FALTER
Nr. 11a/15
Bücher-Frühling 2015 60 Bücher auf 48 Seiten
ILLUSTR ATION: ANNA HAZOD
Wie geht’s den Autoren? Bernhard Strobel, Olga Flor, Gustav Ernst reden +++ Rezensionen: Berg, Rubinowitz, Fritsch +++ Buchhandlung: Manuel Rubey über das Buchkontor +++ Kinderbücher: lustig und unkorrekt +++ Philosophie & Pädagogik: Plädoyer fürs Erwachsenwerden und Lernen +++ Religionskritik: Adolf Holl im Interview +++ Weiters: Geld, Sex, Smalltalk
Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2490/2015
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i n h a l t Illustrationen
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Editorial
Liebe Leserin, lieber Leser!
Anna Hazod Die gebürtige Oberösterreicherin ist selbständige Grafikdesignerin und Illustratorin. Nach Aufenthalten in Portugal und Deutschland lebt sie in Wien
Besprochene Autoren Literatur Beňová, Jana 16 Berg, Sibylle 18 Brandt, Jan 18 Brussig, Thomas 29 David, Christian 25 Dickinson, Emily 21
Ernst, Gustav 7 Fine, Anne 29 Flor, Olga 8 Fritsch, Valerie 14 Hoogstad, Alice 29 Kennedy, A.L. 15 KiŠ, Danilo 19 Kuhl, Anke 28 Louis, Édouard 22 Lustiger, Gila 25 Matios, Maria 22
Matthies, Moritz 28 Osang, Alexander 17 Polgar, Alfred 10 Rein, Heinz 20 Roher, Michael 29 Rubinowitz, Tex 9 Schuberth, Richard 11 Sheppard, Sarah 29 Stark, Richard 24 Steiner, Wilfried 14 Strobel, Bernhard 8
Liter atur
Das große Autoreninterview Gustav Ernst, Olga Flor und Bernhard Strobel über Freud und Leid der freien Schriftsteller Zur unmöglichen Aussicht Neuer Roman von Gustav Ernst Ich in Gelb Olga Flor ist unter die Bloggerinnen gegangen Ein dünner Faden Bernhard Strobels neue Erzählungen Irma Tex Rubinowitz legt das Buch zum Bachmannpreis vor Versuch gegen Doderer Eine Studie von Stefan Winterstein Marlene Alfred Polgars spät entdecktes Porträt der Dietrich Chronik einer fröhlichen Verschwörung Der ambitionierte Erstlingsroman von Richard Schuberth Buchkontor Manuel Rubey über seine Lieblingsbuchhandlung Luftschacht Verlag Verleger Jürgen Lagger im Porträt Die Anatomie der Träume Wilfried Steiners neuer Roman Winters Garten Das Suhrkamp-Debüt von Valerie Fritsch Der letzte Schrei Ein Erzählband von A.L. Kennedy Der leuchtend blaue Faden Grandioser Roman von Anne Tyler Low & Abhauen Boris Pofalla und Jana Beňová haben
Romane über junge Leute von heute und Eskapismus am Start
Das gibt’s in keinem Russenfilm & Comeback Thomas Brussig und Alexander Osang lässt die DDR nicht los Der Tag, als meine Frau einen Mann fand von Sibylle Berg Tod in Turin Eine moderne italienische Reise mit Jan Brandt Geburtsturkunde Die Lebensgeschichte von Danilo Kiš Finale Berlin Heinz Reins Roman über die letzten Kriegstage Sämtliche Gedichte der großen US-Dichterin Emily Dickinson Mitternachtsblüte Die ukrainische Autorin Maria Matios Das Ende von Eddy Édouard Louis befreit sich von sich selbst The Hunter Der Parker-Krimi von Richard Stark neu übersetzt Die Schuld der anderen Fast ein Krimi von Gila Lustiger Sonnenbraut Neuer Thriller von Christian David Kinderbuchmacherin Verlegerin Dorothea Löcker im Porträt Lehmriese lebt! Ein cooler Comic von Anke Kuhl Dickes Fell Moritz Matthies’ freche Erdmännchen-Krimis Kinderbuch bunt Vier Kurzrezensionen und eine Vorlesehilfe
Das Reden über Bücher konzentriert sich immer mehr auf eine Handvoll Bestseller. Im Bücher-Frühling erfahren Sie, welche Werke es mindestens genauso verdienen, gelesen zu werden. Und wie österreichische Autoren über ihren Beruf und den Zustand des Literaturbetriebs denken. Erstmals gibt es auch eine Strecke mit Kinderbüchern. Außerdem beginnen wir eine Serie über die besten Buchhandlungen des Landes. Im Sachbuch ermuntert Susan Neiman zu einem lebenslangen und lustvollen Lernen inklusive Ablenkung. Adolf Holl spricht im Interview über Religion und Gewalt. Weiters finden Sie Grundlegendes zu Themen wie Geld, Freiheit und Privatheit, aber auch Lustvolles wie Gärten, Sex und Smalltalk.
Schöner wär’s, wenn’s schöner wär
K IR STIN BR EITENFELLNER S eb a sti a n f a sth u ber
Thompson, Mark 19 Tyler, Anne 15 Winterstein, Stefan 10
Sachbuch Blumenberg, Hans 45 Busse, Tanja 38 Carey, Benedict 31
Comte-Sponville, A. 42 Durnová, Anna 43 Figes, Orlando 37 Frischmuth, Barbara 45 Haring, Robin 42 Höffe, Otfried 40 Holl, Adolf 32 Kim, Anna 41 Laufer, Peter 38 Mancuso, Stefano 44 Metzger, Rainer 43
Neiman, Susan 31 Obrist, Hans Ulrich 41 Rosenberg, Jonathan 34 Schivelbusch, W. 39 Schmidt, Eric 34 Schönburg, A. v. 46 Tantner, Anton 35 Türcke, Christoph 40 Windrow, Martin 39 Winkler, Heinrich A. 36 Wurst, Conchita 46
Sachbuch
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Philosophie & Pädagogik Susan Neiman und Benedict Carey
über das Erwachsenwerden und lebenslanges Lernen 30–31 Religionskritik Ein Interview mit Adolf Holl über Religion und Gewalt, Hitler und Hinduismus 32–33 Internet Alles über Google, von seinen Managern erklärt 34 Mediengeschichte Fragämter und Adressbüros waren die Vorläufer von Suchmaschinen 35 Geschichte Heinrich August Winkler schließt seine 36 monumentale vierbändige Geschichte des Westens ab Geschichte Orlando Figes erklärt die Sowjetunion – und Putins Russland-Träume 37 Ökologie Biolabels und Massentierhaltung unter der Lupe 38 Biologie Martin Windrow liebt seinen Waldkauz Mumble 39 Konsum Wolfgang Schivelbusch versteht den 39 übermäßigen Konsum als Konsumtion Wirtschaft Christoph Türcke legt eine formidable 40 philosophische Geschichte des Geldes vor Philosophie Otfried Höffe denkt über die Freiheit nach 40 Kunstbetrieb Hans Ulrich Obrist ist Kurator 41 Essay Anna Kim reflektiert über Öffentlichkeit und Privatheit 41 Medizin Robin Haring erforscht das Testosteron 42 Philosophie André Comte-Sponville begibt sich auf die Spuren 42 der Sexualität Geschichte Rainer Metzger legt eine Geschichte der Städte und ihrer Protagonisten und Flaneure vor 43 Medizingeschichte Anna Durnová über Ignaz Semmelweis 44 Biologie Stefano Mancuso findet Pflanzen intelligent 44 Lebenskunst Barbara Frischmuth gärtnert wieder 45 Philosophie Nachgelassene Schriften von Hans Blumenberg 45 Biografie Conchita Wurst stellt ihre erste Autobiografie vor 46 Lebenskunst Alexander von Schönburg liebt Smalltalk 46 Essen Armin Thurnher verkostet neue Kochbücher 47
Impressum Falter 11a/15 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Sebastian Fasthuber Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl; Korrektur: Rainer Sigl, Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das
Das Fest des Windrads ist ein Roman über die naive Landlust der Städter, die trügerische Genügsamkeit der Provinzler und die Suche nach dem richtigen Leben am vermeintlich falschen Ort. »In leichtfüßigem Ton gehaltene Gegenwartsanalyse, die zwischen Tragödie und Komödie gekonnt zu changieren weiß.« ORF
ISABELLA STRAUB »Das Fest des Windrads« Roman Gebunden, 348 Seiten € [D] 19,00 / € [A] 19,60 / SFR 27,50
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liter atur
„Hauptsache, es ist eine Bletschn“
Die österreichischen Autoren Gustav Ernst, Olga Flor und Bernhard Strobel über ihre Lebensumstände, den Siegeszug der Wohlfühlliteratur am Buchmarkt und den unkritischen Zeitgeist
Falter: Wie lebt es sich als freier Schriftsteller in Österreich? Bernhard Strobel: Ich habe das Glück, vom Schreiben leben zu können. In den letzten Jahren kam das Geld vor allem von den Übersetzungen aus dem Norwegischen, die ich gemacht habe. Was man auch sagen muss, ist, dass es in Österreich ein tolles Fördersystem gibt. In anderen Ländern ist das nicht so. Aber im Hintergrund habe ich immer die Angst, irgendwann könnte es sich mit den Stipendien aufhören, weil die doch, und zu Recht, bevorzugt an jüngere Autoren vergeben werden. Gustav Ernst: Da kann ich dich beruhigen. Dem ist nicht so. Strobel: Trotzdem kommen öfters Existenzängste auf. Noch dazu habe ich ein Kind. Was mache ich, wenn mir einmal nichts mehr einfällt? Meine Frau hat zum Glück einen fixen Job, das hilft. Aber ich kenne auch viele Autoren, die mit Autoren oder anderen Künstlern zusammen sind. Das stelle ich mir ganz schwierig vor, weil man nie weiß, was am Monatsende sein wird. Ernst: Meine Frau Karin Fleischanderl ist auch freischaffend. Ich kenne das und befinde mich immer noch in dieser prekären Situation. Seit 1970 lebe ich auf die eine oder andere Weise von Literatur oder vom Schreiben. Ich gehöre zu den wenigen Autoren, die das seit so langer Zeit hauptberuflich machen. Es funktioniert, aber man muss immer dranbleiben, einen gewissen Optimismus pflegen und darf sich keine großen Pannen leisten. Olga Flor: Dem stimme ich zu. Und zum guten Förderungssystem möchte ich sagen: Ohne dieses System gäbe es die österreichische Literatur einfach nicht mehr. Nicht in dieser Breite.
