eigenen Territorium angegriffen. Gleichzeitig war eine Regierung an der Macht, die generell nicht viel von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ge-

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Manfred Nowak und Elizabeth McArthur: The United Nations Convention Against Torture. Oxford University Press, 2008

halten hat. Als ich in den 70er-Jahren in den USA studiert habe, war ich begeistert von der amerikanischen Gewaltenteilung, den checks and balances. Präsident, Kongress und Supreme Court sind strikt voneinander getrennt. Unter der Bush-Regierung war der Kongress aber jahrelang gelähmt und hat sich wie die Justiz an der Nase herumführen lassen. Warum hat Europa nach 9/11, aber auch nach Madrid und London anders reagiert? Nowak: Europa hat aus den schrecklichen Erfahrungen zweier Weltkriege und des Nationalsozialismus die Lehre gezogen, dass Menschenrechte eine wesentliche Möglichkeit sind, so etwas in Zukunft zu verhindern. Obwohl die USA an der Wiege der Menschenrechte standen, haben sie diese Erfahrung nicht gemacht. Sie sind weiterhin der Meinung, dass Menschenrechte etwas für andere sind. Heute ist Amerika jedoch in Sachen Menschenrechte gegenüber Europa weit zurückgefallen. Von der Nichtanerkennung des Internationalen Strafgerichtshofs bis hin zur Todesstrafe und der höchsten Häftlingsrate der Welt. War das nur eine kurze Episode, oder haben die USA, hat die Welt langfristig Schaden genommen? Nowak: Gefoltert wurde und wird in vielen Staaten der Welt. Der Unterschied ist, dass lateinamerikanische, kommunistische oder afrikanische Staaten das nie zugegeben haben. Die USA haben zum ersten Mal die Normen verändert, um ihre Praxis zu legitimieren. Das hat die Menschenrechte nachhaltig beschädigt. Wo immer ich als UNSonderberichterstatter für Folter hingekommen bin, hat man mich sofort gefragt, was ich eigentlich wolle. Folter sei doch nicht mehr absolut verboten, wenn nun sogar die USA offen foltern. Halten Sie die Relativierung des absoluten Folterverbots für irreversibel? Nowak: Nein. Aber die Büchse wieder zuzubekommen wird sehr, sehr lange dauern. Auch wenn er weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist, was etwa die Aufarbeitung der Bush-Ära oder die Schließung Guantánamos betrifft, so hat Präsident Obama doch eine klare Zäsur gesetzt. Jene Foltermethoden, die unter seinem Vorgänger Praxis waren, gibt es heute nicht mehr. Wir leben nach wie vor in einer Art permanentem Alarmzustand. Stehen dadurch auch die Menschenrechte unter Druck? Nowak: Ja. Natürlich ist der globale Terrorismus eine Bedrohung, gegen die wir uns schützen müssen. Mitunter müssen Menschenrechte auch eingeschränkt werden. Dass etwa unsere Privatheit zunehmend eingeschränkt wird, ist bis zu einem gewissen Grad gerechtfertigt. Aber ich bin davon überzeugt, dass in Europa wie auch in Österreich die Terrorgefahr auch zum Vorwand genommen wird, um sicherheitspolizeiliche Gesetze auszubauen. Wo sehen Sie Österreich in der Diskussion um 9/11 und Menschenrechte? Nowak: Österreich ist in der glücklichen Lage, dass wir bisher nicht vom globalen Terrorismus direkt bedroht wurden. Aber das Vertrauen in die Gefestigtheit des Rechtsstaates und eine hohe Menschenrechtskultur, so wie die Norweger es jüngst bewiesen haben, dieses Vertrauen in die ös-

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terreichische Politik habe ich nicht. Würde morgen ein großer Terroranschlag Wien treffen, so fürchte ich, dass unsere Grundrechte sehr schnell und sehr rigoros eingeschränkt werden würden. Hat das amerikanische System der „checks and balances“, vom Supreme Court bis hin zur New York Times, seine Lektion gelernt? Nowak: Da bin ich sehr skeptisch. Wenn es ein Präsident darauf anlegt, das System in einer Ausnahmesituation auszuhebeln, wird er das wieder schaffen. Ist das letztlich ein Sieg der 9/11-Attentäter, diese Schwächen offenbart zu haben? Nowak: Wenn es die Intention war, den USA zu beweisen, wie schnell man das westliche Regierungs- und Gesellschaftssystem ins Wanken bringen kann, dann waren die Attentäter leider erfolgreich. F

☛ Der Moderator Im Gespräch ging es unter anderem um den Fall Bakary J. und um die skandalös milden Strafen für folternde österreichische Polizisten. Auf meine Frage, wie Nowak seine Arbeit aushalte – die ständige Befassung mit Folter und die Reisen in Folterstaaten –, wies er darauf hin, wie viel diese Arbeit bewegen kann. :: Huemer über Nowak:

Zur Person

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Die Thesen

Punkt 1: Folter passiert, weil Polizisten unter Druck geraten

In den ersten zwei Tagen nach der Verhaftung ist die Gefahr statistisch gesehen am größten, gefoltert zu werden. Das hat mit dem Justizsystem zu tun. Aus Personalmangel oder aus Tradition verlassen sich Richter in manchen Ländern im Strafprozess darauf, dass die Polizei ein Geständnis erwirkt. Statt Sachbeweisen oder anderen Beweisformen sind dort Geständnisse die Basis für eine Verurteilung. Wenn das Justizsystem so funktioniert, dann ist der Druck auf die Polizei extrem groß, ein Geständnis zu erzielen. Gerade in der ersten Zeit fangen Polizisten an, mit allen möglichen Mitteln die Person so weit zu bekommen, dass sie ihre Tat gesteht. Denn der Kampf gegen die Kriminalität ist immer ein wichtiges nationales Interesse. Punkt 2: Folter ist eine Entmenschlichung für Opfer und für Täter

Folter ist eine Form von systematischer, struktureller Gewalt, die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens infrage stellt. Sie führt zu einer totalen Entmenschlichung des Opfers, aber auch des Täters. Insofern ist es für mich verwerflicher zu foltern, als zum Beispiel eine Person zu töten, wenn ich damit einen anderen Menschen retten kann. Man darf aus Notwehr töten, aber nicht aus Notwehr foltern. Punkt 3: Die schwerste Menschenrechtsverletzung ist die Armut

Armut ist nicht irgendein Schicksal, Armut ist eine ganz schwere Menschenrechtsverletzung – die schwerste unserer Zeit. Aber man kann doch durch ein Umdenken etwas bewegen. Etwa durch die Millenniums-Entwicklungsziele, die momentan nicht umgesetzt sind, weil alles durch diese sicherheitsorientierte Terrorismusbekämpfung überlappt ist.

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Alice Schwarzer

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27.9.2007 Die EmmaChefin über die „Generation iPorn“, falsche Toleranz und ihre Miniröcke G esp r ä c h : S tefa n A pf l Florian Klenk

im Stern bekannten: „Ich habe abgetrieben.“ Ein mutiges Bekenntnis zu einer Zeit, in der Abtreibung verboten war. 1977 strengte Schwarzer Musterprozesse gegen den Stern an, weil das Blatt nackte Frauen auf die Titelseiten hob. Schwarzer war es auch, die bereits Ende der 70er-Jahre auf den frauenverachtenden politischen Islam hinwies. Sie bereiste Algerien und den Iran, besuchte Frauen, die plötzlich unter dem Tuch zu leben hatten – und sich von Europas Linken verraten fühlten. Heute fordert sie Kopftuchverbote und mehr Härte gegenüber Fundamentalisten. Schwarzer, uneheliche Tochter und geprägt von einem liebevollen Großvater, wurde vor allem auch in Paris sozialisiert. Dort engagierte sie sich beim „Mouvement de Libération des Femmes“, der Pariser Frau-

enbefreiungsbewegung, und sie lernte dort Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir kennen. Zurück in Deutschland litt sie unter den harten Sitten der deutschen Frauenbewegung, im Jahr 1977 gründete sie Emma. Der Feminismus, sagt Schwarzer, sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Nun brauche es einen neuen Pakt zwischen Männern und Frauen für die Bewältigung des Alltags. Falter: Frau Schwarzer, wo ist Ihr Lineal? Alice Schwarzer: Welches Lineal?

Iris Radisch von der Zeit schrieb, Sie würden schon wieder mit dem Lineal Miniröcke vermessen. Schwarzer: Ach, die Kollegin sehnt sich offenbar nach einer strengen Übermutter.

Foto: Christian Fischer

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lice Schwarzer ist wütend. Der Alltag, sagt sie, werde zunehmend „pornografisiert“. Medien-, Musik- und Modeindustrie würden aus Frauen zunehmend „Nutten“ machen, eine ganze Generation von Kids, die „Generation iPorn“, werde durch ständigen Pornokonsum im Internet brutalisiert. Dazu komme die Verharmlosung der Prostitution, die nur noch „Sexarbeit“ heiße und gesellschaftsfähig werde – zum Schaden der Frauen, die davon nicht profitieren. „PorNo!“ hieß die Kampagne, die Emma aus Protest startete. Kampagnen gehören in die Welt der Alice Schwarzer. Die berühmteste Feministin Deutschlands wurde durch ihren Aktionismus international bekannt. Schon 1971 organisierte sie ein paar hundert Frauen, die

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STADTGESPR ÄCH Zur Person Alice Schwarzer, 71, ist die bekannteste Vertreterin der neuen deutschen Frauenbewegung und Herausgeberin der Zeitschrift Emma. Die Journalistin zählt zu den einflussreichsten deutschen Intellektuellen und wurde für ihren Einsatz für die Rechte der Frauen ebenso kritisiert wie auch ausgezeichnet, unter anderem als Frau des Jahres 1997 und mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse

rie zielt zunehmend auf Entblößung und sie will Frauen in Kinderkleider stecken. Wir sollen wie kleine Mädchen aussehen – oder wie Objekte. Gehen Sie doch mal in ein Kaufhaus! Sie sehen dort Wäsche, die es früher nur im Rotlichtviertel zu kaufen gab. Heute stolpern Mädchen in hohen Absätzen übers Pflaster wie Prostituierte. Diese Einschränkung der Mobilität der Frauen durch die Mode ist historisch nichts Neues, denken Sie nur an das Korsett. Sie selbst trugen als junge Frau extrem kurze Miniröcke. Es gibt ein Foto, wo sie mit einem Minikleid Jean-Paul Sartre interviewen. Simone de Beauvoir habe dies kritisch beäugt. Schwarzer: Klar habe auch ich Ende der 60er, Anfang der 70er Minikleider getragen. In einer Biografie steht, Sie hätten nach dieser Begegnung nie wieder Miniröcke getragen. Schwarzer: Nein, meinen letzten Minirock trug ich, nachdem Bauarbeiter an einer Straßenecke lospfiffen. Da dachte ich: Es reicht. Sie haben sich von Männern beeinflussen lassen? Schwarzer: Was heißt beeinflussen? Ich muss doch wahrnehmen, welche Signale ich mit meiner Kleidung gebe. Sie sprechen von „Nuttenmode“. Vielleicht gefällt es selbstbewussten Frauen, sich sexy zu kleiden? Schwarzer: Dagegen ist doch nichts einzuwenden. Aber sie sollten wissen, wie sie wirken. Und wenn man manchmal nicht weiß, ob die junge Frau an der Straßenecke auf ihren Freund wartet oder auf einen Freier – dann kann das auch für die Frau problematisch werden.

Der Artikel erschien in Falter 38/2007 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/schwarzer

Aber damit kann ich nicht dienen. In der Emma starteten Sie eine Kampagne gegen die „Generation iPorn“. Die Mehrheit der Jugendlichen könne Sex nicht mehr ausüben, ohne an Gewalt zu denken. Miniröcke, Stöckelschuhe, Stringtangas – all das sei von der Pornoindustrie geprägt. Klingt übertrieben. Schwarzer: Wenn Emma das so geschrieben hätte, wäre es wirklich übertrieben. Nein, uns geht es um die destruktiven Folgen der Pornografie, die heute dank der neuen Medien Allgegenwärtigkeit ist. Die jungen Männer werden ja geradezu zwangspornografisiert. Das verformt natürlich das sexuelle Begehren. Und was die Frauen angeht: Die sollen die neuen Freiheiten genießen und sich kleiden, wie sie wollen! Mir geht es um die Würde. Die Modeindust-

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„Heute ist das Kopftuch die Flagge des Islamismus. Ich bin daher selbstverständlich für ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst“

Sie haben sich ein Fernsehduell mit dem Porno-Rapper King Orgasmus One geliefert. Geben Sie solchen Leuten damit nicht auch eine Bühne? Schwarzer: Nein, ich informiere damit über Texte, in denen Vergewaltigung verherrlicht und das Schlagen von Frauen als sexy hingestellt wird. Solche Lieder können auf Youtube von jedem Kind angehört werden. Jugendliche ziehen sich heutzutage GangBang-Videos mit Massenvergewaltigungen auf dem Handy rein, ehe sie die ersten Küsse austauschen. Was wollen Sie gegen diese „Generation iPorn“ unternehmen? Schwarzer: Ich will erreichen, dass man den Sexismus so ernst nimmt wie den Antisemitismus und Rassismus. Wenn die Raptexte, die es heute über Frauen gibt, über Juden, Türken, Afrikaner oder Schwule gereimt würden, dann wären sie schon längst verboten. Gegen so was gibt es Gesetze. Aber die Vergewaltigung von Frauen darf einer wie Bushido als „geil“ besingen. Es fällt übrigens auf, dass viele der brutalen Rapper Kinder aus Machokulturen sind bzw. oft eine deutsche Mutter und einen zugezogenen Vater haben. Wir haben es heute in Deutschland einerseits mit Russlanddeutschen zu tun, die in Militärdiktaturen sozialisiert wurden, und Machos aus muslimischen Ländern. In beiden Kulturen gab es keine öffentlichen Frauenbewegungen. Sie müssen in Sachen Feminismus also wieder von vorne anfangen?

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Schwarzer: Schlimmer noch, denn diese Jungs reagieren bereits auf den Feminismus – ohne dass sie selbst sich ihm wirklich stellen mussten.

In Ihrem Buch werfen Sie der Linken immer wieder vor, gegenüber dem politischen Islam zu tolerant aufgetreten zu sein. Wie kommen Sie darauf? Schwarzer: Weil ich das 25 Jahre lang lesen und anhören musste. Es hat eine Verharmlosung, ja Verklärung der faschistoiden Fundamentalisten als „revolutionäre Volksbewegung“ gegeben. Wer die wahren Motive dieser Leute benannte, wurde als Rassist hingestellt. Viele Musliminnen und Muslime sind – so wie in Algerien – bitter enttäuscht von der Linken in Europa. Aus der Linken kommen übrigens auch die meisten Konvertiten in Deutschland. Zuerst setzten sie auf Marx, dann auf Mao, nun auf Mohammed. Der Islam ist vor der „islamischen Revolution“ ganz anders aufgetreten als heute. Da gab es vielleicht mal ein anatolisches Mütterchen mit Kopftuch. Heute ist das Tuch die Flagge des Islamismus. Ich bin daher selbstverständlich für ein Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst, vor allem in der Schule. Auch Schülerinnen sollten es nicht tragen. Sie sollen in einer weltlichen Schule auch einmal frei davon sein können. In der Türkei führt das Kopft uchverbot dazu, dass Frauen von Bildung fernbleiben. Schwarzer: Präsident Erdoğan hatte als Bürgermeister von Istanbul getrennte Busse für Männer und Frauen eingeführt. Wenn wir keinen Widerstand leisten, dann wird der Rechtsstaat von den Islamisten unterwandert. Wir sehen das in Ansätzen sogar schon in Deutschland. In Aachen verlangte ein Standesbeamter von einer volljährigen Marokkanerin die Erlaubnis der Eltern zur Eheschließung. Es gibt bereits eine Tolerierung von Polygamie durch Krankenkassen. Und wegen „Familienehre“ mordende Brüder und Väter konnten lange mit sehr viel Verständnis und milden Strafen rechnen. Das klingt nach Verschwörung. Schwarzer: Wo leben Sie eigentlich? Milli Görüş und der Islamrat unterstützen seit Jahrzehnten systematisch, dass Eltern ihre Mädchen vom Schwimmunterricht befreien lassen, weil das nicht „islamgerecht“ sei. Schauen Sie sich einmal die Internetseiten muslimischer Verbände an. Wir haben es hier mit einer internationalen Strategie zu tun. Sie lobten Papst Benedikt XVI., als er in Regensburg seine islamkritische Rede hielt. Schwarzer und Benedikt – das war ein seltsames Bündnis. Schwarzer: Es ist doch schön, dass man einen Papst auch mal loben kann, oder? Benedikt hat damals klargestellt, dass Gewalt im Namen des Glaubens nicht zu rechtfertigen ist – im Gegensatz zu seinem populistischen Vorgänger, der mit den islamischen Fundamentalisten kokettiert hat. Damit hat Papst Benedikt XVI. einen echten Dialog ausgelöst. Und das war gut so. Frau Schwarzer, warum wurde eigentlich eine Feministin aus Ihnen? In Ihrer Biografie steht, Ihre Tanzschulzeit sei prägend gewesen. Sie wollten es als Mädchen nicht hinnehmen, darauf zu warten, bis PickelgeFortsetzung nächste Seite

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☛ Der Moderator Als ich Schwarzer in den 70er-Jahren kennenlernte, war sie Hassobjekt für viele – verständlicherweise vor allem für Männer. Mittlerweile ist sie ein Star. In unserem Gespräch ging es unter anderem um die These, dass im Ideengebäude des Feminismus kein positiver Platz für Kinder vorgesehen ist. Schwarzer meinte, Kinder kämen sehr wohl vor – als Doppelbelastung in Familie und Beruf. Ich darauf: Genau das meine ich. Kinder werden nicht positiv wahrgenommen.

::  Huemer über Schwarzer:

Die Thesen

Punkt 1: Feminismus versus Islam

Das Kopftuch ist zum Symbol und zur Flagge des islamistischen Kreuzzugs geworden. Die erste Voraussetzung für die Emanzipation der Frau im Islam wäre eine offensive Ächtung des Männlichkeitswahns, der das Fundament des Fundamentalismus ist. Die Linke hat die vom Islamismus bedrohten Musliminnen und Muslime im Stich gelassen, in Österreich wird das Problem des Islamismus der Rechten überlassen. Das ist fatal. Mit dem Kulturrelativismus, der sogar für Ehrenmorde Verständnis zeigt, muss Schluss sein. Menschenrechte sind unteilbar. Punkt 2: Generation Porno

Pornografie sollte als Verstoß gegen die Menschenwürde gesehen werden, denn es handelt sich dabei um die Verknüpfung von sexueller Lust mit der Lust von Erniedrigung und Gewalt. Durch die neuen Medien bekommt jedes Kind Zugang zur Pornografie, die gesamte Gesellschaft wird pornografisiert. Das ist eine gefährliche Entwicklung: Manche junge Männer sind bereits so verstört, dass sie die Empathiefähigkeiten verloren haben – auch außerhalb der Sexualität. Die Pornografisierung hat außerdem ein bestimmtes Frauenbild geschaffen. In Publikumszeitschriften werden Frauen mittlerweile so dargestellt, wie sie vor 25 Jahren nur im Playboy zu sehen waren. Punkt 3: Feminismus in Medien

Die Fixiertheit auf die sehr evidente Fragwürdigkeit krawalliger Boulevardzeitungen und das Nicht-kritisch-Sein mit dem Rest der Medien ist sehr selbstgefällig. Die linksliberale deutsche taz hat seit Jahrzehnten die islamistische Revolution gefeiert und verharmlost. Die linke und liberale Presse verhöhnt und verspottet die „prüde“ Arbeit von Emma. Weite Teile der liberalen und linken Presse haben Methoden, die mindestens so gefährlich sind wie jene des Boulevards – wenn nicht sogar gefährlicher. Denn diese Medien haben einen ganz anderen Anspruch als der Boulevard: Sie wollen ernst genommen werden.

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„Es gibt eine andere Kommunikation zwischen den Geschlechtern. In den 60er-Jahren Sie lebten in Frankreich, arbeiteten waren wir zwei dort als Journalistin, Sie waren mit Sorten Mensch. Sartre und Beauvoir befreundet. Wie hat sich der Feminismus in Paris von Heute begegnen jenem in Deutschland unterschieden? wir uns ganz Schwarzer: (Klatscht in die Hände.) Ach, mon Dieu! In Frankreich war es viel anarchisti- anders“ scher und kreativer. Wir waren ein bunter, wilder Haufen. So richtig lässig und übermütig! Wenn wir die Straßen entlangzogen, dann nahmen sich die Burschen in Acht. Wir haben sie manchmal sogar in den Hintern gekniffen! Das hat Spaß gemacht. In Deutschland hingegen ging es in den Frauenzentren arg bürokratisch zu. Da waren die Funktionärinnen, die Verwalterinnen der sogenannten Basis. Als ich 1974 das erste „Rockfest im Rock“ organisierte, hieß es, die Arbeiterinnen würden das nicht goutieren. Es tanzten dann 4000 Frauen bis zum frühen Morgen. In Frankreich stiegen wir einfach auf die Tische und redeten wild durcheinander. In den deutschen Frauenzentren wurde gestrickt und gestillt.

Wie haben Beauvoir und Sartre Sie geprägt? Schwarzer: Von beiden habe ich gelernt, dass Berühmtheit keine Kategorie ist.

Es gibt noch zwei Männer, über die wir gerne mit Ihnen sprechen möchten. Udo Jürgens und Jean-Paul Sartre ... Schwarzer: Fangen wir mit dem Jürgens an! Es gibt ein Foto, auf dem er Sie küsst. Schwarzer: Na ja, nicht wirklich. Ich arbeitete damals als Reporterin für Pardon. Aufdecker Günter Wallraff war mein Vorgänger gewesen. 1969 machte ich eine Undercover-Reportage über den Club Méditerranée. Die verkauften sich über Sex und Sünde, aber wir glaubten nix. Ich flog mit dem Zeichner Robert Gernhardt nach Agadir. Im Flugzeug schlendert ein Typ dauernd an mir vorbei und wirft mir Glutblicke zu. „Weißt du nicht, wer das ist!“, flüsterte Gernhardt. Nö, ich kannte Jürgens nicht. Schlager und schmalzige Männerschönheiten waren nicht mein Ding. Kurz vor Ende des Aufenthalts sitz ich am Strand in einem kleinen Bademäntelchen, balzt sich doch plötzlich Udo an mich ran. Er fing an, neckisch zu werden, und zupfte an meinem Badeanzug herum. Wo bleibt nur der Gernhardt mit der Kamera? Da kam er endlich und knipste. Den Rest kennen Sie! Noch heute gibt Jürgens mir Küsschen, wenn er mich sieht. Ich mach da mit. Ich bin ja keine 28 mehr und bombensicher angezogen. Wie hatten Sie Jean-Paul Sartre kennengelernt? Schwarzer: Sartre lernte ich 1970 kennen – noch ehe die Freundschaft mit Simone de Beauvoir begann. Wir hatten damals ein Interview zur wieder so aktuellen Frage der „revolutionären Gewalt“. Als Beauvoir reinkam, warf sie mir diesen unvergesslichen

Feministinnen in Paris trugen in dieser Zeit Miniröcke? Schwarzer: Warum nicht? Später hab ich mit Beauvoir gearbeitet, und wir sind Freundinnen geworden. Dann kam das erste Essen zu dritt. Sartre hatte gerade der Libération ein Interview gegeben und dabei sagenhaften Unsinn über den MLF (Mouvement de Libération des Femmes, Frauenbefreiungsbewegung, Anm.) erzählt. Ich polterte gleich los: „Sartre, Sie haben wirklich Unsinn erzählt!“ Das war die Begrüßung. „Und das, obwohl Sie nun seit Jahrzehnten der Lebensgefährte von Beauvoir sind!“ In dem Moment hebt Sartre den Kopf, sieht mich an, lächelt und sagt: „Ach, finden Sie, Alice?“ Seine Augen blitzten vor Freude. Die beiden mochten das: Widerspruch und aufmüpfige Jugend. Sartre und ich trafen uns auch manchmal, wenn ­Beauvoir nicht konnte. Ich muss zu meiner Schande gestehen, ich habe dann manchmal für ihn auch den Whiskey aus dem Versteck geholt, obwohl ich wusste, dass er nicht mehr trinken durfte. Es war eh zu spät. Sartre war ganz unprätentiös, sehr bescheiden, sehr lebendig. Und Frauen haben ihn viel mehr interessiert als Männer. Nicht nur auf der ­Flirtebene, sondern weil sie lebendiger sind. Männer haben ihn einfach gelangweilt.

Sie sind heute auch berühmt. Werden Sie auf der Straße angesprochen, belästigt, beschimpft? Schwarzer: Nein, ich werde meist sehr lieb angesprochen. Immer öfter winken mir auch die Männer zu. Wenn Sie die Männer von heute mit den Männern der 60er vergleichen. Wo liegt der Unterschied? Schwarzer: Es gibt eine andere Kommunikation zwischen den Geschlechtern. Vorher waren wir zwei Sorten Mensch. Heute begegnen wir uns ganz anders.

Alice Schwarzer: Die Antwort. Kiepenheuer & Witsch, 2007

Alice Schwarzer: Der kleine Unterschied und seine großen Folgen. Fischer, 2002 (Neuauflage)

Und die Frauen? Schwarzer: Ich orte ein Amalgam aus neuen Freiheiten und neuen Gefahren. In den 90er-Jahren hatten die Töchter der Emanzipation gesagt: „Okay, unsere Mütter waren frustriert und trugen Latzhosen. Wir aber wollen Fun haben und können uns alles erlauben!“ Diese Frauen arbeiteten wieder mit Verführung. Das kann ins Auge gehen – denn die traditionelle Teilung von Frauen in „Kopf oder Körper“ steckt nämlich durchaus noch drin in den Männerköpfen. Und wie haben Sie sich verändert? Sehen Sie heute Stern-Titelbilder, die Sie früher wegen Sexismus kritisiert haben, anders? Schwarzer: Bei der Allgegenwart der Hardcorepornos wirken die heute fast harmlos. Also ist auch Alice Schwarzer pornografisiert worden? Schwarzer: Ja, natürlich. Ich stehe ja in der Welt. F

Foto: Christian Fischer

Feministin Schwarzer geißelt das Kopftuch

Blick zu. Es hat mich in dem Moment geärgert, dass ich als süße Blonde taxiert wurde, die Sartre quasi dazu verführt, ihr dieses Interview zu geben. Ich wollte doch ernst genommen werden. Gerade von ihr!

sichter Sie zum Tanz auffordern. Schwarzer: Unsinn. Das war nur ein Augenöffner. Ich komme aus einer bürgerlichen, deklassierten Familie, ich war ein uneheliches Kind und bin bei den Großeltern aufgewachsen. Meine Großmutter war intellektuell und politisch prägend, mein Großvater war sehr fürsorglich. Ich war ein freies Mädchen, das gelobt wurde, wenn es klug oder stark war. Und: Meine Familie hat die Nazis gehasst und auch entsprechend gehandelt. Meine Ursensibilisierung gegen Erniedrigung und Unrecht ist also der Antisemitismus, der Holocaust.

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Zur Person Richard David Precht, 48, ist ein deutscher Philosoph, Publizist und Literaturwissenschaftler. Mit seinen Büchern „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“ und „Liebe – ein unordentliches Gefühl“ wurde er zu einem der erfolgreichsten deutschen Sachbuchautoren der Gegenwart. Precht ist Honorarprofessor an der Universität Lüneburg und an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin Der Artikel erschien in Falter 47/2011 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer kann aus rechtlichen Gründen leider nicht nachgesehen werden

Richard David Precht R

ichard David Precht schreibt populärphilosophische Bücher, die in den Bestsellerlisten ganz nach oben klettern und sich dort für Monate halten. Er kann Philosophie mit dem Geschmack des Massenpublikums vereinen.

Falter: Herr Precht, kein anderer deutscher Philosoph ist in der Öffentlichkeit so präsent wie Sie. Fühlen Sie sich beleidigt, wenn man Sie „Medienphilosoph“ nennt? Richard David Precht: Das ist mir egal. Es gibt die Position, dass Philosophen die große Öffentlichkeit scheuen sollten. Ich verstehe mich da eher in der Tradition von Aufklärungsphilosophen wie Rousseau und Montesquieu, die mit Raffinesse um die Gunst und die Aufmerksamkeit des Publikums gebuhlt haben, um ihre Ideen unter die Menschen zu bringen.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Wie soll sich Ihrer Meinung nach die Philosophie zur Macht verhalten? Precht: Seit Platons schlechten Erfahrungen mit dem Tyrannen von Sizilien gibt es dieses Verständnis, dass Philosophen auf Distanz zur Macht gehen sollen. Aber warum eigentlich? Es ist doch auch Feigheit, die sich in diesem Satz zeigt. Ein Philosoph muss ja nicht unbedingt Kanzler werden, aber wer kritisch über seine Zeit nachdenkt, muss doch auch Interesse daran haben, dass seine Gedanken in Politik und Wirtschaft rezipiert werden. Deshalb muss die Philosophie der Macht nahekommen wollen. Alles andere wäre reiner Selbstzweck. Zurzeit erleben Politik und Wirtschaft in Europa eine schwere Krise. Welche Ratschläge können Sie den Machthabern als Philosoph geben? Precht: Man muss die Regierenden darauf aufmerksam machen, dass Wirtschaftswachstum nicht der Sinn von Wirtschaft sein kann. So wie es aussieht, wird unsere Ökonomie bald nicht mehr wachsen. Deshalb müssen wir uns schleunigst vom

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1.12.2011 Der Philosoph über die OccupyBewegung, die Zeit nach der Finanzkrise und den Grund, warum Siege dumm machen GESPRÄCH: WOLFGANG ZWANDER

Richard David Precht: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Goldmann, 2007

Wachstumsfetisch befreien. Darauf immer wieder hinzuweisen und sich öffentlich dafür einzusetzen, das ist für mich zum Beispiel die Aufgabe eines Philosophen. Was kann uns die Philosophie über die aktuelle Krise erzählen? Precht: Es gibt von Sokrates den Satz, dass Siegen dumm macht. Neue gesellschaftliche Weichenstellungen können nur in Momenten der Verunsicherung erfolgen. Nehmen Sie als Beispiel unsere Haltung zu Europa: Lange Jahre haben wir gar nicht mehr darüber nachgedacht, was die EU für uns eigentlich sein soll. Heute ist die Frage in aller Munde, wie wir Europa verändern und demokratischer machen können. Andererseits mehren sich auch die Stimmen, die befürchten, Europa entwickle sich im Zuge der Krise zu einer Oligarchie mit Scheinparlamenten. Precht: Die Frage ist, wie sehr diese Analyse nicht auch schon vorher zugetroffen hat. Ich glaube aber, dass das Demokratiebedürfnis der Menschen größer geworden ist. Gerade die jüngere Generation ist mündiger und selbstbewusster geworden. Denken Sie zum Vergleich nur an die 1950er-Jahre, in denen sich ein Jugendlicher nie und nimmer öffentlich über Politik auszutauschen wagte. Gleichzeitig ist es aber richtig, dass sich im Zuge der Globalisierung eine sehr hohe Kapitalkonzentration entwickelt hat, die eine neue oligarchische Klasse entstehen ließ. Geht es in der heutigen Gesellschaft nicht weniger um politische Freiheit als um die des Konsums? Precht: Wenn man die Deutschen oder die Österreicher abstimmen ließe, ob sie sich im Zweifel für ihr Handy oder für ihr demokratisches Stimmrecht entscheiden würden, hätte ich tatsächlich Angst vor dem Ergebnis. Trotzdem ist die Jugend heute so selbstbestimmt wie noch nie zuvor.

Widerspricht das nicht dem allenthalben gehörten Klagelied, dass die heutige Jugend viel konformistischer sei als zum Beispiel die von 1968? Precht: Das ist ja völliger Unsinn. Wenn Sie die heute 70-Jährigen fragen, wer bei 1968 dabei war, dann kommen Sie nur auf eine verschwindende Minderheit dieser Generation. Das kritische Potenzial der heutigen Jugend ist da viel größer. Nehmen Sie die Occupy-Bewegung, die stößt auf weit mehr Resonanz als der Protest von 1968. Selbst die Rentner und Politiker sind dafür, weil sie spüren, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann. Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen? Precht: Das Finanzsystem, so wie es besteht, wird es unter Umständen nicht mehr allzu lange geben. Wenn es einmal zusammengebrochen ist, müssen wir es wieder aufbauen und das System umdrehen, damit das Geld, das man mit Spekulation verdient, viel höher besteuert wird als jenes, das mit Arbeit verdient wird. Sie warten also auf den endgültigen Zusammenbruch des Finanzsystems? Precht: Nein, aber wir müssen vorsorglich Pläne in der Tasche haben, die wir auspacken können, falls das System kollabiert. F

☛ Der Moderator Wie André Heller enorm begabt, das Publikum sofort auf seine Seite zu ziehen. Überfüllter Saal, weibliche Zuhörerschaft überproportional. Titel des Gesprächs: „Wer zahlt die Rechnung? Über Egoismus, Solidarität und Moral in Zeiten der Krise“. Einigkeit darüber, dass die gewaltige Rechnung, die uns der Neoliberalismus präsentiert, nun wir alle gemeinsam zu begleichen haben. :: Huemer über Precht:

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Stadtgespr äch Zur Person Daniel CohnBendit, 68, ist ein deutschfranzösischer Grün-Politiker und Publizist. Er ist Mitglied des Europäischen Parlaments, wo er die grüne Fraktion als Co-Vorsitzender leitet. Während der Unruhen im Mai 1968 war er Sprecher der Pariser Studenten. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich spielte er in den 1970ern in der deutschen SpontiSzene eine führende politische Rolle, die mit Hausbesetzungen, Straßenkämpfen und der Agitation in Betrieben die soziale Revolution erprobte. Cohn-Bendit war Herausgeber des Frankfurter Stadtmagazins Pflasterstrand, dem Sprachrohr der linken Sponti-Szene

Der Artikel erschien in Falter 14/2011 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/cohn-bendit

Daniel Cohn-Bendit Falter: Die Grünen erreichen in Deutschland historische Höchstwerte – stimmt Sie das euphorisch? Daniel Cohn-Bendit: Die Grünen schon, mich nicht. Denn ich empfinde es schon auch als ernüchternd, dass es einer solchen Katastrophe wie der von Fukushima bedurft hat, damit so ein Durchbruch möglich wurde. Klar, die Grünen sind jetzt seit Jahren eine stabile Kraft, und schon vorher waren die Umfragewerte gut. Aber als ­rational denkender

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26.2.2008 Der „Monsieur Europe“ der Grünen über die Wahltriumphe seiner Partei und die Notwendigkeit eines Krieges Gespräch: R o be r t M i s i k

Mensch willst du doch, dass ­deine Argumente überzeugen, weil sie eben die richtigen Argumente sind. Aber sie ­kommen nur an, wenn sie getragen werden von ­einem solchen Entsetzen, einem solchen Erschrecken. Nun brachte Fukushima sicher die entscheidenden Prozente, aber die Grünen hätten auch sonst gut abgeschnitten. Cohn-Bendit: Sicherlich, insbesondere in Baden-Württemberg, wegen der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Doch ich muss auch da sagen: Ich finde den Bahnhof in Stuttgart falsch – aber ich könnte wiederum auch nicht ausflippen, wenn der Bahnhof doch gebaut würde. Ein Bahnhof ist doch kein Atomendlager! Und dennoch gab es darüber eine Emotionalisierung, eine Radikalisierung der Emotionen, die selbst etwas Irrationales hat. Und das macht mich schon auch nachdenklich, auch wenn wir davon profitiert haben. Es waren also irrationale Stimmungen, die diesen Wahlsieg ermöglicht haben?

Cohn-Bendit: Das macht die Umsetzung in

Politik schwierig. Wie gut immer Winfried Kretschmann sein mag, auch er kann nicht zaubern. Dieser Umstieg, diese energiepolitische Transformation, diese industrielle Umrüstung, die wir wollen – das ist ein langwieriger Prozess. Und ein solcher Prozess dauert viel, viel länger als die Halbwertszeit solcher Emotionen. Und das kann zu einem politischen Problem werden. Nun gut, gleichzeitig … Cohn-Bendit: Aber ja! Ich freue mich doch eh, dass wir gewonnen haben. Aber ich springe jetzt nicht gleich vor Euphorie an die Decke. … gleichzeitig ist auch klar: Vor zehn, 20 Jahren wären die Grünen auch bei einem Super-GAU nicht bei 25 Prozent gelandet, es wäre undenkbar gewesen, dass sie die Sozialdemokraten überholen, wie das jetzt in Baden-Württemberg, aber auch in Frankfurt geschehen ist. Was hat sich da verändert?

Foto: Christian Fischer

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ie Grünen gewinnen Wahlen – in Deutschland. Was bedeutet das für die Politik? Wird sie grüner? Wie wird sich die Welt nach Fukushima ändern? Und wieso ist der Einsatz militärischer Gewalt in Afrika für einen Grünen zulässig? Der deutsch-französische EU-Abgeordnete, Fernsehmoderator und Publizist Daniel Cohn-Bendit zählt zu den geistigen Anführern der europäischen Grünbewegung. Ein Gespräch über Macht, grüne Mythen und militärische Einsätze im Namen der Menschenrechte.

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STADTGESPR ÄCH gen der Energiepolitik und der Ökologie bei den Menschen die glaubwürdigste Partei. Das ist ihr Profil. Und jetzt plötzlich wird das in der Realität zur wahlentscheidenden Frage. Das hat die Grünen beflügelt. In der Glaubwürdigkeitsskala sind sie mittlerweile an der Spitze. Glaubwürdigkeit kann viel heißen: Dass man den Grünen glaubt, dass sie ernst meinen, was sie sagen – oder dass man ihnen abnimmt, dass sie realistisch ihr Programm umsetzen können, das auch gut ist. Cohn-Bendit: Sagen wir so: Der Teil, der sie wählt, findet, dass sie ein Konzept haben, das in die richtige Richtung geht. Und der Teil, der uns nicht wählt, hält uns auch nicht für verlogene Falotten. Aber gibt es nicht noch immer diese Haltung bei den Menschen: „Ja, wir wissen, wir stecken in einer Sackgasse mit unserem Energiehunger – aber wir kommen aus der auch nicht raus“? Cohn-Bendit: Ja und nein. Was die Atomenergie betrifft, sind heute ganz sicher die meisten Bürger Deutschlands der Meinung, dass das eine falsche Form der Energiegewinnung ist, dass man diese aufgeben soll und dass das auch ohne größere Probleme ginge. Das ist gesellschaftlicher Konsens. In dieser Frage haben die Grünen die Hegemonie, die Gesellschaft ist überzeugt – in Deutschland jedenfalls. Dasselbe gilt für die Energiewende, hin zu regenerativen Energieformen, dass die möglich ist. Etwas anderes ist die Frage, wie man den Klimawandel aufhält, wie wir unsere Fabriken umrüsten, vor allem der Ausstieg aus der Automobilität, wie wir aus dem Öl rauskommen – da hoffen die Leute auf eine technologische Lösung, die irgendwann kommt, aber sie halten das im Augenblick für eher utopisch.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Sollten die Grünen einen TechnoOptimismus verkörpern, einen Fortschrittsgeist, wie es ihn seit den 60er-Jahren nicht mehr gegeben hat? So in dem Sinn: Wir bauen ein neues, effizientes Energiesystem mit neuen Arten von Kraft werken, mit Windrädern, Solarenergie und „smarten“ Steuerungsanlagen, die aus jedem Haus eine Art Raumschiff Enterprise machen. Cohn-Bendit: Ausstieg aus der Atomenergie und all den anderen Energieformen der 50er-Jahre heißt auch Einstieg – Einstieg in eine technologische Modernisierung der Gesellschaft. Beispiel Passivhäuser, das sind Häuser auf hohem technologischem Niveau. Man ist nicht glaubwürdig, wenn man nur sagt, wir müssen uns einschränken, wir müssen weniger Strom konsumieren. Man muss sagen: Primär müssen wir besser werden. Und dafür muss man mit den modernsten Möglichkeiten arbeiten. Man braucht Windräder, neue Stromnetze, große Solarfelder in Nordafrika, man braucht eine physikalische Revolution bei den Speicherkraftwerken. Früher hat man Milliarden in die Atomindustrie gepumpt, diese Gelder muss man in Zukunftsinvestitionen leiten. Was bedeutet es machtpolitisch, dass die Grünen die Sozialdemokraten erstmals in einem Bundesland überholt haben und den Ministerpräsidenten stellen werden? Cohn-Bendit: So ein Wahlergebnis hat, wenn man so will, neben der vordergründigen Botschaft noch eine kleingedruckte Bot-

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„Ausstieg aus der Atomenergie und all den anderen Energieformen der 50er-Jahre heißt auch Einstieg – Einstieg in eine technologische Modernisierung der Gesellschaft“

schaft, die man lesen können muss. Und die lautet: Es kann sein, es ist möglich, wenngleich auch nicht wahrscheinlich, aber möglich!, dass in zehn, 20 Jahren eine Grüne, möglicherweise auch türkischer Herkunft, Bundeskanzlerin werden kann. Bisher hätte man gesagt: theoretisch möglich, praktisch vollkommen ausgeschlossen. Das kann man heute nicht mehr sagen. Man wird plötzlich irgendwie anders angesehen: von den Wählern, von der politischen Konkurrenz, von den professionellen Beobachtern, Journalisten etc. Lassen Sie uns noch über Libyen reden: Sie sind ja deutscher Grüner, aber zuletzt als Spitzenkandidat der französischen Grünen ins Europaparlament gekommen. Jetzt gibt es in Frankreich im linksliberalen Milieu eine starke Stimmung, möglicherweise sogar einen Konsens, dass die Militärintervention gegen Gaddafi richtig ist, während in Deutschland eine pazifistische Grundstimmung herrscht. Cohn-Bendit: Ich meine, das war, in jenem Moment, in dem sie entschieden wurde, eine absolut notwendige Intervention. Ob sie am Ende richtig oder falsch gewesen sein wird, im Sinne von erfolgreich oder nicht, das wird man sehen. Aber kann man von der Frage, ob die internationale Militäraktion gute Resultate zeitigt, wirklich absehen? Gut gemeint reicht ja wohl nicht. Cohn-Bendit: Natürlich nicht, so war das auch nicht gemeint. Aber in dem Moment, in dem die Militäraktion beschlossen wurde, ging es um etwas Unmittelbareres: nämlich darum, ein Blutbad in Bengasi zu verhindern. Und dafür war sie notwendig. Glauben Sie, dass daraus ein besseres Libyen entsteht? Cohn-Bendit: Das ist offen. Aber die libysche Revolte hat ein Befreiungspotenzial. Und eines soll man auch nicht übersehen: Diese Entscheidung des UN-Sicherheitsrates, mit militärischer Gewalt den Vormarsch Gaddafis zu stoppen, ist eine Wasserscheide im Völkerrecht. Erstmals ist die responsibility to protect, also die Verantwortung der Staatengemeinschaft zum Schutz der Zivilbevölkerung, praktisch angewendet worden. Und das ist ein Fortschritt.

Daniel CohnBendit und Guy Verhofstadt: Für Europa! Carl Hanser Verlag, 2012

Und doch kann man nie ohne schlechtes Bauchgefühl sagen: Ich bin fürs Bombardieren! Cohn-Bendit: Nun, ich denke doch, dass es den technisch avancierten westlichen Armeen möglich ist, in einem Konflikt, in dem Gaddafis Armee auf breiten Straßen und in der Wüste vorstößt, nur militärische Ziele ins Visier zu nehmen. Da habe ich nicht wirklich ein Problem damit. Die Soldaten in den Panzern sind hinterher auch verkohlte Leichen. Cohn-Bendit: Aber diese Soldaten hätten Bengasi in Schutt und Asche gelegt. Entschuldigen Sie, das ist genauso, als wenn man seinerzeit gesagt hätte, die SS-Leute sind ja auch Menschen.

Daniel CohnBendit, Rüdiger Dammann (Hg.): 1968. S. Fischer, 2007

… und wie bei diesen gilt auch für Muammar al-Gaddafis Streitkräfte: Gutes Zureden bringt da nichts? Cohn-Bendit: Natürlich erschrickt man auch in solchen Fällen, wenn man auf einmal militärische Gewalt einsetzen muss. Aber es gibt Situationen, in denen gibt es keine bessere Möglichkeit. F

Cohn-Bendit warb leidenschaftlich für die EU

☛ Der Moderator

:: Huemer über Cohn-Bendit: Der legendäre Studentenführer des Pariser Mai 1968 ist seit vielen Jahren ein angesehener Abgeordneter im Europäischen Parlament. Der mitreißende, impulsive Redner sprach über die Vision eines zukünftigen europäischen Bundesstaates, über die Utopien von 1968, über deren politisches Scheitern und deren Erfolg als Kulturrevolution, über Spontanität als politisches Prinzip. Und über Fußball.

Cohn-Bendit: Die Grünen sind in den Fra-

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Die Thesen

Punkt 1: Es braucht die EU, um global mitbestimmen zu können

Europa muss sich entscheiden, welche Rolle es künftig in der Welt spielen will. Die Frage des Klimawandels kann nicht national gelöst werden. Auch wenn die Schweiz die tollste Bahnverbindung hat, ist sie zu klein, um die großen Probleme lösen zu können. Europa ist die Mindestgröße, in der man eine Klima-, Energie- und Verkehrspolitik machen kann, die uns wirklich weiterbringt. In dieser Größe können wir bestimmte Positionen in einem globalen Zusammenhang entscheidend vertreten. Wir können so Bündnisse schließen, damit sich das Klima global ändert. Um das zu erreichen, braucht man eine handlungsfähige Union. Punkt 2: Ein Nein zum EU-Beitritt der Türkei ist ein Nein gegen Muslime

Wenn sich die Türkei verändert, bin ich für eine EU-Mitgliedschaft der Türkei. Die aufgeklärten Türken wollen in Richtung EU gehen, um den türkischen Nationalismus zu zivilisieren – so wurde ja auch der deutsche Nationalismus zivilisiert. Die nötigen Veränderungen werden von jenen Türken vorangetrieben, die zur EU wollen. Nimmt man ihnen diese Perspektive, muss sich die türkische Gesellschaft woandershin orientieren. Die muslimische Welt sieht die Türken nicht als Araber, aber wenn die EU jetzt Nein zur Türkei sagt, wird die Mehrheit der Türken glauben, das Nein richte sich gegen Muslime. Wer das will, muss ein bisschen irre sein. Punkt 3: Vergesst 1968!

Vergesst 68! Es ist vorbei, die Welt ist eine andere. Wir haben kulturell und sozial gewonnen. Es gibt heute eine Möglichkeit der Freiheit, die man vor 50 Jahren nicht gekannt hat. Dafür haben wir heute eine ganz andere Welt mit ganz anderen Problemen. Damals kannten wir keine Arbeitslosigkeit, es gab kein Aids, 1968 war die letzte Revolte in einer Zeit, in der man von CO2 keine Ahnung hatte. Wir waren die erste globale Generation. Heute ist Globalisierung etwas, was verängstigt.

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Stadtgespr äch Zur Person Franz Schuh, 66, ist ein österreichischer Autor. Er studierte Philosophie, Geschichte und Germanistik und erhielt für seine Bücher zahlreiche Preise, unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse, den Tractatus und den österreichischen Staatspreis für Kulturpublizistik. Schuh gilt als einer der letzten Essayisten, die in der scharfzüngigen Tradition eines Karl Kraus oder Elias Canetti die Gesellschaft sezieren. Er lehrt an der Universität für angewandte Kunst Der Artikel erschien in Falter 22/2008 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/schuh

Franz Schuh Falter: Verfolgen Sie die Bericht­ erstattung über die Familie F.? Franz Schuh: Masseneremit, der ich bin, bin ich nicht mehr dran an dem Fall. Es hat sich erschöpft.

Was war der Moment, wo Sie genug hatten? Schuh: Es geht dabei nicht um mich. Das ist ein selbstverständlicher Prozess: Die Strategie der Darbietung ist darauf aus, eine ­Neuigkeit zu verkaufen. Von dem Moment an, wo etwas nicht mehr neu ist, beginnt das geweckte Interesse automatisch zu erlahmen. Das ist der Preis, den die Medien für die Intensität zahlen müssen, die sie durch ihren Neuigkeitsfetischismus gewinnen. Was ist Ihr Motiv, solche Fälle zu verfolgen? Schuh: Es ist Voyeurismus. In meinem Fall bezieht er sich weniger auf die Tat, sondern auf die Obszönität der Berichterstattung. Es

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5.6.2008 Der Schriftsteller über seine Obszönitäts­ beobachtung im Fall F. und die Tyrannei der Intimität Gespräch: S t e fa n A p f l B a r ba r a T ó t h

mag Leute geben, die die Berichterstattung dazu benützen, um sich an der Tat zu begeilen. Ich begeile mich an der Obszönität, mit der über solche Taten berichtet wird. Gott sei’s geklagt, ich bin kein besserer Mensch, ich bin nur indirekter geil.

Schuh: Die Verbreitungsdimensionen haben

Setzen Sie Ihrem Voyeurismus Grenzen? Oder dem Voyeurismus der anderen? Schuh: Anderen Grenzen des Voyeurismus zu setzen wäre eine Angelegenheit der Ethikkommission der Republik. So was gibt’s zum Glück – noch – nicht. Eine Grenze liegt dort, wo die Sache langweilig wird. Und eine andere, wo das Niveau zu tief und gleichzeitig zu durchsichtig ist. Die gesamte Berichterstattung, auch meine eigene Obszönitätsbeobachtung, ist vor allem ein Resultat gereizter Instinkte. Und diese Instinkte lassen relativ schnell nach. Es kommt natürlich auch von einem Erfahrungsmangel. Der Profiler Thomas Müller benötigt die Sensationspresse nicht. Er hat seine instinktive Gier verwissenschaftlicht. „Wir“ dagegen sind arm. Wir brauchen für unsere Sozialpornografie Vermittler.

Gilt das für Medien wie für Konsumenten? Schuh: Ich glaube, dass Österreich durch seine spezifische Mediensituation – und davon weiß ich nur aus dem Falter, sonst wüsste ich es ja nicht – eine merkwürdige Sonderrolle hat. Die Medien arbeiten hier intimisierend. Die deutsche Bild-Zeitung ist ein hartes Organ kapitalistischer Entfremdung. Die Krone ist ein weiches Organ mit einem persönlichen Naheverhältnis zu jedem Einzelnen – in der Simulation natürlich. Aber hier simuliert man Nähe. Bild zeigt die höhnische Fratze einer sich anbiedernden Ungemütlichkeit. Die österreichische Presse legt alles durch ein pseudo-nichtentfremdetes Berichterstatten jedem Einzelnen ans Herz. Und diese Herzigkeit ist eine ziemliche Gemeinheit, jedenfalls das Gegenteil jeder Idee von Gesellschaft. Die Tyrannei der Intimität ist eine Spezialität unserer Medienlandschaft. Das kann man nicht einmal über die englische Dreckspresse sagen. Es ist eine Spezialität der österreichischen Schreib- und Darstellungskünstler.

Orten Sie im Fall F. eine Entgrenzung des Boulevards? Schuh: Ich halte das für einen Irrtum. Dass die Sensationspresse heute, gemessen an ihren historischen Vorläufern, extremistisch wäre, ist falsch. Aber die Dimension ist allein schon wegen der Globalisierung der Betrof­ fenheit und der Verbreitung eine andere.

sich geändert, aber nicht das substanziell Moralische. Sensationslüsternheit und das gierige Begaffen des Bösen, das man zu diesem Zweck extra ausstellt, ist keine Erfindung unserer Zeit.

Ist Karl-Heinz Grasser und die Art, wie er seine Privatheit öffentlich entfaltet, ein Produkt dieser Tyrannei der Intimität? Schuh: Grasser ist ein globales Phänomen. In der Kunst gilt ja schon lange, dass nicht

Foto: Christian Fischer

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er Franz Schuh zu Hause besucht, betritt ein Universum des kultivierten Chaos. Das Arbeitszimmer ist verdunkelt, Regale und Tische sind mit tausenden Büchern vollgeräumt, Zetteln und Rechnungen auf dem Boden verstreut. „Lassen Sie die da liegen“, sagt der Hausherr, „die liegen absichtlich genau dort.“ Schuh selbst sitzt im Anzug breitbeinig inmitten der scheinbaren Unordnung. Weil es nicht genug Sessel gibt, nehmen wir für das Interview auf dem Bett Platz.

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STADTGESPR ÄCH te gelten, auch weil sie die Differenz zwischen dem, was sie berichten, und dem, wie es gewesen ist, mitreflektieren.

Wäre es nicht Aufgabe des öffentlich-rechtlichen Senders ORF, Standards zu setzen? Schuh: Das ist eine merkwürdige Frage, weil sie davon ausgeht, dass der ORF und seine Propaganda etwas anderes wäre als ein Teil des österreichischen Mediensystems.

„Durch die journalistische Gier wiederholt sich der Opferstatus. Denn die Familie F. Die Frage entspringt der Hoff nung, kann jetzt genauso dass das vielleicht so sein könnte. wenig raus wie Schuh: Dieser Hoffnung kommt der ORF, so weit er es kann, auch entgegen. Dort, wo zuvor unter der es den Journalisten darum geht, internatio- Knute des Vaters“ nale Standards der Fernsehreportagekunst zu berücksichtigen. Aber dort, wo es darum geht, uns Eingeborenen Eindruck zu machen, hat man weder die Kraft noch die Leute, radikal abzuweichen.

Wie würde eine radikale Abweichung aussehen? Schuh: Sie würde darin bestehen, diese Phänomene zu verwissenschaftlichen, sie zu abstrahieren ...

Der Journalist, der über Josef F. berichtet, hat keine Erfahrungswerte, wie mit solchen Fällen umzugehen ist. Schuh: Hat er nicht? Studieren Sie den Fall Max Gufler. Priklopil und F. sind individuelle Fälle, aber sie sind nicht singulär.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Würde ein Kulturjournalist über Josef F. anders berichten? Schuh: Kaum. Es hat ja nichts mit den Berichterstattern, sondern mit der Logik des Berichterstattens zu tun. Journalisten schreiben gewöhnlich, ohne dass sie dabei Persönlichkeit entwickeln. Es gab natürlich Kriminalitätsberichterstattung, etwa im Spiegel oder im Profil, wo sich ein Journalist durch seine Texte personifiziert hat. Diese Leute können durchaus als Fachleu-

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... eine Fortsetzung der Isolation mit anderen Mitteln. Schuh: Und „in Freiheit“. Entscheidend ist, was auf dem Markt etwas wert ist – nicht die Brutalität, mit der man die Opfer bis zum letzten Foto auspresst. Ein Metaphysiker wie ich hat die Arschkarte. Interessant ist, wie viele Institutionen, die sich moralisch legitimieren, mit diesem Journalismus kooperieren – und wie wenig es gelingt, diesen Journalismus zu ächten. Oder die Personen, die ihn vertreten. Ist es das, was der Metaphysiker leisten kann? Schuh: Der Metaphysiker hat genau dieselben Instinkte wie alle anderen, er kann nur versuchen, sie sich abzugewöhnen und treffende Ausdrücke zu finden, mit denen man das Treiben ächtet.

... sodass man sich nicht daran „begeilen“ kann. Schuh: Ja, das wäre meine Utopie.

Aber worauf kann der 30-jährige Journalist, der die Kriminalgeschichte Österreichs nicht studiert hat und ad hoc mit dem Fall konfrontiert ist, zurückgreifen? Schuh: Für Kriminalitätsberichterstattung gibt es Scripts, bevor ein Fall passiert ist, ob er nun singulär oder historisch relativierbar ist. So ein Script besteht aus Kriminalliteratur und auch aus kriminologischen Expertisen, die gesetzliche und psychologische Seiten haben. Kriminalitätsberichterstattung ist eine unreflektierte Mischung verschiedener Eindruckskünste. Sie hat wenig zu tun mit dem Fall, wie er „eigentlich gewesen ist“. Stärker als die Theaterkritik ist die Kriminalitätsberichterstattung mit Fiktionen verbunden. Das macht es schwer, die Tatsächlichkeit eines Falls zu erfahren. Kriminalität muss man in der Darstellung kompliziert konstruieren, dafür sollte es wissenschaftliche Fachzeitschriften geben.

Wenn eine englische Boulevardzeitung der Familie F. einen Paparazzi nachschickt – ist das noch Teil der Logik des Berichterstattens? Schuh: Der Journalismus, sagte Karl Kraus, kennt keine Ehrfurcht vor dem Unglück. Aber die benötigen wir. Wenn wir selbst Unglück haben, wäre es für uns gut, käme man uns mit Distanz entgegen, in einer Entfernung, die – ich verwende ein altes, fast schon unbrauchbares Wort – mit unserer Würde zu tun hat. Diese Art von Journalismus und die Menschenwürde schließen einander aus. Durch die journalistische Gier wiederholt sich der Opferstatus. Denn die Familie F. kann jetzt genauso wenig raus wie zuvor unter der Knute des Vaters.

Natascha Kampusch versucht sich aus der Opferrolle zu emanzipieren, sie selbst umzudeuten. Schuh: Der „Fall Kampusch“ ist mein Fall. Für mich ist es ausgemachte Sache, dass die Person, die von dieser Berichterstattung betroffen ist, umgeben von diesen Beratern, per se nichts anderes machen kann, als selbst Medienarbeiterin zu werden.

Franz Schuh: Memoiren – Ein Interview gegen mich selbst. Zsolnay, 2008

Franz Schuh: Der Krückenkaktus. Zsolnay, 2011

Sie hätte auch das Land verlassen können und in die Anonymität abtauchen. Schuh: Aber sie hätte es nicht mit demselben Profit machen können. Wenn jemand als Objekt der Medien eine solche Berühmtheit erlangt, dann liegt es nahe, seinen Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass man ein Subjekt der Medien wird. Diese Variante des Spießumdrehens ist der ehrenwerte Versuch einer Person, die erlittene Objektivierung in eine Subjektivierung zu verwandeln. Aber warum schlägt ihr dabei zunehmend Neid und Hass entgegen? Schuh: Es bedeutet gar nichts, sollten die Menschen sie nicht mögen, solange sie ihren Namen oft genug aussprechen – das würde für die Subjektivierung reichen. Aber „die Menschen“ mögen jemanden nicht, in den sie so viel von sich hineingepumpt haben, wenn diese Projektionsfigur versucht, sich unabhängig zu machen, aber gleichzeitig das Hineinpumpen weiter zu verwenden und sich wie ein Einser vor alle anderen hinzustellen. Wer sollte das wollen? Aber ich denke, das Problem wird ein anderes sein. Als Ö1-Mitarbeiter nehme ich zur Kenntnis, dass Natascha Kampusch eine Art Ö1-Sprache zu sprechen gelernt

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hat, also einen Bildungsjargon. Und dieser ist nicht wendig genug für den Job, mit dem sie jetzt mediale Aufmerksamkeit ergattern möchte. Wenn Sie nicht lernt, genau das Schreckensvokabular, das scheinbar für sie, tatsächlich aber gegen sie angewandt wurde, ihrerseits anzuwenden, wird sie nicht viele Chancen haben. Kampusch könnte eine Ö1-Sendung übernehmen. Schuh: Aber die sind schon durch Leute wie mich besetzt. F

Schuh über Spenden durch Mitleidsillusionen

☛ Der Moderator :: Huemer über Schuh: Unter dem Titel „Geld

regiert, Mitleid krepiert“ wurden politische, ökonomische, soziale sowie philosophische Aspekte des Themas besprochen, wobei immer wieder die Welt des Neoliberalismus ausgeleuchtet wurde. Es ging unter anderem um die Frage, wie der Neoliberalismus unser Denken und Fühlen verändert, und um die Figur des „engagierten Intellektuellen“, der Schuh skeptisch gegenübersteht.

das Werk von Bedeutung ist, sondern der Kult, den der Künstler um sich selbst herum erzeugt. Das ist ein Teil jener zitierten Selbstregulation. Weder kann man die Kunst von diesen Künstlern befreien noch die Politik von den Grassern. Das hat Andreas Khol versucht, und es ist ihm durch einen Machtspruch gelungen. Aber es kostet minus zehn Prozent bei der nächsten Wahl. Wenn man verlieren will, kann man ruhig mit Verboten in solche Systeme eingreifen. Will man aber gewinnen, muss man sich diesen Regeln angleichen oder sie intelligenter – als mit Verboten – austricksen.

FALTER

Die Thesen

Punkt 1: Es gab keine Verdrängung

Die Schoah wurde von den Tätern nicht verdrängt. Verdrängen kann man nur, was einen schwer verletzt hat. Die Österreicher haben nicht verdrängt, sondern sind schlicht ungerührt geblieben. Die Versuche, ihre Verantwortung in Erinnerung zu rufen, zielten ins Leere, weil man von den Leuten gleichzeitig verlangte, sie sollten auch berührt davon sein und darüber trauern. Dafür aber sahen sie keinen Grund. Punkt 2: Das Ende der Österreich-Kritik

Die Österreich-Ideologie ist in den 70erJahren durch die Österreich-Kritik abgelöst und ersetzt worden, allen voran von Thomas Bernhard. Heute will man wieder aus den Schemata dieser Österreich-Kritik heraus. Es ist deshalb sehr bezeichnend, dass der erfolgreichste junge Autor Österreichs, Daniel Kehlmann, über Bernhard sagt, Bernhard sei Jörg Haider ähnlich gewesen, da auch Bernhard gleichzeitig Regierung und Opposition spielte. Punkt 3: Spende geht nur durch Rührung

In unserer Gesellschaft ist es so, dass die große Mitleidsillusion eine Voraussetzung dafür ist, dass im großen Rahmen gespendet wird. Geholfen kann nur dann werden, wenn man Rührung erzeugt. Es geht bei uns nicht anders, als dass man die Masse zunächst weich macht, um etwas aus ihr rauszuholen. Die Spender zeichnen sich dann dadurch aus, dass sie von sich selber gerührt sind, weil sie gerührt sind. Wir sind eine verkitschte Bande.

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Stadtgespr äch Zur Person André Heller, 66, ist ein österreichischer Künstler, der sich auf kein künstlerisches Genre festlegen lässt. Er war Liedermacher und schreibt Bücher, dreht Filme und erfand den Zirkus und das Varieté neu. Daneben entwirft er Gesamtkunstwerke wie Swarovski Kristallwelten und Gartenanlagen und kreiert kulturelle Großveranstaltungen. Für seine vielfältige künstlerische Arbeit wurde er unter anderem mit dem Bambi und dem Amadeus Austrian Music Award ausgezeichnet

Der Artikel erschien in Falter 11/2012 und wurde gekürzt und redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/heller

André Heller Falter: Herr Heller, Sie waren 1967 als DJ Andreas der erste Moderator der legendären „Musicbox“ auf Ö3. Wie sind Sie ohne jede Radioerfahrung zu diesem Job gekommen? André Heller: Ich war für konventionelle Schulen jeglicher Form ungeeignet und süchtig nach selbstbestimmtem Lernen durch Literatur, Musik, bildende Kunst, Filme und anregende Gespräche mit Wissenden. Wegen renitenten Verhaltens bin ich aus der Schauspielschule geflogen, bevor ich zur ersten Prüfung antreten konnte; genauso wie zuvor aus der letzten meiner vier Mittelschulen. Meine Mutter hat mich dann in ihrer verständlichen Verzweiflung in ein skurriles Fahrschulinternat in St. Johann im Pongau geschickt, damit ich wenigstens Chauffeur werden könnte. Das habe ich zwar letztlich aus bren-

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2.10.2008 Der Wiener Künstler über seine kulturelle Prägung, das Jahr 1968 und den Sinn des Lebens G e sp r ä c h : G e r ha r d S t ö g e r Th o m as M i e S S ga n g

nendem Desinteresse auch nicht geschafft, aber mich dort mit einem Mitschüler namens Hermann Hirner angefreundet – ohne zu wissen, was er beruflich macht. Eines Tages hat er mich angerufen, und da realisierte ich, dass er der Zentralbetriebsratsobmann des ORF war. „Es kommt jetzt der Gerd Bacher und will einen Sender für junges Publikum gründen“, hat er gesagt. „Schau doch einmal vorbei, wir brauchen dringend Leute, die Programme machen können. Und du hast doch einen guten Schmäh!“ Die „Musicbox“ ist also zufällig passiert? Heller: In manchen Liedern von Van Morrison werden Nachterinnerungen beschworen, wo er durch den Äther Musiken von exotischen Radiostationen empfängt, Radio Hilversum zum Beispiel – derlei in etwa schwebte Gerd Bacher mit der Gründung von Ö3 vor. Ich durfte mir eine Sendezeit aussuchen, und da ich am Vormittag immer geschlafen hab, weil ich wie alle Eulen nachtaktiv war, sagte ich: „Ab drei Uhr nachmittags könnte ich etwas machen.“ Das ganze einigermaßen revolutionäre und amüsante Universum der Popmusik strukturierte sich gerade erstmals und durch die „Musicbox“ war Wien für die Pop-Außerirdischen ein begehrter Landeplatz, denn wir

hatten als Einzige im deutschen Sprachraum das Ohr hunderttausender junger Leute. Also kamen alle her. Von Jimi Hendrix bis zu den Supremes, von Frank Zappa bis zu den Rolling Stones. Und diese Weltstars waren alle in der „Musicbox“ zu Gast? Heller: Ja, entweder live oder durch aufgezeichnete Interviews. Aber sie haben sich nicht wie heutige Weltstars geriert. Sie waren etwa so alt wie wir selbst und kamen ohne Privatflugzeug und Leibwächter und PR-Entourage. Wir sprachen miteinander auf Augenhöhe, und wenn ich nach London fuhr, zeigte mir Manfred Mann seine Clubs, so wie ich ihm in Wien den Atrium-Club oder die Camera gezeigt hatte. Wir Musicboxer standen also nicht unter dem Eindruck, weniger fulminant als unsere Gäste zu sein – ich auf keinen Fall, das war ja der Beginn meiner hochmütigsten Zeit. Wie war das mit John Lennon und Yoko Ono bei ihrem Wien-Besuch 1969? Heller: Auch die hatten keinen Tross um sich. Ich bin mit John Lennon vor seiner Abreise noch auf den Zentralfriedhof gepilgert, um das Grab von Franz Schubert zu besuchen. Statt Blumen legte er dort einen Schnürsenkel auf das Grab.

Foto: Christian Fischer

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ndré Hellers Begrüßung ist eine Entschuldigung. Er habe einen Arzttermin, daher blieben für das Gespräch nur zwei Stunden, bedauert er. Zwei Stunden, das klingt üppig. Aber bei André Heller ist das wenig. Denn Heller ist keiner, der kurze, präzise Antworten gibt. Er ist ein Geschichtenerzähler, der weiß, dass die Abschweifung mindestens so interessant sein kann wie der eigentliche Kern.

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Auf die Gründung von Ö3 folgte das Jahr 1968. Gab es in Wien Schnittstellen zwischen Popkultur und Politik? Heller: Mein 68er-Erlebnis war schon 1965. Nämlich die große, interessanterweise vom blutjungen Ossi Bronner durch einen Beitrag in der Fernsehsendung „Zeitventil“ seines Vaters Gerhard ausgelöste Demonstration gegen den aggressiven Antisemiten und Hardcore-Nazi Professor Borodajkewycz von der WU. Auch der Student Ferdinand Lacina und der Jungpolitiker Heinz Fischer haben sich wesentliche Verdienste um dieses bis dahin in Österreich beispiellose polithygienische Sich-nicht-Fügen Zehntausender erworben. Ich bin mit all meinen Freunden mitmarschiert. Mörderischerweise wurde damals der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst Kirchweger von einem Burschenschafter namens Günther Kümel niedergeschlagen, er starb kurz darauf an den Folgen dieses Gewaltakts. Wie haben Sie dann 1968 erlebt? Heller: Daran habe ich eher skurrile Erinnerungen. Wir, der Arnulf Rainer, Hubert Aratym und andere Künstler und Studenten, wollten einmal das Burgtheater stürmen, um eine kulturpolitische Proklamation zu verlesen. Nachdem wir dies bei der Uni verkündeten, montierte die Polizei sofort an alle Eingänge Schlösser. Die Pluhar hatte uns genaue Pläne für die Wege durch den Schauspielereingang auf die Bühne gezeichnet, aber auch dort standen bei den Tü-

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„Es geht darum, dass unsere unsterbliche Seele in einem sterblichen Körper auf einem Planeten, dessen Spezialität die Polarität ist, menschliche Abenteuer erfährt“

André Heller: Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein. S. Fischer, 2008

André Heller: Wienereien oder ein absichtlicher Schicksalsnarr. Brandstätter Verlag, 2012

ren Polizisten und sagten höhnisch: „Hamgehn, Herrschaften! Wirbel abgesagt!“ Einmal besuchte, glaub ich, Fritz Teufel die Ossi-Wiener-Partie im Café Savoy hinterm Ronacher. Viel dürfte dabei auch nicht herausgekommen sein. Die Sendungen der Jugendredaktion jedenfalls nahmen die Nöte und Aufbrüche der jungen Leute ernst. So wurde eine lokale Jugendkultur beflügelt: Diskussionsrunden fanden statt, alternative Konzerte und Kurzfilmfestivals, und wir fragten auch in Sendungen kritisch bei Politikern nach. Derlei hatte jahrzehntelang nicht die geringste Tradition gehabt. Wie haben Sie die Anfänge des Austropop erlebt? Heller: Der Gerhard Bronner hat ein Biotop für Leute geschaffen, die sich für Musik, politische Diskussionen oder auch für die viel erlebt habenden, gelegentlich reaktionären Altspatzen interessiert haben, etwa Friedrich Torberg. Es gab das Torberg-Stüberl hinten in Bronners Lokal Fledermaus, wo ich oft mit dem Qualtinger war, der immer Hawelka-kritisch gesagt hat: „Geh dorthin, wo interessante Leute sind, lass dich auf unterschiedliche Zirkel ein, nicht immer in derselben Suppe köcheln, auch Gegenstandpunkte studieren.“ Er, als besonders liebevoller und auf Ermutigung spezialisierter Freund, hat mich vielen wichtigen Durchreisenden vorgestellt, die ihn schätzten. Herren wie Marcel Marceau, Peter Zadek, Ulli Becher, der unter anderem den „Bockerer“ schrieb, Bernhard Wicki und wie sie alle hießen. Im Torberg-Stüberl saßen auch Leute wie der Dramatiker Hochwälder oder der leibhaftige Karl Farkas – ich bin sehr dankbar, dass ich mit denen noch Gespräche führen konnte. Letztere galten damals als hoffnungslos old-fashioned. Dass sie in der Emigration waren, dass sie einmal innovative und immer noch hochprofessionelle Könner waren, galt im Hawelka als nicht zugelassenes Argument. Im Torberg-Stüberl gab es auch ein Klavier, das zum Arbeiten einlud. Ich hab dort mindestens 20 Lieder mit dem Bronner und manchmal auch Peter Wehle geschrieben, die dann in Fernseh- und Radiosendungen aufgetaucht sind. Als das Musical „Hair“ mit der völlig unbekannten Donna Summer triumphal in der Stadthalle gastierte, entstanden Bronners Dialektversion vom Song „Aquarius“ und in weiterer Folge seine „Glock’n“. Das waren, in der Interpretation von Marianne Mendt, die ersten Austropop-Megaerfolge. Sänger, Schauspieler, Moderator, Künstler, Autor – Sie haben eine bunte Karriere. Sind Sie mittlerweile der André Heller, der Sie sein wollten? Heller: Leben heißt für mich, diese Figur, die als Entwurf in einem angelegt ist, klug zu fördern und präzise herauszuarbeiten, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Es ist auch interessant, wie viel Erfolg man haben kann, ohne selber dran zu glauben. Man denkt dann auch: Gott sei Dank ist mir bei manchem keiner draufgekommen, wie sehr noch die Kluft zwischen Erkenntnis und daraus resultierender Konsequenz unüberbrückt ist. André Hellers Karriere – eine Hochstapelei à la Felix Krull? Heller: Man sollte gerecht sein. Die Verwandlungen dauern ihre Zeit und eben oft sehr lange. Heute ist natürlich die wirkliche Figur André Heller schon sehr viel genauer erkennbar, aber von meinem Ideal bin ich immer noch ziemlich entfernt. Man kann

die Entwicklung allerdings beschleunigen, wenn man vom terroristischen Ego heruntersteigt und wenn man den Segen von umfassender Dankbarkeit erkennt. Eine letzte Frage: Worum geht es im Leben? Heller: Nach jahrzehntelangem Reflektieren und unzähligen Bemühungen, mir selbst und der Welt auf den Grund zu gehen, glaube ich, es geht darum, dass unsere unsterbliche Seele in einem sterblichen Körper auf einem Planeten, dessen Spezialität die Polarität ist, menschliche Abenteuer erfährt. Es ist ein intensives, häufig beunruhigendes und angstbeladenes Studium, das wir nicht schwänzen sollten. F

Heller erzählte aus seinem bunten Leben

☛ Der Moderator Ich finde es immer wieder eindrucksvoll, wie blitzschnell André Heller ein Publikum auf seine Seite ziehen kann. Darin ist er wirklich ein Magier. Es ging im Gespräch um Fragen der Kunst, um Autobiografisches und um seinen Abschied von der Sozialdemokratie, den er in einem offenen Brief an den Falter unmittelbar vor unserem Gespräch verkündet hatte. :: Huemer über Heller:

Zuvor hatten John und Yoko im Hotel Sacher ihre legendäre „Bagism“Pressekonferenz gegeben. Heller: Ich war als Reporter dort und führte das Gespräch mit ihm, weil ich am nächsten an den beiden, die nackt unter einem Leintuch kuschelten, dranstand. Da fiel auf meine Frage, was er von der Queen halte, Lennons berühmte Äußerung, dass die englische Königin weniger für den Frieden geleistet habe als er. Danach kam der Manager und sagte: „John haben deine Fragen gefallen. Mach morgen eine eigene Sendung mit den beiden.“ Darauf sind der Alfred Treiber und ich am nächsten Vormittag verabredungsgemäß in die Suite. Die Tür war seltsamerweise unversperrt. John hat im blau-weiß gestreiften Pyjama geschlafen, Yoko in einem T-Shirt. Wir haben sie durch lautes Absingen der österreichischen Bundeshymne aufgeweckt und, nachdem wir gefrühstückt hatten, eine lange happeningartige Sendung aufgenommen. Das war alles ganz unprätentiös. Einmal kam Brian Jones von den Rolling Stones in die „Musicbox“. Zwei Dinge waren an ihm bemerkenswert: die Petit-Point-bestickten Schuhe, die er sich in Wien gekauft hatte, und seine Geliebte, Anita Pallenberg, die eine Klarsichtbluse trug. So etwas hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen! Ich redete eine Stunde lang mit Jones, und nach und nach versuchten beinah alle Angestellten des Hörfunks zumindest für Augenblicke in diesen kleinen Tonmeisterraum zu kommen, denn es hatte sich schnell herumgesprochen, dass da eine nach österreichischen Standards Wahnsinnige sitzt, mit nackten Brüsten. In dieser Sendung sagte Brian Jones übrigens, er sei so müde, weil er die ganze Nacht in London im Studio verbracht habe. Wenn ich wolle, könne er mir seine neueste Produktion als Rohmischung zum Anhören geben. Wir spielten das Tonband sofort live auf Sendung, und drauf war, als Welturaufführung, „With a Little Help from My Friends“ von Joe Cocker.

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Die Thesen

Punkt 1: Massenkultur hat ihre Berechtigung

Für viele junge Künstler ist es schwer, sich der Massenkultur zuzuwenden, weil sie sehr viel Missachtung aus ihrem Künstlerkreis erfahren. Aber Charlie Chaplin und Bob Dylan sind auch nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen. Das Kleine und das Große – beides hat seine Berechtigung. Punkt 2: Die Heimat der Missgunst

Am besten kann man durch Freude lernen, aber das hat sich bei uns noch nicht herumgesprochen. Die Intellektuellen und Künstler in Wien verherrlichen den Kult der schlechten Laune, weil sie glauben, wenn man in der Selbstaggression, Missgunst und Wut auf andere zu Hause sei, dann sei man am richtigen Platz. Aber man ist am richtigen Platz, wenn man sich darüber freut, wenn einem anderen etwas gelingt und wenn man selbst Ermutigung bekommt. Punkt 3: Rezept zum Glücklichwerden

Es gibt drei Säulen für funktionierendes Glück. Erstens: wenig Ego. Das Ego ist eine entsetzliche Ballastgeschichte, das einem überall dazwischenkommt; es ist nicht leicht, das loszuwerden. Zweitens: viel Dankbarkeit – ich sehe mein Leben als wunderbares Geschenk und Gnade und habe so wunderbare Menschen in meinem Leben gefunden. Und drittens: die bedingungslose Liebe. Das hat mich mein Kind gelehrt.

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Kurt Rothschild Falter: Herr Professor Rothschild, Sie

werden heuer 95 Jahre alt, Sie überblicken beinahe ein Jahrhundert voller Krisen. Wo sollen wir beginnen? 1914 oder 2009? Oder bei der Weltwirtschaftskrise 1929? Kurt Rothschild: Im Jahr 1929 war ich 15 Jahre alt. Ich kann mich erinnern, dass es ein besonders strenger Winter mit über 30 Grad minus war. Mit meinem Vater ging ich auf die vereiste Donau. Die Kälte war jedoch damals – wie heute – nicht die Ursache der wirtschaftlichen Krise. Richtig angekommen ist die Wirtschaftskrise dann zu Beginn der 30er-Jahre, da war ich schon politisch interessiert.