Frau Flor, Sie haben lange zwei Berufe gehabt. Flor: Ich habe früh zu schreiben begonnen und eine Zeitlang auch bei einer Literaturzeitschrift mitgemacht. Da habe ich viele Einsendungen gesehen, bei denen ich mir gedacht habe: So etwas möchte ich nicht machen. Ich möchte mich lieber zuerst er-
Zur Person Gustav Ernst, Jg. 1944,arbeitete ab 1969 als Redakteur der Literaturzeitschrift Wespennest. Sein erstes Buch „Plünderung“ erschien 1970. Der Wiener schreibt Prosa und fürs Theater. Zuletzt erschienen die Romane „Beste Beziehungen“ und „Grundlsee“
Zur Person Olga Flor, Jg. 1968, wuchs in Wien, Köln und Graz auf. In Graz studierte sie Physik und Kunstgeschichte. Ihr erster Roman, „Erlkönig“, erschien 2002, zuletzt 2012 „Die Königin ist tot“. Mit dem neuen Werk „Ich in Gelb“ wechselte sie vom Zsolnay Verlag zu Jung und Jung
Wie geht es sich jetzt aus? Flor: Es geht so irgendwie. Was alle Verlage immer sagen, stimmt: Das Geschäft wird härter. Viele Autoren suchen sich einen Brotjob. Ich bin noch nicht so weit. Irgendwann wird sich die Frage nach dem Job aber ohnehin nicht mehr stellen, weil ich dann zu alt dafür bin, einen zu kriegen. Beim Erscheinen eines neuen Romans frage ich mich: Wird der vollkommen? Solche Gedanken plagen einen. Es steckt ja viel Arbeit drinnen. Strobel: Das Schöne ist, dass man doch immer wieder was zurückkriegt. Zum Beispiel durch aufmerksame Rezensionen. Bei den großen Stapeln in den Buchhandlungen, diesen Unmengen von Büchern, frage ich mich schon manchmal: Warum soll ich da noch etwas dazuschreiben? Und jeder dieser Autoren will ja seine Aufmerksamkeit. Aber es ist nicht umsonst. Flor: Ich fühle mich von der Kritik im Allgemeinen auch sehr ernst genommen. Die meisten Rezensionen meiner Bücher waren sehr fundiert. Ernst: Am schönsten finde ich direkte Begegnungen mit Lesern, und wenn die einem ihre Leseerlebnisse beschreiben. Dann vergisst man, dass man statt 100.000 Stück nur 3000 oder 5000 verkauft. Macht es immer noch einen Unterschied, ob man als Frau oder Mann die literarische Bühne auftritt? Flor: Natürlich. Ich darf eine Anekdote erzählen. Ein Journalist hat mich gefragt: „Wenn ich Ihre Biografie mit einem anderen Schriftsteller mit naturwissenschaftlicher Ausbildung vergleiche: Warum wird der Mann als Genie bezeichnet und Sie nicht?“ Was soll ich darauf sagen? Abgesehen davon, dass ich mit dem Begriff Genie nichts anfangen kann, gibt es Rollen, die nur für Männer vorgesehen sind. Zum Beispiel die des alten Mannes, der poltern darf. Für alte Frauen gilt das weniger. Wie groß der Markt für die kritische Autorin mittleren Alters ist, ist eine andere Frage. Aber es kämpfen alle, die sich in ihrer Literatur bemühen, eine eigene Stimme zu finden. Sie drei stehen für eine anspruchsvolle, aber auch unterhaltende Literatur. Wo stehen Sie mit Ihren Texten am Buchmarkt?
Flor: Am Rand. Der Markt verlangt nur
mehr nach Wohlfühlliteratur. Alles andere wird marginalisiert. Es wird damit nicht nur die kritische oder anspruchsvolle Literatur marginalisiert, sondern es trifft auch auf die Personen zu, die sie verfassen. In den letzten Jahren hat sich das zugespitzt. Es gibt nur mehr einen Peak bei der Unterhaltungsliteratur, alles andere bricht immer mehr weg. Das ist auch verständlich. Je härter der Überlebenskampf wird, desto weniger will man sich damit auseinandersetzen. Aber es wäre auch umso wichtiger, sich damit auseinanderzusetzen. Strobel: Ich bediene sicher nicht die große Masse. Wenn mein Verlag entscheidet, dass er nur mehr Mainstream-Literatur macht, werde ich wahrscheinlich keinen Platz mehr haben. Dass der Buchmarkt so funktioniert, weil die ganze Wirtschaft so funktioniert, finde ich ja noch erklärbar. Was mich wirklich stört, ist, wenn selbst andere Autoren sagen: „Was, du bist bei Droschl? Willst du nicht zu dem und dem Verlag gehen?“ Oder: „Was schreibst du grad? Nicht, sag, schon wieder Erzählungen?“ Das stört mich. Wenn der Leser, der immer große Romane vorgesetzt bekommt, keine kleine Erzählungen schätzt, kann ich ihm gar nicht böse sein. Aber wenn es die eigenen Kollegen so halten, bin ich etwas beleidigt. Herr Ernst, Sie bewegen sich seit 45 Jahren im Literaturbetrieb. Wie hat er sich in der Zeit verändert? Ernst: Eigentlich hat es erst mit Kreisky begonnen, der hat das Stipendienwesen eingeführt. Vorher war es schwierig. Autoren aus der Wiener Gruppe sind ausgewandert, weil sie hier keine Möglichkeiten gehabt haben. Die alten Herren aus der Vorkriegszeit haben noch lang bestimmt, was an Literatur gewürdigt wird. Die haben entschieden, was gedruckt wird und was im Rundfunk, der damals für Autoren noch eine wichtige Einnahmequelle war, gebracht wird. Gegen welche Widerstände mussten Sie sich durchsetzen? Ernst: Man hat mich richtig bekämpft. Was ich und Kollegen aus dem Wespennest-Umfeld gemacht haben, hat man als „NichtLiteratur“ bezeichnet. Diese Auswahl gab es. Die Verkäuflichkeit war zweitrangig. Die Art von Literatur, die man schrieb – konservativ oder experimentell-modern –, war das Wichtigste. Natürlich ging es auch darum, wie sehr der junge Autor die Bedeutung der alten Herren vielleicht schmälern konnte. Strobel: Wenigstens gab es damals noch eine Auseinandersetzung. Fortsetzung Seite 6
fotos: Werner macho, lisa r astl
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den und die Welt praktisch erfahren. Deshalb habe ich Physik studiert. Danach bin ich in die Multimediabranche reingerutscht, ich war eine von den ersten neuen Selbstständigen. Nach ein paar Jahren habe ich einen richtigen Job bekommen. Mit der Literatur waren es zwei Jobs. Mit zwei Kindern habe ich die Jobs, beides Geistestätigkeiten, aber nicht mehr auf die Reihe bekommen.
rei österreichische Schriftsteller aus drei Generationen. Bis auf ihr Alter haben sie viel gemeinsam: Sie haben gerade neue Bücher vorgelegt, Olga Flor und Gustav Ernst Romane, Bernhard Strobel einen Band mit Erzählungen (siehe die Rezensionen auf den folgenden Seiten). Sie publizieren in österreichischen Verlagen, bei Jung und Jung in Salzburg, Haymon in Innsbruck und Droschl in Graz. Und sie hoffen alle, dass ihre Bücher in der Masse der Neuerscheinungen nicht übersehen werden.
Illustr ation: Anna hazod
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Fortsetzung von Seite 4 Ernst: Heute ist es genau umgekehrt. Heu-
te spielt die Verwertbarkeit die Hauptrolle, die Art der Literatur ist völlig nebensächlich. Die Durchkapitalisierung des Buchmarktes und die Abhängigkeit Österreichs von Deutschland hat dazu geführt, dass Verkäuflichkeit gefordert wird. Die erfordert wiederum ein Marketing. Jedes Buch muss seine Kosten einspielen. Die Kriterien sind genauso wie bei anderen Produkten: Das Angenehme muss vermittelt werden. Es soll nicht zu anstrengend sein. Inwiefern muss man als Akteur am Markt dessen Spiel mitspielen? Anders gefragt: Welche Kompromisse müssen Sie eingehen? Strobel: Das ist eine schwierige Frage, die ich mir selber immer wieder stelle. Ich spiele so wenig wie möglich mit. Im Grunde habe ich es eh nicht in der Hand. Ich bin nicht so schön, dass man von mir sehr schöne Fotos machen kann. Und zur Verbreitung meiner Bücher gibt es den Verlag und seine Marketingabteilung. Flor: Ich war schon in Talkshows und habe im Nachhinein auch das Gefühl gehabt, es hat gepasst. Aber man sollte, beispielsweise wenn Videoporträts von einem gemacht werden, ganz genau wissen, was man vermitteln will. Am Anfang fehlt einem die Erfahrung. Man lässt sich hinstellen und irgendwas mit sich machen. Erst mit der Zeit findet man heraus, wie man aussehen will. Ich finde es auch wichtig, dass das vermittelte Bild etwas mit den Themen zu tun hat, über die man schreibt. Ernst: Ich will nicht abstreiten, dass ich da und dort Kompromisse gemacht habe. Es ist eine Gratwanderung, und das ist auch das Spannende: Wie weit kann man gehen und den Anforderungen des Markts entgegenkommen, und wo ist die Grenze? Was mache ich nicht mehr, auch wenn ich damit mehr Geld kriegen könnte? Ihr Image ist das des ungemütlichen Autors, der über grausliche Dinge schreibt. Hat es dem Verkauf geholfen? Ernst: Ich habe dieses Image gepflegt, aber zu meinen Ungunsten. Es hat den Verkauf schwer gemacht. Auch bei Lesungen hat es immer geheißen: Man weiß nie, was der Ernst wieder Grauenhaftes lesen wird. Gott sei Dank habe ich auch andere Gelüste. Ich arbeite gern mit Autoren und mache Ausbildungs-Workshops. Nicht allein, weil ich das Geld brauche, sondern weil es mich interessiert. In den 70ern hat man gemeinsam an Texten gearbeitet. Das ist verloren gegangen, aber mir macht es immer noch Spaß. Sie alle publizieren in österreichischen Verlagen. Schadet das der Verbreitung Ihrer Bücher, hätten Sie mit einem deutschen Verlag am deutschen Markt mehr Chancen? Flor: Mein Verlag ist zum Glück ein auch in Deutschland sehr gut positionierter Literaturverlag mit einem anspruchsvollen Programm. Aber damit ist er heute die absolute Ausnahme.
liter atur Ernst: Ich würde jedem Autor, der zu einem
deutschen Verlag gehen kann, dazu raten, weil er größere Chancen hat. Er kriegt die deutschen Literaturpreise, die auch Auswirkungen auf Österreich haben und Verkauf bringen. Auf diese Preise hast du als Österreicher in einem österreichischen Verlag kaum eine Chance. Die Frage ist natürlich: Wie lange hält der Hype um den betreffenden Autor an? Wenn das nächste Buch dem Verlag nicht passt, kann es gut sein, dass er wieder fallengelassen wird. Es sind schon Leute nach einem ersten Buch bei einem großen Verlag verschwunden, weil es sich nicht gerechnet hat. Strobel: Die meisten greifen zu, sobald sich die Gelegenheit bietet, zu einem deutschen Verlag zu gehen. Ich bleibe lieber bei meinem Verlag, solang er mich will. Erstens, weil es ein guter Verlag ist. Und ich finde Konstanz wichtig. Man hat seinen Platz und eine richtige Beziehung zu den Leuten im Verlag. Ernst: Das ist sehr richtig. Man nimmt sich dadurch nur gewisse Möglichkeiten der Publizität und des Finanziellen. Aber natürlich ist die Abhängigkeit vom deutschen Markt problematisch, denn sie wirkt sich auf die österreichische Literatur aus. Auch die Kritik nimmt hierzulande vor allem das ernst, was in Deutschland erscheint und dort an österreichischer Literatur gut ankommt. Strobel: Im Kurier bekommt auf der Buchseite der Roman eines international bekannten Autors die große Rezension. Unten beim Kleingedruckten finden sich die Bücher von drei, vier Österreichern, wobei oft nur die Pressetexte wiedergegeben werden. Diese Wertigkeit ist schon bezeichnend. Ich kenne die Situation in Norwegen recht gut, und da ist es genau umgekehrt. Die konzentrieren sich extrem auf ihre eigene Kunst. Ich bin nicht wirklich patriotisch, aber es gibt genug österreichische Autoren, die es auch mal verdienen würden, große Rezensionen zu bekommen.
Ernst: Aber auch an deren Zusammenset-
zung zeigt sich, dass die großen Verlage das Sagen haben. Sie sind es, die die Inserate in den Zeitungen zahlen, und es ist nur logisch, wenn sie ihren Anteil auch wieder zurückhaben wollen.