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21.1.2009 Der österreichische Doyen der Wirtschafts­ wissenschaften über die Börsenkrise 1929 und heute Gespräch: R i c h a rd W i m m e r

Haben Sie die Krise persönlich gespürt? Rothschild: Ich erinnere mich an die Sorgen der Eltern. Mein Vater war Vertreter für Registrierkassen einer amerikanischen Registrierkassenfirma in Niederösterreich. Er hat nur von Provisionen gelebt, die Krise hat ihn deshalb hart getroffen. Ich selbst war noch jung und nicht direkt betroffen, ich musste nie hungern. In Wien herrschten Armut und Elend. Rothschild: Ja, aber man darf nicht vergessen, dass die Not in Österreichs Straßen schon vorher herrschte. In jeder Familie war jemand betroffen, die Arbeitslosigkeit lag bei 25 Prozent. Wirtschaftlich und sozial war das eine schreckliche Zeit. Aber psychologisch war sie vielleicht für den einzelnen Arbeitslosen besser verkraftbar als Arbeitslosigkeit in guten Zeiten, damals wusste ja jeder, dass er Opfer einer extremen Wirtschaftskrise geworden war. Wie verliefen damals die politischen Diskussionen?

Rothschild: Es gab sehr heftige politische

Auseinandersetzungen zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten, den aufkommenden Nazis und den Christlichsozialen. Die politische Lage hat sich aber zunehmend verschärft, in den Straßen waren militärische Aufmärsche zu sehen. In den persönlichen Beziehungen gab es jedoch bis 1938 keine Probleme, man hat diskutiert und gestritten und ist dann gemeinsam Ski fahren gegangen. Den Keynesianismus gab es damals noch nicht, schließlich hatte John Maynard Keynes seine Allgemeine Theorie erst 1936 veröffentlicht. Wie ging die österreichische Regierung damals mit der Krise um? Rothschild: Nach 1933 wurden politische Debatten nicht mehr öffentlich geführt, weil es ja nur mehr eine Partei gab. Man war entweder dafür oder dagegen. Privat hat man schon diskutiert, das war sehr polarisierend, entweder man war für den Kapitalismus oder für den Sozialismus. Abstufungen dazwischen gab es kaum. Dass es verschiedenste Spielarten des Kapita-

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m Arbeitszimmer seiner Döblinger Altbauwohnung empfängt Kurt Rothschild zum Gespräch. Zu Beginn streckt seine Ehefrau den Kopf zur Tür herein. Die Russen, sagt sie, lieferten noch immer kein Gas. Rothschild seufzt und rollt mit seinen wachsamen, humorvollen Augen. Es ist nicht die erste Krise, die der Wirtschaftswissenschaftler erlebt. Er reibt sich die Hände und bittet um die erste Frage.

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STADTGESPR ÄCH Kurt W. Rothschild (1914 bis 2010) war Professor für Volkswirtschaft slehre an der Universität Linz und galt als einer der prominentesten und besten Wirtschaft swissenschaftler Österreichs. Für seine Publikationen („The Theory of Wages“, „Wege zur Vollbeschäftigung“, „Ethics and Economic Theory“) erhielt er mehrere Ehrendoktorate sowie unter anderem das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst I. Klasse und das Ehrenzeichen des Landes Oberösterreich

Der Artikel erschien in Falter 04/2009 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/rothschild

lismus gibt, hat man damals ja nicht gewusst, die Idee des Wohlfahrtsstaates war nicht bekannt.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Gab es die Idee einer Sozialpolitik? Rothschild: Ja, es gab Sozialpolitik und es gab die Vision einer Gesellschaft mit Vollbeschäftigung und einer solidarischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite stand der Kapitalismus, wo nur mehr die politische Frage gestellt wurde, und zwar, ob es Demokratie geben soll oder den Faschismus. Die Krise dauerte in Österreich länger als in anderen Ländern. Rothschild: Es gab ständig dieses Gefühl der persönlichen Bedrohung in der Krise. Nach dem ersten Schock machte sich eine depressive und resignative Stimmung breit. Einige Menschen suchten andere Auswege und gingen nach Deutschland arbeiten oder sogar in die Sowjetunion. Auch die Wahl meines eigenen Studiums war von der Krise beeinflusst. Eigentlich wollte ich Physik studieren, und da hat mir jeder gesagt, das sei vollkommen aussichtslos, dass du da ir-

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Hans Bürger, Kurt W. Rothschild: Wie Wirtschaft die Welt bewegt. Braumüller Lesethek, 2009

Kurt W. Rothschild: Die politischen Visionen großer Ökonomen. Wallstein, 2003

gendeinen Posten kriegst, weil die Industrie am Boden liegt. Sie hatten Jus studiert. Rothschild: Ja! Hätte ich damals die spannenden Grisham-Filme gesehen, wäre ich Strafverteidiger geworden und nicht Ökonom. (Lacht.) Meine Berufswahl ist also durch die Krise bestimmt worden und durch den Dollfuß und den Hitler. Im August 1938 flüchtete ich mit meiner Frau in die Schweiz und von dort nach England, wo ich Ökonom wurde. Ich habe 1938 rasch begriffen, dass ich wegmuss. Manche sind am Vorabend des Einmarschs schon in die Tschechoslowakei geflüchtet. Mir selbst ist Schlimmeres erspart geblieben, meinen Eltern nicht, sie konnten nicht mehr flüchten. Wie beurteilen Sie die Renaissance keynesianischer Ideen? Die Regierungen versuchen sich ja geradezu zu übertrumpfen mit ihren Konjunkturbelebungsmaßnahmen. Rothschild: Wir beobachten heute keine keynesianische Revolution, sondern den Zusammenbruch des Neoliberalismus, also jener Ideologie, wonach der Markt am besten die Dinge regelt, wenn man ihn in Ruhe lässt. Keynes hat die Krisen ja nicht erfunden, aber für einen Keynesianer ist es ganz natürlich, dass es zu Krisen kommt, zumal zu Finanzkrisen in nicht regulierten Märkten. Dass dem Staat eine Aufgabe zukommt, kann man schon bei Keynes und auch schon bei früheren Ökonomen nachlesen. Wir haben gelernt, dass nach jeder Krise die Bereitschaft besteht, ein wenig gegenzusteuern. Aber dann – nach einiger Zeit – beginnt wieder das Streben nach höheren Renditen. Sie können es ja schon heute beobachten, dass diese Kräfte vorhanden sind. Wie sehen Sie die Bankenrettungspakete? Rothschild: Schauen Sie, manche Banken wollen jetzt die Hilfe gar nicht annehmen, weil sie Angst haben, dass ihnen sonst der Staat dreinredet. Der Neoliberalismus ist ja nicht was völlig Irrationales. Er geht einher mit der Revolution in der Technik, vor allem in der Informationstechnologie. Da sind die Transaktionskosten ungeheuerlich gesunken, sodass die großen Unternehmungen, die einst den Nationalstaat brauchten, um ihre Monopolstellung zu schützen, nunmehr sämtliche Grenzen niederreißen wollen. Was können die Regierungen tun? Rothschild: Kurzfristig müssen die Investitionen wieder in Gang gebracht werden, denn wenn der Aufschwung und die Nachfrage wieder da ist, dann fehlen die Beschäftigungsmöglichkeiten. Wenn man bedenkt, wie rasch der Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen ist, waren alle überrascht. Langfristig brauchen wir ein wohlfahrtsstaatliches Konzept, das aber europaweit oder gar international angelegt sein muss. Schließlich müssen jene Fragen diskutiert werden, die die aktuelle Krise offengelegt hat: Brauchen wir ein Konzept, das Währungsspekulation verhindert? Brauchen wir ein Konzept, das Banken wieder zu Banken macht anstatt zu Spekulationsbetrieben? Brauchen wir ein besseres Konzept für die Ratingagenturen? Mir scheint, dass wir uns in Europa rasch auf Deregulierung haben einigen können, die Schaffung von guter Re-Regulierung scheint jedoch viel schwieriger. Die Lobbys, die das verhindern wollen, sind sehr aktiv und einflussreich. F

Weise und wach: Rothschild im Alter von 94

☛ Der Moderator :: Huemer über Rothschild: Der Saal war überfüllt, denn Rothschild war als Wirtschaftswissenschaftler eine Legende. Dazu sein Alter: 94 Jahre. Das Publikum war tief beeindruckt. Wir redeten über sein bewegtes Leben, über seine Publikation „Ethik und Wirtschaftstheorie“ und die Frage an den Nationalökonomen, ob der Begriff „Nationalökonomie“ im Zeitalter der Globalisierung überhaupt noch sinnvoll ist.

Zur Person

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Die Thesen

Punkt 1: Der Kapitalismus kann nicht reibungslos funktionieren

Die neoliberale Ideologie besagt, der Kapitalismus sei das beste System, weil die Preise über die Märkte geregelt werden. Dieses romantische Bild war von Anfang an falsch. Der Kapitalismus kann nicht reibungslos funktionieren, denn er ist auf Gewinn ausgerichtet und nicht auf das, was Menschen wirklich brauchen. Mit dem Wachsen ökonomischer Macht und dem Entstehen größerer Produktionseinheiten bis hin zu weltweiten Konzernen wird Gewinn nicht nur erwirtschaftet, indem man etwas produziert, sondern auch dadurch, dass der Markt manipuliert wird. Das fängt bei Zöllen an, mit denen man sich Konkurrenz fernhält, und geht bis hin zum Druck auf die Löhne und anderer Kosten. Punkt 2: Spekulationskrisen wiederholen sich

Wenn die Wirtschaft lange gut läuft, werden die Leute wagemutiger und beginnen zu spekulieren. Sie kaufen etwa Autoaktien, weil sie glauben, der Autoverkehr werde künftig zunehmen. Steigen die Aktien, erweckt das weitere Erwartungen und es wird viel zu viel in Autoaktien investiert. Durch Spekulationsgeschäfte wird das Marktgeschehen verzerrt. Stellt sich heraus, dass die spekulativen Preise mit den wirklichen Bedürfnissen nichts zu tun haben – der Bedarf an Autos viel geringer ist –, kommt das Erwachen und alle wollen ihre Aktien loswerden. Die Preise fallen, das Vermögen ist weg, es kommt zum Krach. Darauf folgt die große Angst, weil sich Firmen weniger zu investieren trauen und die Banken höhere Zinsen verlangen. Das führt zur Finanzkrise, auf die wieder ein paar ruhige Jahre folgen. Dann beginnt das Spiel von neuem. Punkt 3: Die Gier ist ins System Kapitalismus eingebaut

Der Kapitalismus ist ein System, das darauf beruht, dass Leute Gewinne machen wollen. Er beruht also auf einer unmoralischen Basis: Ich tue nicht etwas, weil es für die Gesellschaft nützlich ist, sondern ich tue etwas, weil es für mich nützlich ist. Die Gier ist also in das System eingebaut.

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olin Crouch ist einer der bekanntesten Kapitalismuskritiker der Welt. Seine beiden Bestseller „Postdemokratie“ und „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ gelten mittlerweile als Manifeste, die das Unbehagen am Kapitalismus auf den Punkt bringen. Falter: Herr Crouch, in Europa, vor

allem in Deutschland, wird zurzeit sehr viel über die Piratenpartei und die Rolle des Internets diskutiert. Warum ist dieses Thema in der Öffentlichkeit so präsent? Colin Crouch: Auf diese Frage gibt es eine pessimistische und eine optimistische Antwort. Die pessimistische ist: Viele Menschen sind zunehmend der Überzeugung,

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10.5.2012 Der Politologe fürchtet, dass das Internet das Instrument der Mächtigen wird Gespräch: W o l fg a n g Z w a n d e r

dass unsere Demokratie einfach nicht mehr funktioniert, und deshalb sehnen sie sich nach etwas Neuem. Das Internet steht für dieses Neue, und sie verbinden damit die Heilserwartung, die Demokratie neu erfinden zu können. Was wäre die positive Antwort? Crouch: Man könnte behaupten, dass die Menschen in einer lebendigen demokratischen Gesellschaft immer neue Möglichkeiten der politischen Äußerung suchen – und auch finden. Das Internet steht in diesem Sinne für eine Repolitisierung der Gesellschaft. Es beweist, dass es kein Ende der Geschichte gibt, wie es viele Politiker und Intellektuelle gerne hätten.

Teilen Sie die pessimistische oder die optimistische Sichtweise? Crouch: Beide sind richtig. Einerseits belebt das Internet die Demokratie, weil es uns allen ganz neue Verbindungsmöglichkeiten bringt. Gruppen, die keinen leichten Zugang zu den Massenmedien finden, können es beinahe kostenlos benutzen, um damit Millionen Menschen zu erreichen. Die Menschen können heute auf eine Art kommunizieren und sich organisieren, die von den Machtapparaten und den Medienimperien nicht oder nur schwer kontrolliert werden kann. Aber Staat und Konzerne schlafen nicht. Allmählich werden die Mächtigen Wege finden, wie sie das Internet für ihre Zwecke kontrollieren können. Das demokratische Potenzial des Netzes wird sich

Foto: Christian Fischer

Colin Crouch

16.10.2013 14:25:30 Uhr


STADTGESPR ÄCH Colin Crouch, 69, ist ein britischer Soziologe und Politikwissenschaftler. Der Professor für Governance and Public Management an der University of Warwick wurde durch seine Arbeit zur Ära der Postdemokratie international bekannt. Sein neuestes Buch „Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“ wurde jüngst mit dem Literaturpreis für das politische Buch der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnet

tiger Weckruf für die Politik. Das ist einerseits sehr gut. Andererseits müssen wir aber auch sehen, dass es unter politischen Onlinebewegungen nicht nur progressive Gruppen gibt, sondern auch faschistische und rassistische, islamophobe und antisemitische. Für unser System wäre es verheerend, wenn diese reaktionären Kräfte über das Internet an Kraft gewinnen würden. Aber was ist mit der Rolle des Netzes bei den Oppositionellen in China oder bei den Aufständischen in Nordafrika? Wäre Husni Mubarak nicht noch immer Präsident von Ägypten, wenn es das Internet nicht gäbe? Crouch: Ja, vielleicht! Wer weiß? Man muss aber auch erkennen, dass die Millionen Stimmen der Machtlosen außerhalb der westlichen Welt oft gar keinen Zugang zum Internet haben. Für die Armen unseres Planeten spielt es vielfach überhaupt keine Rolle. In Nordafrika, China und anderen Teilen der Welt kämpfen die Oppositionellen für liberale Demokratie, während bei uns im Westen die große Politikmüdigkeit herrscht. Wie beurteilen Sie, dass viele nichtwestliche Völker das politische System wollen, das bei uns offenbar nicht mehr wirklich funktioniert? Crouch: Ja, dieser Unterschied ist beinahe ironisch. Der Kampf der unterdrückten Völker für Demokratie und Freiheit muss uns jedenfalls in unserer Lethargie beschämen.

Der Artikel erschien in Falter 18/2012 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech.at/ video/crouch

Sie sagen also, das progressive Potenzial der Neuen Medien wird überschätzt? Crouch: Ein sehr großes Problem unserer westlichen Demokratien ist, dass die politischen Klassen fast keine Verbindungen mehr zur Gesellschaft haben. Die Spitzenpolitiker agieren als geschlossene Gruppe. Initiativen, die sich im Internet bilden, dienen als kräf-

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Wegen des Internets wurde jüngst auch die Debatte um das Urheberrecht angeheizt, die mächtigen Konzerne scheinen an diesem Punkt uneinig und gespalten. Wie sehen Sie den Konflikt um das Urheberrecht? Crouch: Bei diesem Punkt lautet die entscheidende Frage: Würden Schriftsteller und Musiker ihre Arbeit einstellen, wenn sie ihre Produkte nicht mehr als Güter verkaufen könnten? Ich weiß darauf keine Antwort, aber die Frage, ob es Verwertungsformen abseits der kapitalistischen Logik geben kann, interessiert mich. Einige Musiker sagen schon heute, dass es ihnen lieber ist, ihr Geld mit Livekonzerten zu verdienen als durch Tonträgerverkauf. Herunterladen von Musik, Filmen und Text ist nach unserem Recht trotzdem, zumindest meistens, ein Gesetzesbruch. Zeigt der Staat zu wenig Präsenz im Netz? Crouch: Klar ist, es muss auch im Internet staatliche Regulierung geben, so wie bei allen anderen Mitteilungsmedien auch. Der Staat muss vorgehen gegen Mobbing und Betrug, gegen Hassverbrechen und Kinderpornografie. Es wird aber noch Zeit brauchen, bis die Gesetze im Netz greifen, weil es für Justiz und Exekutive oft noch Neuland ist.

dann schnell in Luft auflösen. Die Geschichte der Neuen Medien wird ähnlich verlaufen wie die Geschichte der Presse: Zuerst bringen sie eine neue Form der Äußerung von Freiheit, später wird das Internet vor allem ein Instrument der Mächtigen und eine gute Möglichkeit für Konzerne sein, viel Geld zu verdienen. Wir müssen die Jugendzeit des Internets genießen.

Colin Crouch: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. Suhrkamp, 2011

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Wie sollte der Staat Ihrer Meinung nach mit Platt formen wie Wikileaks umgehen, die geheime, oft illegal beschaff te Informationen veröffentlichen? Crouch: Wir wollen, dass die Mächtigen keine Geheimnisse vor uns haben. Andererseits ist es nicht in unserem Interesse, dass vertrauliche Daten jederzeit öffentlich werden können. Wer entscheidet, wann eine Veröffentlichung gerechtfertigt ist? Der Staat selbst? Journalisten? Ein Gericht? Diese Optionen scheinen mir unzureichend. Wir können diese Frage heute noch nicht beantworten. F

Der britische Politologe trug auf Deutsch vor

☛ Der Moderator :: Huemer über Crouch: Mit „Postdemokratie“

hat der britische Politikwissenschaftler einen Schlüsseltext zur Analyse des Neoliberalismus und zur Zukunft der Demokratie geschrieben, die verheerend sein wird – wenn wir uns nicht bald zu wehren beginnen. Im Gespräch wieder die Frage, was Sozialdemokratie und Gewerkschaften dagegen tun können, nachdem ihre Erfolge bis jetzt mehr als bescheiden waren. Als Wissenschaftler ist Crouch Pessimist, als Mensch Optimist. Notgedrungen, denn diesen Optimismus braucht er zum Leben und Arbeiten.

Zur Person

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Die Thesen

Punkt 1: Bürger spielen eine apathische Rolle

Westliche Länder sind auf dem Weg in die Postdemokratie. Postdemokratie bezeichnet ein Gemeinwesen mit Wahlen, in dem konkurrierende Teams professioneller Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Man diskutiert nur über eine Reihe von Themen, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die meisten Bürger spielen dabei eine apathische Rolle, sie reagieren nur auf vorgegebene Signale. Im Schatten der politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht. Die gewählten Regierungen und Eliten vertreten vor allem die Interessen der Wirtschaft. Punkt 2: Die Opfer der Globalisierungsverlierer

Die Xenophobie ist die größte und schlimmste Gefahr des neoliberalen Zeitalters. Es gibt eine allgemeine Angst: Kleine Leute sehen, dass etwas ihrer Kontrolle entglitten ist, dass sich außerhalb ihres Landes Dinge tun, die Auswirkungen auf sie haben. Für sie ist es sehr schwer, gegen die Globalisierung anzukämpfen, aber es ist für die kleinen Leute sehr leicht, arme Migranten als Beispiel der Globalisierung zu sehen und gegen sie zu agieren. Dabei sind arme Migranten ja ebenfalls Opfer der Globalisierung. Punkt 3: Die neue soziale Unterschicht formiert sich im Feminismus

Die herrschende Klasse hat ihre neoliberale Ideologie und sie hat Zeitungen, die ihre Ideologie predigen. Die neue Generation – die Leute, die in Dienstleistungsjobs arbeiten – ist hingegen nicht leicht zu organisieren. Aber vielleicht haben sich diese Menschen ja entgegen der gängigen Meinung doch schon formiert, vielleicht haben sie es über den Feminismus gemacht. Denn die Mehrheit derjenigen, die in öffentlichen und privaten Dienstleistungssektoren arbeiten, sind Frauen. Vielleicht ist die Tagesordnung des Feminismus die neue Politik dieser neuen sozialen Schichten.

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Stadtgespr äch Zur Person Almaz Böhm wurde 1964 in Äthiopien geboren. Als Karlheinz Böhm 1981 die Äthiopienhilfe „Menschen für Menschen“ gründete, studierte Almaz noch Viehzucht. 1986 begann sie, für die Hilfsorganisation zu arbeiten. Ein Jahr darauf lernte sie ihren künftigen Ehemann kennen, mit dem sie heute zwei Kinder hat. Im Jahr 1999 wurde Almaz Böhm zur stellvertretenden Vorsitzenden des Vereins in Österreich gewählt, seit 2011 führt sie die Organisation als Vorstandsvorsitzende

Der Artikel erschien in Falter 11/2009 und wurde leicht gekürzt und redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer, Almaz und Karlheinz Böhm steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/boehm/

Almaz Böhm

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19.3.2009 Wie aus einem äthiopischen Flüchtlingskind die Chefin einer internationalen Hilfsorganisation wurde Porträt: J u l i a K o spach / Salzburg/ K a m i ss i , Äthiopien

brachte sie die Nächte auf dem Boden statt in ihrem Bett, weil sie Angst hatte, dass auf die Wände geschossen würde. Mit einem Militärhubschrauber verließ die Familie in letzter Minute ihre von den Somalis eroberte, eingekesselte Heimatstadt. „Wir hatten nichts mehr, aber wir haben uns nicht arm gefühlt. Wir haben in diesem Krieg niemanden verloren. Wir hatten uns“, sagt Almaz Böhm. Große Sätze, die aus ihrem Mund klingen, als handelte es sich um Selbstverständlichkeiten. Genauso wie das, was sie kurz danach über die Arbeit der Äthiopienhilfe sagt, die ihr Mann Karlheinz Böhm 1981 gegründet hat: „Ich denke niemals darüber nach, ob das alles Sinn hat. Das hat Sinn.“ Almaz Böhm sitzt in ihrem Büro in der „Menschen für Menschen“Österreich-Zentrale in Grödig bei Salzburg. Ihr Lachen ist laut und herzlich. Grödig, das ist dort, wo die Mozartkugeln herkommen. Eine kleine, verstreute Ortschaft nahe der Autobahn. Wer Almaz Böhm in dem Einfamilienhäuschen aufsucht, in dessen Erdgeschoß das „Menschen für Menschen“-Büro untergebracht ist, kreuzt die Karlheinz-Böhm-Straße, die

hier ums Eck liegt. Wer hierherkommt, um mit Almaz Böhm zu sprechen, wird nicht automatisch auch ihrem Mann vorgestellt. Kein Händeschütteln mit dem Gründervater der Äthiopienhilfe, kein „Wenn Sie schon da sind, dann könnten Sie doch auch gleich …“. Betont selbstverständlich verlässt sich die Organisation auf Almaz Böhms Ausstrahlung. Seit Jahren wird sie als Nachfolgerin ihres Mannes aufgebaut. Almaz sagt, es sei schon ziemlich einzigartig, dass eine Afrikanerin die Führungsposition in einer großen europäischen Hilfsorganisation innehaben könne. Es sei ein wichtiges Symbol. Seit 1991 ist sie mit Karlheinz Böhm verheira-

tet, die beiden gemeinsamen Kinder sind bereits erwachsen. „Am Anfang war die Mentalität der Leute in Europa für mich entsetzlich“, sagt Almaz, „jeder bleibt für sich. Alles immer so sauber und nach Vorschrift. Karl wusste nicht einmal, wer seine Nachbarn waren.“ Ein Heurigenbesuch mit der gutbürgerlichen Böhm’schen Verwandtschaft in der Steiermark war unter solchen Vorzeichen für die junge Äthio-

Foto: Christian Fischer

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ie Frau, die in Addis Abeba nebenan wohnte, konnte nicht glauben, wie viel diese Kriegsflüchtlinge in der Nachbarwohnung lachten. Abend für Abend hörte sie bis Mitternacht das Gelächter der Familie, die aus der ostäthiopischen Handelsstadt Jijiga in die Hauptstadt geflohen war. Hatten sie nicht alles verloren? Waren sie nicht arm wie die Kirchenmäuse? Almaz Böhm lacht, wenn sie sich daran erinnert: „Wir sagten der Frau, wir feiern, dass wir überlebt haben.“ Das war 1978, Almaz war 14 und sie hatte schon einiges gesehen. Etwa die Enteignung ihres Vaters, der unter Kaiser Haile Selassie ein wohlhabender Staatsbeamter gewesen war. Nun, unter dem sowjetgestützten Diktator Mengistu Haile Mariam, war er zum Klassenfeind geworden. Er verlor seine Häuser und Ländereien. Almaz kannte auch die Angst um ihren älteren Bruder. Der Gymnasiast gefährdete das Leben der Familie, weil er in der Bewegung gegen Mengistu aktiv war. Sie kannte den Krieg: Ein Territorialkonflikt zwischen Somalia und Äthiopien breitete sich aus und erreichte schließlich Jijiga. Monatelang ver-

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„Am Anfang war die Mentalität der Leute in Europa für mich entsetzlich. Jeder bleibt für sich. Alles immer so sauber nach Vorschrift“

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Zu der Zeit studierte Almaz Viehzucht in Äthi-

opien. Das Fach war nicht ihre erste Wahl, aber unter den Bedingungen der Diktatur fragte man danach nicht. Sie war froh, studieren zu können, und leistete nach ihrem Abschluss lustlos die vorgeschriebene Dienstverpflichtung im Landwirtschaftsministerium ab. Als sie von einer europäischen Hilfsorganisation namens „Menschen für Menschen“ hörte, die ein Landwirtschaftsprojekt plante und eine Abteilungsleiterin suchte, heuerte die Viehzuchtexpertin an. Karlheinz Böhm lernte sie ein Jahr später kennen. Sie war, sagt sie, vor allem eins – überrascht. „Mein Boss fragte mich nach meiner Meinung! Das gibt’s gar nicht!“ Almaz Böhm lacht wieder. „Als ich beim Landwirtschaftsministerium war, gingen wir zu den Bauern, hatten es immer eilig, hörten nicht groß zu und zeigten ihnen, wie es geht“, erzählt Almaz. „Karl hat immer mit den Menschen geredet. Stundenlang. Daher kommt das ungeheure Vertrauen, das wir uns geschaffen haben.“ Eine drängelnde Menschenmenge, „Allahu akbar“-Rufe im Chor, Blumen und Geschenke für Almaz. Sie steht jetzt im kleinen Dorf Kamissi in der westäthiopischen Provinz Illubabor. Die lokalen Scheichs mit ihren hennagefärbten Kinnbärten umarmen sie herzlich. Böhm eröffnet nun ein neues „Menschen für Menschen“-Gesundheitszentrum. Es ist eine Begrüßung unter alten Freunden. Ein weiß-rotes Megafon geht von Hand zu Hand. Voller Leidenschaft beschwört ein HIV-positiver Mann die Anwesenden, zum Aidstest zu gehen. Eine junge Frau, die mit der Unterstützung von „Menschen für Menschen“ die Schule abgeschlossen und studiert hat, erzählt von ihrer Karriere als Frauensozialbeauftragte und appelliert an die Anwesenden, ihre Töchter die Schule beenden zu lassen. Gemeinsam mit den Würdenträgern des Ortes sitzt Almaz lächelnd unter einer Plastikplane im Freien und hört zu. Sie ist unter den Ihren, auch hier, als Christin

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in einer rein muslimischen Gemeinde, sie spricht ihre Sprache. Sie wird später erzählen, dass es in Kamissi eine nach ihr benannte Schule gibt. Als die Scheichs zu ihr kamen und sie fragten, ob sie damit einverstanden sei, habe sie geschluckt, allen Mut zusammengenommen und gesagt: „Ich freue mich, aber unter einer Bedingung: Wenn die Schule meinen Namen trägt, möchte ich, dass die ganze Gemeinde ab sofort auf schädliche Traditionen verzichtet: auf die Zwangsverheiratung ganz junger Mädchen und auf die Klitorisbeschneidung.“ Almaz sagt, es habe funktioniert. Den Grundstein dafür, dass dieses Tabu angeschnitten werden konnte, habe ihr Mann gelegt, den sie hier „Mister Karl“ nennen und wie einen Volkshelden feiern. Auf der roten Schotterstraße der Provinzhauptstadt Mettu steht eine riesige Plakatwand: Karlheinz Böhm, der ein äthiopisches Kind im Arm hält. Darunter steht „The Hero of Development in the Millennium“. In den letzten drei Jahrzehnten hat Böhms Äthiopienhilfe 203 Schulen gebaut, drei Krankenhäuser und 85 Gesundheitsstationen eröffnet. 2400 Kilometer neuer Straße und 1300 Brunnen sind entstanden, 200 Baumschulen gegründet und 87 Millionen Baumsetzlinge zur Wiederaufforstung und Erosionseindämmung verteilt worden. Augenoperationen haben 38.000 Menschen vor der Erblindung bewahrt. 12.300 Frauen erhielten durch Mikrokredite eine neue Einkommensquelle, 30.000 Menschen Schulungen in Hygiene, Gesundheit, Ernährung oder Anbaumethoden. Insgesamt drei Millionen Menschen sind Nutznießer dieser Projektpalette, deren Ziel Selbstständigkeit und Hilfe zur Selbsthilfe ist. „Gratulieren Sie nicht! Helfen Sie!“ forderte ein Plakat zum 25-Jahr-Jubiläum 2006. Es verwundert nicht, dass die Kinder im „Menschen für Menschen“-Waisenheim in Mettu zu Almaz’ Besuch an diesem Abend selbst getextete Lieder vortragen, in denen Zeilen wie diese vorkommen: „Ich habe mich immer gefragt, wer meine Eltern sind. Und immer, wenn ich darüber nachdenke, sehe ich zwei Gesichter: meine Mutter Almaz und meinen Vater Karl.“ Sie klatscht vergnügt mit und drückt am Ende ein Dutzend Kinder an ihre Brust. Wie ein Fisch im Wasser. Auch sie hat ihre Rolle gefunden. Ängste hatte sie einige zu überwinden. Wie da-

Beate Wedekind: Almaz Böhm – Kein Weg zu weit. Collection Rolf Heyne, 2009

Beate Wedekind: Karlheinz Böhm – Mein Leben. Collection Rolf Heyne, 2008

mals, als Karlheinz Böhm sie einmal aus Äthiopien anrief und sagte, er halte es nicht mehr länger aus, er werde jetzt den Kampf gegen die Beschneidung aufnehmen. „Was, bist du wahnsinnig?“, antwortete Almaz ihm. Sie ist Äthiopierin, sie weiß, wie heikel das Thema ist. Doch er konnte sich den Tabubruch erlauben. Er ist kein Einheimischer und gehört doch dazu, mit seiner äthiopischen Frau und seinen beiden halbäthiopischen Kindern, und er hatte schon unter Beweis gestellt, dass es ihm um verbesserte Lebensbedingungen für die Menschen in Äthiopien ging. Er war gekommen, um zu bleiben. So viel war klar. Ein alter, weißer Mann, der Respekt und Vertrauen genoss. Er preschte vor, nervös folgten ihm die eigenen Mitarbeiter auf unbekanntes Terrain. Auch Almaz folgte ihm. „Menschen für Menschen“ ist eine Hilfsorganisation, die wie kaum eine andere an den Namen einer einzigen Person gebunden ist. Karlheinz Böhm ist ihr großes Zugpferd, sein Ruhm als Schauspieler bis heute der Motor, der

die Spender in Österreich, Deutschland und der Schweiz ihre Geldbörsen öffnen lässt. Ob diese Spendenwilligkeit sich in gleichem Maß erhalten wird, wenn Almaz eines Tages allein an der Spitze der Äthiopienhilfe stehen wird, ist die große Unbekannte in dieser Erfolgsgeschichte. Es ist keine Frage der Kompetenz. Auch nicht des Engagements. Beides besitzt Almaz Böhm zur Genüge. Es ist ein atmosphärisches Problem, das zu tun hat mit der Strahlkraft von Karlheinz Böhms Star-Mythos. Das zu kompensieren wird für Almaz ebenso schwierig, wie darauf zu verzichten. Almaz sagt, sie sehe das nicht als Nachteil. Auch mit dieser Frage pflegt sie einen pragmatischen Umgang. „Er hat mir durch seinen Namen und seine Bekanntheit viele Türen aufgemacht. Durchgehen muss ich selber.“ F

Ein AK-Dreiergespräch mit dem Ehepaar Böhm

☛ Der Moderator

Im einzigen AK-Gespräch zu dritt ging es um die große Wut, die Karlheinz Böhm zur Gründung von „Menschen für Menschen“ bewogen hat, um den Kampf gegen die Beschneidung von Mädchen, um den Bau von Schulen und Krankenstationen. Ich war vor Jahren in Äthiopien, habe mir Projekte von „Menschen für Menschen“ angeschaut, weiß, wie gewissenhaft dort gearbeitet wird. Es enttäuscht mich, wie zurzeit Wichtigmacher und Neider auftreten und „Menschen für Menschen“ beschädigen wollen. :: Huemer über das Ehepaar Böhm:

pierin ein echtes Aha-Erlebnis: „Gott sei Dank, es gibt auch normales Leben in Europa!“ Almaz lacht. Ihrem Mann teilte sie damals mit: „Karl, jetzt habe ich zum ersten Mal Leute in lockerer Atmosphäre gesehen.“ Inzwischen hat sie sich an die europäische Mentalität gewöhnt. Sie absolviert Termin um Termin, Empfang um Empfang, Spendengala um Spendengala. Auch abends und am Wochenende. Keine Spur von Überdruss oder Erschöpfung. Almaz Böhm hat eine Mission. Seit November 1986 arbeitet sie für „Menschen für Menschen“. Fünf Jahre war Karlheinz Böhms Äthiopienhilfe da alt. Fünf Jahre war es erst her, dass ein schon in die mittleren Jahre gekommener Schauspielstar eines Samstagabends zur TV-Primetime seinen Ruhm als Leinwand-Habsburger-Kaiser der deutschen Wirtschaftswunderjahre in die Waagschale geworfen hatte und bei Frank Elstners „Wetten dass …?“-Show mit einer Brandrede zur Menschlichkeit ein MillionenFernsehpublikum aufgestachelt hatte, seine Wettherausforderung anzunehmen und je eine Mark für Afrikaprojekte direkt an die Staatsoberhäupter Österreichs, Deutschlands und der Schweiz zu adressieren. Der Auftritt wurde zum Wendepunkt, die Äthiopienhilfe zum Zentrum seines zweiten Lebens. Als wäre Karlheinz Böhm, der Schauspieler, aus seiner alten Haut geschlüpft und hätte sich in einer neuen, besser passenden Rolle eingefunden.

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Die Thesen

Punkt 1: Die gewonnene Macht der Frauen

Wer Geld hat, hat Macht. „Menschen für Menschen“ hat Frauen in Betriebswirtschaft unterrichtet und ihnen Geld gegeben. Die Frauen wollten das Vertrauen nicht enttäuschen, das ihnen erstmals entgegengebracht wurde. Bald merkten auch die Männer, dass Frauen das Geld besser verwalteten, es den Familien und Männern selbst besser ging. Punkt 2: Entt abuisierung der Beschneidung

Die Tradition der Klitorisbeschneidung wurde von Generation zu Generation überliefert, aber niemand weiß, wo ihr Ursprung liegt. Der Wendepunkt in der Beschneidungsfrage kam, als die Religionsführer versicherten, weder im Koran noch in der Bibel stünde etwas von der Beschneidung. Über Nacht sprachen Familien über dieses tabuisierte Thema und wurden aufgeklärt. Punkt 3: Eine Welt für alle

Der Begriff der „zwei Welten“ ist unsinnig, die Menschen leben auf einem Planeten. Es gibt eine allgemeine Verantwortlichkeit für die Welt. Die Gesellschaft muss die Diskrepanzen zwischen Arm und Reich so gut wie möglich abbauen.

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Stadtgespr äch Zur Person Susan George, 79, ist so etwas wie die Grande Dame der Globalisierungskritik. Die in den USA geborene Französin zählt seit ihrem Buch „How the Other Half Dies“ (Deutsch: Wie die anderen sterben) aus dem Jahr 1976 zu den wichtigsten Gegenstimmen der Entwicklungspolitik. Von 1990 bis 1995 war die Mitbegründerin von Attac Vorstandsmitglied von Greenpeace. Heute berät die Mutter und Großmutter Nichtregierungsorganisationen in Fragen zu Umwelt- und Entwicklungshilfe und ist Partnerin des Transnational Institute (TNI)

Der Artikel erschien in Falter 42/2009 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Armin Thurnher steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/george

Susan George Falter: Ihr Vortrag bei der

Veranstaltung „Wiener Stadtgespräch“ trägt den Titel: „Wohin ist das Geld geflossen“. Wohin ist es denn geflossen? Susan George: Zurück zu den Banken. Damit wäre die Veranstaltung auch schon wieder zu Ende. Aber dahinter steht eine lange Geschichte, die in den 70er-Jahren mit dem Transfer von Reichtum von den Arbeitenden zu den Besitzenden begann. In ganz Europa wurden seither zehn Prozent des gesamten Bruttosozialprodukts von der Arbeit zum Kapital transferiert. Während die Investments der Besitzenden befeuert wurden, mussten sich die anderen Geld leihen.

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27.10.2009 Die AttacMitbegründerin und langjährige GreenpeaceAktivistin über die Krise der Finanz, des Klimas und der Linken Gespräch: S t e fa n A p fl

Das späte Erbe von Ronald Reagan und Margaret Thatcher? George: Ja, sie haben die Märkte geöffnet und die Reichen entlastet. Das Argument, dass die unsere Wirtschaft am Laufen halten würden, war aber falsch. Denn die Reichen konsumieren nicht in dem Ausmaß, in dem sie verdienen. Ihr Geld investieren sie in China, Russland oder Südamerika. Das hält vielleicht die Globalisierung und die New Yorker Banken am Laufen, aber nicht unsere Wirtschaft. Der Historiker Eric Hobsbawm würde argumentieren, dass der Wohlstand durch die Globalisierung insgesamt gestiegen ist. George: Das stimmt auch. Dennoch ist das Kapital heute viel stärker konzentriert. 8,5 Millionen Menschen haben heute 38 Billionen US-Dollar zur Verfügung. Das sind so viele Menschen, wie im Einzugsgebiet von Paris leben. Und die verfügen über das dreifache BIP Europas.

Warum hat die Linke die Arbeiter nicht unterstützt, als es zu dem Transfer kam? George: Ich weiß es nicht. Aber das ist genau der Grund, warum sie heute in Deutschland, Frankreich, Italien und England verlieren. Die Vertreter des Neoliberalismus haben letztlich erreicht, dass die Menschen gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Allmählich scheint sich die Ansicht durchzusetzen, dass die Krise am Abklingen und der Neoliberalismus tot sei. George: Beides ist falsch. Im Weißen Haus und unter den G 20 (den 20 größten Industrie- und Schwellenländern, Anm.) ist der Neoliberalismus gesund und munter. Den Börsen geht es zwar wieder halbwegs gut, dem Rest der Welt jedoch nicht. Die Jobsituation ist bereits alarmierend, jetzt wird es aber erst richtig schlimm. Anfang des Jahres herrschte ein breiter politischer Konsens, Steueroasen zu schließen, Steuern zu harmonisieren und Hedgefonds zu regulieren.

Foto: Christian Fischer

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usan George prophezeite die Wirtschaftskrise. Gleichzeitig lag die Globalisierungskritikerin doppelt falsch: Anstatt auf die Subprimes tippte sie auf die hohe Staatsverschuldung der USA als Auslöser. Außerdem nahm sie an, dass die Politik aus der Krise lernen würde.

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STADTGESPR ÄCH der Agenda. Die Menschen haben die Klimaveränderung noch nicht registriert. Vielleicht gab es ein paar Fortschritte in den letzten Jahren, aber es geht nicht schnell genug. Wir sind weit von der universellen Panik entfernt, die angebracht wäre.

„Die Menschen haben die Klimaveränderung noch nicht registriert. Wir sind weit von der universellen Panik entfernt, die angebracht wäre“

Klingt gut, aber wie wollen Sie die Welt davon überzeugen? George: Ich tue, was ich kann. Ich rede, ich schreibe, ich gebe Interviews. Es geht sehr langsam voran, das muss ich zugeben. Die sozialdemokratischen Parteien haben komplett versagt und verdient, was ihnen gerade passiert. Es wird eine Zeitlang dauern, ehe Parteien wie die deutsche Linke in Regierungsämter kommen. Bis dahin können sie zum Wandel beitragen, indem sie Ideen ins System einspeisen.

Was wäre das Beste? George: Dass der Norden dem Süden hilft. Dass der Norden dafür sorgt, dass Technologien für grüne Energiegewinnung so schnell und unbürokratisch wie möglich verbreitet werden. Wir müssen unsere Emissionen stark reduzieren. Und zumindest zwei Prozent unseres BIP in den grünen Wandel stecken. Und was wäre das Schlimmste? George: Dass man sich auf nichts festlegt, außer auf einen neuen Termin. Die Regierungen wissen jedenfalls genau, was sie tun. Ihr Ziel ist: business as usual. Sie werden sagen, dass sie für all diese Maßnahmen kein Geld hätten. Aber das ist eine Lüge.

Epilog

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Und wenn das Erklären und Demonstrieren einfach nicht ausreichen für eine Revolution? George: Demonstrationen ändern leider nicht viel. Sie brauchen 500.000 Menschen, damit sie überhaupt wahrgenommen werden. Aber was wollen Sie sonst machen? Ich bin jedenfalls für gewaltloses Handeln.

Bis zum Ausbruch der Krise sah es so aus, als wäre das Umweltthema massentauglich geworden.

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Wie holt man das Thema auf die Agenda? George: Es braucht Regierungsgelder. Es braucht einen großen grünen Gesinnungswandel, a big green deal, der alles einbezieht – auf globaler und nationaler, auf regionaler und lokaler Ebene. Wir brauchen grüne Energie, grüne Städte und grüne Politik. Sonst werden Ihre Kinder ein scheußliches Leben haben. Die nächste Katastrophe wird vielleicht nicht die letzte, aber sie wird irreversibel sein. Was erwarten Sie vom KopenhagenGipfel im Dezember? George: Ich hoffe das Beste und befürchte das Schlimmste.

Sie sind Gründungsmitglied von Attac. Die globalisierungskritische Bewegung warnt seit Jahren vor dem Kollaps und propagiert Alternativen. Warum haben Sie in der Krise kaum Zulauf? George: Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht sind die Menschen vor Angst gelähmt. Die Medien erzählen ihnen jeden Tag, dass die Krise überwunden ist. Womöglich glauben sie das, obwohl das Gegenteil wahr ist.

Sie sagen, die Menschen wurden überzeugt, gegen ihre eigenen Interessen zu wählen. Sollte Attac zu einer Partei werden? George: Nein, keinesfalls! In Frankreich etwa ist Attac die einzige Kraft, die Bündnisse schmieden kann. Und darin liegt auch unsere große Chance. Das funktioniert nur, weil wir außerhalb des Wettbewerbs stehen, in dem Parteien existieren. Wenn Attac zur Partei wird, sind wir tot. Für mich steht derzeit aber das Umweltthema ganz oben auf der Liste. Bei gesellschaftlichen und politischen Themen können Sie zurück an den Start gehen und sagen: Probieren wir es anders. Bei der Umwelt geht das nicht. Wenn es zu spät ist, ist es zu spät. Punkt.

Vielleicht auch deshalb, weil das Thema Umwelt ein Wohlstandsphänomen ist. In Entwicklungsländern haben die Menschen einfach andere Probleme. George: Noch. Aber wir sitzen alle im selben Boot. Was machen wir, wenn Millionen Menschen zu uns kommen, weil sie weder Wasser noch Essen haben? Europa ist darauf nicht vorbereitet. Sollen wir die Umweltflüchtlinge an der Grenze erschießen?

Susan George: Change It! Droemer, 2006

Susan George, Fabrizio Sabelli: Kredit und Dogma. Konkret Literatur Verlag, 1995

Bei der UN-Klimakonferenz 2009 in Kopenhagen hätte ein gemeinsames, ambitioniertes, für alle Staaten verbindliches Klimaschutzabkommen entstehen sollen. Hintergrund: Das Kioto-Protokoll von 1997 – ein UN-Abkommen zur Bekämpfung der Erderwärmung – lief 2012 aus. Eine Nachfolgeregelung sollte bei der groß angelegten Konferenz in Kopenhagen gefunden werden, an der über 120 Staats- und Regierungschefs teilnahmen. Die Konferenz scheiterte: Statt auf ein verbindliches Abkommen einigte man sich in der „Kopenhagen-Vereinbarung“ nur auf eine politische Erklärung, die von der Vertragsstaatenkonferenz formal bloß „zur Kenntnis genommen“ wurde. Bei der Klimakonferenz in Doha drei Jahre später gelang ebenfalls lediglich ein Minikompromiss. Zwar wurde das Kioto-Protokoll bis Ende 2020 verlängert. Allerdings einigte man sich bei Kioto II darauf, keine schärferen Verpflichtungen vorzunehmen. Und: Nur 37 Länder haben sich zu Kioto II verpflichtet. Deren Anteil an den weltweiten Treibhausemissionen: rund 15 Prozent. Die nächste UN-Klimakonferenz findet Mitte November 2013 in Warschau statt. F

Susan George: Das Geld versickert nach oben

☛ Der Moderator Sie war genauso nervös wie ich; das half mir, denn ich hatte nicht nur für Peter Huemer einzuspringen, sondern das Gespräch auf Englisch zu führen. Was mich beeindruckte: Die klare linke Haltung von Susan George, kombiniert mit ihrer gelassenen Höflichkeit. Das macht die Fakten eindrucksvoller als aufgebrachtes oder gereiztes Argumentieren. Worum es ging? Um die Ungerechtigkeit in der Welt, die ungleiche Verteilung von Reichtum und die Notwendigkeit, Widerstand dagegen neu zu organisieren. :: Thurnher über George:

Wie kann man den Systembewahrern eine Lehre erteilen? George: Wir leben derzeit in einem System, in dem die Finanz über die Wirtschaft verfügt und die Wirtschaft über die Gesellschaft. Und die drei entscheiden gemeinsam, was mit der Umwelt geschehen soll. Dabei sollte es genau umgekehrt sein. Der Zwang müsste von der Umwelt ausgehen. Anhand von ihr sollten wir entscheiden, wie wir unsere Gesellschaft organisieren, in welchem Wirtschaftssystem wir leben wollen und welche Rolle die Finanz dabei spielt.

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George: Ich glaube, es war nie wirklich auf

Werden diese Versprechen gehalten? George: Nein. Die G 20 haben bei ihrem Apriltreffen vier Länder, darunter Österreich, auf die Liste der Steueroasen gesetzt. Heute gibt es diese Liste nicht mehr. Wenn Sie der G 20 glauben, existieren also keine Steueroasen mehr. Dabei hat alleine Großbritannien ein Dutzend unter seiner Jurisdiktion. Warum haben die Eliten nichts aus der Krise gelernt? George: Ich glaube, es war Goethe, der gesagt hat: Das Einzige, das die Geschichte uns lehrt, ist, dass niemand jemals aus der Geschichte lernt.

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Die Thesen

Punkt 1: Das Geld verdichtet sich an der Spitze

Die ärmste Hälfte der Welt besitzt weniger als ein Prozent des globalen Haushaltseinkommens, die reichsten zehn Prozent der Erwachsenen besitzen hingegen 85 Prozent. Auf der ganzen Welt gibt es 8,7 Millionen Menschen, die insgesamt über 38 Billionen Dollar verfügen. Davon wiederum besitzen 78.000 Menschen weltweit 13 Billionen Dollar – das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt der EU. Das Geld verdichtet sich an der Spitze. Früher gab es eine 20-80-Regel: 20 Prozent der Bevölkerung hatte 80 Prozent des Reichtums, 20 Prozent der Banken hatten 80 Prozent der Konten, 20 Prozent der Buchgeschäfte verkauften 80 Prozent der Bücher usw. Diese Regel funktionierte früher fast überall. Heute ist das Verhältnis eher 10:90. Punkt 2: Interessengruppen müssen gemeinsam kämpfen

Arbeiter können die Probleme der Arbeiter alleine nicht lösen, auch wenn ihnen Gewerkschaft und Arbeiterkammer zur Seite stehen. Genauso wenig können Frauen den Feminismus alleine umsetzen, und auch die globalisierungskritische NGO Attac wird an der Frage des internationalen Besteuerungssystems scheitern, wenn sie alleine bleibt. Das heißt, wir müssen uns zusammenschließen, nur gemeinsam können wir unsere Regierungen zwingen, etwas zu bewegen. Punkt 3: Das Geld floss nach oben und bleibt dort

Die Bürger wissen nicht, dass sie in den letzten 30 Jahren beraubt worden sind. Das Geld ist die soziale Leiter hochgeklettert und bleibt dort. Den Banken wurde das Geld in den Rachen geworfen, sie haben unglaublich hohe Profite gemacht. Heute sind sie zu groß, um zu scheitern. Das ist obszön. Den Regierungen fehlt zwar das Geld für Gesundheit oder Bildung. Aber sobald die Banken Schwierigkeiten haben, finden sie plötzlich Geld, um ihnen zu helfen.

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Stadtgespr äch Zur Person Günter Wallraff, 71, ist einer der berühmtesten deutschen Journalisten und Schriftsteller. Bekannt wurde er durch seine UndercoverReportagen, für die er in verschiedene Rollen schlüpfte, um gesellschaftliche Missstände aufzudecken – etwa den Rassismus gegenüber Gastarbeitern oder die unethische Arbeit des Boulevardblattes Bild. Für seine Bücher und Filme erhielt der Enthüllungsjournalist unter anderem den Literaturpreis der Menschenrechte

Der Artikel erschien in Falter 02/2010 und wurde leicht redigiert und gekürzt. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www.wienerstadtgespraech.at/video/wallraff

Günter Wallraff Falter: Herr Wallraff, Sie recherchieren seit 40 Jahren undercover und haben Dutzende Rollen gespielt. Verkleiden Sie sich eigentlich auch privat? Günter Wallraff: In letzter Zeit ist das vorgekommen. Ich bin mittlerweile so bekannt, dass ich häufig angesprochen werde. Mein normales Leben ist dadurch ein wenig aus dem Rhythmus geraten, sodass ich jetzt zweimal wieder in der Obdachlosenverkleidung unterwegs war. So werde ich in Ruhe gelassen und nicht besser behandelt als andere.

Wie gehen Sie mit Ihrer Bekanntheit um? Wallraff: Ich nutze den Vertrauensvorschuss. Es werden zuhauf Ungerechtigkeiten an mich herangetragen, die ich niemals alle journalistisch verarbeiten kann. Da greife ich dann zum Hörer und rufe den Unternehmer mit der Bitte an: „Bringen Sie das in Ordnung. Denn wenn da nichts geschieht, muss ich das leider veröffentlichen.“ Und siehe da: Plötzlich geht es ganz schnell. Neuerdings verzichten die Beschul-

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20.1.2010 Der berühmteste deutsche Aufdecker über Dichand, Borat und eigene Unzuläng­ lichkeiten Gespräch: S t e fa n A p f l Martin Gantner

digten auch darauf, mich zu verklagen. Das ist das eigentlich Neue. Die Prozesse bleiben aus. Worauf führen Sie das zurück? Wallraff: Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass ich die Verfahren bisher alle gewonnen habe. Außerdem werden durch einen Prozess die Sauereien erst richtig bekannt. Was haben Sie denn durch Ihre Rolle des Schwarzen Kwami Ogonno über das heutige Deutschland gelernt? Wallraff: Dass es ein völlig anderes Deutschland gibt, das mit dem mir vertrauten Deutschland nicht viel gemein hat. Menschen, die man sonst als freundlich erlebt, fallen plötzlich durch Verachtung, Ignoranz und Gewaltbereitschaft auf. Was hat Sie am meisten überrascht? Wallraff: Dass Deutschland, was den Umgang mit Menschen anderer Herkunft betrifft, ein sehr rückständiges Land ist. Erinnern Sie sich an den bayrischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, der offen von einer unzulässigen Durchrassung der deutschen Bevölkerung sprach? Oder Ronald Schill, ehemaliger Richter und Innensenator Hamburgs, der voller Stolz ­erklärte: „Von mir haben die Neger alle immer etwas mehr bekommen“? Das ist nicht nur ein Rassismus der einfachen Leute, sondern es sind Vertreter der Elite, die diese Fremdenfeindlichkeit von oben nach un-

ten verbreitet haben, und dessen konnte ich nun gewahr werden. In der Dokumentation kommen viele Menschen mit rassistischen Aussagen zu Wort. Leute, die nicht wussten, dass sie gefilmt wurden. Dennoch erklärten sie sich mit der Ausstrahlung der Dokumentation einverstanden. Wallraff: Das war das Erstaunlichste. In ihren Kreisen gereicht Rassismus offenbar nicht zum Nachteil. Kritiker warfen Ihnen vor, Sie würden sich inszenieren, seien ein Opfer der Marke Wallraff und ein humorloser Borat. Wallraff: Jede Debatte, die kontrovers verläuft, dient der Sache, und mit Kritik kann ich umgehen. Im Übrigen war ich alles andere als Borat: nicht provozierend, vielmehr freundlich und zuvorkommend. Was sagt es aber über eine Gesellschaft aus, wenn sie einen Weißen benötigt, der ihr zeigt, wie schlecht es den Schwarzen tatsächlich geht? Wallraff: Auch viele in Deutschland lebende Schwarze sagen, dass genau dieser Umstand den Film auszeichnet. Die Weißen, die eine rassistische Ideologie haben, werden von einem der Ihren widerlegt. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Schwarzen nicht in der Lage sind, selbst für ihr Recht zu kämpfen. Wallraff: Im Gegenteil. Dadurch kommen

Foto: Christian Fischer

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ünter Wallraff hatte bereits viele Namen. Er arbeitete als Enthüllungsjournalist Hans Esser bei der Bild oder als türkischer Gastarbeiter Ali Levent Sinirlioglu bei Thyssen. Zuletzt reiste er ein Jahr lang als Kwami Ogonno durch Deutschland. Seit mehr als vier Jahrzehnten setzt sich Wallraff Masken auf, um die Gesellschaft zu demaskieren. Auch privat.

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STADTGESPR ÄCH als Kriminellen überführt hatte, zu mir und sagte vor laufender Kamera: „Ja, Sie haben recht. Die ganze Branche ist kriminell, aber die anderen sind schlimmer.“

Ihr Ziel ist es, Vorurteile offenzulegen. Sind Sie im Zuge der Arbeit auf eigene Vorurteile gestoßen? Wallraff : Ja. Schwarze kommen in den Medien oft nur als Dealer oder Asylbetrüger vor. Als ich dann in die schwarze Szene abtauchte, ertappte ich mich dabei, wie tief solche Klischees sitzen. Somit bieten mir die einzelnen Verkleidungen die Möglichkeit, auch eigene Vorurteile zu überwinden.

„Ich war in meiner Jugend extrem schüchtern. Indem ich mich in so extreme Rollen begebe, bin ich ein Wie hat sich Deutschland in den anderer Mensch vergangenen 40 Jahren verändert? geworden. Ich Werden Sie noch gebraucht? Wallraff : Ich hab doch stark den Eindruck, bin streitbarer mehr denn je! Nicht zuletzt durch die 68er- geworden“ Bewegung sind durchaus positive Standards entstanden, andererseits schreitet die Entrechtung der Arbeiterschaft in einer Weise voran, wie ich mir das nie hätte vorstellen können. Heute befinden sich einst selbstverständlich geglaubte Dinge im freien Fall. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das stellt das Land vor eine Zerreißprobe.

Sie haben viele Bewunderer, aber kaum Nachahmer. Wallraff : Ich bin gerade dabei, ein sogenanntes Wallraff-Stipendium zu schaffen, das diese zeitaufwendige Methode der Rollenreportagen finanziert. Ich muss schließlich auch mal daran denken, dass das nach meinem Tod fortgeführt wird.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Aber Sie müssen mit Ihren Rollen ja Enttäuschungen des Gegenübers in Kauf nehmen. Sie sind schließlich dazu gezwungen, Ihre Weggefährten hinters Licht zu führen. Wallraff : Mir hat noch keiner vorgeworfen, dass ich ihn getäuscht hätte. Im Gegenteil: Sie ermutigen mich, und wildfremde Menschen bieten mir auf Veranstaltungen Lohnsteuerkarte und Personalausweis an. Sauer sind nur die, deren Machenschaften ich offenlege. Doch auch da entsteht neuerdings immer öfter eine eigenartige Täter-OpferBeziehung. Es kam etwa einer der Mächtigsten aus der Callcenterbranche, den ich

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Sie sind eine Mischung aus Aktivist und Journalist. Beanspruchen Sie für sich überhaupt Objektivität? Wallraff : Nein. Wer vorgibt, objektiv zu sein, sollte hinterfragt werden. Ich bin parteilich auf der Seite der jeweils Schwächeren, denn das Recht ist auf der Seite der Opfer, sagte schon Heinrich Böll. Im Zweifel fühle ich mich jenen am ehesten zugehörig, die nicht dazugehören. Wie geht man als bekannter Moralist mit den eigenen Fehlern oder Unzulänglichkeiten um? Wallraff : Ich bin ein fehlerhafter Mensch und wehre mich dagegen, als Vorbild idealisiert zu werden. Aber ich werde mich davor hüten, Ihnen meine Fehler zu nennen. Diesen Gefallen möchte ich meinen Gegnern nicht tun. Ich schreibe auch an einer Autobiografie, die aber erst nach meinem Tod erscheinen soll.

Worauf führen Sie das zurück? Wallraff : Das hängt unter anderem auch damit zusammen, dass die Gewerkschaften mit dem Rücken zur Wand stehen und keine gestaltende Kraft mehr sind.

Im Schwedischen und Norwegischen gibt es den Begriff „wallraffa“ für die Tätigkeit eines investigativen Journalisten. Was zeichnet einen Wallraffa aus? Wallraff : So wie Wilhelm Conrad Röntgen Pate für das Röntgengerät stand, stehe ich Pate für eine besondere Form des investigativen Journalismus – für das Durchleuchten der Gesellschaft. Meine Methode ist eindeutig: Da, wo die Arbeit der Bild-Zeitung anfängt, hört meine auf. Also da, wo das Intimleben des größten Schurken beginnt, ist für mich Schluss. Die Methode ist auch nur aus der Position der Schwächeren gegenüber den Mächtigeren anzuwenden und nicht umgekehrt.

In einem der Callcenter, in denen Sie verdeckt recherchiert hatten, haben nach Veröffentlichung Ihrer Geschichte 450 von 600 Leuten ihren Job verloren. Tat Ihnen das nicht leid? Wallraff : Einige der Gekündigten sind bei anderen Anbietern untergekommen, andere sprechen von einer Befreiung. Die meisten Angestellten leiden unter solch einem System. Nach wenigen Monaten ist die Selbstverleugnung nicht mehr auszuhalten. Schließlich wird man zum Betrüger ausgebildet, und das ist wider die menschliche Natur. In Österreich gab’s sogar zwei Haftanstalten, in denen Callcenter als Resozialisierungsmaßnahme vorgesehen waren. Da hatten dann die Hochstapler und Betrüger die besten Chancen, sich zu bewähren.

Warum?

Wallraff : Weil es auch eine Selbsthinter-

fragung ist, in der es darum geht, was ich Menschen im Privaten angetan habe. Ich bin nun zum dritten Mal verheiratet, und wenn es ein Schuldprinzip gäbe, dann wäre ich sicher der schuldige Teil. Ich hab so einiges wiedergutzumachen.

Günter Wallraff : Aus der schönen neuen Welt: Expeditionen ins Landesinnere. Kiepenheuer & Witsch, 2009

Günter Wallraff : Der Aufmacher. Kiepenheuer & Witsch, 2012 (Neuauflage)

Wird es auch berufliche Verfehlungen geben, die enthüllt werden? Wallraff : Nein. Das hängt damit zusammen, dass Geld für mich nie eine so große Rolle spielte. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Ende der 70er-Jahre saß ein freundlicher Herr in meiner unaufgeräumten Küche, der meine Arbeit gut fand, mich unterstützen wollte und mir anbot, für seine Zeitung Sozialreportagen zu schreiben. Geld würde keine Rolle spielen. Natürlich interessierte mich das. Ich ließ mir also die Zeitung zustellen, um über das Angebot nachzudenken. Als ich sie dann las, war ich entsetzt. Der nette Herr war Hans Dichand (der ehemalige Herausgeber der Kronen Zeitung, Anm.). Ich hab ihm dann einen freundlichen Brief geschrieben und hab mich für das wirklich nette Gespräch bedankt. Aber neben den Hetztiraden eines Staberl wollte ich meine Reportagen nicht veröffentlicht sehen. Solche Angebote gab es einige. Auch zwei politische Parteien haben mir jüngst ein Angebot gemacht. Das kommt für mich aber nicht infrage. Inwiefern waren die vielen Rollen über die Jahrzehnte auch eine

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Möglichkeit, in der Rolle des Günter Wallraff besser zurechtzukommen? Wallraff : Die Rollen sind eher aus einer Identitätsschwäche heraus entstanden. Ich war in meiner Jugend extrem schüchtern. Indem ich mich in so extreme Rollen begebe, bin ich ein anderer Mensch geworden. Ich habe dadurch eine gesellschaftliche Zugehörigkeit entwickelt und bin auch streitbarer geworden. Ihr langjähriger Fotograf Günter Zint meinte: „Der Wallraff muss die Welt retten.“ Das wird knapp. Wallraff : (Lacht.) Ich werde die Welt nicht retten, falls sie überhaupt noch zu retten ist. Wenn allerdings alle ihr Möglichstes dazu beitragen, dann ist viel mehr möglich, als wir jetzt für möglich halten. F

Wallraff kam unverkleidet zum AK-Gespräch

☛ Der Moderator

:: Huemer über Wallraff : Wallraff ist seit den 70er-Jahren als Journalist eine lebende Legende, er war dazwischen schwer krank, hatte lange geschwiegen. Dann kamen ein neues Buch und ein neuer Film, und wieder ist Wallraff bei seinen Recherchen verkleidet: als somalischer Gastarbeiter oder auch als Unternehmer im Nadelstreif (den er sich allerdings ausleihen musste). Für ihn gilt die Maxime: „Das Böse hat Namen und Adresse.“ Beim AK-Gespräch erzählte Wallraff von seinen Enthüllungen.

jetzt Vertreter von Schwarzenorganisationen zu Wort. Diesen Vorwurf könnte man ja allen meinen Reportagen machen. Warum beschrieb ich keinen echten Türken oder keinen echten Obdachlosen? Es ist eben meine Ausdrucksform, meine Kunstform. Dieser Vorwurf kommt immer dann, wenn ich den Nerv einer Gesellschaft treffe. Man prügelt den Boten, um die Botschaft nicht an sich ranzulassen.

FALTER

Die Thesen

Punkt 1: Keine Normalität für Schwarze

Schwarze Deutsche stehen unter Generalverdacht. Sie werden etwa als Einzige aus öffentlichen Verkehrsmitteln rausgeholt, müssen Papiere vorweisen und werden gefilzt. Die Vorurteile gegen Schwarze sind so groß, dass sie oft nur über Beziehungen Wohnungen kriegen. Es gibt keine Normalität für sie. Punkt 2: Entwicklungshilfe für Deutschland

Es leben zu wenige Menschen aus anderen Kulturkreisen unter uns. Deutschland braucht Entwicklungshilfe von Menschen, die vergleichen können, die Wurzeln in zwei Kulturen haben, das Rückständige der jeweiligen Kultur hinter sich lassen und sich die positiven Eigenschaften zu eigen machen. Wichtig ist, dass Kinder in Kindergärten und Schulen bereits miteinander spielen und verschiedene Kulturen kennenlernen. Punkt 3: Ganz unten heute

Früher waren Türken in der untersten gesellschaftlichen Rangordnung, heute sind andere an ihre Stelle getreten. Schwarze sind heute am diskriminiertesten, dazu kommen Ostarbeiter und Langzeitarbeitslose, die Verachtung zu spüren bekommen.

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F A L T E R

Stadtgespr äch Zur Person Michael Haneke, 71, österreichischer Filmregisseur und Drehbuchautor. Seine Spielfilme („Funny Games“, „Die Klavierspielerin“, „Caché“, „Das weiße Band“) wurden vielfach preisgekrönt, unter anderem mit der Goldenen Palme der Filmfestspiele von Cannes, dem Golden Globe Award und dem Europäischen Filmpreis. Hanekes Film „Liebe“ wurde 2013 mit dem Oscar als bester fremdsprachiger Film ausgezeichnet. Seit 2002 unterrichtet Haneke als Professur für Regie an der Wiener Filmakademie Der Artikel erschien in Falter 37/2010, wurde gekürzt und leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/haneke/

Michael Haneke Falter: Herr Haneke, gibt es einen roten Faden in Ihrem Werk? Michael Haneke: Ich gehe wie ein Esel der Karotte nach, und wenn ich eine aufgegessen habe, suche ich mir eine neue. Natürlich gibt’s gewisse Themen und Genres, die ich nicht mache, weil ich es auch gar nicht kann. Schon in der Familie hat es immer geheißen: Mach doch einmal einen netten Film! Ich habe 20 Jahre lang am Theater gearbeitet und bloß eine richtige Komödie gemacht, einen Labiche. Das war der einzige Totalflop, den ich je gelandet habe! Ich kann’s halt nicht und sage auch immer: Man soll von einem Schuhmacher nicht verlangen, dass er Hüte macht.

Aber Sie tragen Hüte – metaphorisch gesprochen? Haneke: Ja, ich sehe mir mit Begeisterung Komödien an – wenn sie gut sind. Ich habe bloß keine Fantasie auf diesem Gebiet. Und man macht ja selbst in dem Genre, in dem man sich bewegt, noch genug Fehler. Nimmt die Routine und die Effektivität im Laufe der Jahre nicht zu? Haneke: Nein. Das Abenteuer ist immer gleich. Ich finde nach wie vor, dass mir „Der siebente Kontinent“ gut gelungen ist. Und

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23.9.2010 Österreichs erfolgreichster Regisseur erklärt, warum er keine netten Filme macht Gespräch: K l a u s N ü c h t e rn

es gibt danach Filme, die ich jetzt nicht nennen werde, die ich für misslungen halte. Wie sehr bringen Sie als Professor an der Filmakademie Ihre eigenen ästhetischen Überzeugungen ein? Haneke: Die bringe ich schon ein, weil ich es für wichtig halte, den Studenten Rigorosität als etwas Lohnenswertes darzustellen. Wenn jemand billige Lösungen anbietet, reite ich darauf herum und sage: Das kann man nicht machen! Ich sage aber auch: Versuchen Sie nicht, einen Haneke-Film zu machen. Wenn man etwas nachmacht, bedeutet das, dass es schon jemanden gegeben hat, der’s besser gemacht hat. Ein Lehrer muss den Studenten helfen draufzukommen, was sie selber wollen. Dafür brauchen manche ein halbes Leben. Sie hatten das Problem auch? Haneke: Schon, wobei mein Vorteil war, dass ich sehr spät zum Kino gekommen bin und davor zehn Fernsehfilme gemacht habe. Da konnte man viel ausprobieren. Heute möchte ich aber keinen ersten Fernsehfilm machen müssen. Das ist ja höllisch! Wer da alles dreinredet!! Was unterscheidet Fernseh- und Kinofilm? Haneke: Es eignen sich zum Beispiel bestimmte Sujets besser fürs Fernsehen, historische Stoffe etwa – das ist dem Bildungsauftrag des Fernsehens angemessen, im Film ist das meistens eine Bauchwehpartie. Sie hätten „Das weiße Band“ also auch gut fürs Fernsehen machen können? Haneke: Das war ja auch ein Fernsehprojekt und zwar ein Dreiteiler mit rund 270 Mi-

nuten. Als ich es umgeschrieben habe, war das Buch schon zehn Jahre alt – übrigens auch das Drehbuch zur „Klavierspielerin“. Das hatte ich ursprünglich für Paulus Manker geschrieben, der es verfilmen wollte, aber die Finanzierung nicht zustande brachte. Wie geht man damit um, dass Film immer sehr stark von den ökonomischen Möglichkeiten abhängig ist? Haneke: Man muss ein Augenmaß für das Machbare haben. Deswegen hat es auch keinen Sinn, wenn man als Anfänger das Drehbuch zu „Ben Hur“ schreibt. Sind das auch Dinge, die Sie Ihren Studenten vermitteln? Haneke: Schon. Das Metier ist heute ja gnadenlos. Man bekommt mit Hängen und Würgen eine Förderung – gnade Gott, es ist ein Flop! Dann ist es schon wahnsinnig schwer, wieder etwas gefördert zu kriegen, und wenn auch das ein Flop wird, gibt es dich nicht mehr. Wenn der neue Jahrgang kommt, mache ich als Erstes ein vierstündiges Seminar, in dem nur ich rede, und zwar ausschließlich darüber, was sie alles an Negativem erwartet. Sie sind ja so schlimm wie Ihre Figuren! Haneke: Wenn man Kinder hat, soll man Ihnen auch Ratschläge geben, die sie vor dem allzu großen Scheitern bewahren. Man kann es eh nicht, weil jeder Mensch seine eigenen Fehler machen muss und nicht aus denen der anderen lernt. Dennoch ist man verpflichtet, es zu sagen. Sind die Studienbeginner alle naive Idealisten?

Foto: Christian Fischer

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ein Film „Die Klavierspielerin“ (2001), der in Cannes den Großen Preis der Jury gewann, machte Michael Haneke zu einer weltweit anerkannten Größe des europäischen Kinos. Durch seine Filmerfolge in den Jahren danach avancierte er endgültig zum bekanntesten Repräsentanten des österreichischen Kulturschaffens neben Elfriede Jelinek.

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STADTGESPR ÄCH sind Leute, die sich sagen: Film ist super, mach ma Film. Da ist es dann manchmal schon ein bissl mühsam, wenn man bei der Aufnahmsprüfung merkt, dass für viele die Filmgeschichte mit Tarantino beginnt – die glauben, Rossellini ist eine Pizzeria. Und dann gibt es immer einen oder zwei, die alles wissen. Was wiederum nicht bedeutet, dass das begabte Leute sind. Es gibt auch Hochbegabte, die aus der absoluten G’schertei kommen und gar nichts wissen. Begabung ist ja das Ungerechteste, was es „Mich haben gibt. immer die Ist es nicht Ihre Aufgabe als Didaktiker, Ihren Schülern zu helfen, ihre Begabung zu entdecken, von der sie selbst vielleicht nichts ahnen? Haneke: Ja. Es ist nur wahnsinnig schwer, weil ich mich auch täuschen kann. Und persönlich bin ich eher jemand, der sich auf die Fehler stürzt und sagt: „Das ist aber scheiße, da hinten.“ Das halten manche schwer aus, und man wirft mir auch vor, dass ich zu wenig lobe. À la longue merken die Leute aber schon, dass es mir um die Sache geht und ich niemanden niedermachen möchte.

Bücher und Filme weitergebracht, die mich verunsichert haben. Der Mainstream macht genau das Gegenteil“

Wie ist denn der Output der Filmakademie? Haneke: Ich sage immer: Wenn pro Jahr ein wirklich guter Absolvent rauskommt, ist das eh schon zu viel für Österreich. Wer soll die denn alle beschäftigen?! Müsste man strenger ausfiltern? Haneke: Wenn’s nach mir ginge, würde ich das tun; aber es geht nicht, weil wir dadurch die Notwendigkeit der Schule infrage stellen würden: Wir können nicht diesen Riesenapparat am Laufen halten und dann nur fünf Leute pro Jahr nehmen. Und es kann ja in der Tat so sein, dass Leuten, die am Anfang sehr patschert sind, plötzlich der Knopf aufgeht – hat es alles schon gegeben. Aber ich habe auch schon manchen gesagt, dass ich sie für völlig unbegabt halte und dass sie gehen sollen. Das sage ich nicht gleich, aber es gibt einfach eine Form von Blödheit, auf die man reagieren muss – da habe ich auch keine Hemmungen. Wie viele Studenten nehmen Sie denn auf? Haneke: In der Regie sind es zwischen zwei und fünf pro Jahr.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Von insgesamt? Haneke: 85 – für Regie. Das große Manko in Österreich sind aber nicht die Regisseure, sondern die Produzenten. Ein guter Produzent ist Gold wert! Und aufgrund unseres Förderungssystems, in dem Produzentenkapital nicht angehäuft werden kann, ist es wahnsinnig wichtig, Leute zu haben, die wissen, wie man zum Beispiel mit dem Ausland ins Geschäft kommt – dazu muss man sehr vif und alert sein. Gibt es verschiedene ProduzenLiebe, 2012 tenkulturen? Ist das also zum Beispiel in Frankreich anders? Haneke: Natürlich! Frankreich ist, ich glaube: weltweit, das Paradies für Regisseure. Dort gibt es nicht nur gute Förderungen, sondern auch Großproduzenten, die wirklich Geld haben und damit umgehen können – das ist ja bei uns, die wir alle am Förderungstropf hängen, nicht der Fall. Ich brauche mich nicht zu beklagen, weil ich praktisch alles mit dem Ausland zusammen mache, aber da bin ich privilegiert. Mein Das weiße Band, Freund Ulrich Seidl, der nicht gerade un- 2009

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glaublich viel Geld braucht und international sehr renommiert ist, hat es da schon viel schwerer.

Lac“ – das sind Filme, die kann ich mir zum 25. Mal ansehen, und es ist immer noch eine Freude.

Wenn Sie auf Ihre eigene Karriere zurückblicken – gab’s da eher Stufen oder den entscheidenden Umbruch? Haneke: Beides. Natürlich gab es Stufen, aber „Code inconnu“ war als erste Koproduktion mit Frankreich schon entscheidend: Da hat sich schlagartig und weltweit eine andere Öffentlichkeit aufgetan. Wenn die Binoche wo mitspielt, hat man automatisch andere Verkaufszahlen.

Aber verunsichert werden Sie dann nicht mehr … Haneke: Nein, weil ich dort schon zu Hause bin. Aber beim ersten Mal habe ich mich schon gefragt: Was ist denn das?!

Stört es Sie, wenn sich plötzlich alle Politiker für „unseren“ Michael Haneke begeistern? Haneke: Das ist völlig normal, und solange das nicht von der FPÖ kommt, ist es mir auch egal. Wenn ich Gelegenheit habe, mit einem Politiker zu reden, sage ich gebetsmühlenartig meine Sachen …

Und haben trotzdem sofort gewusst: Das ist was! Haneke: Das ist es ja: Man versteht es zwar nicht, aber was man sofort sehen müsste, ist die Qualität, die dahintersteht. Eine Art ästhetischer Instinkt? Haneke: Ja, den muss man haben. Und den kann man auch haben, wenn man völlig ungebildet ist. F

Mehr Geld?!

Haneke: In erster Linie ja, aber darüber hi-

naus laufen im Förderungssystem einige Dinge falsch: Dass der Regisseur per Gesetz sämtliche Rechte an den Produzenten abtritt, ist in ganz Europa einmalig. Die Stimmgewalt der Produzenten, die immer mit pseudowirtschaftlichen Argumenten kommen, ist einfach größer.

Die New York Times hat anlässlich einer Schau zum österreichischen Film das ganze Land zur „world capital of feel-bad cinema“ ernannt. Dafür sind auch Sie verantwortlich. Wollen Sie, dass ich mich schlecht fühle? Haneke: Nein, das will ich nicht. Ich selbst will etwas erleben im Kino und mache Filme über Dinge, die mich selber bewegen. Und wenn ich den Zuseher ernst nehme, so wie ich mich auch selber als Zuschauer ernst genommen wissen will, muss ich ihn mit sich selbst oder einer Sache in einer Art und Weise konfrontieren, die dringlich ist. Im besten Falle wird man davon destabilisiert. Mich haben auch immer die Bücher und Filme weitergebracht, die mich verunsichert haben. Der Mainstream macht genau das Gegenteil. Ist das so einfach? Es gibt doch auch Filme, aus denen man erhoben und bereichert herauskommt? Haneke: Sicher. Da muss ich nur wieder sagen: Ich bin ein Schuh- und kein Hutmacher. Aus welchem Film kommen denn Sie beglückt raus? Haneke: Filme von Bresson oder Tarkowski beglücken mich. Wenn ich mir den „Spiegel“ ansehe, ist das wie eine reinigende Dusche: Der ganze Scheißdreck, den ich meistens sehen muss, wird weggespült. Die „Matthäus-Passion“ ist auch nicht lustig, aber beglückend. Selbst ein so deprimierender Film wie „Mouchette“ kann einen beglücken. Haneke: Jeder Bresson-Film! Na ja, „Der Teufel möglicherweise“ beglückt mich weniger. Haneke: Ja, der ist nicht so gelungen. Einige Szenen sind grandios, aber das Sozialengagement ist ihm dabei etwas durchgegangen. Aber „Au hasard Balthazar“ ist ein absolutes Jahrhundertmeisterwerk, und dasselbe gilt für „Lancelot du

Haneke über die Brutalität der Realität

☛ Der Moderator :: Huemer über Haneke: „In jedem meiner Fil-

me muss ich laut lachen“, sagte Haneke, einer der bedeutendsten Filmemacher, einmal in einem Falter-Interview. Darüber redeten wir, weil das Publikum seine Filme meist nicht zum Lachen findet. Haneke als Gegenpol zu Tarantino: Die Grausamkeit in seinen Filmen ist weder verspielt noch ästhetisiert. Sie vermag uns gnadenlos zu erschrecken im Sinne der aristotelischen Katharsis: Läuterung durch Mitleid.

Haneke: Teils, teils. Der überwiegende Teil

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FALTER

Die Thesen

Punkt 1: Die Entrealisierung der Gewalt

Gewalt ist deshalb so erfolgreich im Medium Film, weil Gewalt Aktion ist und Aktion ist Bewegung. Die Gewalt und die Action steigern sich, weil die Formen, die sich etablieren, immer übertroffen werden müssen. Oder man macht das Gegenteil und gibt der Realität wieder das, was sie ist. Die Theatralisierung der Gewalt ist ja eine Entrealisierung der Gewalt. In meinen Filmen sieht man weniger Gewalt als in jedem „Tatort“, aber die Gewalt findet woanders statt. Punkt 2: Zerstreuung wegen Konsumierbarkeit

Im Deutschen kann man schön unterscheiden zwischen Unterhaltung und Zerstreuung. Unterhaltung ist alles. Das meiste Mediale ist natürlich Zerstreuung. Also Ablenkung vom eigentlichen Kern der jeweiligen Themen, hin zu einer Konsumierbarkeit. Punkt 3: Die Macht der Manipulation

Man hat eine Verantwortung dem Rezipienten gegenüber. Man manipuliert ihn mit jedem Medium, und man muss sich bewusst werden, welche Macht das ist, und darf diese Macht nicht missbrauchen. Ich vergewaltige den Menschen deshalb zur Selbstständigkeit, damit er über den Film nachdenkt.