Zur Person Bernhard Strobel, Jg. 1982, wuchs in Wien und im Burgenland auf und lebt heute in Neusiedl am See. Er debütierte 2007 mit dem Erzählband „Sackgasse“. Der Skandinavist übersetzt auch aus dem Norwegischen
Wie könnte man die österreichische Literatur noch fördern? Ernst: Eine Idee wäre, einen großen österreichischen Literaturpreis zu vergeben. Die Schweizer haben einen. Warum gibt es so was bei uns nicht? Im Herbst zur Buchmesse Buch Wien sollte ein österreichischer Literaturpreis vergeben werden, der auch eine entsprechende Aufmerksamkeit mit sich bringt. Strobel: Wäre der dann nur für Bücher aus österreichischen Verlagen? Ernst: Das weiß ich nicht. Aber es wäre auf jeden Fall ein Zeichen. Denn bei den großen Preisen in Deutschland kommen die heimischen Verlage kaum vor. Die kleinen deutschen Verlage übrigens auch nicht. Strobel: Ich bin eh dafür. Ernst: Als Signal wäre es nicht schlecht. Flor: Ich bin natürlich auch dafür. Man sollte das aufmachen und auch Bücher aus deutschen Verlagen einbeziehen. Ich halte es nicht für sonderlich zielführend, sie davon auszusperren. Nur müsste man – etwa über die Besetzung der Jury – verhindern, dass nur Blockbuster abräumen.
Hat sich die Rolle des Schriftstellers in der Gesellschaft verändert? Ist er nicht früher mehr gehört worden? Ernst: Kreisky hat die Autoren sehr geliebt. Da war er der erste und fast auch der einzige Sozialdemokrat, dem es so ging. Hilde Hawlicek und Rudolf Scholten würde ich noch dazuzählen. Die anderen in der Partei und in der Gewerkschaft lehnen die Literatur ab und halten Autoren für Unruhestifter. Früher gab es eine gewisse Wertschätzung. Die hat angehalten bis zur SchüsselÄra. In der Zeit waren bestimmte Autoren, die gegen die Schüssel-Regierung angetreten sind, noch einmal sehr präsent. Dann ist es verblasst. Strobel: Das passt in den allgemeinen unkritischen Zeitgeist. Man erwartet doch von Künstlern eine andere und auch kritische Sicht auf die Realität. In der letzten Zeit hat sich das aber stark in Richtung Jasagerei entwickelt. Wobei es auch schwerfällt, heute Stellung zu beziehen. Die Weltlage ist derart komplex geworden. Wogegen soll man jetzt sein? Flor: Ich werde schon immer wieder zu politischen Diskussionen eingeladen. Aber ich gehe nur hin, wenn ich etwas beizutragen habe. Mein Gefühl ist, dass man als Schriftsteller in allen Bereichen dilettiert. Das Einzige, wo ich nicht dilettieren darf, ist die Sprache. Was wünschen Sie sich von der Literaturkritik? Strobel: Mehr Kritik. Ich finde, sie ist sehr harmlos geworden. Es ist fast alles positiv. Wenn ich mir die Zitate auf Buchrücken ansehe, ist jeder Autor „ein großer Fabulierer“ oder „der Autor mit dem Erzähl-Gen“. Es gibt nur mehr Meisterwerke. Ein gutes Beispiel: Gestern hat sich mein Verlag gemeldet, weil die FAZ das Cover meines neuen Buches angefordert hat. Das heißt, dass eine Rezension kommt. Der ganze Verlag hat schon gejubelt. Ich habe mir gedacht: Wartet einmal, was in der Rezension steht. Die Vorstellung, dass was Schlechtes geschrieben wird, gibt es fast nicht mehr. Flor: Ich glaube, wie so viele Berufe haben auch Kritiker mit Überforderung zu kämpfen. Man muss sich nur ansehen, was jährlich an Büchern publiziert wird. Die Aufmerksamkeitsspanne ist noch viel kleiner geworden. Alleine die Neuerscheinungen zu sichten, ist eine Lebensaufgabe. So treten das Image von Autoren und das Hörensagen in den Vordergrund, wenn es darum geht, Bücher zur Rezension auszuwählen. Ernst: Eine Verlegerin hat einmal gesagt: „Es ist wurscht, was drinsteht. Hauptsache, es ist eine Bletschn.“ Das ist nicht ganz falsch. Eine Rezension muss in erster Linie groß sein. Auch ein Verriss auf einer ganzen Seite bringt es. I n t e r v ie w : S . F a s t h u b e r
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foto: luk as dostal
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Wenn die Frau den Mann werken lässt
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www.rowohlt-berlin.de
Gustav Ernst: Zur unmöglichen Aussicht. Haymon, 199 S., € 19,90
106 x 300 mm
Farbanpassung Format, r/l Titel Autor, Werk
Bild einer Bilderbuchehe wird das eines Scherbenhaufens. Doch obwohl der Erzähler sich noch so sehr bemüht, seine Frau als die einzig Schuldige an der Ehemisere hinzustellen, bekommt der Zuhörer immer mehr Zweifel am Wahrheitsgehalt der ihm zu Gehör gebrachten Darstellungen über eine unerträgliche Frau, die bei jeder Kleinigkeit stichelt oder beleidigt ist. Was genau stimmt und was ein bisschen gelogen ist, spielt keine große Rolle. Es geht ums Prinzip. Ernst versteht es, den Menschen in seiner Unzulänglichkeit und Schwäche darzustellen, wie er ist: liebenswert und unerträglich zugleich, gerissen und im Grunde leicht zu durchschauen. Das gilt im Übrigen auch für den Protokollanten, der von sich sagt: „Ich selbst hatte schon ähnliche Gedanken, würde sie aber nie jemandem vortragen.“ SEBASTIAN FASTUBER
Erscheinungsdatum
Langsam fallen die Masken und aus dem
11.03. + 18.03.2015
Doris Knechts fesselnder Roman über Verlust und Neuanfang.
Falter Sonderbeilage
Eine Frau, ein Haus und der Wald.
Knecht - Wald
Verbreitung seiner eigenen Werke hat sein Fürsprechertum für andere Autoren jedenfalls nicht weitergeholfen. Was schade ist, da seine Romane auf ganz eigene Weise das Vergnügliche mit dem Abgründigen verbinden und schon dadurch eine große Leserschaft verdienen würden. In seinem Roman „Zur unmöglichen Aussicht“ erweist sich Gustav Ernst einmal mehr als hinterfotziger Erzähler im doppelten Wortsinn. Langsam nur lässt er seine Figuren sich durch ihr Reden selbst entblößen, bis sie irgendwann pudelnackt – fast erübrigt sich die Feststellung: und nicht sehr schön anzuschauen – dastehen. Ernst treibt aber auch mit dem Leser ein gemeines Spiel, führt ihn auf falsche Fährten und an der Nase herum. Und wenn dieser dann so weit ist und eine Figur erkannt zu haben glaubt, kommt mitunter die Erkenntnis: Die ist aber ganz schön ungustiös. Und: Ich bin ihr ja ganz ähnlich. Den neuen Roman könnte man zunächst irrtümlich für ein Alterswerk halten, so gemächlich hebt er an. Zwei Herren mittleren Alters lernen sich da zufällig in einem Kaffeehaus kennen und erzählen sich bei koffeinhaltigen Getränken, Mehlspeisen oder auch mal einem Kognak in episodischer Form ihre Lebensgeschichten. Falsch: Es erzählt eigentlich nur einer. Der andere hört ihm zu und versucht, sich einen Reim auf die mitunter ungewöhnlich und wenig glaubhaft wirkenden Schilderungen zu machen. So beginnt er die Geschichten, die ihm sein Gegenüber auftischt, aufzuschreiben. So fühlt sich der Dauerredner von einem mysteriösen Herren im hellen Sakko verfolgt, der immer wieder in seinem Blickfeld auftaucht, bei genauem Hinsehen aber auch ebenso schnell wieder verschwindet. Darüber hinaus
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Aber wer setzt sich für Ernst ein? Der
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fältig. Sein unermüdliches, aber nie betriebshuberisches Engagement für junge Autorinnen und Autoren ist in der Form in Österreich einzigartig. Mit der Kolik gibt Ernst gemeinsam mit seiner Frau Karin Fleischanderl seit 1997 eine der wenigen wirklich lesenswerten österreichischen Literaturzeitschriften heraus. In ihr dürfen sich neben arrivierten Autoren immer auch junge ausprobieren. Als Motor der Leondinger Akademie für Literatur beackert er auch den Sektor der Autorenausbildung. Und selbst wenn er mit 70 nicht mehr so streitlustig in Erscheinung tritt wie in seiner WespennestZeit, ist ihm die Auseinandersetzung, der Austausch mit Kollegen immer noch eine Herzensangelegenheit.