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Stadtgespr äch Zur Person Oskar Negt; 79, Philosoph, gilt als einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler Deutschlands. Er studierte bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und war Professor für Soziologie in Hannover. Seine zentralen Forschungsthemen sind Arbeit und menschliche Würde sowie Globalisierung. Mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge pflegte er eine langjährige Zusammenarbeit. Für das gemeinsame publizistische Werk erhielten sie 2008 den Bruno Kreisky Preis Der Artikel besteht aus zwei verschiedenen Interviews, die in Falter 47/2010 und Falter 49/2012 erschienen und leicht redigiert wurden. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/negt/

Oskar Negt Falter: Herr Negt, ist unsere Demokratie innerlich ausgezehrt? Oskar Negt: Ich sehe unsere Demokratie jedenfalls gefährdet.

Was bedroht denn die Demokratie? Der Verdruss und das Desinteresse der Bürger? Eine politische Klasse, die sich abkapselt? Negt: Eine Dimension der Bedrohung besteht offensichtlich darin, dass zentrale Probleme unserer Gesellschaft – etwa die große Frage der Krise der Arbeitsgesellschaft – überhaupt nicht angepackt werden. Deshalb sind viele Menschen enttäuscht von den demokratischen Prozeduren, sie verlieren ihr Vertrauen. Die Legitimation des demokratischen Verfahrens schwindet, viele Menschen liebäugeln mit rechten Parteien. Ein anderer Aspekt: Demokratische Partizipation wird abgebaut, was eine Folge der Dominanz des Neoliberalismus in den letzten 20 Jahren ist. Wo wird denn Partizipation abgebaut? Negt: In den Schulen diktieren die Direkto-

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30.11.2010 Der deutsche Soziologe über die Legitimi­ tätskrise der Politik und die Ausgrenzungs­ familie namens Europa G esp r ä c h : Ro b e r t M i s i k W olfgang Z wande r

ren, in den Universitäten wird Mitbestimmung abgeschafft – und, und, und. Alles mit dem Hinweis auf Effizienz, indem man rein betriebswirtschaftliche Begründungen vorschiebt. Man tut so, als würden Organisationen effizienter funktionieren, wenn es weniger demokratische Mitbestimmung gibt. Das führt aber zu einer Ausklammerung der Demokratie aus der direkten Lebenswelt der Menschen. Und das spart nicht Kosten, das verschiebt nur Kosten. Was man möglicherweise durch Rationalisierung der Prozesse spart, das verursacht externalisierte Kosten. All das hat seinen Preis. Der Preis dafür sind Frustrationen, schwindendes Engagement der Bürger? Negt: Mehr noch. Die Bürger legen sich dann quer. Man sieht das deutlich bei der Auseinandersetzung um Stuttgart 21. Es ist ja nicht so, dass es bei der Planung des neuen Durchgangsbahnhofes undemokratisch oder gar ungesetzlich zugegangen ist. Nein, bei den verwaltungstechnischen Verfahren ist alles mit rechten Dingen zugegangen. Aber die Bürger akzeptieren nicht mehr, dass über ihre Köpfe hinweg entschieden wird, dass man sie überfährt. Aber man kann ja nicht sagen, dass der Neoliberalismus an all dem schuld ist. Dass die politischen Eliten sich abkoppeln und in ihr Politraumschiff zurückziehen, das hat ja viel tiefere Ursachen als nur den bösen Neoliberalismus.

Negt: Nun, die Sozialdemokraten etwa

sind mit Blair und Schröder Modernisierungsparteien geworden, sie waren schon sehr angesteckt vom neoliberalen Konsens. Insofern gibt es da einen sehr engen Zusammenhang. Aber man kann doch nur schwer behaupten, dass alles gut lief, etwa mit der Sozialdemokratie, bis Modernisierer à la Schröder und Blair kamen und alles kaputtgemacht haben. Der Schwenk, den die Sozialdemokraten in dieser Ära machten, war ja selbst schon eine Folge dessen, dass man spürte, dass die Dinge nicht mehr funktionieren und man etwas anders machen muss. Negt: Selbstverständlich. Es gab seit dem Fall der Berliner Mauer einen immensen Legitimationszuwachs des kapitalistischen Systems. Und als Folge begann man, den Sozialstaat zu delegitimieren. Und der hat den Menschen die Angst, die Existenzangst genommen. Seine Erosion erhöht jetzt umgekehrt den Angstrohstoff in der Gesellschaft. Und der kann ganz verschieden verarbeitet werden. Ein Symptom dafür wäre der Aufstieg des Rechtspopulismus? Negt: Man kann das mit Händen greifen. In Österreich, in den Niederlanden, diese Anti-Islam-Stimmung, die faschistischen Bewegungen in Ungarn – sie alle treten ja mit einem Sicherheitsversprechen an. Von der Art: Wenn man uns wählt, werden wir die

Foto: Christian Fischer

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eit den 1960er-Jahren ist Oskar Negt einer der Stichwortgeber der unorthodoxen Linken in Deutschland. In seinem Buch „Der politische Mensch“ versucht der Soziologe, die Quellen für die Frustration und die Indifferenz zu analysieren, die den westlichen Demokratien heute so zu schaffen machen. Sein Urteil: Die Demokratie ist gefährdet.

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STADTGESPR ÄCH

Sind die enttäuschten Bürger nicht selber schuld? Statt zu demonstrieren könnten Sie sich ja in den Parteien engagieren, dann würden die Parteien auch anders aussehen. Negt: Gewiss, man kann da im Sinne von Kant auch von einer „selbstverschuldeten Unmündigkeit“ sprechen. Es gibt eine tiefe kulturelle Krise, die all diese Probleme nach sich zieht. Was müsste nun getan werden, um diese Krise zu überwinden? Negt: Nun, da könnte man jetzt hundert Dinge nennen und stundenlang reden. Ganz wichtig ist der offensive Ausbau von Mitbestimmungsrechten. In den Schulen, aber auch in den Kommunen, im Nahbereich der Lebenswelt der Bürger. Man muss die Menschen einbeziehen, man muss akzeptieren, dass manches einfach nicht mehr geht. Wir brauchen eine Öffentlichkeit der Beteiligungen, mehr Transparenz von Entscheidungsprozeduren. Die Demokratie muss täglich gelernt werden, sie erschöpft sich nicht in rationalen Regelsystemen. Wenn die Menschen das Gefühl haben, nicht mehr beteiligt zu sein, dass ihre Stimme im Grunde nicht zählt, dann ist eine demokratische Gesellschaft bedroht.

deutsch-französische Achse, scheren sich nicht darum, dass Griechenland wieder auf die Beine kommt. Ihre fast ausschließliche Sorge gilt den Ratingagenturen, die ohne jede demokratische Legitimation die Interessen einer verschwindend geringen Minderheit vertreten. Ich vergleiche diese Erscheinung mit der Epoche vor der Französischen Revolution, in der sich die Grundbesitzer und die Kirche den ganzen Reichtum der Gesellschaft angeeignet hatten. Sollen größere Unruhen verhindert werden, bräuchten wir eine Art Marshallplan für Europa.

„Europa muss neu begründet, vielleicht sogar neu gegründet werden. Ein Vereinigungsprozess, der auf das kalte Medium Geld aufgebaut ist, kann nicht funktionieren“

Damit kommen wir zur nächsten Krise, der Eurokrise. Was kommt Ihnen heute in den Sinn, wenn Sie an Europa denken? Negt: Mich beeindruckt das ungeheure Interesse, das nicht nur in Deutschland an Europa erwacht ist. Andererseits gibt es auch die Albtraumseite, dass die Währungsfrage auf dem ganzen Kontinent neue Zerrissenheiten schafft. Die Billionen Euro, die in die Rettungsschirme gesteckt werden, einigen Europa nicht, sondern sie dividieren die Völker wieder auseinander und werfen sie auf ihre nationalen Traditionen zurück. Dieses zerrissene Europa hat nun den Friedensnobelpreis erhalten. Zu Recht? Negt: Ich halte das für eine gute Idee. Es ist aber auch eine Aufforderung, nämlich ein friedensfähiges Europa zu schaffen. Das sehe ich zurzeit immer weniger gegeben. Um es mit den Worten der Schriftstellerin Christa Wolf zu sagen: Wann Krieg beginnt, das wissen wir, aber wann der Vorkrieg be- Oskar Negt: ginnt, das wissen wir nicht. Der politische

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Mensch.

Sie meinen, wir erleben zurzeit Steidl, 2010 die Phase eines Vorkrieges? Negt: Die sozialdarwinistischen Überlebensstrategien, die in der Eurokrise wieder überhandnehmen, sind eine Art Vorkrieg. Es gibt kein Modell mehr einer solidarischen Ökonomie, die einzige Solidarität gilt den maroden Banken. Der griechische Kioskbesitzer hat ja nichts von dem deutschen Geld. Im Gegenteil: Er macht Deutschland sogar für sein Elend verantwortlich. Europa hat sich von einer Integrationsfamilie zu einer Ausgrenzungsfamilie gewandelt.

Oskar Negt:

Was verstehen Sie unter Gesellschaft sAusgrenzungsfamilie? entwurf Europa. Negt: Die Regierungen, also vor allem die Steidl, 2012

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Negt: Europa muss neu begründet, vielleicht

sogar neu gegründet werden. Die Richtung, die es jetzt genommen hat, ist falsch. Ein Vereinigungsprozess, der auf das kalte Medium Geld aufgebaut ist, kann nicht funktionieren. Europa müsste sich stattdessen seiner eigenen Geschichte und Traditionen bewusster werden. Unvorstellbar, dass nun mit Griechenland ausgerechnet der Teil des Kontinents abgekoppelt werden soll, von wo wir die Fundamente der europäischen Identität erhalten haben: Bildung, Demokratie, logisches Denken. Europa braucht einen Neuanfang. F

Die Schuldenberge wachsen. Woher soll das Geld für einen EU-Marshallplan kommen? Negt: Es ist ja auch genug Geld da, um Rettungsschirme zu spannen. Im Endeffekt handelt es sich dabei um Wertschöpfungsgeld, das die einfachen Menschen erarbeitet haben. Die Banken haben es jedenfalls nicht erwirtschaftet. Aber die Rettungsschirme sind doch das Produkt horrender Schulden. Negt: Ja, aber anders eingesetzt würde dieses Geld ermöglichen, Griechenland wieder aufzubauen. Die aktuellen Transferleistungen in Richtung Banken kommen der Produktivität überhaupt nicht zugute. Was wäre, wenn man diese Milliarden und Billionen in das Gemeinwesen stecken würde. In Schulen und Vereine, Spitäler und Heime, kurz: in die Gesellschaft. Es gibt drei Säulen einer einigermaßen friedfertigen Entwicklung in Europa: Rechtsstaat, Sozialstaat, Demokratie. Wenn eine der Säulen bricht, werden alle anderen mitgerissen. Zurzeit ist der Sozialstaat massiv bedroht: egal, ob auf dem Land oder in der Stadt, der Bedarf an einem funktionierenden Gemeinwesen, was letztlich nur ein anderes Wort für Sozialstaat ist, steigt – und er wird nicht befriedigt. Die Frage lautet also: Sozialstaat oder Krieg? Negt: Ein friedensfähiges Europa werden wir nur dann erreichen, wenn die Menschen wieder die Angst vor dem sozialen Kollaps verlieren und das Bedürfnis nach sicheren sozialen Beziehungen wieder gestillt wird. Es ist ganz einfach: Je stärker der Markt verlangt, dass das soziale Umfeld der Menschen zerstört wird, desto größer wird das Bedürfnis nach Sicherheit. Das führt dann dazu, dass das Angebot von rechtsradikalen Kameradschaften, die mit dem Bild einer heilen Gemeinschaft spielen, immer verführerischer wird. Was lässt sich unternehmen, um die sozialstaatliche Tradition Europas zu retten? Negt: Im Grunde ist Aufklärung und politische Bildung die einzige Chance, die wir haben. Wir leben in einer historischen Zwischenphase. Alte Werte gelten nicht mehr, neue sind noch nicht da. Wir erleben eine kulturelle Suchbewegung, und noch ist unklar, wohin uns diese Reise führen wird. Die Frage lautet: Werden wir Zuflucht beim Autoritären suchen oder bringen wir den Mut zu einer neuen Utopie auf ? Die aktuelle Finanzkatastrophe haben uns jedenfalls die Realpolitiker eingebrockt, nicht die Utopisten. Mit dem Modell des Tatsachenmenschen kommen wir heute nicht mehr weiter, stattdessen müssen wir Robert Musils Worten folgen: Wenn es einen Realitätssinn gibt, muss es auch einen Möglichkeitssinn geben. Was bedeutet das für die EU?

Negt: Die Politiker werden entpolitisiert

☛ Der Moderator

:: Huemer über Negt: Wieder geht es um die zentrale Frage, wer die Gesellschaft formt und beherrscht: die Politik oder die Ökonomie mit ihren angeblich alternativlosen Sachzwängen. Und es geht darum, wie die Politik die Gestaltungsmacht wieder von der Wirtschaft zurückerobern kann, wohin sie in Zeiten des Neoliberalismus geraten ist. Ist das mitteleuropäische Sozialstaatsmodell noch zu retten? Und welche Rolle können Sozialdemokratie und Gewerkschaften dabei spielen?

Gesellschaft von fremden Elementen säubern. Und demokratische Verfahren sind doch nicht so wichtig. Ich sehe eine Zweispaltung der Wirklichkeit: Auf der einen Seite funktionieren die demokratischen Institutionen, die die Politik verwaltet, es gibt nicht einmal endemische Korruption. Auf der anderen Seite, unterhalb dieser Realität, da brodelt es. Es gibt gewaltige Enttäuschung, und es gibt gewaltige Proteste.

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Die Thesen

Punkt 1: Die Axt am Baum der Demokratie

Deutschland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg über den Sozialstaat fundiert. Die Angstreduktion durch den Sozialstaat, damit der sozialdarwinistische Überlebenskampf vermieden wird, ist ein wesentliches Merkmal der positiven Anerkennung von demokratischen, umständlichen Prozeduren gewesen. Mit der Plünderung des Sozialstaates setzt man die Axt an den Baum der Demokratie an. Punkt 2: Kapitalismus ohne Gegenwehr

Die Zivilisierung des Kapitalismus bedeutet: Die Marktwirtschaft muss wieder ihre begrenzten Funktionen annehmen. Sie kann nicht dazu dienen, innerhalb des Systems der internationalen Finanzmärkte Volkswirtschaften zu ruinieren. Es hat immer Bewegungen gegeben, die den Kapitalismus domestizierten. Aber heute brechen die alle zusammen. Das ist sehr gefährlich. Punkt 3: Entpolitisierung der Politiker

Es gibt eine Entpolitisierung der professionellen Politiker. Sie handeln nicht politisch, sondern verfolgen das Prinzip von betriebswirtschaftlicher Rationalisierung. Diese betriebswirtschaftliche Denkweise hat unsere Köpfe so ergriffen, dass man nur von einer pestartigen Kontamination sprechen kann. Die Gesamtideologie ist: Die Summe der rationalisierten Einzelbetriebe sei das Gemeinwohl. Das ist ein grundlegender Irrtum.

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Frank Schirrmacher Falter: Herr Schirrmacher, Sie schrieben, Sie begännen zu glauben, die Linke habe recht. Sind Sie noch ein Konservativer? Frank Schirrmacher: Ich habe mich immer als Bürger gesehen, durch Kunst und Kultur definiert, als das moderne europäische Sub­ jekt. Bürgertum definiert sich immer durch das Interesse, dass mehr Bürger von un­ ten nachwachsen. Aufstiegsmöglichkeit – das war der Sinn von Bürgertum. Die Leh­ re der „Ökonomie des Geistes“ lautet: Du kannst alles werden, alles steht dir offen. Klingt schön. Aber was geschieht, wenn man es trotz aller angeblichen Chancen nicht schafft? „Es funktioniert nicht“, sagt die Journalistin Barbara Ehrenreich, die sich in so ein Coaching begeben hat. „Du meinst: Es funktioniert nicht bei dir“, sagt der Trai­ ner. Das ist dann wirklich der Moment der absoluten Einsamkeit.

Sie haben mit Ihrem Buch „Ego“ einen Nerv getroffen. Die Thesen Ihrer Bücher finden oft den richtigen Zeitpunkt.

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18.4.2013 Der FAZHerausgeber über Computer und die Spieltheorie, die unser Leben verformen G e s p r ä ch : Armin Thurnher

Schirrmacher: Wenn das so leicht wäre. Eine

These, ein Vorabdruck, und schon gibt es eine Debatte. Aber so ist es nicht. Das Ganze ist intuitiv und wie alles Schreiben auch immer etwas vermessen. Denn ich schließe von mir auf die Gesellschaft. Im Fall der Eurokrise stelle ich fest: Wenn ein Mann wie Alan Greenspan, einst im Egois­ mus erzogen von Ayn Rand, vor dem USKongress erklärt: „Das ganze Gedanken­ gebäude ist zusammengebrochen“ – und sich dabei ausdrücklich auf Nobelpreisträ­ ger und Computer bezieht –, dann kann man nicht mehr zur Tagesordnung über­ gehen. Dieses Datum ist von sehr großer Bedeutung. Auch wir Journalisten behan­ deln die Ökonomie immer noch als eine Art Naturwissenschaft. In Wahrheit le­ ben wir im Inneren einer Maschine, de­ ren Funktionsweise wir mit einem Natur­ gesetz verwechseln. Sie fokussieren alles auf Algorithmus und Spieltheorie und stellen die als das Böse der Welt dar. Schirrmacher: Es gibt noch sehr viel mehr als Spieltheorie. Sie ist aber für mein Ar­ gument von überragender Bedeutung, weil beispielsweise Börsenalgorithmen gar nicht anders programmiert sein können als nach dem Formalismus des berühmten NashGleichgewichts – eine Mathematik des Ego­ ismus, die aus dem Kalten Krieg stammt und dort ihre Funktion hatte. Ariel Rubin­ stein, einer der großen Spieltheoretiker, sagt in der FAZ, es sei Wahnsinn, diese Theo­ rie so anzuwenden, wie sie gerade ange­ wendet wird.

Es ist nicht irgendeine ökonomische Wissenschaft, sondern die neoliberale. Sie hat sich mithilfe einer Propagandastrategie durchgesetzt. Schirrmacher: Die Idee, es sei vernünftig, wenn man nur an sich selbst denkt, hat­ te eine wichtige Funktion, und viele ihrer Vordenker in den USA waren ja auch eher Linke. Es war die Antwort auf die Totali­ tarismen, die behaupteten, sie wüssten am besten, was gut für den Menschen ist. Ob Friedrich Hayek oder Kenneth Arrow, die Absichten waren nicht schlecht: besser der Mensch sagt, was wichtig ist, als das Sys­ tem. Im Detail hat Philip Mirowski, mein wichtigster Zeuge, gezeigt, dass es in den 50er-Jahren zu einer faszinierenden Vermi­ schung von Ökonomie und Militär kommt, Stichwort „Kalter Krieg“. In dem Moment erkennt die Ökonomie: Wir haben hier ein Modell, mit dem können wir die ganze Welt auf den Begriff bringen. Das, so meine The­ se, ist die Geburtsstunde dessen, was wir Neoliberalismus nennen. Das Problem war nur: In dem Augenblick, wo der Totalitaris­ mus verschwand, mit dem Ende der Sow­ jetunion, wanderte dieses Denken fidel in die Zivilgesellschaft ein. Sie sagen immer: „die Ökonomie“, aber die besteht ja aus wirtschaftlich interessierten Menschen. Schirrmacher: Nein. Ich rede von einer The­ orie, die sich zur Handlungsanweisung ent­ wickelt. Es ist ein enormer Unterschied, ob Sie sagen, wir sind alle Egoisten, oder ob Sie ein Weltbild entwickeln, dass sagt, es

Foto: Christian Fischer

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rank Schirrmachers neues Buch „Ego“ hat eine starke These: Nach dem Ende des Kalten Kriegs arbeitslos geworde­ ne Physiker brachten ihre Spieltheorie an die Wall Street. Die menschliche Raubtier­ identität wandert als Algorithmus, als ma­ thematische Problemlösung in den Compu­ ter und formt so das Leben der Menschen, die nur noch digitales ­Spielmaterial dar­ stellen. Das schafft nicht nur viel Geld für wenige, es bedroht unsere Autonomie und die Demokratie.

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STADTGESPR ÄCH Zur Person Frank Schirrmacher, 54, ist Journalist, Buchautor und seit 1994 Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der jüngste bisher. Er schrieb Bestseller wie Das „MethusalemKomplott“ und „Payback“. Schirrmacher ist einer der mächtigsten Journalisten Deutschlands und auch einer der umstrittensten. Sein neues Buch „Ego“ hat eine starke These: Der Kalte Krieg sei heute unter digitalen Vorzeichen in unsere Herzen eingewandert. Großes Aufsehen erregte er auch mit seinem Artikel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“. Für seine Arbeit wurde Schirrmacher vielfach ausgezeichnet, etwa als „Journalist des Jahres“ mit dem Jacob-GrimmPreis Deutsche Sprache und dem Ludwig-BörnePreis

sei vernünftig, egoistisch zu sein. Die Ideologie schafft genau den Menschen, den sie behauptet. Sie ist normativ. Unsere moralische Empörung ist ein Ventil, aber nutzlos, solange wir nicht erkennen, dass wir nicht über Moral, sondern über Rationalität reden sollten. Was gilt als vernünftig? Und was gilt als vernünftig in einem Zeitalter der „vernünftigen“ Maschinen, die, auch das zeigt Mirowski, ihre DNA aus eben diesem ökonomischen Formalismus bezogen haben? Was einst als Antwort auf die Deindustralisierung der USA gedacht war, die berühmte, von Reagan so genannte „Ökonomie des Geistes“, ist längst Wirklichkeit, ohne dass wir erkennen, was da vor sich geht: die Ökonomisierung selbst von Gedanken, ja von Absichten – Google und Amazon lassen grüßen. Der alte Traum ist wahr geworden, aus nichts etwas zu erschaffen. Jeder klassische Ökonom hätte diesen Wahnsinn eines nur noch aus Rückkoppelungen lebenden Systems bereits an Derivaten ablesen können. Dahinter stehen Investmentbanken, Banker, im wesentlichen Goldman-Sachs. Schirrmacher: Schreibe ich auch. Aber das ist nur ein Aspekt. Das eigentlich Faszinierende ist doch: Gleichzeitig mit dieser „Ökonomie des Geistes“ taucht die Gegenkulturbewegung aus der Anti-VietnamkriegBewegung in Kalifornien auf. In den 80erJahren mischen sich die beiden Sphären, daher besteht diese Ökonomie nicht nur aus Goldman-Sachs, sondern auch aus Silicon Valley.

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„Es geht bei der ganzen Krise darum, Europa zusammenzuhalten, weil Europa eine Idee ist, größer als etwas Ökonomisches, etwas, das wir nie wieder kriegen“

Der Artikel erschien in Falter 15/2013 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/schirrmacher

Mit der utopischen Gegenwelt der Netzkultur, des digitalen Weltbürgertums räumen Sie ja ziemlich auf. Schirrmacher: Ursprünglich ist die Idee aus den frühen 90er-Jahren, dass alle mit allen digital kooperieren, toll. Im kommerzialisierten Internet ist daraus ein Markt geworden, aus der kooperativen Meinungsbildung wurde ein Plebiszit des Verkaufens. Es ist verwunderlich, wenn Journalisten das nicht sehen: Sie selber verlieren doch gerade reihenweise ihre Jobs deswegen. Manche Artikel wären früher so nie geschrieben worden, aber nun antizipieren die Autoren die Likes und Empfehlungen und Postings. Alles Plebiszit, Plebiszit. Am Ende ist sogar das Recht Plebiszit, das haben wir in der Eurokrise gesehen. Wenn die Märkte sagen: lieber jetzt nicht wählen!, dann wählen wir lieber nicht. Oder legen das den Griechen nahe. Das muss man sich einmal klarmachen! Wahlen – ja schon noch, aber das wahre Meinungsbild, was Menschen wollen, können wir dauernd abfragen. Daraus folgt, wir müssen in die Köpfe der Menschen eindringen. Google macht das ja auf vorerst ganz nette Weise, die sagen uns dauernd, was wir wollen, schon ehe wir es selber wissen, deswegen sind sie ein Riesenunternehmen geworden. Wenn das jetzt aber auch bei staatlichen Dingen passiert, wenn andere plötzlich besser wissen, was wir für uns wollen, dann verlieren wir Autonomie, Souveränität und Selbstbestimmung. Als man im 18. Jahrhundert den Blutkreislauf entdeckte, wurde das zur Metapher für politische und ökonomische Prozesse. Heute reden wir von einem weltumspannenden „Nervensystem“. Dieses Nervensystem ist aber eine Ökonomie, der Reiz ist ein „Investment“, die Schnelligkeit der Reizübermittelung – Stichwort Hochfrequenzhandel und Echtzeitkommunikation – entscheidet über den Profit. Darum überall diese kurzfristigen Skandalisierungen oder, im Bereich der Ökonomie, die Blasenbildung. Das ist mit Plebiszit allein nicht gesagt. Es könnte ja eine Art Beschleunigung der Volkswillensbildung sein. Schirrmacher: Diese Utopie ist immer noch gültig. Trotz der Erfahrungen der Piraten in Deutschland. Aber mir scheint, die Kommerzialisierung des Netzes ist zu weit vorangeschritten. Kennen wir die Regeln, nach denen Google oder Facebook Stimmungen erfassen? Und was noch wichtiger ist: Es geht künftig darum zu wissen, was einer will, ehe er es selber weiß. Oder vorauszusagen, was der andere wollen wird, wenn er weiß, was ich will – das ist exakt die spieltheoretische Urszene. Sie können es mit einem permanenten Pokerspiel vergleichen, in dem Kommunikation immer häufiger zur Irreführung wird. Ist die Eurokrise zu Ende, wie Schäuble sagte? Wem sagte er das? Welchen Reiz wollte er setzen? Das Problem ist, dass in einer Zeit, wo alles sich um die Ausbeutung von Gedanken zwecks Investment dreht, der Prozess der Kreativität sich selber ändert. Wenn Amazon mir Bücher empfiehlt – wunderbar. Wenn aber am Ende ein Konzern die gesamte Produktion von Büchern verändert, fragt man sich doch, was für eine Logik hier herrscht. Ich glaube nicht einmal, dass wir es mit bösen Absichten zu tun haben, jedenfalls nicht überwiegend. Es ist ein Effekt der neuen Rationalität. Das Stichwort „marktkonforme Demokratie“ ist ein schwerer Vorwurf gegen dessen Urheberin Angela Merkel.

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Schirrmacher: Es stammt ja nicht von ihr,

sondern von Sigmar Gabriel.

Sprechen Sie mit ihr darüber? Schirrmacher: Das letzte Hintergrundgespräch ist schon eine Weile her. Sie führt eine Art Reparaturbetrieb, spieltheoretisch sehr versiert, aber doch. Wir haben seit der Lehman-Krise permanent Duellsituationen, permanent die Alles-oder-nichts-Situation, die Frage: Scheitert Europa? Damit hat sie angefangen. Es ist nun eine Kalter-KriegSituation oder, wie die Spieltheorie sagt, ein Chickengame. Zwei Autos rasen aufeinander zu, wer weicht als Erster aus? Früher hätte man gesagt, psychologische Kriegsführung. Nervenkrieg. Politik ist eigentlich dafür da, solche Situationen nicht entstehen zu lassen. Wenn Politik das Ergebnis eines entfesselten Marktes ist, dann passiert so was. Würden wir politisch operieren, würden wir fragen, welches Europa wollen wir und was tun wir dafür? Jenseits von reinen Marktprinzipien. Zum Beispiel ein Europa, das bestimmte Werte vertritt. Das wäre dann außerökonomisch. In der Krise geht es aber um Ökonomie. Schirrmacher: Das finde ich nicht. Geht es denn um die Realökonomie? Auch wenn das narkotisierende Wort „Staatsschuldenkrise“ unkritisch nachgebetet wird: Diese Krise entstand aus der Lehman-Krise und dem „zusammenstürzenden“ Denkgebäude, von dem Greenspan sprach. Nicht Realwirtschaft, sondern virtuelle Wirtschaft. Und jetzt glauben wir auch noch, wir dürften über unsere Werte nicht mehr reden. Es geht bei der ganzen Krise darum, Europa zusammenzuhalten, weil Europa eine Idee ist, größer als etwas Ökonomisches, etwas, das wir nie wieder kriegen. Unsere Werte sollen auf der ganzen Welt gelten. Dann müsste Europa für diese Werte bezahlen. Die Deutschen müssten sagen, unsere Banken und Rüstungsbetriebe müssen für die Idee Federn lassen. Schirrmacher: Man müsste den Deutschen und den Österreichern sagen: Das Geld ist weg, nun habt ihr die Möglichkeit, dafür gehasst zu werden oder nicht. Aber jetzt geht es um den Preis des Ganzen, und der wäre, Abtretung von Souveränitätsrechten an Brüssel, fiskale Rechte, gesetzgebende Rechte. Die Krise nutzen, um ein stabiles Europa zu bauen. Stattdessen wird reiner Reparaturbetrieb gemacht. Wir kaufen nur Zeit. Der Spieltheorie folgend wäre es nicht rational, die Massen gegen sich aufzubringen, weil ökonomische Werte zerstört werden. Schirrmacher: Wieso nicht? Ein NashGleichgewicht ist eine Lösung, die keineswegs für beide Seiten optimal sein muss. Deshalb publizieren Investmentbanken ja ständig diese spieltheoretischen Investmenthilfen für die Eurokrise. Aktueller Stand: Der Knackpunkt wird der Konflikt mit Italien. Das optimale Ergebnis wäre, im Interesse Europas eine Lösung zu finden. Wird aber nicht passieren, sagen diese Analysten: Der Preis einer Reform in Italien ist zu hoch und der Preis eines Bail-outs für Deutschland ebenso – also hier ist die Sollbruchstelle. Zeit zu kaufen ist ambivalent. Es bedeutet auch, den Zusammenhang politischer Verantwortung zu verschleiern. Politiker sind nicht mehr im Amt, wenn die Folgen ihres Tuns eintreten. Sie haFortsetzung nächste Seite

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Schirrmacher: Egoismus führte in die Krise

☛ Der Moderator ::  Huemer über Schirrmacher: Nachdem Frank

Schirrmacher im August 2011 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung geschrieben hatte, „ich beginne zu glauben, dass die Linke Recht hat“, war im deutschen Feuilleton der Teufel los. Denn Schirrmachers Stimme zählt. In unserem Gespräch ging es um die neue Bedrohung der Gesellschaft durch den Informationskapitalismus und die Spieltheorie. Schirrmacher entwarf dabei ein düsteres Zukunftsbild, er war allerdings im Gespräch nicht so radikal pessimistisch wie in seinem neuen Buch „Ego – Das Spiel des Lebens“.

Die Thesen

Punkt 1: Der Mensch wurde zum Homo oeconomicus

Die Krise, die wir gerade erleben, ist nur ein Symptom. Sie zeigt nicht nur die Instabilität von Märkten, sondern auch von Gesellschaften. Gesellschaften werden wie Märkte und der Mensch wie ein Homo ­oeconomicus organisiert. Die moderne Ökonomie ist die Informationsökonomie, sie bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte genauso wie Aktien oder Waren und sie hat erstmals die technischen Mittel, das immer perfekter zu tun. Das soziale Leben wird immer mehr zu Geschäft und Auktion, die Welt des Ich-Verkaufs folgt glasklaren ökonomischen Regeln. Punkt 2: Die moderne Alchemie-Ideologie

Wir haben eine Ideologie des „Du kannst alles werden“. Aber wir sagen nicht, was passiert, wenn es nicht funktioniert. Die Menschen in der Moderne haben immer stärker das Gefühl, dass es nur an ihnen liegt, ob sie Erfolg haben oder nicht. Zufall und Schicksal verschwindet. Dabei gibt es viele Gründe, warum man etwas erreicht oder nicht erreicht. Das ist reine Alchemie. Bei den Alchemisten, die Blei zu Gold machen sollten, funktionierte es auch nie, und sie hatten eine Erklärung: Deine Seele war nicht rein genug. Das ist der Kern einer Ideologie. Punkt 3: Das Naturgesetz der Daten ist trügerisch

Wir leben im Zeitalter des Big Data. Wir haben die Intuition verloren und glauben den Daten. Wenn etwa jemand Rap-Musik hört, ist er für Banken weniger kreditwürdig. Früher hat man noch die Geschichte der Menschen gekannt und vertraute seiner Intuition. Die Macht von Maschinen sind unglaublich suggestiv, und wir glauben, die Gesellschaft und Menschen sind so wie Maschinen. Die Vernunft ist derzeit eine rein ökonomistische und wir nehmen sie zu sehr als Naturgesetz wahr.

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Warum?

ben recht, es könnte nicht im Interesse der Staaten sein, Geldvernichtung im großen Ausmaß zu betreiben. Aber im Wahnsinnssystem digitaler Märkte ist es immer möglich, einen Profit daraus zu ziehen. Der automatisierte Hochfrequenzhandel umfasst mittlerweile 50 Prozent. Jede Transaktion ist spieltheoretisch nach dem Nash-Equilibrium-Modell kalkuliert. Das heißt, Politiker reagieren zu 50 Prozent auch auf Roboter – die natürlich von Menschen programmiert worden sind und die immer sehen, wie sie ihren Profit machen. Ich befürchte, dass Politiker nicht mehr offen reden, sondern nur noch verschleiert zu den Märkten, um im dritten Glied irgendetwas auszulösen. Das kann einer Demokratie nicht guttun.

rechtlichen Fernsehsendern. Sobald der Staat drin ist, sind die Politiker mit im Boot.

Wie kommen wir da raus? Schirrmacher: Das Buch, das man jetzt lesen müsste, ist Max Gigerenzers „Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“. Gigerenzer, Chef des Max Planck Instituts für Bildungsforschung Berlin, sagt, unser Problem ist nicht das Risiko, sondern dass wir uns ständig dagegen absichern wollen. Das war auch im Kalten Krieg so. Wie kam es zu spieltheoretischen Modellen in der Politik? Weil sie den Nuklearkrieg verhindern sollten. Aber jetzt geht es nicht um Atombomben, jetzt geht es um Profite. Die Antwort lautet also: massiv in einer Form von zweiter Aufklärung, mit Heuristik und Intuition die menschliche Urteilskraft wieder rehabilitieren, die immer gesagt hat, das kann nicht funktionieren. Wenn nun aber auch die Öffentlichkeit algorithmisch präformiert ist? Schirrmacher: Diese Debatte sollten Journalisten einmal führen. Nehmen Sie das Start-up Narrative Science: Ein Computer trifft Handelsentscheidungen in Nanosekunden, aufgrund von Meldungen, die er maschinenlesbar von Reuters bekommt. Jetzt kommt ein zweiter Computer, der mit einem Algorithmus von Narrative Science ebenfalls binnen Nanosekunden daraus einen Artikel schreibt, der dann bei Bloomberg auf der Seite steht. Das ist heute Realität. Der Journalismus muss eine zweite Naivität lernen. Ich bin für diese Systeme (deutet auf iPad und iPhone, die das Gespräch aufnehmen), ich benutze sie. Sie helfen uns, sie sind nicht Orwell. Ich will aber nicht, dass sie Journalismus, Buchhandel und Verlagen vorgeben, was gelesen oder geschrieben wird. Wir haben die ersten Fälle von E-Books, die umgeschrieben werden, weil Amazon oder Apple feststellen, das bestimmte Kapitel nicht gelesen werden. Immer wieder geht es darum, dass alles Markt wird. Wir wissen aber, dass einige unserer größten Stunden gerade daraus resultierten, dass sie nicht der Markt diktierte, in der brotlosen Kunst etwa. Muss man das fördern? Von Staats wegen? Enklaven schaffen? Schirrmacher: In Schulen schon. Wir brauchen unbedingt eine Debatte über die total homogene Art, wie wir Ökonomie lehren und lernen. Zweitens glaube ich, dass man Daumenregeln lernen kann. Ein deutsches Bundesland überlegt, das Fach Kontemplation einzuführen. Ich dachte an staatliche Presseförderung für Qualitätsmedien. Schirrmacher: Bin ich total dagegen.

Schirrmacher: Das sehen Sie ja an öffentlich-

„Immer wieder geht es darum, dass alles Markt wird. Wir wissen aber, dass einige unserer größten Stunden gerade daraus resultierten, dass sie nicht der Markt diktierte“

Wenn Sie sagen, alles ist Markt – was ist die Alternative? Schirrmacher: In den Medien haben wir ja den Markt abgeschafft und die verrückte Situation geschaffen, dass wir die gleichen Dinge freigeben und kostenlos verbreiten, die wir auch verkaufen. Vielleicht trauen wir unseren eigenen Inhalten nicht mehr? Teile der Gesellschaft werden sich entscheiden müssen, was sie auf dem Qualitätsmarkt brauchen. Wenn man das, was wir zu bieten haben, nicht mehr braucht, ist das auch eine Aussage. Dann hilft aber nicht der Staat. Dann ist das eine Aussage über die Gesellschaft. Ich kann es mir aber nicht vorstellen. Was halten Sie vom Gedanken, Enklaven des Quotendenkens zu fördern, wenn zum Beispiel die großen Qualitätszeitungen existenziell bedroht wären. Schirrmacher: Die FAZ und der Falter sind, was das angeht, absolut im gleichen Boot, auch in der gleichen Größe, wenn ich sie mit den Bewusstseinsindustriegiganten vergleiche, die innerhalb von zehn Jahren aus Amerika gekommen sind. Von der Politik erwarte ich, dass sie sich dem Lobbyismus von Facebook, Google, Apple widersetzt und sich die Monopolstrukturen anschaut, die hier entstehen. Paul Krugman hat gefragt, ob nicht eines Tages die Suche Allgemeingut sein müsste. Öffentlich-rechtliche Suchmaschinen? Schirrmacher: Dafür war ich immer. Das gesamte Silicon Valley ist über Jahrzehnte vom militärischen Bereich subventioniert worden. Die Chinesen haben ihre eigene Suchmaschine, die Amerikaner haben ihre eigene Suchmaschine. Wenn wir von einer Vision Europas reden, haben wir auf allen Gebieten eine Alternative für diese Welt anzubieten, die gerade entsteht. Soziale Marktwirtschaft wäre das Stichwort. Das wäre die europäische Idee. Das Gleiche bei digitalen Systemen. Ich bin nicht naiv, natürlich muss jeder am Markt bestehen. Aber es gibt bestimmte ökologische Bereiche der Infrastruktur, bei denen man sich genau überlegen muss, in wessen Hände man das gibt und wer da die Macht hat. Ein ­Google-Suchergebnis entscheidet heute schon über die Valenz von ganzen Industrien.