ist er davon überzeugt, dass ein plötzlich verstorbener Freund in Wahrheit ermordet wurde. Sprich: Er scheint kein besonders glaubwürdiger Erzähler zu sein. Der Zuhörer und Protokollant will ihn aber nicht abweisen, denn langsam dämmert ihm, wovon seine Kaffeehausbekanntschaft ihm über Umwege eigentlich erzählen will: von den Problemen mit seiner Frau, die ihm nur noch Vorwürfe macht. Das interessiert den Zuhörer dann doch. Es ist ein Klischee, dass Ernst gern grausliche, unangenehme Dinge schreibt, der Autor hat es aber auch immer wieder gern bedient. In „Zur unmöglichen Aussicht“ tut er es erneut, aber auf zurückgenommene und vergleichsweise subtile Art – etwa wenn er den Mann über den für beide Seiten unbefriedigenden Sex mit seiner Ehefrau sagen lässt: „Es gibt doch (…) nach einem, sagen wir, halbstündigen Beischlaf jede Menge möglicher Abbruchursachen, wie einfache körperliche Erschöpfung, Überreizungen, plötzliche Empfindungslosigkeit, ein unangenehmer Gedanke an morgen, nicht zu vergessen die psychischen und emotionalen Folgen wie wachsende Ungeduld und wachsendes Desinteresse oder ein plötzlich auftretender Groll auf die Frau, die, Sie verzeihen, wenn ich das so ausdrücke, da liegt, einen werken lässt und selber nicht weitertut.“
© Alexander Sehrbrock; shutterstock.com
ie heimische Literaturlandschaft D würde ohne Gustav Ernst anders aussehen. Ärmer, weniger viel-
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Schön hinterfotzig: Gustav Ernsts gemütlich anhebender Kaffeehausroman „Zur unmöglichen Aussicht“
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liter atur
„Aber wo bleibt die Reichweite?“
Ein Bild für den Tod der Eltern
Ins Netz gegangen: Olga Flor spricht in „Ich in Gelb“ in den Zungen junger Bloggerinnen
Minimalismus, der Großes schafft: Bernhard Strobels jüngster Erzählband „Ein dünner Faden“
lga Flor hat einen Blogger-RoO man mit zwei Stimmen geschrieben. Die eine gehört der 13-jährigen
ernhard Stobel, 1982 in Wien geB boren und im Nordburgenland lebend, hat einmal in einem Gespräch
Alice, die sich als Bloggerin „nextGirl“ oder „nG“ nennt. Sie hat die Augen offen und jene großzügige Grundverachtung für das Erwachsenengehabe, die für aufgeweckte Jugendliche üblich ist. Und die kleine Scharfpsychologin hat die spitze Zunge ihrer Autorin. Die andere Stimme im Forum gehört Bi-
anca, die ein paar Jahre älter ist und als Model arbeitet. Ihr Hauptanliegen ist ihr Körper, dessen Wert vom Markt bestimmt wird. Er rächt sich mit Allergien, vor allem aber mit einem herrischen Darmwurm, der Biancas Schicksal wesentlich mitbestimmt, auch wenn sie gelernt hat, ihn liebevoll ironisch zum Haustier ihres Körpers zu domestizieren. Auch Bianca spricht mit der erfrischenden Kaltschnauze Flors. Die Idee, einen Blogger-Roman zu schreiben, ist nicht ganz neu, aber naheliegend und reizvoll. Flor muss es schriftstellerisch Spaß gemacht haben, die neuen Kommunikations- und Ausdrucksformen anzunehmen, sich verantwortungsfrei durch die Themen des Tages und des Hirns treiben zu lassen und das ganze Assoziationsvolumen ausnützen zu dürfen, bis hin zum kindlichen Zungenspaß. Flor lässt ihre digitalen Kinder reden und streunen, das ergibt sprachliche Explosionen und Ströme an Konfetti. Es könnte sein, dass diese Kinderliebe auch die Liebe zur Literatur ist. Und wenn die Literatur etwas lernen will, ist ein Ausflug ins Alltagssprachliche, Jugendsprachliche oder Mündliche eine gute Sache. Die kleine „nG“ denkt viel über Sinn und Funktion des Bloggens nach: „Und bis dahin nutze ich diese unzähligen, überflüssigen Zeitschnipsel, die sich so ansammeln, während man in die Luft schaut zum Beispiel. Diese Augenblicke darf man nicht so leer herumliegen lassen, die verwende
ich, um blindlings darüber zu schreiben.“ Das Bloggen dient zum Ich-Beweis. Aber wie sieht es mit der Qualität der Beiträge aus? „Ja, sage ich, eh, aber dafür die Crowdclouddichte! Die Schwarmdummheit!“ Es geht um Identität und Styling. Für die Identitätssuche würde auch ein Tagebuch genügen, für das Identitätsdesign braucht es Öffentlichkeit. „nG“ hat zwar irgendwo noch so einen „stylischen Schreibblock“ aus der Zeit der Handschreibung, „aber wo bleibt die Reichweite?“ Für Bianca ist das Identitätsproblem viel konkreter und schmerzhafter. Ihre Identität ist Design – Körperdesign. Das Design macht Schmerzen, es sind die Schmerzen der kapitalistischen Fremdbestimmung. Ein verbindendes Geschehen gibt es im
Roman. Ein Stardesigner veranstaltet im Naturhistorischen Museum eine extravagante Kulturperformance. Beide Bloggerinnen sind in die Aktion einbezogen, Model Bianca als eine Art Meerjungfrau, Schülerin „nG“ als Undercoverfotografin. Die Scheinwelt von Mode und Medien, in der „nG“ noch neugierig und Bianca schon Opfer ist, bedenkt Flor mit feiner Häme. Olga Flor ist eine Autorin von schneidender Intelligenz und Eloquenz. Sie gehört zum Besten, was die österreichische Literatur zurzeit hat. Ihr neues Buch enthält viel Zeitsatire, auch wenn sein Experimentiercharakter und seine Mehrstimmigkeit Flors großartige Bissigkeit ein wenig dämpfen. HELMUT GOLLNER
Olga Flor: Ich in Gelb. Jung & Jung, 211 S., € 22,–
mit seinem Kollegen und Landsmann Clemens J. Setz einen Satz von Borges zitiert: „Es ist ein mühseliger und strapazierender Unsinn, dicke Bücher zu verfassen.“ Tatsächlich sind die Erzählungsbände Strobels – drei sind bislang erschienen – schlank, sehr schlank und die Geschichten aufs Äußerste reduziert, entschlackt von allem Unnötigen oder unnötig Schmückenden.
Eine eigentümliche Spannung herrscht in ihnen: zwischen den Menschen und zwischen den Zeilen. Die Konflikte bleiben unausgesprochen, und doch lassen sich Traurigkeit, Wut, Verzweiflung mit Händen greifen. Dass die Geschichten zuweilen harmlose Titel tragen, „Alles ist bestens“ heißen oder „Die Kur“, sollte einen nicht täuschen. Zum Besten ist hier selten etwas bestellt. Die Gründe für das Unbehagen und die Kommunikationsdesaster muss man allerdings in der Vergangenheit oder einer Bewusstseinsschicht suchen, die jenseits des Erzählten liegt. Das ist das Faszinierende an diesen minimalistischen Texten. Sie sind bestechend einfach, deuten hochexplosive Psychodramen an, ohne dass etwas oder jemand wirklich in die Luft gehen würde. Sie verstören durch ihre fast kaltblütige Offenlegung auswegloser Situationen und lassen einen mit einer Beunruhigung zurück, die sich nicht mehr schönreden lässt. In „Die Hornissen“ etwa bekommt die unüberwindliche Distanz zweier Eheleute eine Form. Zwischen ihr und ihm erscheint alles vorhersehbar. Sie ahnt seine Reaktion voraus. Tritt sie tatsächlich ein, fühlt sie sich nur noch verlorener. Das Kind der beiden wird zum Deuter der Entfremdung, zwei tote Hornissen, nebeneinander vor der Terrassentür platziert, zum Menetekel. Sie ist überzeugt davon, dass das Kind
die Hornissen dort hingelegt hat – ein Bild für den Tod der Eltern: „‚Hast du gesehen, wie sie dort gelegen
sind? So friedlich, als ob sie zusammengehörten, und vielleicht gehörten sie ja zusammen, und ich habe gedacht: So muss man sterben. Und in dem Augenblick hätte ich nichts dagegen gehabt zu sterben, es wäre mir gleichgültig gewesen. Solange es nur genauso friedlich und schön hätte sein können. Da habe ich gewusst, dass er es war. Und ich war stolz. Weil ich eine Verbindung zu ihm gespürt habe, weil ich gemerkt habe, dass er ist wie ich, dass wir vom selben Schlag sind. Aber jetzt‘, sagte sie, ‚jetzt macht es mir Angst.‘“ Strobels beeindruckende Geschichten spielen an der Peripherie, an unbenannten Orten. Die Menschen sind auf sich zurückgeworfen, sie bewegen sich in einer Beziehungsgeometrie, die sich allerdings der Berechenbarkeit entzieht. Die Figuren schleichen umeinander herum. Sie verdächtigen den anderen in Gedanken, sie antizipieren, was der andere tun könnte, interpretieren fortwährend, was er mit einer bestimmten Handlung oder einem an sich harmlosen Satz sagen will. Sie hängen an einem dünnen Faden, und zwischen den einzelnen Protagonisten sind die Fäden noch ein bisschen dünner gespannt. Immer könnten sie reißen, und das bisschen Zivilisation, das vor dem großen Durcheinander schützt, droht jederzeit in sich zusammenzustürzen. ULRICH RÜDENAUER
Bernhard Strobel: Ein dünner Faden. Erzählungen. Droschl, 152 S., € 19,–
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Nena, U4, Watzmann und Teelichter Alterswerk eines ewigen DJs: Bachmannpreis-Gewinner Tex Rubinowitz wartet in „Irma“ darauf, dass es endlich losgeht
Illustr ation: anna hazod
poilern ist eine üble Sache, aber es muss sein: Irma gibt es nicht. Gab es nie und S gibt es nicht, zumindest nicht im Leben von Tex Rubinowitz. Das hält Irma nicht davon ab, ihm eine Freundschaftsanfrage via Facebook zu schicken. Vor 30 Jahren hat er sie im U4 aufgegabelt, dann hat sie kurz bei ihm gewohnt, Sex gab es aber nur, um ihre prämenstruellen Krämpfe zu lösen. Das ist der Anfang von „Irma“, dem Überraschungsgewinnertext der Tage der deutschsprachigen Literatur 2014, im Volksmund bekannt als Bachmannpreis. Keine komplizierte Prosa einer Nichtmuttersprachlerin, nichts metaphorisch Aufgeladenes über den Untergang des Stalinismus oder traumatische Erlebnisse während der Kindheit. Einfach ein witziger und zugleich berührender Text über Irma, die vor dem Fernseher sitzt, Tierdokus schaut, an Batterien nuckelt und sich über den Autor lustig macht, der derweil in der Küche sitzt und einen Text schreibt, über eine Irma, die vorm Fernseher sitzt, Tierdokus schaut und an ... Zehn Minuten hat Rubinowitz damals daraus vorgelesen, beiläufig, als hätte er
sich das alles gerade ausgedacht, die Teilnahme am Wettbewerb und den Text selbst, um am Ende souverän den Preis abzuräumen. Und mit der gleichen Haltung hat er die Geschichte nun weitergesponnen, sie zu einem Buch ausgebaut, mit einer Irma, Es geht wohl nicht die es gar nicht gibt, am Anfang, und ei- mehr viel los, nem Lektor, der ihm sagt, dass das so nicht aber es ist okay geht, zum Schluss. Beiläufig liest sich das, scheinbar unstruktu-
riert, eine wilde Aneinanderreihung von Jugenderinnerungen, Frauen mit seltsamen Namen und viel Musik. Das Buch ist ein atemloser Trip in die Vergangenheit, die wir alle kennen, mit „Wir waren jung in den 80ern“-Klischees, inklusive Watzmann, Nenas Achselhaaren, selbstgedrehten Zigaretten und „Tee, aufgebrüht mittels einer Art brauner Socke in einem Tongeschirr, das auf einem kleinen, von einem sogenannten Teelicht beheizten Miniofen stand“. Mit knapp über 50 legt Tex Rubinowitz sein Alterswerk vor, das Alterswerk eines Multitalents oder, besser gesagt: eines Men- Tex Rubinowitz: schen, der sich nie festlegen wollte, was er Irma. Rowohlt, sein will, oder vielleicht auch nie entschei- 240 S., € 19,50
den konnte, was er ist. Es ist der Rückblick auf ein Leben, das mehr oder weniger bedeutungslos dahinrauscht, mit banalen Erinnerungen wie „erster Kuss, erste Eins, erste Fünf, erste Uhr, erste Wespe in der Coladose, erstes chinesisches Essen, erste Platte. (...) dieses Warten darauf, dass es endlich mal losgeht, egal was.“ Jetzt sind wir über 50, immer noch DJs, tragen blauweiß gestreifte T-Shirts und Turnschuhe, hängen im Alt Wien rum und nehmen uns nicht ernst. Es geht wohl nicht mehr viel los, aber es ist okay. Wer gerne einen richtigen Roman lesen möchte, mit einer Identifikationsfigur, einem Anfang und vielleicht sogar einer Pointe am Ende, der sollte die Finger von „Irma“ lassen. Wer das alles aber nicht so ernst nimmt – nicht sein eigenes Leben oder das seiner Mitmenschen, nicht die Erinnerung daran und die Literatur darüber –, der wird großen Spaß haben: mit Tex Rubinowitz’ Lebensgeschichte, die auf einer Irma aufbaut, die es nicht gibt. Wahrscheinlich gibt es auch keinen Tex Rubinowitz – oder zumindest nicht das, was er als sein Leben beschreibt. PE TR A HARTLIEB
Alfred
P olgar »Selten ist ein Stück gute Literatur auch ein so wichtiges Zeitdokument und umgekehrt ein bedeutsames Dokument gleichzeitig so gute Literatur.« Gerhard Zeillinger, Die Presse Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl 160 Seiten. Gebunden mit Abbildungen € 18,40 [A]. Auch als -Book Foto: © Löcker Verlag / Wien www.zsolnay.at
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liter atur
Pein oder keine Pein: Ordnung muss sein! Stefan Winterstein widmet sich dem Faschismus und der „Ordnungspein“ im Werk Heimito von Doderers as Jahr 2008 war ein Annus horribilis der Doderer-Forschung: In ihm D verstarben gleich zwei der profundesten Kenner von dessen Werk, die Germanisten Dietrich Weber und Wendelin SchmidtDengler. Ihnen folgte im Sommer vergangenen Jahres Doderers ehemaliger Sekretär, Wolfgang Fleischer, über dessen penibel recherchierte und glänzend geschriebene Biografie („Das verleugnete Leben“, 1996) der Ex-Arbeitgeber selbst gewiss nicht sonderlich „amused“ gewesen wäre. Die Zahl derer, die schlechterdings alles über Doderer wissen, hat sich also stark reduziert. Dennoch wird weiterhin viel geforscht, und obgleich Stefan Winterstein im Vorwort zu seinem „Versuch gegen Heimito von Doderer“ davon ausgeht, dass der Autor lediglich „einer bescheidenen Minderheit“ überhaupt noch ein Begriff ist, macht auch er weiter. Der gebürtige Wiener (Jg. 1981) ist einer der
größten Doderer-Auskenner der jüngeren Generation und hat unter anderem den wunderschönen Bild- und Essayband „Die Strudlhofstiege. Biographie eines Schauplatzes“ herausgegeben. Nun also schreibt er „Über ,Ordnungspein‘ und Faschismus“ (so der Untertitel des Buches, das auf Wintersteins Dissertation fußt). Dass Doderer 1933 der NSDAP beigetreten ist, war immer schon bekannt; die Mythen und Halbwahrheiten, die er über seine Distanzierung vom Regime in die
Welt gesetzt hat, haben Fleischer und zuletzt Alexandra Kleinlercher (in ihrer akribischen Studie „Zwischen Wahrheit und Dichtung“ von 2011) als solche enttarnt. Winterstein konzentriert sich also sinnvollerweise aufs Werk selbst, um darin jene Motive und Denkfiguren aufzuspüren, die anschlussfähig sind an totalitäres Denken (denn ein „völkischer“ Dichter war Doderer in der Tat nie). Die zutreffende Grundthese lautet, dass die saubere Trennung zwischen einem bloß konservativen und einem gleichsam faschistisch infizierten Doderer nicht möglich ist, sondern dass es hier „Überlappungen und Verbindungslinien“ gibt. Der Konservatismus des 1940 zum Katholizismus Konvertierten wusste mit dessen antibürgerlichen Reflexen prächtig zu koexistieren, und dass die mit einer Ideologie des Nichthandelns einhergehende Schicksalsgläubigkeit Doderers naturgemäß kein echt widerständiges Paradigma darstellt, wird ebenfalls überzeugend vorgeführt. Überraschendes fördert Winterstein in seiner Auseinandersetzung mit dem 1939/1940 entstandenen, aber erst zeitgleich mit der „Strudlhofstiege“ publizierten Roman „Die erleuchteten Fenster“ zutage. Julius Zihal wird in den „Fenstern“ als pensionierter Amtsrat und passionierter Voyeur vorgestellt und in der „Stiege“ ironisch, aber ungebrochen positiv als Repräsentant des tief in der k.u.k. Monarchie wurzelnden „höheren Zihalismus“ beschrieben.
Dass Doderer der NSDAP beigetreten ist, war immer schon bekannt
Winterstein hingegen fasst ihn als Pedanten, greift dabei auf Schopenhauer, Erich Fromm, vor allem aber Karl Sacherl („Die Pedanterie“, 1957) zurück, um Züge zwänglerischen Denkens bei Doderers Alter Ego René Stangeler und eben bei Zihal aufzuspüren, der von seiner „Ordnungspein“ erst erlöst werden muss, ehe seine „Menschwerdung“ statthaben kann.
Stefan Winterstein: Versuch gegen Doderer. Über „Ordnungspein“ und Faschismus. Königshausen & Neumann, 224 S., € 30,70
Trotz dieser pedanteriekritischen Pointe geht es in den Romanen Doderers, wie Winterstein zeigt, um die Aufrechterhaltung einer als vorgegeben gedachten Ordnung. Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang seine Ausführungen zur „Schulliteratur“, deren tragischen bis problematischen Protagonisten (u.a. bei Wedekind, Musil und Torberg) Doderer in den „Wasserfällen von Slunj“ (1963) eine Gruppe von tadellos funktionierenden Schülern entgegenstellt, die man als Dandys der gymnasialen Performanz bezeichnen könnte. Dass die Sekundärliteratur bislang „recht wenig“ zu Doderers posthum veröffentlichtem Essay „Sexualität und totalitärer Staat“ zu vermelden hatte, stimmt wohl. Allerdings stellt sich die Frage, ob es tatsächlich der fast 50-seitigen Analyse bedurft hätte, um den schlüssigen Nachweis zu erbringen, den Winterstein liefert (der sich indes auch knapper formulieren ließe): dass das Ganze ein selbstgefälliger, apodiktischer, unhaltbarer und zu Recht ignorierter Topfen ist. K L AUS NÜCHTERN
Als Erster verliebt in die Zweite von links Eine hübscher Fund: Alfred Polgar gerät in seinem 1937/38 entstandenen Porträt über Marlene Dietrich ins Schwärmen itunter sind es gar seltsame Blüten, M die der Kult um Marlene Dietrich in den letzten Jahren treibt. Neben einer gan-
zen Reihe biografischer Einzeldarstellungen erschienen Bücher über die Dietrich und Ernest Hemingway, über sie und Riefenstahl, über ihre langjährige Korrespondenz mit Friedrich Torberg, ein ABC ihres Lebens, eine Publikation über Marlene Dietrich in Berlin, ihr Adressbuch sowie Erinnerungen an die späte Marlene („Eine Liebe am Telefon“). Alfred Polgars „Marlene – Bild einer berühmten Zeitgenossin“ stellt eine willkommene Abwechslung zu dem stetig weiter anwachsenden Wust an mehr oder weniger origineller Sekundärliteratur über die große Filmschauspielerin und Chansonette dar. Das schlanke, knapp 70 Druckseiten umfassende Manuskript entstand 1937/38, als sich die Dietrich auf dem Höhepunkt ihrer Popularität in Hollywood befand. Sie war Mitte 30, hatte die künstlerische Trennung von dem Regisseur Josef von Sternberg gut weggesteckt und für Ernst Lubitsch gerade die Hauptrolle in dessen kompromisslos brillanter Dreieckskomödie „Angel“ gespielt. Alfred Polgar hingegen, der als „Virtuose der kleinen Form“ gerühmte Feuilletonist aus Wien, litt zu dieser Zeit an chronischer Geldnot, sah er sich durch die Gleichschaltung der deutschen Presse doch schon seit 1933 eines Großteils seines Wirkungsbereichs und seiner Einkünfte beraubt.
Wie der Germanist Ulrich Weinzierl, der das Typoskript im Nachlass von Polgars Stiefsohn in New York entdeckt und nun samt editionskritischer Kommentierung herausgegeben hat, nachweist, entstand die Idee zu dieser Monografie in gegenseitigem Einvernehmen. Alfred Polgar fühlte Alfred Polgar fühlte sich Marlene Dietrich verpflichtet, da sie sich Marlene Dietrich ihm wiederholt mit ein paar hundert Dol- verpflichtet lar unter die Arme gegriffen hatte. Dennoch waren pekuniäre Überlegungen kei-
neswegs ausschlaggebend, sondern Polgars geradezu schwärmerische Begeisterung für die junge Schauspielerin. So gesteht ihr der Autor 1931 in einem Brief: „Aber verliebt in Sie – das will ich nur historisch festhalten – war ich schon, noch ehe alle Welt dies war; und noch ehe Sie von meinem litterarischen (sic!) Vorhandensein auch nur das Geringste wußten.“ Polgars Text hebt mit einer gleichermaßen persönlichen wie historischen Reminiszenz an, nämlich wann und wo diese Verliebtheit ihren Anfang nahm. 1927 in den Kammerspielen will er Marlene Dietrich in dem Revuestück „Broadway“ erstmals gesehen und sogleich auch das überragende Talent „der zweiten von links“ erkannt haben. Nun, ja. Stimmiger ist das Bild der nach Erscheinen des Films „Der blaue Engel“ (1930) über Nacht berühmten Zeitgenossin immer dort, wo der Autor sie mit sanfter Ironie zeichnet. „Marlene filmt. Sie filmt die ele-
Alfred Polgar: Marlene – Bild einer berühmten Zeitgenossin. Hg. von Ulrich Weinzierl. Zsolnay, 160 S., € 18,40
gante Verführerin, deren Lieblingsspaziergang der über Leichen ist, den Vampir, abgekürzt: Vamp, auf schwellende Kissen hingeschlängelt à la serpent, der Gentlemen das Blut oder zumindest das Geld aussaugt, kurz die so unwiderstehliche wie kalte und böse Frau, bei deren Anblick das Männerherz an das Frackhemd klopft wie das Schicksal an die Pforte.“ Die eingehende Schilderung ihres Gesichts, ihrer legendären Beine oder ihres Privatlebens haben nicht annähernd diesen Pfiff. Polgar ist dort am besten, wo er mit viel Gusto über den Kintopp herzieht, an dem er sich freilich Ende der 1920er-, Anfang der 1930-Jahre mit recht mäßigem Erfolg auch selbst versucht hat. Im Sommer 1937 kommt es im Salzburgischen zu einer Begegnung zwischen Polgar und Dietrich, dieses Interview bleibt zum Leidwesen des Autors das einzige von mehreren geplanten. In einem Brief an seine Ehefrau Liesl beklagt er sich, dass die Dietrich nicht mehr antworte und er nicht einmal wisse, wo sie stecke, während der Verlag auf Sicherheiten drängt und „(Wiener!) Krämpfe“ bekommt, „wenn von Vorschuss die Rede ist. (…) Dabei hat der Gedanke, in heutiger Zeit als Psalmodist einer FilmDiva 150 Seiten unter meinem Namen von mir zu geben, etwas kaum Erträgliches.“ Irgendwie passend also, dass Polgars „Marlene“ erst mit 77 Jahren Verspätung das Licht der Öffentlichkeit erblickt. Eine hübsche Trouvaille. M I C H A E L O M A S T A
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Die Verwertung der Vergangenheit Richard Schuberth schreibt rebellisch und ein bisschen altklug gegen den Ungeist der Zeit an
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iemand hat je ein Wuzzelturnier mit Latein so bildungshuberisch aufgedröselt und gleichzeitig gegen Bildungshuberei angepredigt. Darin liegt die dialektische Logik sowie die Ambivalenz von Richard Schuberths Protagonisten Ernst Katz, der spitzzüngig gegen akademischen Phrasenkatechismus wettert. Dr. Katz tut dies im Verein mit seiner Kumpanin Biggy, einer pubertierenden Anarchistin. Ihr jugendlicher Protestsinn würzt seine cholerisch übertriebenen Hasstiraden zu Brandreden beim mitternächtlichen Spareribs-Gelage. Die ungewöhnliche Freundschaft wächst zur Außenseiterverschwörung, wenn es darum geht, den geplanten Roman des gehypten Schriftstellers René Mackensen zu verhindern. Katz’ Abneigung gegenüber dem Mainstream bedingt eine Skepsis gegenüber dem Bestsellerautor, dem „vom unverdienten Erfolg betrunkenen Schnösel“. Auch der Neid ist unterschwellig spürbar. Katz will Mackensen, den er für einen Blender und Bluffer hält, demaskieren. Biggy entpuppt sich dabei als kreative Spinnerin von Intrigen, die den Plan des jungen Erfolgsschriftstellers sabotieren. Eine aufwendige, handlungsreiche und surreale Verschwörungsjagd läuft an, in deren Verlauf Mackensen nach Belgrad und Tel Aviv geschickt wird. Was hat es mit dem zu verhindernden Roman auf sich? Es geht um Respektlosigkeit im Umgang mit dem Holocaust. Richard Schuberth wirft poetologische Fragen auf, wenn es darum geht, wer welchen Stoff literarisch verarbeiten darf: Sind seelische oder geistige Berührung die Voraussetzung dafür? Im Fall Mackensen droht die Lebensgeschich-
te eines Opfers des Nationalsozialismus namens Klara Sonnenschein zur Positionierung als seriöser Autor instrumentalisiert zu werden. Das will Leo Katz nicht zuletzt auch aus Liebe zu Klara Sonnenschein um jeden Preis verhindern. Der Protagonist kämpft gegen die industrielle Verwer-
tung der Vergangenheit, die seines Erachtens nicht zur Erhellung, sondern zur Kolorisierung des Geschehens beiträgt: „Wer aus den Leuten das Evidente rauskitzelt, ihre Gemeinheit im schlimmsten und ihre Dummheit im besten Fall, der genießt den eigenen Aufdeckererfolg und schmarotzt somit am Schrecken.“ Als Geigerzähler des kritischen Bewusstseins lädt Dr. Katz jedes kleinste Teilchen mit Meinung auf. Erfolgsautor Mackensen hat es derweil auch nicht leicht. Er ist fest eingeklemmt zwischen einer masochistischen Literaturkritikerin und einem berechnenden Agenten. Sie fordern von ihm Exzentrik als Wettbewerbsvorteil und manipulieren ihn, um sein Image aufzubauen.