Frank Schirrmacher: Ego. Blessing, 2012

Frank Schirrmacher: Payback. Blessing, 2009

Haben Sie Angst, dass ihre Vernunft, Denk- und Schreibweise digital infiziert ist? Während wir schreiben, sind wir immer gleichzeitig am Suchen … Schirrmacher: Das macht mir nicht solche Sorgen. Ich darf als verantwortlicher Redakteur nur nicht die falschen Schlussfolgerungen ziehen, wenn das und jenes nicht mehr gelesen wird. Berichterstattung aus dem Nahen Osten wird zum Beispiel, wenn nicht Krieg ist, kaum gelesen. Und wenn Texte zu kompliziert geschrieben sind? Schirrmacher: Da bin ich alte FAZ-Schule. Ein Text muss verständlich sein, aber er muss dem Leser auch etwas zumuten – ob das Frechheit ist, Polemik oder Abstraktionsniveau, das gehört dazu. Sie beim Falter haben eine Mission, die Süddeutsche hat eine Mission – die pure Existenz von Qualitätsmedien hindert andere Zeitungen daran, total marktorientiert zu werden. F

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Zur Person Feridun Zaimoglu, 49, wurde im türkischen Bolu geboren und kam mit vier Jahren nach Deutschland. Er wuchs als Kind türkischer Gastarbeiter in Berlin und München auf. Zaimoglu studierte Medizin und Kunst, im Jahr 1995 gelang ihm mit dem Buch „Kanak Sprak“ der Durchbruch als Autor. Für seine Werke wurde er unter anderem mit dem Hebbel-Preis, dem GrimmelshausenPreis und dem Preis der Jury beim Bachmann-Wettbewerb ausgezeichnet. Neben seinen Aktivitäten als Kolumnist und freischaffender Künstler interveniert der Kieler regelmäßig in integrationspolitischen Debatten

Der Artikel erschien in Falter 04/2011 und wurde leicht ergänzt und redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www.wienerstadtgespraech.at/video/zaimoglu

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rei Dinge fallen bei einem Telefonat mit Feridun Zaimoglu besonders auf: die druckreifen Sätze, das schallende Lachen und ein Hang zum Kettenrauchen. Ob er das Gespräch autorisieren wolle? „Autorisierungen“, sagt Zaimoglu, „sind etwas für Bettnässer.“

Falter: Ich würde gerne den ersten Satz Ihres Buches „Kanak Sprak“ aufgreifen, mit dem Ihnen der Durchbruch gelang: Wie lebt es sich als „Kanake“ in Deutschland im Jahr 2011? Feridun Zaimoglu: Mein deutscher Ausweis sind meine Bücher. Im Laufe der Jahre bin ich immer mehr als Teil des deutschen Literaturbetriebs angesehen worden. Und sehr schnell hat man in mir einen „deutschen Dichter“ gesehen. Damit kann ich sehr gut leben. Seit dem Erscheinen des Erstlings sind viele Jahre vergangen. Und wenn ich diese Frage nicht als allgemeine Frage, son-

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27.1.2011 Der deutschtürkische Autor über das Feindbild Islam und „Fiffis“ wie Strache GESPRÄCH: STEFAN APFL

dern als eine an mich gerichtete auffasse, kann ich sagen: Der Kampf geht weiter. Wenn man die 24 „Kanaken“ aus dem Buch heute noch einmal besuchen würde, wie würden sie heute auf die Frage antworten? Zaimoglu: Der ein oder andere würde nicht mehr leben. Er war als Wolf unter Wölfen unterwegs, ganz unten, und es wäre den harten Verhältnissen geschuldet, dass er in der Wildnis verendet ist. Vom ein oder anderen würde ich annehmen, dass er gläubig geworden ist, als Geste der Abwendung von der Ruppigkeit des Alltags und der Politik. Mancher würde sagen: Schau auf meine Plautze, ich bin Familienvater und habe zwei Kinder, und nein, es ist keine Importbraut, sondern eine Deutschländerin. Die Frage müsste heute lauten: Wie lebt es sich als Muselman in Deutschland? Denn der Kanake ist tot, es lebe der Muselman!

Die konkreten Zuschreibungen haben sich also geändert. Hat Ihre generelle Zuschreibung einer „Generation X“, einer „Liga der Verdammten“ weiterhin Bestand? Zaimoglu: Aber selbstverständlich. Denn die Lumpenpolitik ist weiterhin von Bestand. Sie können noch so oft erzählen, dass Sie zweite oder dritte Generation sind, das Ölauge ist nicht von hier. Gestern hieß es, die Asylanten, heute wird auf den Islam und die Muselmanen geschimpft. Was sehen Sie als die Ursache dafür? Zaimoglu: Der 11. September war natürlich ein Schock. Plötzlich waren viele Salonpapisten unterwegs, die das Abendland gegen die Muselmanen verteidigen wollten. Der alte Feind, die Bolschewiken, war tot, plötzlich hatte man einen neuen Feind, den Islam. Der war an so vielen Dingen schuld: Fortsetzung nächste Seite

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ginnen, das Kopftuch sei ihr ideologisches Banner und sie seien dumm und würden dumm bleiben, solange sie ihre Haare mit einem Stofffetzen bedecken.

Sie haben den 11. September angesprochen. Haben die Moslems ihre Stimme laut genug gegen den Terror erhoben? Zaimoglu: Ja. Und das tun sie ständig. Terror ist eine Schweinerei, bei der unschuldige Menschen umgebracht werden. Die erdrückende Mehrheit der Moslems ist natürlich gegen Terror und Fundamentalismus. Auch der Verfassungsschutz sagt, dass die Muselmanen in den Moscheen friedlich sind. Die Troublemaker, die in den Moscheeverbänden Ärger machen, werden in den Moscheen nicht geduldet und fliegen raus – das weiß ich aus meiner Zeit, als ich ein frommer Moslem war, der zum Freitaggebet gegangen ist. Aber mittlerweile ist das Misstrauen gegenüber den Moslems sehr groß geworden. Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass Moslems bloß nicht die beleidigte Leberwurst spielen dürfen. Sie haben eine Auftrittsscham – da gibt es noch ganz großen Aufholbedarf.

Auch das „Abendland“ erlebt eine Renaissance. Vor zehn Jahren war das Abendland noch ein vormoderner Begriff, heute ist er nachgerade postmodern. Warum? Zaimoglu: Ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass die Postmoderne viele Monster gebiert. Das Abendland ist eines davon. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde zuerst die Geschichte für beendet erklärt, dann hieß es, Kapital über alles. Dann wurde ein Hohelied auf die Globalisierung angestimmt, und die armen Schweine fanden es toll, dass sie in Spanien mit derselben Währung bezahlen konnten wie in Deutschland. Wenn die neuen Monster jedoch ihre Masken fallen lassen, tun sie nichts anderes, als das ewig gleiche Lied vom letzten Lumpenaufgebot zu singen. Abendland ist nur ein Label. Dahinter sieht man Hackfressen, die für die Hackordnung eintreten.

Diese Scham ist Ihnen fremd. Sie haben als Teilnehmer der Islamkonferenz lautstark protestiert, weil keine selbstbewusste Kopftuchträgerin daran teilnahm. Zaimoglu: Ich war bestürzt und entsetzt. Am Tisch ließen sich feministische Islamkritikerinnen über junge Frauen aus, die sich selbstbewusst für das Schamtuch entschieden haben. Aber die Musliminnen, die angegriffen wurden, fehlten und konnten sich nicht wehren. Ich habe ihnen deshalb meinen Platz zur Verfügung gestellt. Diese jungen Frauen sind Deutsche, bezeichnen sich selbst als Deutsche und haben die Identitätsfrage für sich gelöst. Aber sie haben sich für ein Kopftuch entschieden. Und ausgerechnet von Frauenrechtlerinnen bekommen sie eine so harte Kritik und werden als Fingerpuppen des Mannes bezeichnet. Ihnen wird unterstellt, sie seien Ideolo-

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Das Kopftuch ist mittlerweile zum Kampfbegriff geworden. Zaimoglu: In den Medien tauchen die Kopftuchträgerinnen als geradezu Untote auf, und die größte Kritik kommt von Feministinnen. Man kann sie nicht denunzieren als willenlose Zombies.

Aufklärungs­ skeptiker Feridun Zaimoglu: „Die Aufklärung hat den Traum und das Magische zerstört“

Sie haben unlängst gesagt: Narren entlarven sich selbst. Die Realität widerlegt Sie. Zaimoglu: Zwei Dinge sind so sicher wie das Amen in der Kirche. Erstens: Für Leute, die mehr als einen Teelöffel Hirn im Kopf haben, entlarven sich die Narren schon selber. Zweitens: Bislang haben diese Leute es immer geschafft, den Laden zu sprengen. Haider hat sich totgefahren. Davor hat er sein Lager gespalten. Diese Leute sorgen schon für die eigene politische Entsorgung. Und nach dem Narren kommt der Narr. Zaimoglu: Das eigentliche Problem besteht darin, dass die sogenannten bürgerlichen Parteien diesen Mauldreck übernehmen. Plötzlich heißt es, also man muss doch mal sagen können, oder man muss doch mal von diesen Leuten erwarten können. Die Fäulnis infiziert die Mitte der Gesellschaft.

In Ihren Büchern und Interviews geht es häufig um den Kampf zwischen oben und unten. Nach dem Motto: Fiffi sagt, Unterschicht gab es schon immer, aber die vor 50 Jahren war wenigstens unsere. Zaimoglu: Genau. Wir beuten zwar unsere eigenen Proleten genauso aus wie die dahergelaufenen, aber damit der White Trash noch etwas hat, worauf er sich besinnen kann, erzählen wir etwas von den guten alten Zeiten, von der Fahne, vom Wertekanon. Nirgendwo sonst wird so viel gelogen wie in den Reihen der Leute, die aus dem Fremdenhass Kapital schlagen. Halten Sie die aktuelle Integrationsdebatte für ein bürgerliches Projekt? Zaimoglu: Ja, es ist eine bürgerliche Reorganisationsmaßnahme. Schauen wir uns doch diese verlogenen Hackfressen an. Aus dem schwulen Haider, der auf Jünglingspopos

stand, haben seine Jünger einen Kämpfer für Österreichs Glorie gemacht. Er hat die Kassen geplündert. Hauptsache, er konnte der gnädigen Frau auf der Straße ein Grüßsiegott säuseln. Ich lade jeden ein, mal nach Klagenfurt zu fahren. Ekelhafter Totenkult, die ganze Stadt riecht nach Verwesung. Und Strache mit seinem Glattledergesicht brüllt, dass es bis jenseits der Alpen schallt: Alles Kanaken außer Mutti! Das hindert aber die Massen nicht daran, in einem Lumpen wie Strache den großen Erretter zu sehen, der das Establishment herausfordert.

Ein Versagen der Eliten? Zaimoglu: Ich hatte nie große Hoffnungen in die Eliten. Wenn das System auf Profitmaximierung ausgelegt ist und die Bestie entfesselt wird, wenn immer mehr Leute ausgespuckt werden und Moralkommandanten gleichzeitig von einer Rückbesinnung auf das Abendland bellen, kommt es zu Folgendem: Wer nichts anderes hat, kann wenigstens den Kopf in den Nacken legen und zur Fahne aufschauen. Aber man darf sich nicht kirre machen lassen. Es ist nun einmal ein elender Kampf.

Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak. Rotbuch Verlag, 1995

Sie waren in den vergangenen 16 Jahren in verschiedenen Rollen in diesen Kampf verstrickt. Begonnen haben Sie als, nennen wir es, Kanakenkorrespondent ... Zaimoglu: Kanakenkorrespondent, das ist sehr gut!

Foto: Christian Fischer

an der Verunsicherung des Mittelstands, an der Finanzpleite, an Massenentlassungen. Daraus haben sehr viele Leute Kapital geschlagen. Es war ja nicht nur der Kriegsverbrecher Bush, der von einem Kreuzzug sprach, es sind allerorten sehr viele Fiffis unterwegs. Damit meine ich aufgeblasene Möchtegerns. In Österreich etwa der Fiffi Strache. In Deutschland ist Sarrazin ja nicht der einzige lupenreine Rassist, der rote Flecken bekommt, wenn er einen Blick auf die Moslems wirft.

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STADTGESPR ÄCH sich an das Verbot gehalten? Zaimoglu: Ja. Verbote stinken einem Kind immer, das ist klar. Was will denn ein Kind? Süßigkeiten futtern, lange aufbleiben, spielen. Bestimmt nicht Hausaufgaben machen und sicher nicht eine fremde Sprache lernen. Meine Mutter und mein Vater haben also sehr darauf geachtet. Und irgendwann wurde es uns zu einer Normalität. Hätte meine Mutter mir den Umgang mit dem jugendlichen Feridun Zaimoglu verboten? Zaimoglu: Der jugendliche Feridun Zaimoglu war vor allem sehr blöd. Das Bild vom jungen Schriftsteller als Deppen, das gibt es auch von mir. Ihre Mutter hätte Ihnen den Umgang mit mir nicht verboten, weil ich ein Schmuddelkind war, sondern weil ich ein Depp war, der wie betäubt in der Gegend rumstand.

Sie attestieren sich selbst eine „glühende Deutschlandliebe“. Woher kommt die? Zaimoglu: Diese Liebe ist keine intellektuelle. Das Gefühl ist meiner Biografie geschuldet. Ich habe mein Leben – bis auf die ersten vier Jahre – in Deutschland verbracht. Man kann mir also nicht unterstellen, dass ich wie amerikanische Touristen während einer Dampferreise auf dem Rhein entzückt wurde. Meine Liebe zum Land kommt über die Liebe zu den Menschen.

„Die sozialen Probleme werden ethnisiert. Wenn Menschen sich wie Ratten auf Menschen stürzen, die sie für Ratten halten, werde ich diese Verrattung nicht tolerieren“

Was tun mit Kindern, die nicht dieses Glück haben? Zaimoglu: Man muss auch zuweilen gegen den Willen der Eltern auf die Zukunft der Kinder setzen: in den Kindergarten, in den Deutschunterricht mit ihnen.

Was ist also dran an den wilden Kellerpartys? Zaimoglu: Arschlange Haare, schwarze Lederjacke, schwarze Stulpenstiefel, überhaupt immer schwarz angezogen. Damals habe ich schon wie ein Wilder gemalt. Zweimal aus der Akademie rausgeflogen. Sagen wir es so: Ich und meine Kumpels, wir waren eine Gruppe von nicht vertrauenswürdigen Personen.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Und Realität. Zaimoglu: Ja, aber das ist ja nicht einfach so passiert. Man verschweigt die Tatsache, dass die Ausländer in Türkenvierteln untergebracht worden sind. Wie konnten sie es sich denn aussuchen, wenn sie sich zunächst gar nicht auskannten? Und das zieht sich bis heute weiter fort. Plötzlich spricht man von Parallelgesellschaften und gibt die Verantwortung an die Ausländer ab. Das ist eine infame Verleumdung. Die Realität ist tatsächlich, dass es hier einige Viertel gibt, in denen die fremdstämmigen Kinder, die weder böse noch blöd sind, unter sich bleiben. Dann ist Sense mit dem Spracherwerb. Das muss man jetzt unterbrechen, und man muss dabei ehrlich sein.

Ihre Mutter hat Ihnen im Alter von neun Jahren den Umgang mit türkischen Kindern verboten. Haben Sie

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Ein Rebell ohne Grund? Zaimoglu: Damit würde man mich überhöhen. Kein Konzept, keine Gedanken, keine Idee von der Zukunft. Ganz sicher war ich nicht ethno-esoterisch angewandelt. Das ist ja das Uninteressanteste überhaupt. Ich habe damals gemalt, gemalt, gemalt, und draußen wurde ich dann wütend. Ich habe Camus und Sartre gelesen, vielleicht ein Sechzehntel davon verstanden, aber egal. Die Bücher sahen gut aus, und die Mädchen hielten einen für nicht ganz so bekloppt. Ein guter Freund von mir war damals ein Freund Ihres Mitbewohners Marc, dem Friseur. Er hat mir wilde Geschichten erzählt. Zaimoglu: Nein, die Welt ist klein!

Welche Chancen haben Kinder türkischer Eltern, die Klassen mit vielleicht zwei, drei deutschen Kindern besuchen? Zaimoglu: Sie haben keine große Chance. Das ist nämlich Blödsinn.

Wie unterbricht man das? Zaimoglu: Indem man die Kinder verteilt, auf Klassen mit Österreichern und Deutschen in der Mehrzahl. Das macht man aber nicht, weil die Bürger dann protestieren gehen, genau wie bei Moscheen. Der Unterricht wird darunter leiden, wir wollen die Kanaken nicht und so weiter.

Was ist denn dran an den Geschichten über den herumziehenden Rowdy? Zaimoglu: Das kam einige Zündhemmungen später, in der Kieler Zeit. Da wurde ich wütend, blieb aber blöd.

Und dann kam „Kanak Sprak“ und katapultierte Sie dorthin, wo Sie immer sein wollten, in den Kulturbetrieb. Zaimoglu: Kultur, Himmel, das glänzte, allein das Wort, wenn man es aussprach. Ich hatte eine vage Ahnung davon, dass ich da gerne mitmischen wollte. „Kanak Sprak“ war völlig überraschend. Ich habe nie darauf gesetzt, Bücher zu schreiben. Plötzlich war ich einer, der ein Buch geschrieben hat. Bum. Ein zweites, ein drittes, ein viertes. Ich habe akzeptiert, dass jedes Buch ein Risiko darstellt, die Leute lieben es oder sie lieben es eben nicht. Und ich mag das. Ich mag den Einsatz. Ich wünschte, es könnte sich ein Gefühl einstellen, angekommen zu sein, Teil einer Gemeinde zu sein, ein Gefühl, das sich länger hält als zwei Tage.

Feridun Zaimoglu: Liebesbrand. Kiepenheuer & Witsch, 2008

Heute sind Sie zumindest der wahrscheinlich bekannteste Feridun Deutschlands. Zaimoglu: Das sage ich meinem besten Kumpel, der wird wiehern wie ein Pferd. Danke. F

Zaimoglu: Sprache entscheidet über Macht

☛ Der Moderator Feridun Zaimoglu bezeichnet sich selbst als „gutgelaunten Deutschen“, der Gartenzwerge sammelt. Daher meine Frage: Was ist türkisch an diesem deutschen Schriftsteller, dem die Mutter als Kind verboten hatte, mit türkischen Kindern zu spielen? Feridun Zaimoglu hat für sich die Opferrolle des Migrantenkindes zwischen den Kulturen stets abgelehnt und rät Jugendlichen auch heute entschieden davon ab. Türkisch an ihm ist: dass er aufsteht, wenn die Eltern den Raum betreten. :: Huemer über Zaimoglu:

... daraus haben Sie sich als Romancier emanzipiert. Wie würden Sie Ihre Rolle beispielsweise in diesem Gespräch beschreiben? Zaimoglu: In einem Punkt habe ich mich nicht geändert: Ich finde es räudig und würdelos, auf die Schwachen und die Hilfsbedürftigen einzudreschen. Die sozialen Probleme werden ethnisiert. Und wenn Menschen sich wie Ratten auf Menschen stürzen, die sie für Ratten halten, dann werde ich diese Verrattung nicht tolerieren.

Sie sprachen kaum Deutsch, als Sie in die Volksschule kamen. Was hat bei Ihnen geklappt, was bei vielen anderen nicht klappt? Zaimoglu: Meine Eltern haben gesagt, nie wird es so sein, dass dieses Land unser Land wird. Wir sind Türken, und wir werden eines Tages zurück in die Türkei gehen. Aber ihr – meine Schwester und ich –, ihr seid später dazugekommene Deutsche, und ihr lernt jetzt eure spätere Muttersprache! Das war die Ermunterung, die harte Erziehung, wir haben das letzte Krötengeld in unsere Ausbildung investiert.

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FALTER

Die Thesen

Punkt 1: Die Verknappung der Aufk lärer

Ich bin ein Aufklärungsskeptiker. Die Aufklärung hat den Traum und das Magische zerstört, all das, was gewissermaßen Volkes Erzählfluss war. Man muss die Gläubigen sehr ernst nehmen. Das Aufklärungsverständnis der heutigen Aufklärer – der erhitzten Aufklärer – zielt auf Verknappung ab. Sie halten Menschen eher für bekloppt und bescheuert, die ein vielleicht magisches Verständnis von der Welt und vom Leben haben. Punkt 2: Die Ethnisierung des Sozialen

Seit ein paar Jahren spricht man über die Belange der Einwanderung. Selbst im feinen Feuilleton geht es um die Angst vor der Fruchtbarkeit der Exoten und deren Kinderreichtum. Ganze Szenarien werden dort entworfen: Es gäbe eine heimliche Mobilmachung, eine Landnahme. Mittlerweile ist aus dem Ausländer der Moslem geworden, ein äußerer und innerer Feind, der uns bedroht. Das Soziale wird ethnisiert. Wo man hinguckt, toben Ausschreitungskämpfe. Dabei wird vergessen, dass es in der Debatte um eine eingewanderte Unterschicht geht. Es geht um ein Oben und Unten. Dass es unter den armen Schweinen eine große Solidarität gibt, ist ein Mythos. Punkt 3: Macht durch Spracherwerb

Es ist zwar gut, diese Kanaksprak zu sprechen. Aber wie verhält es sich, wenn man gezwungen ist, richtig Deutsch zu sprechen? Jugendliche sprechen davon, dass ihr Deutsch in Alltagssituationen nicht ausreicht. In diesen Alltagssituationen geht es um Macht und Ohnmacht. Wenn die Eltern eines begabten Kindes meinen, dass Schule nicht so wichtig sei, dann sollte man ihnen zeigen, dass sie falsch liegen und dass zum Beispiel der Spracherwerb von großer Bedeutung ist. Es darf nicht sein, dass die Zukunft des Landes verödet, weil die Eltern zu blöd sind. Deshalb wäre es gut, wenn man sich nicht allzu lange mit Geschwätz aufhält und handelt.

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Stadtgespr äch Zur Person Giovanni di Lorenzo, 54, ist ein deutschitalienischer Journalist, Buchautor und Fernsehmoderator. Nach Stationen bei der Süddeutschen Zeitung und dem Tagesspiegel übernahm er 2004 die Chefredaktion der Wochenzeitung Die Zeit. Im darauffolgenden Jahr gründete er gemeinsam mit Joachim Riedl die Österreich-Seiten der Zeit. Di Lorenzo hat zahlreiche Journalistenpreise erhalten, unter anderem den TheodorWolff-Preis und den Preis der europäischen Presse Der Artikel erschien in Falter 12/2011 und wurde leicht gekürzt und redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www.­ wienerstadtgespraech. at/video/lorenzo

Giovanni di Lorenzo Falter: Herr di Lorenzo, Sie haben mit dem

SZ-Kolumnisten Axel Hacke das Buch „Wofür stehst Du?“ geschrieben. Der Versuch, einen Wertekanon zu verfassen? Giovanni di Lorenzo: Bloß nicht! Die Suche nach den Werten unseres Lebens war schon schwer genug. Der Ausgangspunkt des Buches war das Unbehagen über einen Vorwurf, der von Älteren, gerne auch von 68ern, gegen meine Generation, aber auch gegen Jüngere erhoben wird: dass wir so flexibel und pragmatisch seien, dass es schon an Opportunismus grenze. Diesen Vorwurf habe ich stets als ungerecht empfunden. Gleichzeitig muss ich zugeben, dass uns keine Frage mehr in Verlegenheit bringt als eben diese: „Wofür stehst du?“ Was stört Sie an den 68ern? di Lorenzo: Wir haben in unserem Buch keine Abrechnung mit den 68ern vorgenommen. Wir haben ihnen vieles zu verdanken. Unsere Kinder werden heute viel ­liebevoller behandelt als noch in den 50erJahren. Als Journalist mit Migrationshintergrund konnte ich hier meinen Weg gehen. Das wäre damals undenkbar gewesen.

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31.3.2011 Der ZeitChefredakteur über spießige 68er, die Vertreibung politischer Talente und die Fehlein­ schätzungen des Internets Gespräch: F l o r ia n K l e n k , Armin Thurnher

Ein Teil der 68er-Generation hatte sich aber politisch völlig verirrt. Im Umgang mit Gewalt herrschte vor allem in Italien ein kollektiver Irrsinn. Dort saßen zeitweise 2000 ­Menschen wegen politischer Gewalt gleichzeitig im Knast. Auch diese Erfahrung ist wichtig, um zu erklären, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Heute nennen Sie die 68er „spießige Verhinderer“. di Lorenzo: Mir kamen die Überbleibsel der 68er-Linken in Deutschland gerade in meiner Jugend oft vor wie eine spießige Verhinderungsmacht. Das manifestierte sich für mich im Alltag. Sie redeten alles schlecht, woran man Spaß hatte. Wenn man politisch unkorrekt schrieb, hieß es, man besorge das Geschäft der Rechten. In Ihrem Buch behaupten Sie, dass Werte heute permanent erarbeitet werden müssen. Besteht hier nicht die Gefahr, dass die Menschen überfordert werden und moralische Pflöcke brauchen? di Lorenzo: Doch, aber diese Pflöcke muss man sich immer wieder erarbeiten. Ein Wert, den wir im Buch vertreten, ist die Ambivalenz, das Abwägen. Er wird oft als Schwäche ausgelegt, doch ich denke, dass er uns reifer macht. Sie enthüllen in Ihrem Buch auch Details aus Ihrem Privatleben. Sie haben sogar Ihren Glauben thematisiert. di Lorenzo: Auf zwei Seiten bekenne ich, dass wir zu Hause vor dem Essen beten

und dass mich das lange Sterben des Papstes, an dem ich mich sonst oft abgearbeitet habe, bewegt hat. Mich hat das Ausmaß der Resonanz sehr überrascht. Wie uniform sind wir, dass so etwas schon aufregt? Religion ist Privatsache – und Sie bekennen sich öffentlich dazu. di Lorenzo: Ich würde meinen Glauben nie zum Thema einer politischen Auseinandersetzung machen. Aber in einem autobiografisch gefärbten Buch zu verschweigen, dass ich eine starke religiöse Prägung hatte, wäre doch absurd. Sie beladen sich in einer Geschichte, wo Sie über eine Abtreibung einer Freundin berichten, mit großer Schuld. di Lorenzo: Es ist eine unideologische Geschichte, die den Menschen bei den Lesungen am nächsten geht, manche weinen sogar: Eine Freundin trieb ab – und ich hatte sie dazu bestärkt. Sie leidet noch heute darunter. Ich wollte mit dieser Geschichte zeigen, was für eine Tragödie eine Abtreibung auslösen kann. Man wird Opfer eines bestimmten Zeitgeistes, auch wenn man sich noch so kritisch wähnt. Soll das persönliche Verhalten zum Maßstab eines allgemeinen Handelns werden? di Lorenzo: Nein. Ich verwahre mich gegen die Vorstellung, dass sich Leute selbst heroisieren. Es gibt keine glaubhaften Helden. Man ist nur punktuell ein Vorbild. Das von

Foto: Christian Fischer

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ie Zeit residiert im Hamburger Speersort, einem wuchtigen Backsteinbau. Eine „Stimme der Vernunft“ will das Blatt in Zeiten wie diesen sein. Vor allem die Hatz gegen Politiker stört Giovanni di Lorenzo. Der Zeit-Chef wittert darin eine große Gefahr der Diskreditierung der politischen Klasse, die letztlich nur Populisten dient.

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Kommen wir zur Gerechtigkeitsfrage. Es geht ja auch Ihnen um eine gerechte Gesellschaft . di Lorenzo: Ja, aber auch um die Erkenntnis, dass wir Teil einer ungerechten Gesellschaft sind und dass es auf die Maßstäbe ankommt, die wir anlegen. Nehmen wir unser Einkommen. Im Prinzip ist es durch nichts zu rechtfertigen, dass Axel Hacke, wie er bekennt, bei einer Lesung an einem Abend so viel verdient wie eine Krankenschwester in einem Monat. Vielleicht fällt dieser Umstand nicht so auf, weil der allgemeine Wohlstand nach oben angehoben wurde. di Lorenzo: Ja. Und zugleich sehen wir eine Gesellschaftsordnung, in der ein Teil der Bevölkerung durch eine Grundversorgung einfach nur ruhiggestellt wird – und aus diesen Verhältnissen nicht mehr rauskommt. Es dabei zu belassen, wäre verheerend. Was müsste geschehen? di Lorenzo: Natürlich müssen wir unsere Bildungsanstrengungen erhöhen. Wir müssen aber auch unsere Einwanderer in die Pflicht nehmen. Migranten müssen ihren Kindern eine Sprachausbildung ermöglichen. Übrigens sind hier vor allem auch meine HalbLandsleute zu nennen. Italiener stellen in Deutschland die meisten Sonderschüler, diese Kinder sprechen zu Hause oft nur italienisch und schauen italienisches Fernsehen. Im Urlaub geht es dann auch sofort nach Italien.

di Lorenzo: Auch das öffentlich-rechtliche

Fernsehen ist noch immer gut. Schauen Sie sich einmal die Hauptnachrichten in Italien an! Sie bringen zwar politische Nachrichten, aber sie ordnen sie nicht ein, sie erklären sie nicht. Der größte Teil besteht aus Mord, Totschlag und sogenannten Trends, etwa dass die Italiener wieder gerne Kreuzfahrten antreten. Hier in Deutschland wird jede wichtige Nachricht erklärt. Das ist der Unterschied zwischen einer demokratischen und einer postdemokratischen Gesellschaft.

„Momentan wird so getan, als seien Politiker nur unfähige, korrupte Gesellen. Diese Diskreditierung der politischen Klasse ist ein Einfallstor für populistische Bewegungen“

Soll der Staat mehr Druck ausüben? di Lorenzo: Ja – aber nicht nur der Staat alleine. Es geht auch um eine Mentalitätsänderung.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Axel Hacke, Giovanni di Lorenzo: Wofür stehst Du? Kiepenheuer & Witsch, 2010

Die Qualitätsmedien zielen also nur noch auf die Eliten? di Lorenzo: Das ist die Gefahr. Wir sind natürlich Teil der politischen Klasse, und das birgt Gefahren. Der Minister, der Professor, der Parteisprecher: Mit all diesen Leuten sitzen wir zu oft in einem Kreise. So sehr ich das Geschlossene des Systems beklage, so sehr sehe ich es aber auch als Vorteil, dass man aufeinander Bezug nimmt. Es wäre noch viel schlimmer, wenn das, was wir schreiben, überhaupt keine Auswirkungen hätte. Italien ist ein abschreckendes Beispiel. Hier herrscht das zynische Kalkül vor, dass man Journalisten einfach schreiben lässt und hofft, dass es die Öffentlichkeit nicht kümmert, weil nur wenige Itali- Giovanni di Lorenzo, ener Zeitung lesen. Helmut Schmidt: Deutschlands Qualitätsmedien funktionieren nach wie vor vorbildlich. Woran liegt das?

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Sie plädieren in Ihrem Buch für mehr Fairness gegenüber Politikern. di Lorenzo: Es gibt die Mode, Politiker für gnadenlos dumm zu halten. Das halte ich für eine gefährliche Entwicklung. Natürlich müssen wir Politiker kritisch begleiten. Doch momentan wird so getan, als seien Politiker nur unfähige, korrupte Gesellen. Diese Diskreditierung der politischen Klasse ist ein Einfallstor für populistische Bewegungen. Deshalb habe ich auch in einem frühen Stadium seiner Plagiatsaffäre bedauert, dass Verteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg stürzte. Warum das? di Lorenzo: Ich sah in ihm eine politische Persönlichkeit, die gefährdete Bevölkerungsgruppen binden kann und dennoch durch und durch Demokrat war. Ich habe diesen Vorteil stärker bewertet als den großen Fehler, den er mit seiner Dissertation gemacht hat. Wir brauchen Politiker wie ihn, die die breiten Massen ansprechen können, sonst drohen jene Herrschaften, die Sie in Österreich viel besser vor Augen haben. Aber noch ein Punkt ist mir wichtig: Wir in Deutschland fordern bei Politikern heute ein Reinheitsgebot, das niemand erfüllen kann. Es gibt viele politische Talente, die sich nicht mehr in der Arena wie notorische Ladendiebe beschimpfen lassen wollen.

Haben die Medien einen Anteil an dieser Mentalität? di Lorenzo: Hier setzt sich die Spaltung der Gesellschaft fort. Ich vertrete keinesfalls die Meinung, dass Fernsehen a priori dumm macht. Aber wir haben auch ein Unterschichtenfernsehen in Deutschland. Es gibt große Bevölkerungsgruppen, die gar nicht mehr wissen, was das erste oder zweite öffentlich-rechtliche Programm ist – außer bei der Fußball-WM. Ist dies politisch beabsichtigt? di Lorenzo: So gut sind die Politiker nicht, dass sie das inszenieren.

Worin liegt der Grund, dass Deutschland diese Qualität halten konnte? di Lorenzo: Wir hatten in Deutschland das Glück, dass die Zeitungen in Händen von Verlegern liegen und nicht Industriekonsortien oder großen Banken gehören. Das ist in Italien anders. Zudem haben wir ein extremes Maß an föderaler Kontrolle für die öffentlich-rechtlichen Sender. Schließlich machen wir uns auch große Mühen, Fehler aus der Vergangenheit schon im Ansatz zu bekämpfen.

Verstehen Sie das, Herr Schmidt? Kiepenheuer & Witsch, 2012

Haben die digitalen Medien hier die Lage verschärft? Man hat den Eindruck, dass sich Hetzmassen viel schneller formieren können. di Lorenzo: Ich finde es gut, dass es die Schwarmintelligenz gibt. Der Guardian stellte Akten einer großen Korruptionsaffäre ins Netz – die Leser werteten sie aus. Auch bei Guttenbergs Plagiatsaffäre war das Internet wichtig. Doch mich stört dieser Typus von Usern, der sich unter dem Schutzmantel der Anonymität in einer Brutalität äußert, dass einem schlecht wird. Werden die digitalen Medien die klassischen Zeitungen verdrängen? di Lorenzo: Wir lernen, dass man im Internet alles kann – nur nicht mit journalistischen Inhalten so viel Geld verdienen, um unsere Standards aufrechtzuerhalten, bislang jedenfalls. Die Verlage haben sich selbst beschädigt und ihre Inhalte verschenkt.

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di Lorenzo: Ja, sie haben den Leuten perma-

nent das Gefühl gegeben, das Medium der Zukunft ist gratis und im Netz. Davon rücken jetzt alle ab – unter größten Schwierigkeiten. Beim iPad dürfen wir den Fehler nicht wiederholen.

Wird die Rasanz der sozialen Netzwerke den Journalismus verändern? di Lorenzo: Das ist ja jetzt schon der Fall – blicken Sie nur in den arabischen Raum oder nach Japan. Manche Zeitungen sehen schon am Tag nach dem Ereignis so alt aus, dass man sie nicht mehr lesen will. Umso mehr müssen wir als Wochenzeitung in der Flut der Information Ufer sein – und nicht Fluss. Wir müssen uns aus dem hysterischen Schnelltakt herausnehmen. Sonst ertrinken auch wir. F

Di Lorenzo fordert mehr Respekt für Politiker

☛ Der Moderator :: Huemer über di Lorenzo: Seinen ersten TV-

Auftritt hatte di Lorenzo Anfang der 80erJahre im „Club 2“, zu dem ich ihn eingeladen hatte. Ich konnte mich nicht daran erinnern, er naturgemäß schon. Das hat von Beginn weg ein angenehmes Gesprächsklima mit einem der wichtigsten Journalisten Deutschlands geschaffen. Es ging um die Frage, was im Leben wichtig ist, und natürlich um die Zukunft des Journalismus.

Kant formulierte Prinzip ist für die Menschen ansonsten eine Überforderung.

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Die Thesen

Punkt 1: Grenzen des Motzens

Die Kritik an der Politik hat jedes Maß verloren, sie ist in Verachtung umgeschlagen. Leute schätzen nicht mehr wert, wie viel Gutes erreicht wurde. Wenn man den schrecklichen Job des Politikers selbst nicht machen möchte, muss es auch Grenzen des Motzens geben. Punkt 2: Unstabile Aufmerksamkeitsspanne

Die Menschen können nur ein gewisses Pensum an schlechten Nachrichten ertragen – das hat etwa der Unglück in Fukushima gezeigt. Erst hat jeder darüber berichtet, aber irgendwann war es Kassengift am Kiosk. Da die Aufmerksamkeitsspanne immer unstabiler wird, müssen sich Medien überlegen, wie sie nachhaltig Bewusstsein für große Probleme schaffen können. Punkt 3: Die Zeitung als Anwalt

Die große Krise der Zeitungen in den USA hatte zwar mit dem Internet und Strukturproblemen zu tun, aber auch damit, dass große Blätter vor dem Eintritt in den Irakkrieg kritiklos die Version der Bush-Regierung übernahmen. Eine Zeitung wird unglaubwürdig, wenn sie eine große Nähe zu einer Partei hat. Sie muss ein Anwalt des Lesers sein und aufdecken, anstatt sich auf eine Ebene mit denen da oben zu stellen.

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Stadtgespr äch Zur Person Ingo Schulze, 51, ist ein deutscher Schriftsteller. Er wurde in Dresden geboren, studierte Klassische Philologie und Germanistik in Jena und arbeitete als Dramaturg und Journalist. Mitte der 1990er-Jahre wurde er mit seinen Erzählungen „33 Augenblicke des Glücks“ bekannt. Die Bücher „Simple Storys“ und „Neue Leben“ wurden als die großen Romane über das wiedervereinigte Deutschland gefeiert. Ingo Schulze, der in Berlin lebt, erhielt mehrere Auszeichnungen – darunter der Preis der Leipziger Buchmesse – und zählt zu den interessantesten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur

Der Artikel erschien in Falter 10/2012 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/schulze

Ingo Schulze Falter: Herr Schulze, ist die Ökonomie zu

ernst, um sie den Ökonomen zu überlassen? Ingo Schulze: Ja, ganz sicher. Ich weiß leider nicht mehr den Autor der Zeile „Begräbnis folgt auf Begräbnis – die Ökonomie macht Fortschritte“. Würde man Ökonomen wie andere Wissenschaftler behandeln, dann wäre ihre Glaubwürdigkeit längst ruiniert. Aber das Gegenteil ist der Fall: Die Ökonomie wird de facto zu einer Art Leitwissenschaft gemacht. Im Gefolge von Angela Merkel zu all den Gipfeln finden sich ja fast nur noch Ökonomen und die dazugehörigen Journalisten. Das ist, als würde ich einen Automechaniker mit der Aufgabe betrauen, ein Referat über das Verhältnis von Straße und Schiene zu halten. „It’s the economy, stupid!“ lautet ein schlichter Satz, der aber von vielen Leuten mit politisch eher linken Sympathien nur halbherzig zur Kenntnis genommen wurde, oder?

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14.3.2012 Der Autor über die Zerstörung des Gemeinwesens durch eine Politik, die blind den Märkten folgt G e sp r ä c h : Klaus Nüchtern

Schulze: Ich halte den Satz für schwierig, er tut so, als sei „economy“ gleichbedeutend mit einer unveränderlichen Gegebenheit, sozusagen objektiv, und dazu könne man nur die Schultern zucken – was nicht unbedingt meine Haltung wäre.

Was ich andeuten wollte, war nur, dass die Linke die Ökonomie wohl leichtfertig den Rechten überlassen hat. Man hat uns ja immer wieder geraten, den Wirtschaftsteil zu lesen. Das tut die Feuilleton-Linke bis heute nur sporadisch. Was war Ihr Einstieg in das Thema? Schulze: Mein Einstieg in das Thema war meine gewissermaßen ungewollte Karriere als Zeitungsunternehmer in Ostdeutschland und dann in Russland zu Beginn der 90er. Ich wusste ja nicht mal, was Cash bedeutet oder was eine Mehrwertsteuer ist. Ich weiß nicht, ob uns die Wirtschaftsseiten allein weiterhelfen. Die Berichte über die Börse werden uns präsentiert wie das Wetter. Aber was bedeutet es denn, wenn der Wert dieser Aktie steigt oder jener fällt? Denken Sie an die Spekulation mit Nahrungsmitteln oder die Agrarsubventionen. Die Auswirkungen finden sich dann bestenfalls in einem anderen Teil der Zeitung. Der Wirtschaftsjournalist müsste eigentlich dann und wann auch schreiben,

dass man solche Geschäfte und Subventionen nicht vertreten kann, dass man sie verbieten muss. Das habe ich aber noch nie gelesen. In den Nachrichten wird gebetsmühlenartig die Frage gestellt wird, wie „die Märkte“ auf dies oder jenes reagiert hätten. Man wird richtig depressiv davon, weil man tagtäglich auf ein Gefühl schuldhafter Ohnmacht eingeschworen wird: Ich habe zwar gar nichts gemacht, aber das Richtige war es auf keinen Fall. Die Märkte sind schon wieder verschnupft. Mir scheint das jedenfalls ein Programm zur Einstimmung in die Selbstentmündigung zu sein. Ihnen auch? Schulze: Merkwürdigerweise finden die meisten gar nichts mehr dabei, wenn wir hören, der oder der Politiker hätte gesagt, wir müssten die Märkte beruhigen und deren Vertrauen wiedergewinnen. Das stellt doch die Demokratie auf den Kopf. Wir müssen sagen, welche Märkte wir wollen, welche Geschäfte wir erlauben und welche nicht. Der deutschen Kanzlerin ist im Herbst ein Begriff entschlüpft, der die Situation, in der sich unsere Demokratie befindet, auf den Punkt bringt: Sie sprach von „marktkonformer Demokratie“. Das ist die politische Bankrotterklärung. Aber

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paren, sparen, sparen – und keine depperten Fragen stellen. So lautet das nicht nur dem bankrotten Griechenland verordnete Programm. Der Schriftsteller Ingo Schulze, bekannt etwa durch den Wende-Roman „Neue Leben“, will sich damit nicht abspeisen lassen.

16.10.2013 14:41:21 Uhr


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Inwieweit waren Sie von der Krise denn persönlich betroffen? Haben Sie denn „spekuliert“? Schulze: Ja. Ich bekam Anfang 2008 von einem Herrn Krause von der Dresdner Bank einen frohgelaunten Anruf, er hätte da was für mich, ein Spiel, wenn’s gutgeht, acht Prozent Zinsen, wenn’s schlechtgeht, keine. Das wäre dann auch nicht viel weniger als auf meinem Sparbuch. Am Ende war alles weg, auch der Einsatz. Ich mache mir nicht das Spiel zum Vorwurf, dafür bin ich bestraft worden, ich mache mir zum Vorwurf, dass ich eigentlich nicht wusste, womit das Geld gemacht werden sollte. Das ist letztlich unverantwortlich. Bei einer Nachfrage hätte sich das Geschäft wahrscheinlich von selbst erledigt, schon weil es niemand so genau und verbindlich hätte erklären können oder wollen, wie die Zinsen erwirtschaftet werden.

amt gehandelt und die Preise um 19 Prozent senken lassen.

„Der Kanzlerin entschlüpfte ein Begriff, der die Situation, in der sich unsere Demokratie befindet, auf den Punkt bringt. Sie sprach von ‚marktkonformer Demokratie‘“

Zugleich haben Sie wohl den gleichen Fehler wie sehr viele naive Anleger gemacht: sich einreden lassen, dass es beides zugleich gibt – hohe Renditen und Sicherheit. Aber auch Spekulieren ist ja Arbeit und setzt eine gewisse Kompetenz voraus, nicht? Schulze: Mag sein, aber dann müssten die Experten ja immer Gewinne machen. Die eigentliche Frage aber ist: Wie verdienen die Banken ihr Geld, mit welchen Geschäften werden meine Zinsen erwirtschaftet? Das halte ich für entscheidend.

„Gemeinwesen“ ist der entscheidende Begriff, den Sie gegen „die Ökonomisierung aller Lebensbereiche“ ins Spiel bringen. Wo funktioniert das überhaupt noch und wo versagt es völlig? Schulze: Es hat ja vergleichsweise gut funktioniert. Aber jetzt fehlt plötzlich überall das Geld. Ich wohne wohl im kinderreichsten Bezirk von Berlin, in Prenzlauer Berg (was nicht immer nur ein Vergnügen ist), aber hier will man jetzt die Bibliothek schließen, die sowieso nur noch von ehrenamtlichen Mitarbeitern geführt wird. Die Grundschullehrerinnen meiner beiden Kinder forderten Eltern oder Großeltern auf, in die Schule zu kommen und beim Lesenlernen zu helfen, weil sie es allein nicht schaffen – und dabei schon für einen Gotteslohn in der sogenannten nullten Stunde Nachhilfeunterricht erteilen. Als Bürger dieses Landes möchte ich nicht, dass Bildung und Gesundheitswesen zu einer Zweiklassenveranstaltung verkommen.

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Und wie lautet Ihre Antwort darauf? Schulze: Aufklärung und Kontrolle. So wie man Lebensmittel prüft, müssen auch solche Zinsangebote geprüft und kontrolliert werden. Es gab in Deutschland zum Beispiel den Fall, dass die staatliche Zusatzrente, die sogenannte Riester-Rente, mitunter auch von Waffenfirmen erwirtschaftet wurde, die nachweislich geächtete Waffen herstellen. Das aufzudecken war eine journalistische Leistung, aber so etwas müsste zertifiziert werden. Die Bank muss sagen: Wir werden da und dort investieren. Da es nicht aus Einsicht passiert, da offenbar die Rendite wichtiger ist als der Hunger oder Hungertod von Millionen von Menschen, muss man handeln. Das verstehe ich unter demokratiekonformen Märkten. Mittlerweile wundern sich doch schon relativ viele über „das befremdliche Überleben des Neoliberalismus“, wie es Colin Crouch ausgedrückt hat. Immer noch zu wenige? Schulze: Ich habe den Eindruck (und natürlich die Hoffnung), dass sich das gerade ändert. Es geht darum, sich selbst als Bürger wieder ernst zu nehmen. Die Medien haben da wie immer eine Schlüsselrolle. Aber mitunter geht es sogar ohne die Medien. Das erste geglückte Volksbegehren in Berlin fand vor einem Jahr statt und leitete de facto die Rekommunalisierung der Wasserbetriebe ein. Dies musste leider gegen einen rot-roten Senat durchgesetzt werden und gegen die völlige Apathie der lokalen Medien. Das Spendenbudget betrug circa 25.000 Euro. Nicht mal die Initiatoren haben unter diesen Umständen an einen Erfolg geglaubt. Aber das Wunder geschah. Nun hat auch endlich das Kartell-

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Ist der „Neoliberalismus“ wirklich an allem schuld? Oder wird er mitunter auch etwas leichtfertig als Spielmarke für alles eingesetzt, was schiefläuft? Schulze: Man braucht sich um diese Begriffe nicht zu streiten. Man sollte nur fragen: mehr Freiheit, mehr Markt, mehr Wohlstand – aber für wen? Die Fragen „Wer verdient daran?“, „Was hat das zur Folge?“, „Wem nutzt das?“ sind unfein geworden, gelten als Ausweis von vulgärem Denken. Die Privatisierung des Wassers ist ebenso absurd wie die des öffentlichen Nahverkehrs oder der Bahn. Dass Ärzte als Unternehmer agieren müssen, ist unsinnig und für das Gemeinwesen letztlich unökonomisch. Erst unlängst habe ich gelesen, dass die Verwaltungskosten bei der einheitlichen Sozialversicherung der DDR bei 0,35 Prozent lagen. Heute liegt dieser Prozentsatz der Krankenkassen bei sieben Prozent. An weiteren Beispielen mangelt es nicht. Es gab noch nie so viel privaten Reichtum und noch nie so viele öffentliche Schulden wie jetzt. Der Staat soll immer nur seine Ausgaben kürzen, was immer die trifft, die ohnedies sehr genau rechnen müssen. Über die Einnahmenseite spricht niemand. Wir retten die Banken und borgen uns dann zu einem sehr viel höheren Zinssatz das Geld wieder von ihnen, das uns fehlt.

Ingo Schulze: Neue Leben. Berlin Verlag, 2005

Ingo Schulze: Unsere schönen neuen Kleider. Hanser Berlin, 2012

Obwohl man zumindest ahnte, dass es nicht stimmt, hat sich die Fiktion erhalten, dass es im westlichen Kapitalismus für gute Arbeit auch halbwegs gutes Geld gibt. Jetzt ist das Phänomen der „working poor“ in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Was bedeutet das für ein Land wie Deutschland, das doch innerhalb der EU noch als Musterschüler gilt und die Hegemonialmacht hat? Schulze: In meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist es eine Minderheit, die im Alter einmal eine Rente über dem gesetzlichen Minimum von 800 Euro haben wird. Die meisten sind davon sogar weit entfernt. Ich habe lange geglaubt, dass das Wort „Suppenküche“ einen historischen Sachverhalt beschreibt, aber die Suppenküchen haben Konjunktur, nicht nur in Griechenland. Eigentlich verstehe ich nicht, warum wir uns das antun, warum wir uns das gefallen lassen. Und je länger man zuwartet, umso eher gerät man in eine schwächere Position.

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Wie könnte denn das Aufbegehren aussehen? Gegen wen müsste es sich richten und wie müsste es organisiert sein? Schulze: Es gibt ja viele Formen, das Gemeinwesen zu verteidigen. Ob es ein Volksbegehren gegen bestimmte Entscheidungen ist oder eine Demonstration oder einer Sitzblockade … Wir könnten uns an den Tschechoslowaken und Chinesen ein Beispiel nehmen und eine Charta 2012 formulieren, für diese Unterschriften sammeln und damit die Politik konfrontieren. Dabei sollte man sich auf vier, fünf Punkte verständigen, die einzufordern naheliegend ist, so wie das 1989 im Osten geschah. F

Schulze ruft auf, sich selbst ernst zu nehmen

☛ Der Moderator :: Huemer über Schulze: Der Schriftsteller als

zorniger Ankläger: „Wer ruiniert die Demokratie? Gegen die Ausplünderung der Gesellschaft“ war unser Thema. Schulze, in der DDR aufgewachsen, hatte mit „Simple Storys“ einen der wichtigen literarischen Texte zum Anschluss der DDR an die Bundesrepublik geschrieben. In seinen Essays und in seinen öffentlichen Auftritten reagiert er wütend auf den Neoliberalismus. Ein empörter Intellektueller – auch in Wien.

kein Vertreter der großen Medien schien das zu bemerken, jedenfalls gab es keine Nachfragen. Sie musste sich nicht mal rechtfertigen. Über Putin regt man sich wenigstens auf, wenn er von „gelenkter Demokratie“ spricht.

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Die Thesen

Punkt 1: Der Westen verschwand

Mein Problem ist nicht das Verschwinden des Ostens, sondern das Verschwinden des Westens unter der Lawine einer selbstverschuldeten Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die Begriffe wie Freiheit und Demokratie zunehmend zum Popanz macht. Punkt 2: Wir brauchen demokratiekonforme Märkte

Man muss sich selbst wieder ernst nehmen. Mir scheint, alles, was in der Welt geschieht, sieht man durch eine Glaswand. Es wirkt so, als sei das vom Markt dominierte System alternativlos, als seien es Sachzwänge und man könne eigentlich nichts daran ändern. Es heißt: „Wir müssen die Märkte wieder beruhigen, das Vertrauen der Märkte gewinnen.“ Wer muss hier was gewinnen? Ich will keine „marktkonforme Demokratie“, ich will „demokratiekonforme Märkte“. Punkt 3: Kein Verlass auf Politiker

Man kann sich nicht auf unsere gewählten Volksvertreter verlassen, sie beten alle diese Wachstumssprüche nach. Sie sind selbst in einer unglaublichen Hilflosigkeit und in einer Gefangenheit, wie ich das in einer anderen Art in der DDR erlebt habe. Wo die Sprache der Apparatschiks, der Nomenklatura, gar nicht mehr in der Lage war, die Wirklichkeit aufzunehmen. So ist das auch jetzt.

16.10.2013 14:41:22 Uhr


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Navid Kermani

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8.11.2012 Der Orientalist über religiösen Analphabetismus und die integrative Leistung des deutschen Fußballs Gespräch: K la u s N ü c h t e r n

zur Eröffnung der Hamburger Lessing-Tage aus dem Jänner 2012; „Über den Zufall“ die fünf Frankfurter Poetikvorlesungen, die der Autor kurz vor Abschluss seines Opus magnum „Dein Name“ im Mai und Juni 2010 gehalten hat. Falter: In Ihrer „patriotischen Rede“ „Vergesst Deutschland“ zitieren Sie zustimmend Lessing, der die Vaterlandsliebe als „eine heroische Schwachheit“ deklariert, „die ich recht gern entbehre“. Was ist denn nun eigentlich das Objekt Ihres Patriotismus, denn die Nation ist es ja deklarierterweise nicht? Navid Kermani: Dass jemand die eigene Stadt, Landschaft, Sprache, Herkunft oder Kultur liebt, erscheint mir nicht nur nicht verwerflich – das ist sicher etwas Positives. Ich denke allerdings, dass sich – etwas pauschal formuliert – die Loyalität gerade in der Kritik an diesem Eigenen erweist, nicht im Stolz und schon gar nicht im Herabschauen auf andere. Außerdem stelle ich den heutigen Begriff der Nation, der sich

erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, als Referenzpunkt für das Eigene infrage. Die Nation lief historisch fast immer auf die Nivellierung von gewachsenen oder auch neu entstehenden kulturellen, sprachlichen, ethnischen oder religiösen Differenzen hinaus und birgt ein enormes Gewaltpotenzial, wie sich das ganze 20. Jahrhundert hindurch gezeigt hat. Wollen Sie die Nationen abschaffen? Kermani: Das nicht, aber ich beharre darauf, dass die Überwindung des Nationalismus, für den das europäische Projekt schon vor den beiden Weltkriegen stand, eine der ganz glücklichen Entwicklungen auf diesem Kontinent ist. Ich gehöre also zu denen, die gerade jetzt für die Transformation der Nationalstaaten zu einer wirklichen politischen Union in Europa streiten. Wäre der deutsche Fußballpatriotismus, der immerhin einer Mannschaft gilt, in der Spieler mit polnischen, spanischen, türkischen, tunesischen oder ghanaischen

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nter den deutschen Intellektuellen ist Navid Kermani eine jener Figuren, die das gern genommene Epitheton „streitbar“ verkörpern. Normalerweise ist dies ein Euphemismus für „störrischer alter Mann“. Aber dafür ist der Schriftsteller, promovierte Islamwissenschaftler und habilitierte Orientalist einfach noch zu jung. Ein beeindruckendes Werk hat der Sohn iranischer Einwanderer dennoch bereits vorgelegt. Das betrifft nicht nur den Umfang seines Romans „Dein Name“, der es immerhin auf stattliche 1232 Seiten bringt, sondern auch die Bandbreite der Themen und Debatten, zu denen sich der in Köln lebende Doppelstaatsbürger äußert – ob es nun um das Gottesbild im Koran, den Multikulturalismus, die US-amerikanische Invasion im Irak oder die in Deutschland recht heftig, um nicht zu sagen: hysterisch geführte Beschneidungsdebatte geht. In letzter Zeit sind von Kermani zwei öffentliche Reden als Bücher erschienen: „Vergesst Deutschland!“ enthält Kermanis Rede

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STADTGESPR ÄCH Zur Person Navid Kermani, 45, wurde als Sohn iranischer Einwanderer in Siegen geboren. Seine islamwissenschaftliche Doktorarbeit erschien unter dem Titel „Gott ist schön“ auch als Buch, 2006 habilitierte er sich in Orientalistik. Mit „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002) legte Kermani einen persönlichen Essay, mit seinem Opus magnum „Dein Name“ einen nicht weniger persönlichen Roman vor. Kermani wurde u.a. mit dem HannahArendt-Preis (2011) und dem Kleist-Preis (2012) ausgezeichnet. Er lebt in Köln und ist mit der Journalistin und Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur verheiratet, mit der er zwei Töchter hat

Der Artikel erschien in Falter 44/2012 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech. at/video/kermani

Wurzeln mitspielen, denn so ganz daneben? Kermani: Bestimmt hat die jetzige Nationalmannschaft aufgrund der Herkunft ihrer Spieler, aber auch aufgrund ihrer Spielweise, in der sich gerade nicht die deutschen Fußballtugenden ausdrücken, zu einem veränderten Selbstverständnis der Deutschen wahrscheinlich mehr beigetragen als viele gutgemeinte Konferenzen und Bücher zusammen. Apropos Fußball: Mit ihrem „Heimklub“, dem 1. FC Köln, der nach dem Abstieg im Mittelfeld der Zweiten Liga herumdümpelt, haben Sie derzeit ja wohl kein leichtes Leben? Kermani: Nein, aber ich tröste mich mit dem Satz Doderers, der nicht nur für Menschen, sondern auch für Fußballvereine gilt: „Denn wir alle wissen’s doch im innersten Gemüte, dass jene, die’s zu was gebracht haben und aus denen was geworden ist, allermeist zu den schlechthin Widerlichsten gehören, damit’s endlich einmal ganz klipp und klar gesagt ist.“

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Selbst dem stillen Nationalstolz eines „ganz normalen“ Deutschland stehen Sie eher reserviert gegenüber und machen gerade in der „nationalen Selbstkritik“ einen Wesenszug der deutschen Literaturgeschichte aus. Mehrheitsfähig wird der aber nicht so bald werden, oder? Kermani: Nein. Wobei ich als Österreicher schon finde, dass ein gewisses selbstkritisches Bedenkenträgertum in Deutschland ohnedies recht weit verbreitet ist. Kermani: Es mag schon sein, dass diese Bedenkenträgerei gelegentlich nervt und dass mit den 68ern hier und dort ein kurioser, mir durchaus suspekter Selbsthass in die politische Kultur eingezogen ist. Aber deswegen wird mir das Gegenteil doch nicht lieber, schon gar nicht in Deutschland, wo wir vom Gegenteil wirklich genug hatten. Und irgendwie mag ich die ewig mit sich und ihrer Nation unzufriedenen Deutschen. Die großen Dichter, unter ihnen auch die Klassiker, die heute

„Gerade im deutschen Sprachraum gehen Kultur und Nation gar nicht zusammen. Gehört Kafka als Prager Jude deutscher Sprache zu Österreich oder nicht?“

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als große Deutsche geführt werden, waren fast alle so. Wir Österreicher artikulieren unseren Patriotismus ja gerne als Stolz darauf, eine „Kulturnation“ zu sein. Wäre das denn überhaupt ein brauchbarer oder auch nur in sich schlüssiger Begriff ? Kermani: Gerade im deutschen Sprachraum gehen Kultur und Nation gar nicht zusammen. Gehört Kafka als Prager Jude deutscher Sprache, der politisch dem Habsburger Reich, dann der Tschechoslowakischen Republik angehörte, zu Österreich oder nicht? Gehören Heimito von Doderer, Thomas Bernhard oder Peter Handke einer anderen Dichtung an als Goethe und Schiller? Sie nach ihrer nationalen Zugehörigkeit zu trennen, erschiene mir lächerlich. Das bedeutet ja nicht, die regionalen Eigenheiten zu verkennen – wobei zu den regionalen Eigenheiten der Österreicher bekanntlich mehr als nur die Kritik, sondern oft schon der literarisch höchst ergiebige Hass auf das Eigene gehört. Den Kafka-Franz nehmen wir als Leihspieler schon noch mit, und die anderen Genannten laufen selbstverständlich für Österreich aufs Feld! Ob der Hass aufs Eigene immer so ergiebig ist, weiß ich nicht. Bleiben Sie bei der Lektüre von Bernhard oder Jelinek denn dauerhaft unerschöpft? Kermani: Sie können ja gern Kafka für sich in Anspruch nehmen, aber dann erlauben Sie mir als Sohn iranischer Einwanderer in Westdeutschland doch, mich auf seine Literatur ebenfalls als etwas Eigenes zu beziehen. Er repräsentiert für mich die deutsche oder meinetwegen deutschsprachige Kultur, der ich angehöre, jedenfalls mehr als alle heutigen Amtsträger. Und was Bernhard und Jelinek betrifft: Kann sein, dass sie einen auch mal erschöpfen, das bringt ihre Manie mit sich – na und? Die Unzufriedenheit mit Österreich ist bei Bernhard, Jelinek und anderen doch offenbar ein wesentlicher Antrieb, aus dem einige der großartigsten Texte der deutschen Nachkriegsliteratur entstanden sind. Manie ist ein gutes Stichwort. Doderer gilt als akribischer Konstrukteur, Jelinek erweckt zumindest den Eindruck, dass sie der Sprache die Zügel schießen lässt. Wie tarieren Sie diese beiden Aspekte aus? Kermani: Ich glaube, dass es grundsätzlich im Schreiben oder jedenfalls in meinem Schreiben darum geht, für die Unmittelbarkeit eine Form zu finden, die selbst natürlich nicht unmittelbar sein kann. An Jean Pauls Ratschlag „entwirf bei Wein, exekutiere bei Kaffee“ werden Sie sich vermutlich nicht halten, Sie werden aber Ihre eigenen technisch-organisatorischen und psychophysischen Verfahren haben? Kermani: Der Prozess verläuft tatsächlich oft so, dass der Entwurf eines Textes – ich will nicht sagen: zwingend rauschhaft, aber doch unkontrolliert, spontan, gewissermaßen „absichtslos“ entsteht. Das ist dann aber meist noch sehr weit entfernt von der endgültigen Fassung, für die ich ganz wach sein muss. Allerdings gibt es dafür keine Regel, manche Bücher sind auch ganz anders entstanden. In Ihren beiden jüngsten Publikationen beziehen Sie sich vor allem auf deutsche Dichter, deren Hauptwerke in die zweite Fortsetzung nächste Seite

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Stadtgespr äch Fortsetzung von Seite 53

Orientalist Kermani: „Den Islam gibt es nicht“

☛ Der Moderator Ein deutscher Schriftsteller mit iranischen Eltern, habilitierter Orientalist, Dissertation mit dem Titel: „Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran“. Titel des AK-Gesprächs: „Aufbruch ins Ungewisse“. Kermani sprach über den Islam und Islamophobie, über den arabischen Frühling, über die hoffnungslose Lage in Syrien und über die Ringparabel in Lessings „Nathan“. Den Islam an sich gebe es nicht, begegnet Navid Kermani dem westlichen Klischee.

::  Huemer über Kermani:

Die Thesen

Punkt 1: Der arabische Frühling war ein Bruch mit den Vätern

Der arabische Frühling ist eine historische Zäsur. Menschen haben aus eigener Kraft ohne fremde Hilfe ihr Leben in die Hand genommen und in einem psychologischen Sinne mit ihren Vätern gebrochen. Man hat es geschafft, gegen Autoritäten zu rebellieren. Diese Zäsur kann man nicht rückgängig machen. Punkt 2: Der Koran wurde niemals wörtlich verstanden

Den Koran gibt es ebenso wenig wie den Islam. Der Koran ist kein geschriebener Text, er ist ein mündlicher Vortrag. Es ist keine inspirierte Rede über Gott, sondern Gott spricht den Koran in der ersten Person. Nur wenn er rezitiert wird, ist Gott im Raum. Der Koran wurde vom ersten Augenblick an interpretiert. Mohammed war sein erster Interpret, er hat den Text zu verschiedenen Anlässen verschieden interpretiert. Laut islamischer Tradition wird darauf beharrt, dass der Koran interpretiert wird. Der Koran wurde niemals wörtlich verstanden. Der geschriebene Text wurde erst lange nach dem Tod des Propheten zusammengebracht und aufgeschrieben, und selbst dann gab es noch viele Varianten des Textes. Punkt 3: Literatur ist dazu da, um unsere Denkmuster aufzulösen

Die Aggressiven, intoleranten Bedroher sind immer die anderen. Der Islam sei böse sagen die einen, der Westen sei böse, sagen die anderen. Man kann beides bejahen, man findet immer Gründe, um das eine oder das andere zu untermauern. Aber es gibt keinen Islam, es gibt nicht den Westen, es gibt nicht das Wien oder das Österreich. Die Realität ist viel komplexer, jeder Mensch ist voller Widersprüche. Literatur hat die Aufgabe, so weit es geht die Komplexität der Wirklichkeit zu zeigen. Literatur ist dazu da, unsere Denkmuster aufzulösen. In diesem Sinne glaube ich an die Kraft der Literatur.

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Hälfte des 18. Jahrhunderts bzw. ins beginnende 19. Jahrhundert fallen. Warum gerade diese Periode? Worin liegt für Sie die spezifische Aktualität von Lessing, Hölderlin oder Jean Paul? Kermani: Es ist schwer, eine ganze Epoche auf einen Begriff zu bringen. Vielleicht nur so viel: Alle drei Genannten und viele andere Dichter dieser Zeit, deren Namen uns noch immer viel bedeuten, verkörpern einen selbstverständlich kosmopolitischen Begriff der Literatur. Und sie gehören einer Zeit an, in der Literatur sich von den Vorgaben der orthodoxen Religion radikal löste, ohne ihre Ausrichtung auf das Christliche oder allgemeiner das Metaphysische schon verloren zu haben. Diese Ausrichtung auf das Metaphysische ist Ihnen sehr wichtig, nicht? Kermani: Das hat natürlich mit meiner eigenen Arbeit, meiner eigenen Prägung zu tun. Der Blick in den Himmel – und sei es, in einen leergewordenen Himmel – ist für die deutsche Literatur bis zum Zweiten Weltkrieg durchaus charakteristisch gewesen, gerade im Vergleich zu den anderen europäischen Literaturen.

„Ich merke, wie der gesamte religiöse Kanon, der ein Wissenskanon ist, komplett wegbricht. Das ist ein Problem für die Kultur und die Gesellschaft insgesamt“

Die Engländer und Franzosen schauen nicht so oft nach oben? Kermani: Ich möchte nicht die ganze Literaturgeschichte auf einen Begriff bringen oder durch ein Merkmal charakterisieren, aber es ist doch offenkundig, dass die deutsche Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts sehr viel stärker von metaphysischen Fragestellungen durchdrungen ist als die französische und angelsächsische mit ihren Traditionen des großen Gesellschaftsromans und des psychologischen Realismus. So wie Hugo und Flaubert nicht für die gesamte französische Literatur stehen, sind sie doch spezifisch französisch. Und auch wenn Hölderlin, Kleist, Kafka oder Thomas Mann nicht repräsentativ sein mögen für die deutsche Literatur, weisen sie doch religiöse Fragestellungen und ganz konkret auch biblische Bezüge auf, die in anderen Literaturen der Moderne und eben auch in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur nicht in dieser Dichte anzutreffen sind. Religion wird in liberalen europäischen Gesellschaften wie der unseren entweder zu einem spirituellen Wellnessprogramm verwässert oder stößt – frei nach dem Motto: „Huch, die glauben ja!“ – auf völliges Unverständnis. Was stört Sie daran mehr: die „metaphysische Blindheit“ oder die Borniertheit dieser Position? Kermani: Mich ärgert im Alltag vielleicht mehr die Borniertheit, aber bedenklicher erscheint mir das andere, dass vielleicht weniger eine Blindheit als ein Analphabetismus, also gesellschaftlich selbstverschuldet ist: die völlige Unkenntnis der eigenen und erst recht der anderen religiösen Traditionen. Ich merke, wie der gesamte ­religiöse Kanon, der ein Wissenskanon ist, aber auch ein Archiv von ästhetischen, also sinnlichen Erlebnissen, komplett wegbricht. Das ist nicht nur ein Problem für die organisierten Religionen, sondern auch eines für die Kultur und für die Gesellschaft insgesamt.

und Verweise nicht angemessen verstanden werden. Für die klassische Musik und etwa die ältere Malerei ließe sich das ebenfalls sagen. Unsere Gesellschaft versperrt sich zunehmend den Zugang zu den eigenen kulturellen Grundlagen. Genau das mag dann auch zu dem idiotischen Überlegenheitsdünkel führen – in Österreich vermutlich genauso wie in Deutschland –, den ich mir oft nur als Produkt von Ignoranz und Unkenntnis zu erklären vermag. Und diese Unkenntnis ist dann eben auch die Voraussetzung dafür, metaphysisch grundierter Weltanschauung mit völligem Unverständnis zu begegnen. Das ist nicht zwingend eine Frage des individuellen Glaubens. Jemand wie Ernst Bloch hat sich als Atheist begriffen, aber von der Religion bestimmt mehr verstanden und auch mehr gewusst als die allermeisten Theologen. Sie haben im Sommer dieses Jahres Sympathie für die Position des katholischen Schriftstellers Martin Mosebach gezeigt, der sich gegen die Sanktionslosigkeit von Blasphemie aussprach und meinte, es würde „das soziale Klima fördern, wenn Blasphemie wieder gefährlich wird“. Pflichten Sie dieser Argumentation wirklich bei? Kermani: In meinem Beitrag für die Süddeutsche Zeitung habe ich ja deutlich geschrieben, wo ich Martin Mosebach nicht folge. Mich haben die Angriffe gegen ihn geärgert, in ihrer Aggressivität sogar erschüttert, die nicht auf eine Zurückweisung dieser oder jener Position hinausliefen, sondern auf seine vollständige moralische und literarische Diskreditierung. Und ich habe mir überlegt, wie diese Angriffe zu erklären sind, und da ist mir eben der Begriff des „Vulgärrationalismus“ eingefallen. Und das Vulgäre dieses Rationalismus bestünde in einer Art utilitaristischer Abgebrühtheit, die nur klare Antworten auf die Frage „Was bringt’s mir?“ akzeptiert? Kermani: Die Haltung muss nicht im Egoismus gründen. Ich meine vielmehr die eklatante Unfähigkeit oder den demonstrativen Unwillen, etwas anderes als das Hier und Jetzt zu sehen.

Navid Kermani: Vergesst Deutschland! Ullstein, 2012

Inwiefern? Kermani: Ein guter Teil der deutschsprachigen Literatur – ob das nun Hölderlin Navid Kermani: ist oder Celan – kann ohne die religiösen, Wer ist Wir? meist natürlich biblischen Konnotationen C.H. Beck, 2009

Ich nehme einmal an, dass das in den letzten Monaten heftig diskutierte Beschneidungsverbot für Sie auch unter „Vulgärrationalismus“ fallen würde? Wenn ja: Hat es damit zu tun, weil es für etwas so „Archaisches“ wie Rituale und symbolische Praktiken überhaupt kein Verständnis mehr aufbringt? Kermani: Teile der Debatte gingen sicher sehr stark in die Richtung. Ich vermute, dass jeder, der das Kölner Beschneidungsurteil kritisiert hat, die Aggressionen, in vielen Fällen sogar die handfesten Drohungen der Beschneidungsgegner zu spüren bekommen hat. Im Übrigen sind Rituale und symbolische Praktiken nicht schon per se archaisch. Inwiefern deckt sich Ihre Kritik am „Vulgärrationalismus“ mit jener, die Horkheimer und Adorno an der „halbierten“ Vernunft zweckrationalen Handelns geleistet haben? Kermani: Klar. Jedenfalls bin ich intellektuell durch und durch mit Adorno sozialisiert worden, sei es mit der „Dialektik der Aufklärung“, sei es mit der „Ästhetischen Theorie“, sei es mit den „Minima Moralia“. Wenn es einen Autor gibt, der in meiner Studienzeit prägend für mich war, ist er es. So altmodisch das heute klingt. F

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STADTGESPR ÄCH Zur Person Karen Duve, 41, ist eine deutsche Schrift stellerin. Ihre literarische Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet. Für ihr Sachbuch „Anständig essen“ probierte sie in einem Selbstversuch verschiedene Ernährungsweisen aus. Duves Erfahrungsbericht regte eine intensive öffentliche Diskussion über unser Essverhalten an Der Artikel erschien in Falter 39/2011 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech.at/ video/duve

Karen Duve Falter: Frau Duve, am Ende Ihres Buches werden Sie sogar Frutarierin. Was sind Sie heute? Karen Duve: Heute lebe ich vegetarisch – wobei es mir nicht auf Vereinszugehörigkeit ankommt. Ich kann nicht ausschließen, dass ich irgendwann wieder Fleisch esse. Dann macht es aber einen Unterschied, ob das einmal im Jahr passiert – oder ob ich sage: „Wenn ich einmal Fleisch esse, bin ich kein Vegetarier mehr und kann genauso gut ständig Fleisch essen.“

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Aber wer einmal im Jahr Fleisch isst, bekommt Lust auf mehr, oder? Duve: Genau. Deswegen lasse ich es auch. Aber falls ich mal eine Reise durch die Mongolei mache, gibt es dort womöglich bloß Hammelfleisch. Es geht mir nicht um Identität, sondern darum, möglichst wenig Leid und Schaden anzurichten.

6.10.2011 Die deutsche Autorin über Massentierhaltung, mongolischen Hammelbraten und banale Entscheidungen im Supermarkt GESPRÄCH: JOSEPH GEPP

Wer anständig essen will, muss vieles bedenken – Anbaumethoden, Artenvielfalt, Herstellungsweise, Herkunft . Wie kann man ohne viel Recherche ein anständiger Esser werden? Duve: Mit Tierquälerei oder Kinderarbeit hergestellte Waren sollten eigentlich gar nicht erst in Supermärkte gelangen. Es ist eigentlich eine Zumutung, dass nicht Politiker, sondern Verbraucher selbst darauf achten müssen, dass sie beim Einkaufen keine Verbrechen unterstützen. Grundsätzlich soll man versuchen, sich mehr Zeit für Einkäufe zu nehmen und sich zu informieren. Eine so wichtige Angelegenheit wie Ernährung verdient Aufmerksamkeit. Lebens- Karen Duve: mittelauswahl im Supermarkt scheint ba- Anständig essen. nal, hat aber Auswirkungen auf Welthunger, Galiani, 2010

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Umwelt und Tierhaltung – und natürlich auf den eigenen Körper.

subventionieren. Bedenken Sie: Die meisten Menschen finden zwar, dass man Tiere grundsätzlich essen darf; gleichzeitig gibt es aber auch einen Konsens, dass man Tiere nicht quälen darf. Niemand würde sich trauen, Tiere bei uns auf der Straße so zu quälen, wie es hinter den Wellblechwänden der Schlachthöfe tagtäglich passiert. In Berlin wurden gerade die Grünen abgestraft , weil sie zu tugendhaft daherkommen sind. Hoch gewonnen hat dafür die rebellische Piratenpartei. Darf man Leuten vorschreiben, gegen Zigaretten, dicke Autos und schlechtes Essen zu sein? Duve: Es stimmt, dass man schnell in den Verdacht gerät, moralinsauer zu sein. Man muss aber unterscheiden zwischen einem moralischen Kanon à la 1950er – und der legitimen Frage, ob mein Verhalten das Wohlbefinden anderer beeinträchtigt oder sogar Lebensraum zerstört. Die Grünen haben Fehler gemacht. Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet – wer über eine Mindestration politischen Überlebenswillen verfügt, kommt vor einer Wahl nicht mit so einem Vorschlag. Die Piraten haben ihren Erfolg aber weniger den Fehlern der Grünen, sondern ihrer Nähe zum Internet zu verdanken. Mit Unmengen an Twitter-Freunden und deren Freunden konnten sie eine Masse mobilisieren, die die Wahl entscheidend beeinflusst hat. F

☛ Der Moderator Das Thema „Anständig essen“ sorgte für einen radikalen Austausch des Publikums. Stammbesucher blieben aus, dafür kamen hunderte Besucher, die ich noch nie gesehen hatte. Auf der einen Seite Abwehr und Scheu angesichts der moralischen Ansprüche, die im Thema stecken, auf der anderen Seite viele, die sich in ihren Überzeugungen und Essgewohnheiten bestätigt wissen wollten.

Welchen Rat würden Sie einem Konsumenten ohne Vorwissen geben? Duve: Je nachdem, was ihm wichtig ist. Wenn er Tieren Qualen ersparen möchte, sollte er vor allem kein Fleisch essen. Wenn er die Klimaerwärmung stoppen will, sollte er darüber hinaus Milchprodukte weitestmöglich reduzieren. Wenig Fleisch und tierische Produkte, das ist der gemeinsame Nenner von vielem. Außerdem: regional kaufen, saisonal und bio.

:: Huemer über Duve:

Der größte Teil der Weltbevölkerung isst, was eine hochindustrialisierte Landwirtschaft hergibt. Ist es nicht nur eine beruhigende Lüge, wenn sich der wohlhabende Wiener seine Kresse auf dem Fensterbrett selber zieht? Duve: Sicher auch. Letztlich muss die Politik das entscheiden. Allerdings können die Konsumenten durch einen Trend zu Biolebensmitteln deutlich machen, was sie von Politikern erwarten. Konsumentenmacht ist letztlich eine sehr direkte Macht, vielleicht wirkungsvoller als wählen.

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as richtige Buch zur richtigen Zeit lieferte Karen Duve Anfang 2011. Als Selbstversuch probierte sie sich ein Jahr durch den vegetarischen, veganen und schließlich frutarischen Ernährungsstil – bei Letzterem isst man nur, was die Pflanze von sich aus hergibt.

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Wie könnte man auch jene zu mächtigen und bewussten Konsumenten erziehen, die beim Lebensmittelkauf auf die Geldbörse schauen müssen? Duve: Es ist ein Mythos, dass konventionell hergestellte Lebensmittel billig sind. Wir alle zahlen hohe Preise über Subventionen. Statt die Landwirtschaft zu subventionieren, sollte das Geld lieber direkt an jene gehen, die knapp bei Kasse sind.

Punkt 2: Fleisch muss teurer werden

Würden Menschen gesünder essen, wenn sie mehr Geld dafür hätten? Duve: Ach was! Gemüse ist doch nicht teurer als Fleisch. Unsere Gesellschaft hat ein Problem mit Überernährung. Selbst konservative Ärzte schätzen, dass die Europäer dreimal so viel Fleisch essen, wie ihnen guttut – diesen Selbstmord mit Messer und Gabel sollte man nicht auch noch

Punkt 3: Nichts spricht fürs Weitermachen

Die Thesen

Punkt 1: Verbrechen durch Unwissenheit

Man weiß, wie die Tiere gehalten werden, aber man weiß es nicht genau. Auch wenn ich Fleisch einkaufen ging, dachte ich, es könne sein, dass die Tiere schlecht behandelt worden sind, aber ich wusste es nicht so konkret. Nach meinem Selbstversuch weiß ich: Die Tiere, die für dieses Fleisch gestorben sind, sind gequält worden. Und zwar alle. Das ist ein richtiges Verbrechen, und ich möchte daran nicht mehr beteiligt sein. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit essen Arme mehr Fleisch als Gutverdiener. Fleisch ist ein Schrottlebensmittel geworden, es ist viel zu billig und muss teurer werden. Wenn Fleisch weiterhin so rücksichtslos hergestellt wird, braucht man sich nicht zu wundern, wenn es sich auch negativ auf den Verbraucher auswirkt – etwa durch Gammelskandale. Wir wissen, dass die Klimakatastrophe wirklich teuer wird und dass sie das Überleben auf diesem Planeten infrage stellt. Unser Gesundheitssystem kollabiert, selbst konservative Mediziner sagen, wir essen drei Mal so viel Fleisch, wie wir essen sollten. Das sind echte Argumente. Es spricht nichts dafür, so weiterzumachen wie bisher.