Was den Erregungspegel und die Sprachgewalt angeht, stehen Katz und Schuberth in diesen Monologen Karl Kraus um kaum etwas nach. Doch Biggy gibt auch hier Kontra: „Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Kraft und Wissen fehlt“, schreibt sie Katz mit Goethe an die Klowand. Es geht um Respektlosigkeit im Umgang mit dem Holocaust
„Die Chronik einer fröhlichen Verschwörung“
bietet ein überbordendes Angebot an Denkweisen zu fast allem: Asylpolitik und Integrationsthematik, Castingshows, (Post-) Feminismus, Medienzirkus, Polterabend, Generationenkonflikt, Faschismusfallen, Bildungspolitik anhand vergleichender Exkurse zwischen HTL und AHS, Zoophilie, Modelle zur Medienrezeption, TV-Serien. Durch Biggys Überschmäh lernt Katz den ironischen Umgang der Jugend als Protestform, als Kultur und Kulturkritik zugleich verstehen. Aber das ist noch nicht alles. Zu den essayistischen Ausflügen gesellen sich gemächliche Monologe, Traumfantasien, Aphorismen und Gedichte, Filmbesprechungen im Telegrammstil oder überdimensioniert ausufernd, ein illustrer Skype-Chat, ein fiktiver Krone-Artikel als Epilog, E-Mails, Briefverkehr, philosophische Manifeste, Tagträume und Wikipedia-Einträge. Der Grat zwischen erfrischender Skepsis und pathologischer Kritiksucht ist ein schmaler. In seinen biblischen Wutanfällen lässt sich Ernst Katz zu höchster Eloquenz und zerstörerischem Zorn anstacheln. Er macht auch vor Vorurteilen, Verallgemeinerungen und Übertreibungen im aggressiv böswilligen Ton nicht Halt.
Richard Schuberth: Chronik einer fröhlichen Verschwörung. Zsolnay, 480 S., € 23,60
Dieser lässt es natürlich auch nicht an Kritik
am Literaturbetrieb fehlen. Der Selektion der Feuilletonratten sei es zu verdanken, dass vor allem Mittelmäßiges das Lesevolk erreiche. Die Schriftstellerriege selbst wird typologisch aufgeschlüsselt und humorvoll zerlegt. Der Protagonist schießt giftig gegen Peter Handke und Thomas Bernhard. Beurteilt werden auch Spielberg und Tarantino, Lassnig und Attersee, May und Marx. Schuberth verzichtet weitgehend auf herkömmliches Lokalkolorit und betritt stattdessen literarisch weniger ausgetretene Pfade Wiens: die Millennium City, das Café Prindl am Gaußplatz, eine BrunnenmarktWG oder das Theater im Krähwinkel, eine mögliche Anspielung auf den Rabenhof. Repräsentanten der Wiener Kultur- und Medienszene kann man hinter Nebenfiguren entdecken. In der Charakterisierung jongliert Schuberth geschickt mit Sprachcodes. Besonders amüsant zu lesen ist beispielsweise das mit Hofratsesprit aufgeladene Balzen jener Intellektuellen, die sich Biggy als ewige Jungspunde anbiedern. Auch der zur bequemen Feigheit verblassende Mut der 68er wird natürlich thematisiert. Frechheit und Fantasie beherrschen die Methodik des Duos in einer Tradition aus Frankfurter Schule und Pippi Langstrumpf. Verbürgerlichung oder Sex und Rock ’n’ Roll: Wer triumphiert beim kritischen Denken? Eine große Leserschar sollte davon zeugen, dass der philosophische Kampf als Götterbote der negativen Dialektik sich für Ernst Katz gelohnt hat. Und dass Richard Schuberth nicht umsonst einen ambitionierten, wenn auch schon etwas altklugen Debütroman geschrieben hat. JULIANE FISCHER
. Bücher, über die man spricht.
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WAS FÜR EIN WUNDERBARER LITERARISCHER SPUK.
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Begegnungszone fernab von Bobostan Schauspieler und Vielleser Manuel Rubey über seine Lieblingsbuchhandlung: das Buchkontor im 15. Bezirk
Wenn ich nun eine Brücke schlagen darf, dann
ist es jene: Eines der eindrücklichsten Bücher, die ich bei Ulla Harms im letzten Jahr gekauft habe, ist Paul Austers „Winterjournal“. Mehr New York geht nicht. Ullas Buchhandlung wiederum liegt ganz in der Nähe des Espresso Märzpark, man muss bloß an der endlich wieder geöffneten Schwimmstadthalle entlang und dann links gehen. Schon steht man davor. Damals am 11. September gab es die Buchhandlung noch nicht. Es gab überhaupt recht wenig im Grätzl. Die Rassistenschuppen und die türkischen Familienbetriebe sowie natürlich die großen Supermärkte, aber im Grunde nur Tristesse. Die Stimmung hatte was von einem Elvis-Song: „In the Ghetto“. Wie man bei Tom Hodgkinson in „Die Kunst, frei zu sein“ eindrücklich nachlesen kann, ist eines der großen Verbrechen des Großhandels, dass er auch das Stadtbild zerstört. Soll heißen: heruntergelassene Rollläden, so weit das Auge reicht. In den letzten Jahren hat sich das geändert. Und Ulla Harms ist hier im Nibelungenviertel Pionierin an vorderster Front. Mittlerweile gibt es sie hier wieder, die kleinen Läden und Geschäfte, und auch immer mehr junge Familien ziehen her. Entweder
weil ihnen der siebte Bezirk zu teuer geworden ist, oder weil es sich langsam herumgesprochen hat, dass es sich zwischen Stadthalle und Schmelz ganz wunderbar leben lässt. Genau in der Mitte zwischen beiden Orten machte vor etwas mehr als fünf Jahren plötzlich eine Buchhandlung auf: das Buchkontor. Ich traute meinen Augen nicht und beschloss gleichzeitig, so viel Geld wie möglich hierherzutragen, damit dieses Geschäft bleibt. Wider alle kapitalistische Vernunft. Das Buchkontor ist ein Ort des Geistes. Ein Ort der kleinen Dinge, des Kaffees, des Kochens, der Zusammenkunft und vor allem natürlich des Buches und des Lesens. Die Kochbuchabteilung ist so sinnlich, dass ich eigentlich gerne jedes einzelne Buch kaufen möchte. Und es kann beim Schmökern schon passieren, dass plötzlich Ullas Mann Henrik hinter einem steht und einem ein Gurkenglas mit Sauerteig in die Hand drückt und meint: „Verwende den mal als Katalysator. Die ganze Wohnung wird riechen wie das Geruch gewordene Paradies und die Familie wird es dir unendlich danken.“ Ich übertreibe vielleicht ein wenig, aber die Geschichte ist wahr. Ich habe meinen Vater einmal gefragt, wie er die Konsequenz aufbringt, seit ich ihn kenne – und das sind immerhin 35 Jahre – täglich mehrere Stunden zu lesen. Worauf er nur lapidar meinte: „Lesen ist doch wie Nahrung.“ Also wandle ich den dummen Spruch (ich liebe dumme Sprüche!) dahingehend ab: Man liest auch mit den Augen. Die Bücher, die ich vom Kontor heimtrage, behalten die Aura dieses Ortes, von dem ich sie herhabe. Das klingt kitschig, ist aber so. So wie ein gutes Buch nachhallt, so kann auch ein guter Ort nachhallen. Ein Supermarktbesuch hallt nicht nach. Auster wollte ich Ihnen nicht vorenthalten: „Deine nackten Füße, wenn du aus dem Bett steigst und zum Fenster gehst. Du bist vierundsechzig Jahre alt. Draußen ist
alles grau, fast weiß, die Sonne nicht sichtbar. Du fragst: Wie viele Morgen bleiben noch? Eine Tür ist zugefallen. Eine andere Tür hat sich geöffnet. Du bist in den Winter deines Lebens eingetreten.“ Gute Literatur gemahnt ja immer daran, dass uns nichts bleibt als der Moment. Hat Literatur zwingend mit Haltung zu tun? Ich bin mir nicht sicher. Das Buchkontor unter der Leitung der streitbaren Ulla Harms jedenfalls hat eine Haltung. Mit einem Paket von dieser großen, bösen OnlineVersandkette sollte man den Laden besser nicht betreten. Das Kontor ist eine Begegnungszone fernab von Bobostan. Während ich mit der netten Wissenschaftlerin im Wettstreit stehe, wer im letzten Jahr mehr Bücher gekauft hat, betritt der Literat, der auch im Grätzl wohnt, das Geschäft. Er wirkt rastlos und ist wohl eher hier, um zu schauen, ob die Chefin sein „Schwert des Ostens“ auch gut positioniert hat. Zur Person Ulla Harms, Jg. 1972, suchte als Verlagsvertreterin nur nach einem neuen Büro. Gefunden hat sie eine Buchhandlung
Zur Person Manuel Rubey, Jg. 1979, Schauspieler, Kabarettist, Musiker. Und zwei Mal pro Woche im Buchkontor anzutreffen
Am Kriemhildplatz 1 wird gekämpft. Mit Wor-
ten und um das Wort und dessen Wert. Es wird gerichtet. Aber nicht über Menschen, sondern über Literatur. Gnadenlos mitunter. Oder wie es in Sybille Bergs neuem Roman so wundervoll heißt: „Ich misstraue Meinungen, sie sind mir zu manipulierbar und zu flüchtig, sie sind Gas, sie sind Religion der noch Dümmeren.“ Der Roman heißt „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ und ist im Hanser Verlag erschienen. Dieser Verlag hat grundsätzlich und immer die allerschönsten Buchcover, wie ich finde. Das wäre zum Beispiel ein wunderbares Thema für ein solches Streitgespräch im Kontor. Das letzte Buch, das ich dort gekauft habe, ist „Selbstporträt mit Flusspferd“ von Arno Geiger. Der Verlag ist derselbe. Ich will hier gar nicht Werbung machen. Höchstens Werbung für Ulla Harms. Diese schönen Bücher kommen auf Ullas altem Holztisch eben besonders gut zur Geltung. Im Buchkontor, diesem Juwel einer Buchhandlung. MANUEL RUBE Y
Illustr ation: anna hazod; Fotos: buchkontor, arno pöschl
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ch wohne seit September 2001 im 15. Bezirk. Obschon meine Vergangenheit keine zeitliche Abfolge zu haben scheint, sondern sich eher wie ein extrem überladener Moment anfühlt, werde ich dieses Datum nie vergessen. Bei Nick Hornby gibt es die Stelle, an der sich das Schicksal verändert: „We will always remember where we were, when that one get in.“ Er bezieht dies auf ein entscheidendes Fußballtor. Mein Erlebnis war der 11. September. Ich erfuhr von den Attacken auf das World Trade Center aus dem Radio in einem sogenannten Tschocherl (ob dieses auch im Falter-Report enthalten ist, weiß ich nicht, ist gerade aber auch nicht wesentlich). Es heißt Espresso Märzpark. Und ist von New York sehr weit entfernt.
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„Es hat schon was Großtuerisches“ Jürgen Lagger war Architekt, ehe er für die Literatur entflammte, die Branche wechselte und den Luftschacht Verlag gründete ühsam ist das Kleinverlegerleben“, M sagt Jürgen Lagger nach einer Stunde Gespräch und schnauft aus. Dann ent-
spannt sich seine Miene und er muss schmunzeln. „Aber es gibt keinen Grund, sich zu beschweren. Die Arbeit macht Spaß, das Gestalten und das Vermitteln.“ Mit Luftschacht führt der in Wien lebende Kärntner die Geschicke eines der spannendsten Literaturverlage Österreichs. Bemerkenswert ist die Offenheit und Vielfalt des Programms: Neben klassischen Romanen und Erzählbänden erscheinen bei Luftschacht auch regelmäßig erzählerische Mischformen – im aktuellen Programm etwa eine Utopien-Satire von Thomas Raab – sowie Graphic Novels, anspruchsvoll gestaltete Kinderbücher oder Werke des allseits geschätzten Comiczeichners Mahler (neu: der Gedichtband „dachbodenfund“).
foto: cedric kaub
Lagger war schon über 30 und als Architekt
tätig, als er in die Buchbranche reinwuchs. Bei einer Lesung lernte er den jungen Literaturfreak Stefan Buchberger kennen. Gemeinsam mit einem weiteren Buchliebhaber gründeten sie 2001 aus einer spontanen Laune heraus – „und unter sehr viel Alkoholeinfluss“ – Luftschacht. „Wir waren extrem blauäugig“, erinnert sich Lager. „Wir hatten keine Ahnung, wie ein Verlag funktioniert, und keine Kontakte, nichts.“ Trotzdem wurde aus der b’soffenen G’schicht mit der Zeit ein gut funktionierender Kleinverlag mit einem ansprechen-
den Programm. Und aus dem Architekten und Autor Jürgen Lagger wurde ein Verleger. Im letzten Jahr stieg sein Kompagnon Buchberger aus, seither führt er Luftschacht allein. Fürs eigene Schreiben, seine heimliche Leidenschaft, bleibt kaum noch Zeit: „Wir reden nicht von 40, sondern von regelmäßig 60 bis 70 Wochenstunden.“ Warum tut man sich das an? „Verdient hätte ich als Architekt mehr“, gibt er zu. „Aber der Umgang miteinander ist in der Literaturbranche einfach viel respektvoller. Den flotten Herrenwitz, der auf der Baustelle immer noch vorherrscht, muss man mögen. Ich habe mich nie damit anfreunden können.“ Der Reiz des Verlegerberufs liegt für den ruhigen Zeitgenossen darin, etwas in die Welt zu setzen. „Wobei: Es hat schon was Großtuerisches, sich Verleger zu nennen“, sagt er fast entschuldigend. Tatsächlich treten sowohl der Chef als auch sein Verlag sehr zurückhaltend auf. Luftschacht-Bücher drängen sich weder durch reißerische Covers noch durch ebensolche Themen auf. Understatement ist ehrenwert, gleichzeitig aber auch ein Manko, erklärt Lagger. „Luftschacht ist oft zu leise. Das ist schwer zu ändern, wenn man wie ich ein stiller Typ ist. Es gibt Kollegen, die immer gleich ,Hier!‘ schreien, wenn es um was geht. Ich habe zunehmend das Gefühl, dass ich das auch machen sollte. Mit vornehmer Zurückhaltung tut man sich selber nichts Gutes.“ Die Aufgaben eines Kleinverlegers sind vielfältig. Zwar hat Lagger seit kurzem
Jürgen Lagger, Jg. 1967, wuchs in Villach und Wien auf. Der studierte Architekt gründete 2002 mit Partnern den Luftschacht Verlag. Seine eigenen literarischen Werke veröffentlicht er lieber in anderen Verlagen
mit Henrike Blum eine Pressefrau, aber im Grunde macht er den Großteil der Arbeit allein. Sie reicht vom Lesen von Manuskripten bis zum Lektorat. Dabei gilt es immer auch, der Linie des Verlags treu zu bleiben. Letztere lässt sich aber nur schwer definieren: „Wir stehen irgendwo dazwischen. Die Bücher des Klever Verlags sind noch etwas literarischer, die von Milena trashiger. Wenn ich es auf einen Satz bringen muss, macht Luftschaft die anspruchsvolle, gut lesbare Literatur.“ Eine Linie zieht sich doch durch Jürgen Laggers Leben: Einen Hang zum Gestalten kann er nicht leugnen. Vor der Architektur und dem Verlegertum stand eine Ausbildung in der Gartenbauschule in Schönbrunn. So kam es zur frühen Übersiedlung in die große Stadt: „Ich habe meine ersten 14 Jahre in der netten Kleinstadt Villach verbracht. Dann bin ich nach Wien ins Internat gekommen, weil ich mir die HBLVA für Gartenbau eingebildet habe. Das ist die einzige Schule dafür in Österreich. Mir hat diese exotische Ausbildung mit Fächern wie Staudenkunde oder Baumschulwesen Spaß gemacht.“ Heute stört Jügen Lagger manchmal, dass er kein humanistisches Gymnasium und vielleicht noch ein Germanistik-Studium hinter sich hat. Aber nur ganz selten: „Mir kommt vor, dass mir bei manchen Diskursen das Vokabular fehlt. Aber ehrlich gesagt langweilt mich dieses Fachvokabular auch.“ SEBASTIAN FASTHUBER
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ria-Theresien-Str. 15, 6020 Innsbruck | Tyrolia Max Media, Maximilianstr. 9, 6020 Innsbruck | Riepenhausen, Langer Graben 1, 6060 Hall in Tirol | Riepenhausen, Andreas-Hofer-Str. 10, 6130 Schwaz | Zangerl, Salzburger Str. 12, 6300 Wörgl | Lippott, Unterer Stadtpl. 25, 6330 Kufstein | Tyrolia, Rathausst. 1, 6460 Imst | Jöchler, Malserstr. 16, 6500 Landeck | Vorarlberg: | Eulenspiegel, Marktstr. 42, 6845 Hohenems | Ananas, Marktpl. 10, 6850 Dornbirn | Brunner, Rathausstr. 2, 6900 Bregenz | Ländlebuch, Strabonstr. 2a, 6900 Bregenz | Brunner, Dr.-SchneiderStr. 22, 6973 Höchst | Burgenland: | s’Lesekistl, Obere Hauptstr. 2, 7122 Gols | Buchwelten, Hauptstr. 8, 7350 Oberpullendorf | Pokorny, Schulg. 9, 7400 Oberwart | Wagner, Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach | Steiermark: | Bücherstube, Prokopig. 16, 8010 Graz | Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfg. 25, 8010 Graz | Leykam, Stempferg. 3, 8010 Graz | Moser Ulrich, Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz | büchersegler, Lendkai 31, 8020 Graz | Leykam, Lazarettgürtel 55, 8025 Graz | Plautz, Sparkassenpl. 2, 8200 Gleisdorf | Buchner, Hauptstr. 13, 8280 Fürstenfeld | Leykam, Hauptpl. 2, 8330 Feldbach | Leykam, Mitterg. 18, 8600 Bruck/ Muhr | Mayr, Kurort 50, 8623 Aflenz | Kerbiser, Wiener Str. 17, 8680 Mürzzuschlag | Morawa, Burgg. 100, 8750 Judenburg | Hinterschweiger, Anna Neumannstr. 43, 8850 Murau | Buch + Boot, Altausse 11, 8992 Altaussee | Kärnten: | Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020 Klagenfurt | Besold, Hauptplatz 14, 9300 St. Veit/ Glan | Tyrolia, Roseng. 3-5, 9900 Lienz
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liter atur
Sigmund, Alma und der Rest der Gang
Der ewige Kreislauf von Leben und Tod
Wilfried Steiner geht ins Theater und bringt seine Romantrilogie der Künste mit Freud zu einem Happy End
In „Winters Garten“ von Valerie Fritsch steht der Untergang bevor. Trotzdem ist es ein sehnsüchtiger Roman
ie Anatomie der Träume“ ist der D Abschluss einer lose miteinander verbundenen Trilogie von Romanen.
ie beiden Orte existierten wie D parallele Universen, eines, in dem es nichts als Erde und Berge gab, die
Man kann die einzelnen Bücher aber auch ohne Kenntnis der jeweils anderen lesen. Steiners Romane hängen nicht durch die handelnden Figuren, sondern thematisch zusammen: Es geht um die Kunst und das Leben. Stand in „Der Weg nach Xanadu“ (2003) die Dichtung im Mittelpunkt, so war es in „Bacons Finsternis“ (2009) die Malerei. Der neue Roman spielt in der Wilfried Steiner, im Zivilberuf künstlerischer Leiter des Posthofs Linz, nicht ganz unbekannten Theaterwelt; aber nicht nur dort, zum Abschluss seines Erzählreigens brennt der Autor ein ordentliches Feuerwerk ab, feiert nebenbei in wuchtigen Passagen die Kraft der Musik (vor allem von Gustav Mahler) und ergründet mit Freud, Alma Mahler und anderen die Frage, wie (Liebes-)Wahnsinn und kreatives Schaffen zusammenhängen – bedingen sie einander oder stehen sie sich im Weg? Steiner packt ganz schön viel rein. Erstaunlich ist, dass der Roman, wenn man ihn sich als Koffer vorstellt, noch zugeht und im Laufe der Handlung auch kaum einmal aufspringt. Das liegt vor allem an Pinetti, dem, nun ja, Helden des Romans, der für die nötige Einheit in der Vielfalt sorgt. Wie andere Steiner-Figuren ist er ein mittelmäßiger Held, bei dem stets das Gefühl mitschwingt, sein Schöpfer möge ihn zwar, mache sich aber auch mit zarter Ironie über ihn und seine bisweilen pubertären Anwandlungen lustig. Steiners Helden sind Männer im besten Alter, nicht in bester Verfassung. Auch Pinetti ist vom Leben ein wenig enttäuscht, nach einer gescheiterten, kinderlos gebliebenen Ehe sowie einer mittelmäßigen Laufbahn als Dramaturg an einem zwar gut ausgelasteten, aber auch ziemlich unbedeutenden Stadttheater müde geworden und vielleicht auch etwas faul. Erst durch die Begegnung mit einer Frau, deren Buch er bühnentauglich umarbeiten soll, erwacht er wieder zum Leben. Es ist an sich nur eine Auftragsarbeit, die
er von seinem Intendanten Fehringer aufs Auge gedrückt bekommt. Pinetti scheint zunächst wenig interessiert, verachtet er seinen Chef doch als Populisten, für den allein ein volles Haus zählt. Irene Augustins „Das Jahrhundert der Seele oder Die Schlacht um die Träume“ über Freud, die Psychoanalyse und das Zeitalter der Moderne präsentiert ihm Fehringer als Bestseller, bei Pinettis Lektüre entpuppt es sich aber eher als essayistisches Werk und wenig massentauglich.