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lagen statt Kugeln: Das sind die neuen Methoden der Mafia, wenn es um kritische Journalisten geht. Kaum jemand weiß darüber so gut Bescheid wie Petra Reski. Seit 1991 lebt sie in Italien, regelmäßig schreibt sie über die Machenschaften der Mafiosi und räumt dabei mit dem romantisierten Bild des schrulligen Paten auf. Falter: Frau Reski, Sie berichten über die

Mafia. Benötigen Sie bei Ihren öffentlichen Auftritten noch immer Polizeischutz? Petra Reski: Ich informiere die Polizei zumindest darüber, wo meine öffentlichen Auftritte stattfinden. Das ist nach wie vor der Fall. Warum ist das notwendig? Reski: Auf einer Lesung in Erfurt wurde ich von verschiedenen Personen bedroht und erhielt danach auch noch weitere Drohungen. Ganz abgesehen davon, dass man mich mit fünf Prozessen und drei Strafanzeigen zugeklagt hat. Das ist eine Einschüchterungstaktik, in Italien nennt man das: „Einen treffen, um hunderte zu erziehen.“ In Erfurt wurden Sie bedroht? Das liegt ja gar nicht in Italien. Reski: Italien ist auch nicht mein Problem. Dort hat nur einmal Marcello dell’Utri, die rechte Hand von Silvio Berlusconi, gedroht, mich zu verklagen. Was er dann nicht tat. In Deutschland ist das anders: Als Journa-

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27. 9. 2012 Die deutsche Bestsellerautorin über die Mafia, die in Deutschland und Österreich Geschäfte macht G e s pr ä c h : I n grid B r o d n ig

listin bekommen Sie dort ein Problem mit der Mafia, wo Sie über ihre Geschäfte berichten. 2008 erschien mein Buch „Mafia. Von Paten, Pizzerien und falschen Priestern“, in dem es unter anderem um Verstrickungen deutscher Politiker mit der Mafia geht. Da galt es, an mir ein Exempel zu statuieren.

Pizzabäcker behauptet, sein Onkel aus Kalabrien habe es ihm geschenkt. Diese Frage würden deutsche Polizisten aber nicht einmal stellen, da sie nicht „anlassunabhängig“ ermitteln dürfen. Nur wer bereits unter Verdacht steht, ein Verbrechen begangen zu haben, kann von den Wirtschaftsfahndern kontrolliert werden.

Ist die Mafia wirklich so aktiv in Deutschland? Reski: Ja, mindestens seit 40 Jahren. Sie kam im Gefolge der anständigen italienischen Gastarbeiter nach Deutschland, wo sie vom wirtschaftlichen Reichtum und von gesetzlichen Lücken profitiert, die es der Mafia leicht machen, Geld zu waschen.

Deutschland dient also vor allem der Geldwäsche? Reski: Ja. Deswegen ist die Mafia auch daran so interessiert, ihr folkloristisches Bild aufrechtzuerhalten. Solange es keine Toten gibt, glauben die Leute, die Mafia sei nicht aktiv. Die Clans handeln meistens sehr rational. Dazu gehört, kein Aufsehen zu erregen, weder in Deutschland noch in Italien. Die Mafiamorde in Duisburg, bei denen 2007 sechs Menschen erschossen wurden, waren ein Betriebsunfall, der für zu viel Aufmerksamkeit gesorgt hat.

Welche Gesetzeslücken gibt es denn? Reski: Vermutlich die gleichen wie in Österreich. Aber anders als in Italien ist die Zugehörigkeit zur Mafia in Deutschland kein Strafbestand. In Italien reichen bereits Beweise, dass jemand zu einem Clan gehört, um ihn zu inhaftieren. Auch ist die Geldwäsche in Deutschland vergleichsweise einfach. Anders als in Italien, wo der Investor beweisen muss, woher sein Geld kommt, muss in Deutschland die Polizei nachweisen, dass es aus schmutzigen Quellen stammt. Das ist die sogenannte Beweislastumkehr. Nehmen wir einen Pizzabäcker, der 800 Euro verdient und plötzlich eine Pizzeria für 80.000 Euro kauft. Woher kommt dieses Geld? Es reicht, wenn der

Haben wir ein zu romantisches Bild von den Mafiosi? Reski: Absolut. Hollywoodfilme wie „Der Pate“ haben den Mafiosi einen großen Gefallen getan. Es gibt die „Mafia“ als Videospiel und als Partymusik. Und es gab sehr schöne folkloristische Reportagen, in denen ausländische Journalisten vermeintliche Bosse in ihren Verstecken interviewen durften. Reportagen, in denen die Mafia als eine Art „Kulturgut“ dargestellt wurde: singende und tanzende Mafiosi, die sich viel-

Foto: Christian Fischer

Petra Reski

16.10.2013 14:49:46 Uhr


STADTGESPR ÄCH Petra Reski, 55, wurde im Ruhrgebiet geboren und lebt seit 1991 als freie Journalistin und Schrift stellerin in Venedig. In ihren Romanen und Sachbüchern schreibt sie über Italien und immer wieder über das Phänomen der Mafia. Für ihre Reportagen und Bücher wurde die Bestsellerautorin in Deutschland und Italien mehrfach ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Emma-Journalistinnenpreis, den ColumbusAutorenpreis und wurde 2008 zur „Reporterin des Jahres“ gekürt

Der Artikel erschien in Falter 38/2012 und wurde leicht redigiert. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www. wienerstadtgespraech.at/ video/reski/

Sie sprechen sogar von Verbindungen deutscher Politiker zur Mafia. Reski: Die Mafia ist nicht denkbar ohne Verbindungen zur Politik, weder in Italien noch in Deutschland. Ich habe in meinem Buch drei Beispiele dafür gegeben. Zwei davon haben deutsche Gerichte geschwärzt. Petra Reski: Von Kamen

Wieso? nach Corleone. Reski: Zwei - nennen wir sie erfolgreiche, Hoff mann und italienische Unternehmer - haben mich ge- Campe, 2010 klagt. Aufgrund des starken deutschen Persönlichkeitsrechts haben sie es vor Gericht geschafft, diese Passagen schwärzen zu lassen. Das war schon beeindruckend, welche juristischen Geschütze gegen mich aufgefahren wurden. Und das dritte Beispiel wurde nicht geschwärzt? Reski: Genau, es handelt von Günther Oettinger, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, jetzt Energiekommissar in Brüssel. Er pflegte eine du- Petra Reski: biose Freundschaft zu einem kalabrischen Mafia. Geschäftsmann namens Mario Lavorato, Droemer, 2008

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Sie sagen, in Deutschland gibt es Geldwäsche ... Reski: ... und in Österreich genauso. Mir fällt das Beispiel von Senator Nicola Di Girolamo ein, Mitglied von Berlusconis Partei, den die Mafia ins Amt hievte. Der flog mit einem riesigen Geldwäscheskandal auf, in den nicht nur etliche große italienische Unternehmen verwickelt waren, sondern auch österreichische Banken. (Anm.: Laut Ermittlern schleuste Di Girolamo das Geld über 14 Konten bei drei österreichischen Banken ins Ausland.) Das ist wohl kein Einzelfall. Die Mafia mischt auch oft bei öffentlichen Bauaufträgen mit, die europaweit ausgeschrieben werden. Bei Subunternehmern wird selten nachgefragt, warum sie so billig arbeiten können. Wenn 25 Unternehmer um den Auftrag buhlen, wird der mafiöse Unternehmer den Zuschlag bekommen. Die Baumafia hat Geld zur Verfügung wie keiner sonst, überdies zahlt sie weder Steuern noch Sozialabgaben. Jedoch entspricht diese Wirtschaftskriminalität nicht diesem Bild der Mafia, die mordend durch die Straßen zieht. Die Mafia hat schon vor Jahrzehnten erkannt: Mit Geld und guten Worten erreicht man mehr als mit Drohungen und Morden. Hat sie auch ihre Methoden gegenüber Journalisten geändert? Reski: Sagen wir so: Es ist kontraproduktiv, Journalisten umzubringen. Oft reicht es, sie zu bedrohen und sie mit Klagen zu neutralisieren, möglicherweise auch mit politischer Einflussnahme auf Chefredakteure. Viele Journalisten, die über die Mafia schreiben, machen die gleiche Erfahrung: Wenn ein Journalist im großen Stil verklagt wird, werden auch Verleger nachdenklich: „Soll ich mir das wirklich antun? Will ich das durchziehen?“ Letztlich geht es um hohe Prozess- und Anwaltskosten für ein einzelnes Buch oder einen einzelnen Artikel.

leicht hin und wieder gegenseitig umbringen, für uns anständige Bürger aber keine Gefahr sind. Das wirkt alles sehr romantisch, wie seltsame, alte Bräuche. Es soll der Eindruck entstehen, dass die Mafia nur in rückständigen italienischen Dörfern existiert. Derweil waschen die Mafiosi anderswo unbeobachtet ihr Geld.

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der wegen Zugehörigkeit zur Ndrangheta (Anm.: der kalabrischen Mafia) angeklagt und dann mangels Beweisen freigesprochen wurde. Lavorato wurde in Stuttgart wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Dieses Beispiel ist noch in meinem Buch zu finden. Ohne Schwärzung.

In Italien musste Berlusconi als Ministerpräsident zurücktreten. Sehen Sie Grund zur Hoff nung, dass sich Italien noch aus dem Griff der Mafia befreit? Reski: Die Italiener setzen große Hoffnungen in zwei neue Bürgerbewegungen: in die Partei Italia dei Valori, zu Deutsch das „Italien der Werte“, des ehemaligen Staatsanwalts Antonio Di Pietro. Und in die Bürgerbewegung 5 Stelle von Beppe Grillo (Anm.: ein italienischer Schauspieler und Komiker). Es ist für die Mafia ein WorstCase-Szenario, wenn neue Parteien an die Macht kommen - andere als die bestehenden Parteien, mit denen sie sich immer arrangiert hat. Was machen diese beiden Parteien anders? Reski: Beppe Grillo verlangte zum Beispiel, dass alle rechtmäßig verurteilten Politiker egal, wegen welchen Verbrechens - aus dem Parlament entfernt werden. Dort sitzen etliche in dritter Instanz verurteilte, vorbestrafte Politiker. Für Italien ist diese Forderung schon eine Revolution. Natürlich wird die Mafia versuchen, auch die neuen Bürgerbewegungen zu korrumpieren, keine Frage. Aber die Hoffnung aller Italiener liegt jetzt auf ihren Schultern. F

Laut Reski ist Österreich für die Mafia reizvoll

☛ Der Moderator Die organisierte Kriminalität sei in Italien stärker als je zuvor, so lautet eine These von Petra Reski, die in Venedig lebt und in Deutschland als „Reporterin des Jahres“ ausgezeichnet wurde. In unserem Gespräch ging es um die Geschichte der Mafia, ihre alten Riten und um ihre drei großen Organisationen in Italien (Cosa Nostra, ’Ndrangheta und Camorra), um die Ausbreitung in Deutschland und Österreich und um die neuen Geschäftsmethoden. Und natürlich auch um Berlusconi. Reski bezeichnet die Mafia als „Zukunftsprojekt“. :: Huemer über Reski:

Zur Person

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Die Thesen

Punkt 1: Die Paten und die Politik

Für die Mafia ist Macht wichtiger als Geld. Um ihre Macht zu erhalten, braucht sie Unterstützung aus der Bevölkerung. Die Mafia ist nie ein Fremdkörper in der Gesellschaft, sie ist nie Gegenstaat, sondern sie ist präsent im Staat und in der Politik. Dabei hat sie überhaupt keine politischen Präferenzen. Die Linken waren nur so lange gegen der Mafia, solange sie nicht an der Macht waren. Jede Partei arrangiert sich mit ihr. Punkt 2: Die Mafia in Österreich

Die Mafia macht einen Mindestumsatz von 150 Milliarden Euro. Bevor sie das Geld im Ausland investiert, wäscht sie es – auch mithilfe österreichischer Banken. Österreich ist für die Mafia auch deshalb attraktiv, weil sie hier sicher investieren kann und sich nicht rechtfertigen muss, woher das Geld kommt. Neben anderen europäischen Ländern ist deshalb auch Österreich moralisch mitverantwortlich für den Reichtum der Mafia. Die organisierte Kriminalität ist damit kein italienisches Problem, sondern ein europäisches. Sie kann deshalb nur mit Anti-Mafia-Gesetzen und Anti-Geldwäsche-Gesetzen auf europäischer Ebene bekämpft werden. Punkt 3: Wirtschaft sgefahr für Europa

Für viele Menschen ist Geldwäsche etwas Abstraktes und wird wie ein Kavaliersdelikt behandelt, aber es ist alles andere als das. Dank der Geldwäsche hebelt die Mafia den Markt aus. Gegen die enormen Geldsummen der Mafiaorganisationen können anständige Unternehmer nicht konkurrieren. Ein Beispiel: Wird in einem Ort ein Einkaufszentrum gebaut, unterbietet der Strohmann der Mafia den Preis der Konkurrenten und bekommt den Zuschlag. Die Mafia wascht durch dieses Geschäft nicht nur ihr Geld, sondern sichert sich damit auch Einfluss, den sie künftig auch politisch nützen kann.

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F A L T E R

Stadtgespr äch Zur Person Viktor MayerSchönberger, 47, ist ein österreichischer Jurist, Hochschullehrer und Autor. 1986 gründete er die SoftwareFirma Ikarus mit einem Schwerpunkt auf Datensicherheit und entwickelte „Virus Utilities“, eines der am meisten verkauften österreichischen Software-Produkte. Er lehrte in Harvard, forschte in Singapur und unterrichtet heute als Professor an der Oxford University. Der Netzexperte wird gerne von Medien wie der New York Times zitiert

Der Artikel erschien in Falter 41/2013. Das Gespräch mit Peter Huemer steht auf www.wienerstadtgespraech.at/video/ mayer-schoenberger/

Viktor Mayer-Schönberger

Falter: Herr Mayer-Schönberger, die NSA speichert täglich Milliarden von Daten, etwa Telefonate oder E-Mails ab. Einmal abseits aller rechtlichen Bedenken: Kann die NSA so viele Daten überhaupt auswerten? Viktor Mayer-Schönberger: Sie kann. Viele Menschen verkennen aber den eigentlichen Fokus der NSA: Denen geht es nicht primär um den Inhalt einer Nachricht, sondern darum, wer wann mit wem kommuniziert hat – also um die sozialen Beziehungen. Durch das Speichern dieser Information entsteht ein Netzwerk aller Sozialbeziehungen eines Landes. Wenn ich zum Beispiel einen Terroristen herausgreife und

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1.10. 2013

ihn als Knotenpunkt aus diesem Netzwerk ziehe, sehe ich sofort, wer mit ihm in Kontakt stand. Die Geheimdienste können also viel gezielter auf Leute zugreifen.

Viktor MayerSchönberger zählt zu den wichtigsten Vor­denkern in Sachen Internet. Ein Gespräch über den NSA-Skandal und dessen Konsequenzen

Aber das ist nur der Anfang, oder? Der Geheimdienst versucht auch Muster zu erkennen und das Profil eines potenziellen Gefährders zu erstellen. Mayer-Schönberger: Genau, die Geheimdienste suchen nach Mustern von Sozialverbindungen. Nehmen wir an, ein Terrorist hat viele Verbindungen innerhalb einer kleinen Gruppe und diese Gruppe hat wiederum kaum Kontakt mit der Außenwelt. Das ist ein ganz spezielles Muster. Die NSA kann in ihren Datenbanken, also in der gesamten Gesellschaft, nach diesem Muster suchen. Tritt dieses Muster ein weiteres Mal auf, stehen am nächsten Tag zwölf bewaffnete Agenten vor der Tür dieser Person.

G es p r ä c h : I ng r id B r o dnig

Auch dann, wenn diese Person den ursprünglichen Terroristen und seine Zelle gar nicht kennt? Mayer-Schönberger: Genau, in diesem Fall entsprechen die Sozialbeziehungen der Person demselben Muster. Das führt zum Verdacht, dass sie ebenfalls ein Terrorist sein könnte.

Sind wir Menschen so berechenbar?

Mayer-Schönberger: Jein, wir Menschen sind

uns viel ähnlicher, als wir oft glauben wollen. Sonst würden zum Beispiel die Produktempfehlungen von Amazon nicht funktionieren. Wären wir Menschen tatsächlich so individuell, dann könnte uns der Onlinehändler nicht so treffsicher Produkte anbieten, die uns tatsächlich interessieren. Amazon schaut sich an: Kunden, die dieses Buch gekauft haben, kaufen oft auch jenes Buch. Bei der NSA geht es darum: Ich habe mehrere Terroristen gefunden, die eine spezifische Art von Sozialbeziehungen gepflegt haben, wer die genau gleiche Art von Sozialbeziehungen pflegt, ist womöglich auch ein Terrorist. Klappt das wirklich? Mayer-Schönberger: Ja, ich gehe von einer Erfolgsrate von mehr als 50 Prozent aus. Das wirklich Problematische ist, dass diese Tools der Big-Data-Analyse meist gar nicht für Terroristen eingesetzt werden. Wie nun bekannt wurde, lösen das FBI oder die Drogenbehörde DEA ganz normale Fälle damit. Das ist bedenklich, denn Big-Data-Analysen sind ein sehr mächtiges, ein sehr gefährliches Werkzeug. Sie haben ein Buch über Big Data geschrieben. Was ist das denn?

Foto: Christian Fischer

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n China wurde sein neues Buch bereits zum Bestseller, in Österreich erschien es gerade eben am Markt. Viktor Mayer-Schönberger ist einer der weltweit renommiertesten Internetrechtsexperten. Nach einigen Jahren in Harvard und Singapur lehrt er heute an der Oxford University, sein neues Buch erklärt das Prinzip „Big Data“. Dabei werden aus riesigen Datenmengen neue Erkenntnisse gewonnen – nicht nur Amazon und Google nutzen diese Analyse-Tools, auch die NSA tut das. Im Interview erklärt er, wie uns die Geheimdienste überwachen.

16.10.2013 14:51:57 Uhr


STADTGESPR ÄCH ration diesen Apparat noch zurückbauen wird. Dafür sind die Strafverfolgungsbehörden derzeit zu trunken vom Erfolg, den ihnen Big Data beschert.

lichkeit, aus einer großen Anzahl an Datenpunkten neue Einsichten zu gewinnen; Einsichten, die man mit weniger Datenpunkten nicht gewinnen könnte. Problematisch wird das dann, wenn es genutzt wird, um Dynamiken in einer Gesellschaft im Vorhinein vorherzusagen und wir mit riesigen Schritten in Richtung „Minority Report“ gehen.

Im Film „Minority Report“ spielt Tom Cruise einen Polizisten, der Menschen für Straftaten verhaftet, die sie in der Zukunft begehen werden. Glauben Sie echt, dass wir uns dorthin bewegen? Mayer-Schönberger: Ja, in 30 amerikanischen Bundesstaaten wird die Entscheidung, ob jemand auf Bewährung freikommt, bereits mit Hilfe von Big-Data-Analysen getroffen. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, ob jemand nach der Freilassung im nächsten Jahr einen Mord begehen wird. Unzählige Kriterien fließen in die Berechnung mit ein, etwa, wie alt die Person ist, welche Straftat sie begangen hat, aus welcher sozialen Schicht sie stammt.

Wir stehen also vor dem Dilemma, dass Big Data tatsächlich den Behörden hilft? Mayer-Schönberger: Genau. Wir tauschen unsere Freiheiten gegen effizientere Strafverfolgungsbehörden ein. Dabei zeichnet eine liberale Gesellschaft aus, dass sie Freiraum auf Kosten von Sicherheit schafft.

„Wir Menschen sind uns viel ähnlicher, als wir oft glauben wollen. Sonst würden die Produktempfehlungen von Amazon nicht funktionieren“

Damit wird dieser Person der freie Wille aberkannt. Immerhin entscheidet sie nicht selbst, ob sie einen Mord begehen wird, der Computer hat das bereits berechnet. Mayer-Schönberger: Bingo! In so einem Fall können Sie auch nicht mehr ihre Unschuld beweisen. Wie will man denn beweisen, dass man in der Zukunft etwas nicht tun wird? Man ist nicht aufgrund seines Verhaltens schuldig, sondern aufgrund der Vorhersage.

Was nützt da Big Data? Mayer-Schönberger: In der Vergangenheit konnte man die Dosis nicht für jeden einzelnen Menschen berechnen. Mit Big Data können wir das. Heute können wir die DNA sequenzieren oder Enzymwerte in Echtzeit analysieren. Diese Daten sagen ungeheuer viel aus, ob jemand krank wird. Mit Big Data ist es möglich, die Diagnose und Behandlung viel mehr auf den Einzelnen abzustellen. Es ist gar nicht so gewagt, wenn ich sage: Ihre Generation wird deswegen sicher 15 Jahre länger leben.

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Was können wir dagegen tun? Als Europäer hat man oft das Gefühl, dass man sich eh nicht wehren kann. Mayer-Schönberger: Was die Menschheit gebaut hat, kann sie auch wieder zurückbauen. Wir haben bereits 50.000 Nuklearsprengköpfe auf ein paar tausend reduziert, auch im Bereich der NSA und anderer Geheimdienste muss diese unglaubliche Machtinfrastruktur wieder zurückgebaut werden, wir müssen das nur als Gesellschaft wollen.

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Viktor Mayer-Schönberger und Kenneth Cukier: Big Data. Die Revolution, die unser Leben verändern wird. Redline, 2013

Sollten wir Ihrer Meinung nach manche Verwendungszwecke von Big Data gesetzlich verbieten? Mayer-Schönberger: Ja, gerade beim Datenschutz müssen wir die Verwendung von Daten genauer regeln. Wir sollten festlegen, welche Verwendungszwecke zulässig sind, welche nur unter bestimmten Zwecken zulässig sind und was kategorisch verboten gehört. Dass Versicherungen diese Daten heranziehen, um Menschen auszuschließen, ist für mich so etwas. F

Das wird aber vielen nicht behagen. Mayer-Schönberger: Das stimmt. Uns muss aber bewusst sein: Wenn wir stets Risikoverminderung über Freiheit stellen, schränken wir uns damit selbst ein. Das klingt alles erschreckend. Gibt es denn überhaupt Anwendungsbereiche, bei denen Big Data sinnvoll ist? Mayer-Schönberger: Natürlich. Denken Sie nur an unser Gesundheitssystem: Im Moment nehmen wir Medikamente auf Basis des durchschnittlichen Patienten, um genau zu sein: auf Basis des durchschnittlichen männlichen Patienten. Das heißt, jeder von uns ist entweder über- oder unterdosiert, denn keiner von uns ist der Durchschnitt. Sie haben einen anderen Metabolismus, eine andere DNA als ich – und trotzdem nehmen wir beide die gleiche Tablette Aspirin.

Wird dabei nicht Korrelation und Kausalität verwechselt? Nur weil man gewisse Merkmale mit früheren Mördern teilt, muss man nicht automatisch zum Mörder werden. Mayer-Schönberger: Genau, diese Verwechslung ist das Problem. Die NSA könnte Big Data sinnvoll anwenden und schauen: Unter welchen sozioökonomischen Bedingungen entsteht fundamentalistischer Terrorismus? Wenn wir das wissen, könnten wir versuchen, dem entgegenzuwirken. Es ist jedoch ein Missbrauch von Big Data, wenn ich Korrelationen verwende, um über die Schuld oder Unschuld eines einzelnen Menschen zu urteilen.

Sie haben in Harvard unterrichtet, kennen die amerikanische Politik sehr gut. Sehen Sie eine realistische Chance für einen solchen Rückbau? Mayer-Schönberger: Ich bin ein notorischer Optimist. Mit einer gewissen Hoffnung sehe ich, dass an beiden Enden des Spektrums, bei Demokraten und Republikanern, der Unmut wächst. Auch vielen Republikanern aus dem rechten Lager behagt das nicht, weil solche Tools auch gegen die Opposition eingesetzt werden können. Insofern bin ich ein bisschen optimistisch, aber ich bezweifle, dass die Obama-Administ-

Nur, wo ziehen wir die Grenze? Mayer-Schönberger: Pauschalantworten gibt es nicht. Man kann nicht abstrakt sagen, Sicherheit ist immer wichtiger als Freiheit, oder umgekehrt. Wir müssen die Balance finden und uns als Gesellschaft klar darüber sein: Mehr Freiheit heißt auch mehr Risiko. Wenn die Polizei weniger darf, kann es sein, dass dann vielleicht eine Bombe explodiert.

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Zum Beispiel Solidarität mit jemandem, der raucht? Mayer-Schönberger: Oder Solidarität mit jemandem, der als Bluter geboren wurde. Zu dem sag ich auch nicht: Sorry, hast a Pech gehabt, gehst halt sterben!

Ich hätte eher Angst, dass ich keine Krankenversicherung mehr bekomme, weil ich das falsche Verhaltensmuster aufweise. Mayer-Schönberger: Richtig, das ist die Dystopie. In Wahrheit gibt’s zwei Enden des Spektrums: Gesundheitsdaten werden für wirtschaftliche Zwecke genutzt, damit Versicherungen etwa Leute ausschließen können, die viel Geld kosten. Allerdings kann ich dieselben Daten auch in der Forschung verwenden und damit bessere Behandlungen entwickeln. Heute verwenden wir die Daten in erster Linie, um Geschäftsmodelle effizienter zu machen. Aber man sollte sich sehr genau überlegen, ob wir den Versicherungen das erlauben wollen. Ich denke nicht. Für mich bedeutet eine kollektive Krankenversicherung, dass wir weitgehend blind sind gegenüber den Risiken oder genetischen Dispositionen Einzelner. Auch hier gilt: Eine freie Gesellschaft muss Risiken zulassen. In diesem Zusammenhang bedeutet Freiheit Solidarität.

Mayer-Schönberger über die Daten-Macht

☛ Der Moderator

:: Huemer über Mayer-Schönberger: Er analysierte die Gefahren der globalen Datenvernetzung, sah aber auch große Chancen – nicht nur in der Medizin und anderen Wissenschaften, sondern auch für unser tägliches Leben. Wir werden lernen müssen, neu zu denken: Anstelle der Kausalität entscheidet die Datenmenge, die uns sagt, was, und nicht, warum. Allerdings bedroht Big Data auch unsere Freiheit – das Risiko ist enorm.

Mayer-Schönberger: Big Data ist die Mög-

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Die Thesen

Punkt 1: Datenexplosion durch Digitalisierung

Nur digitale Information kann einfach und schnell analysiert und weiterverarbeitet werden. Im Jahr 2000 waren noch drei Viertel der Information in der Welt analog. Heute ist nur noch ein Prozent analog; 99 Prozent sind digital. Die gesamte Informationsmenge auf der Welt hat sich in den vergangenen 20 Jahren verhundertfacht! Punkt 2: Das Was verdrängt das Warum

Aufgrund von Big Data fallen Entscheidungen. Zwar versuchen Menschen die Welt zu verstehen, indem sie nach Ursachen suchen, aber Big-Data-Analysen geben kein Warum. Die Daten offenbaren uns stattdessen Korrelationen – also das Was. Man weiß etwa, an welchem Tag es am günstigsten ist, einen Flug zu buchen – aber nicht, warum. Punkt 3: Über Privatsphäre entscheiden andere

Mein Datenschutz und meine Privatsphäre sind nicht mehr nur von mir selbst abhängig, sondern zunehmend auch von den Menschen um mich herum. Ein Beispiel: Die DNA von Familienmitgliedern ist sehr ähnlich, sie unterscheidet sich nur in wenigen Bereichen voneinander. Wenn mein Bruder seine DNA sequenzieren lässt und in eine Datenbank gibt, bin auch ich erfasst.

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Stadtgespr äch

Anthony Atkinson Falter: Herr Atkinson, Sie haben Ihr

ganzes Berufsleben der Erforschung von Armut und Reichtum, von sozialer Gleichheit und Ungleichheit gewidmet. Was fesselt Sie so sehr an dem Thema? Anthony Atkinson: Ich bin einfach besorgt über die große Ungleichheit, die wir auf der Welt erleben müssen. Aber das ist auch nur

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22.1.2013 Der britische Ökonom erforscht die Ungleichheit, um sie zu bekämpfen Gespräch: W o l fga n g Z wa n d e r

die halbe Wahrheit. Es gibt zwei Hauptgründe, warum man über Ungleichheit besorgt sein kann. Erstens: Ungleichheit hat negative Effekte. Neben der Instabilität in der Wirtschaft hängen auch viele soziale Probleme mit der Ungleichheit zusammen. In ungleicheren Gesellschaften gibt es mehr Krankheitsfälle, mehr übergewichtige Menschen, mehr Verbrechen, mehr illegale Drogen und Kinder schneiden schlechter in der Schule ab. Und der zweite Grund? Atkinson: In einer guten Gesellschaft gibt es keine exzessive Ungleichheit. Das heißt nicht, dass alle gleich sein sollen, aber es sollte keine zu große Ungleichheit geben. In Großbritannien verdienen Vorstandsvorsitzende 200 mal soviel wie der durchschnitl-

liche Arbeiter und vierhundert mal so viel wie Mindestgehalt-Bezieher. In Großbritannien erhielt das reichste Prozent ein Drittel das Einkommenszuwachs in den letzten Dekade. Da geht es um soziale Gerechtigkeit. Ungleichheit ist also an sich schlecht, das ist der zweite Grund. Für mich ist er sogar noch wichtiger, denn ich bin ein AntiUngleichheits-Egalitarist. Sie wären also auch gegen Ungleichheit, wenn sie keine negativen Konsequenzen für die Gesellschaft hätte? Atkinson: Jede Gesellschaft hat ein Idealbild von sozialer Gerechtigkeit, und das ist auf der ganzen Welt damit verbunden, dass zu große Ungleichheit unter den Menschen abgelehnt wird. Das Volk hat einen feinen Sinn für solche Sachen.

Foto: Christian Fischer

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ir Anthony Atkinson wollte eigentlich Mathematiker werden. 1963 wurde er jedoch in Hamburg, wo er als Hilfspfleger jobbte, mit Armut und Elend konfrontiert. Daraufhin widmete er sein Leben der Erforschung von sozialer Ungleichheit und inskribierte Soziologie und Wirtschaft in Oxford. Für seine wissenschaftlichen Leistungen wurde Atkinson vielfach ausgezeichnet. Er ist 18-facher Ehrendoktor.

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STADTGESPR ÄCH Anthony Atkinson, 69, ist Senior Research Fellow am Nuffield College in Oxford, dessen Rektor er von 1994 bis 2005 war. Atkinson, der zum Ritter geschlagen wurde und 18 Ehrendoktorate erhielt, ist Centennial Professor an der London School of Economics und war Präsident der britischen Royal Economic Society, der Econometric Society, der European Economic Association, und der International Economic Association. Er arbeitete als Berater in hochrangigen britischen Kommissionen sowie für den französischen Premier und den EU-Ministerrat. Das Atkinson-Maß für Ungleichheit wurde von ihm entwickelt

FOTO: CHRISTIAN FISCHER

Der Artikel erschien in Falter 03/2013 und wurde ergänzt und leicht redigiert. Das Gespräch mit Rosa Lyon steht auf www.wienerstadtgespraech.at/video/ atkinson/

Seit Jahren erleben wir nun, dass die Armen ärmer und die Reichen reicher werden – die Schere geht auseinander. Trotzdem scheint die große Mehrheit das eher resignierend hinzunehmen, anstatt sich aufzulehnen. Warum? Atkinson: Das ist nicht ganz richtig. Ich glaube, dass der Widerstand gegen die wachsende Ungleichheit gerade beginnt. Die Lücke zwischen oben und unten hat ein Ausmaß angenommen, das in der Öffentlichkeit nicht mehr übersehen werden kann. So erklärte zum Beispiel Christine Lagarde, die Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), beim Jahrestreffen von IWF und Weltbank, dass die Bekämpfung der globalen Ungleichheit zu einer ihrer drei Topprioritäten in den kommenden Jahren zählt. So eine Aussage habe

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ich noch nie zuvor von einem IWF-Chef gehört. Was kann eine Gesellschaft tun, um mehr Gleichheit zu schaffen? Atkinson: Meiner Meinung nach muss man die Frage so stellen: Wann hatten Gesellschaften in der Vergangenheit Erfolg darin, Ungleichheit zu bekämpfen? Einige Antworten darauf können uns nicht gefallen – so ist zum Beispiel die Gleichheit während des Zweiten Weltkriegs angestiegen. Interessanter für uns ist aber die Phase nach 1945. Während der Nachkriegsperiode hat man die Ungleichheit in Europa erfolgreich mit progressiver Besteuerung und dem breiten Aufbau eines Wohlfahrtsstaats bekämpft. Warum hat das damals funktioniert? Atkinson: Die Krise der 1920er- und 1930erJahre war in den Köpfen der Wähler und Politiker noch präsent. Der politische Mainstream stand 1945 im Zeichen der Stimmung, dass Ungleichheit gefährlich ist. Ab welchem Punkt wird Ungleichheit zur Gefahr für das politische System? Atkinson: Gefährlich wird es meiner Meinung nach dann, wenn Ungleichheit die Politik zu bestimmen beginnt. Im Jahr 1895 sagte der US-Senator Mark Hanna, zwei Dinge seien wichtig in der amerikanischen Politik: „Das erste ist Geld. Was das zweite ist, habe ich vergessen.“ Heute sind seine Worte aktueller denn je. Man muss sich vor Augen halten, dass Barack Obama gegen Mitt Romney nur deshalb gewonnen hat, weil er ein absolut ungewöhnlicher Kandidat war und auf viele kleine Spenden und ein Heer von ehrenamtlichen Unterstützern setzen konnte. Andernfalls hätten der uncharismatische Romney und seine reichen Unterstützer die Wahl einfach gekauft. Wie ließen sich solche Entwicklungen zurückdrängen? Atkinson: Wir müssen einfach wieder eine effektivere Besteuerung einführen und dem Kredit- und Hypothekenunwesen ein Ende bereiten, mit dem sich die Masse ihren Konsum auf Pump finanziert, was am Ende erst nur wieder die Reichen reicher macht und die Armen ins Elend stürzt. Sie sagen das so leicht, eine „effektive Besteuerung einführen“. Gleicht das Kapital nicht einem scheuen Reh, das vor seinen Jägern in Richtung Steuerparadies flüchtet und sich dort nicht fangen lässt? Atkinson: Mit dem von George W. Bush initiierten Krieg gegen den Terror ist viel mehr globale Informationstransparenz entstanden, was etwa dazu führte, dass die Schweiz, wo Reichen beim Steuerbetrug geholfen worden war, zunehmend unter Druck gerät. Wenn es politisch forciert würde, könnte hier einiges erreicht werden. Wie viel Steuern sollte Ihrer Meinung nach die höchste Einkommensklasse in einer Gesellschaft zahlen? Atkinson: 40 Prozent wie in Großbritannien oder gar noch weniger, wie in den USA, sind viel zu wenig. Die höchste Einkommensklasse sollte an die 50 Prozent zahlen.

Anthony Atkinson und Thomas Pikett y (Hg.): Top Incomes. Oxford University Press, 2010

In Österreich zahlt man für jährliches Einkommen, das über 60.000 Euro liegt, 50 Prozent Steuern. Atkinson: Das ist vielleicht ein Grund, warum es Österreich in der Krise viel besser ergeht als Großbritannien. F

Atkinson: Ungleichheit kann beseitigt werden

☛ Die Moderatorin :: Lyon über Atkinson: Es ist nicht nur sein distinguierter Akzent oder sein Adelstitel, Sir Anthony Atkinson ist durch und durch Brite. Nur in einem Punkt nicht. Wenn es um die Verteilung zwischen Reich und Arm geht, dann bleibt der renommierte britische Ökonom nicht vornehm zurückhaltend. Die Politik wiederhole gerade die Fehler aus den 1930er-Jahren, mahnte Atkinson in seinem Vortrag über die gerechte beziehungsweise ungerechte Verteilung von Geld.

Zur Person

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Die Thesen

Punkt 1: Armut schließt gesellschaftlich aus

Armut wirkt sich in reichen Gesellschaften so aus, dass es Armen nicht zur Gänze möglich ist, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ein Beispiel: Heute ist es für Kinder wichtig, einen Computer zu haben, sonst haben sie Probleme in der Schule. Arme Erwachsene haben wiederum Nachteile auf dem Arbeitsmarkt. Das unterscheidet die Gruppe der Armen von anderen Teilen der Gesellschaft. Das Argument, dass Ungleichheit gut für die Motivation von armen Menschen sei, weil sie an Reichen sehen könnten, was man erreichen könne, stimmt nicht. Denn erfolgreiche Leute hatten in der Vergangenheit meist andere Antriebe als nur Geld. Punkt 2: Die Welt wird nicht überall ungerechter

Die pessimistischen Ausblicke, dass die Welt immer ungerechter wird, teile ich nicht ganz. Mit der industriellen Revolution begann sich die Schere zwischen Reich und Arm zu öffnen. Jetzt sehen wir, dass ärmere Länder aufholen. In Ländern wie Chile oder Brasilien, wo die Ungleichheit historisch hoch war, wird sie reduziert – von einem hohen Niveau ausgehend. Nicht alle Zeichen sind also negativ. Punkt 3: Wir können die Welt gerechter machen

In der Vergangenheit wurde in den OECDStaaten die Ungleichheit bedeutend reduziert, im 20. Jahrhundert sank in den meisten Ländern der Anteil der Höchstverdiener über lange Zeit. Das spiegelte den Einfluss der progressiven Einkommens- und Reichensteuer wider. Es spiegelte ebenso die Senkung von Armut durch sozialen Schutz und den Wohlfahrtsstaat wider. Diese Politik hatte einen Effekt. Ungleichheit ist also kein natürliches Phänomen, über das wir keine Kontrolle haben. Wir haben es in unserer Hand; wenn wir Ungleichheit bekämpfen wollen, können wir das tun. Aber derzeit wiederholen wir die Fehler der Politik aus den frühen 1930er-Jahren.

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Stadtgespr äch

„Führen wir ein Stadtgespräch …“

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Fotos: Christian Fischer

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16.10.2013 14:54:37 Uhr


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Zuerst präsentieren Gäste ihre Werke, danach stellen sie sich den Fragen des Moderators Peter Huemer und zuletzt auch denen des Publikums. Die informelle Fortsetzung folgt im Foyer des AK-Bildungszentrums

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André Heller Michael Haneke Marlene Streeruwitz Frank Schirrmacher Peter Sloterdijk Petra Reski Alice Schwarzer Franz Schuh

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FOTOS: CHRISTIAN FISCHER

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Bild:shutterstock

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