Aber Frau Augustin würde ihm schon gefallen. Während er sich noch fragt, was für ein Spiel Fehringer mit ihm treibt, brennen Pinetti auch schon langsam die Sicherungen durch. So unmöglich es ihm erscheint, sich das sehr personen-, aber wenig dialoglastige Buch als Bühnenwerk vorzustellen, lässt er sich nach einer ersten persönlichen Begegnung mit der Autorin doch nur allzu gern auf das Wagnis ein. Dass auch Irene mit Pinetti spielt und worauf sich die Handlung zubewegt, hat der Leser bald rausbekommen, Steiner macht auch kein großes Geheimnis darum. Mutig ist, wie er in seinem Roman mit Klischees spielt. Die Geschichte der Femme fatale und des ihr verfallenen, ein bisschen tölpelhaften Mannes ist ebenso wenig neu wie die Gschichtln über Intrigen unter Theatermenschen, die er hier ebenso auftischt wie einen zigarrerauchenden Professor Freud. Bei der Inszenierung seiner Geschich-
te hat Steiner aber nichts dem Zufall überlassen. Er wechselt geschickt hin und her zwischen der Rahmen-Liebeshandlung und Passagen aus Irene Augustins fiktivem Werk sowie Pinettis Versuchen, dieses fürs Theater umzuschreiben. Letztere fallen vor allem durch ihre hölzerne Machart auf, Steiner zieht seinen Protagonisten ordentlich durch den Kakao. Formal wendet er eine Montagetechnik an. Die Brüche zwischen den Textebenen sind bewusst hart, was die süffige Romanhandlung immer wieder schön unterläuft. Inhaltlich stellt Steiner den durchschnittlichen Figuren der Gegenwartshandlung auf der historischen Ebene Kapazunder wie Rainer Maria Rilke gegenüber, die dagegen wie Giganten erscheinen. Irene Augustin zitiert in ihrem Buch Rilke, der sich nach langem Überlegen gegen eine Therapie bei Freud entschied: „So viel, wie ich mich kenne, (…) scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe (…).“ Der Dichter wollte seine eigenen Abgründe lieber nicht zu genau erkunden, da er Angst hatte, er würde seine Kreativität damit aufs Spiel setzen. Bei Pinetti stellt sich die Frage so nicht. Der Typ braucht keine Therapie, er braucht eine Frau. SEBASTIAN FASTHUBER
Wilfried Steiner: Die Anatomie der Träume. Metroverlag, 269 S., € 24,90
man in den kantigen Gesichtern seiner Einwohner wiederfand, und eines, in dem die Gezeiten eben diese Kanten und Falten davonwuschen.“ Die beiden Orte – das sind eine Gartenkolonie am Land, „halb Bauerngehöft, halb Gutshof “, und eine anonyme Stadt am Meer. In der Kolonie, in der alles prächtig gedeiht, wächst Anton Winter auf. Das Kind beobachtet mit großen Augen und leisem Erstaunen den Lauf der Dinge und die Menschen bei der Arbeit. Vor allem seinen Vater, einen Geigenbauer, der seine Instrumente mehr liebt als ihn und seinen Bruder. In der Natur erkennt Anton bald einen Kreislauf, der von Leben und Tod erzählt. Der Garten, „ein Gleichnis aus Gedeih und Verderb“.
Eine besondere Nähe empfindet Anton zu seiner Großmutter. In der Speisekammer hat sie, sorgsam beschriftet, ihre Fehlgeburten in Gläsern mit Formalin eingelegt. Zahllose Stunden verbringt der Junge mit dem Betrachten der toten Wesen: „Anton gewöhnte sich schnell an die Veränderungen, die das Leben mit sich brachte. Dass die Natur alles auflöste, was sie gebar, in einem Wasserglas, in einem Sturm, in einem Winter, fand er aufregend.“ Schon in ihren früheren Werken gab sich Valerie Fritsch nur mit den existenziellen Themen zufrieden, mit dem Leben und der Liebe in Nachbarschaft zum Tod. In ihrem ersten Roman „Die Verkörperungen“ erzählte sie die Geschichte einer Edelprostituierten, die auf einer Kinderkrebsstation arbeitet. In „Die Welt ist meine Innerei“ berichtete sie von Sterbehäusern in Äthiopien. Selbst wenn in dem Buch das Pathos noch ein wenig überspannt war: Fritschs Sprache, die sie auch in die dunklen Ritzen unsere Daseins kriechen ließ, wusste da schon zu beeindrucken. Kürzlich publizierte sie eine Kurzgeschichte, in der die sterblichen Überreste eines Religionslehrers auf der Sezierplatte seines Freundes landen. Sie ist in dem Band „Volume 1. Zehn Jahre Plattform“ erschienen. Die Plattform ist jener Verbund junger Grazer Literaten, dem auch Clemens Setz entwachsen ist. „Winters Garten“ umfasst acht Kapitel. Anfänglich wähnt man sich fast in einem Märchen, einem von Otfried Preußler vielleicht. Doch die Idylle wird brüchig, bis sie letztlich in eine Dystopie kippt. Im zweiten Kapitel liegt die Kindheit von Anton schon lange zurück. Er lebt als einsamer, melancholischer und wortkarger Mann am Dach eines Hochhauses in der Stadt und züchtet Vögel.
Das Szenario, das Fritsch in sprachgewandten, lebendigen und satten Bildern beschreibt, wird dunkler. Bald wird klar, dass die Welt auf ihren Untergang wartet: „Auch in den Kirchen drängten sich Tag und Nacht die Menschenmassen, die im Gedröhne der Glocken wahnsinnig vor Angst um Gnade flehten.“ Der Reiz, den dieses Buch entfaltet, er-
wächst aber nicht aus der unspektakulären Handlung, die behutsam ausgebreitet wird. Anton wird sich zum ersten Mal verlieben, schon klar, er wird auch wieder auf seinen Bruder treffen und so etwas wie eine neue Familie finden. Und er wird noch einmal den längst verlassenen Garten wiedersehen. Wird „Winters Garten“ eines der Bücher des Jahres? Zumindest weist der Buzz, den es schon im Vorfeld in Kritikerkreisen erzeugt hat, darauf hin. Sogar der ORF verkündete bereits vor der Veröffentlichung in einer Mittags-„ZiB“ die Einschätzung, Fritsch sei „eine der interessantesten jungen deutschsprachigen Autorinnen der Gegenwart“. Das kann wohl kaum allein dem Umstand geschuldet sein, dass die 25-jährige Grazerin für ihren zweiten Roman vom kleinen Wiener Septime Verlag zum großen deutschen Suhrkamp Verlag gewechselt ist. Was das Buch besonders macht, ist die mit Finesse ausgeführte Beschreibung eines Zustands. Die in sich ruhende Erzählweise, die auf die direkte Rede – mit Ausnahme eines dialogischen Kapitels – weitgehend verzichtet. Und die Sprache, die wie ein schwerer Barolo berauscht und sich auch an sich selber berauscht. Aus einer unbestimmten Vergangenheit hat sie sich ins Heute verirrt. Es geht in „Winters Garten“ schließlich nicht nur um den bevorstehenden Tod, es geht auch um den Verlust der Kindheit und das Sehnen nach einer Zeit, die verlorengegangen ist. Fritsch beschreibt das in Bildern, als würden diese auf einer Leinwand vorüberziehen. Vergleiche mit Lars von Triers Film „Melancholia“ werden nicht ausbleiben. Und wenn Fritsch ihren Weg weitergeht, wird sich eine heranreifende Dichtergeneration vielleicht eines Tages mit ihr vergleichen müssen. TIZ SCHAFFER
Valerie Fritsch: Winters Garten. Suhrkamp, 154 S., € 17,50
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Inneres Empfinden und äußerer Schein A.L. Kennedy in rasendem Perspektivwechsel: „Der letzte Schrei“ heißt der neue Erzählband der Schottin ur einen kleinen „Stachel der Möglichkeit“ senkt Mark ins Herz der Frauen. N Mehr nicht. Mehr geht nicht mehr, denn
Mark, der notorische Fremdgeher, ist erwischt worden und muss in gespielter Willfährigkeit bei seiner Frau Pauline Abbitte leisten. Gemeinsam mit Pauline, die zu küssen für ihn dann einen besonderen Reiz hat, „wenn sie nach Verachtung schmeckte“, ist Mark wegen einer Zugpanne vorübergehend auf einem namenlosen Rangierbahnhof in der englischen Provinz gestrandet. Während die gereizt-träge Passagiermenge auf dem Bahnsteig auf Weiterfahrt hofft, taxiert Mark im Vorübergehen eine Frau, die daran gewöhnt ist, „nicht angemessen wahrgenommen zu werden“. Mit Blicken stellt er ihr Leidenschaft in Aussicht, weidet sich an seinen Fantasiebildern, ihrer Verlegenheit und ihrer überraschten Hoffnung, um schließlich alles mit einem einzigen Lächeln des Bedauerns („Und es ist jammerschade, dass ich nicht kann.“) wieder auszuradieren. Für ihn ist es eine Fingerübung. Mehr schmerzt
Mark, dass er just erwischt wurde, als ihm erstmals schien, dass er es mit einer Geliebten – der 22-jährigen Alkoholikerin Emily – vielleicht ernst meinen könnte. Echtes Aufbegehren kommt für ihn aber auch nicht in Frage. Er genießt im Geheimen. Ein Sympathieträger ist dieser Mark nicht, aber er ist ein idealer, facettenreicher Protagonist für eine Erzählung von
A.L. Kennedy. Waghalsig und risikofreudig zeigt sich die Schottin (Jg. 1965) auch in ihrem neuen Erzählband „Der letzte Schrei“, in dessen titelgebender, längster Story Mark sein Unwesen treibt. In den insgesamt 13 Erzählungen des Buches geht es um Angriff und Verteidigung im privaten wie im öffentlichen Raum: Kämpfe ums soziale Überleben, intime Kämpfe zwischen zwei Menschen oder Körpern, Kämpfe um Wünsche, die unerfüllt bleiben, und gegen Albträume, die sich nicht abschütteln lassen. Und ganz besonders geht es um den Konflikt zwischen innerem Empfinden und äußerem Schein. Das sind die Schauplätze der A.L. Kennedy. Kennedy ist inzwischen Meisterin einer Kompositionstechnik, derer sie sich schon in anderen Romanen und Erzählungen bedient hat: Kursiv gedruckte Passagen grenzen das Außen von der Innenperspektive ab und spitzen den Kontrast zwischen beiden zu. Wenn sich in „Baby Blue“ eine frisch getrennte Frau in einen Sexshop verirrt, liest sich das dann so: „Die Verkäuferin war sofort – Kann ich Ihnen helfen? – ganz dicht an meinem Ellbogen, sie klang seltsam – Sie suchen nach etwas Bestimmtem? – was ich gar nicht tat – und stellte ihre Fragen wie eine Betreuungskraft oder so: nicht direkt eine Ärztin oder Krankenschwester, aber vielleicht eine Dentalhygienikerin oder ein hochpreisiger Friseur.“ Die Perspektive wechselt ständig hin und her. Manchmal gibt es eine auktoriale
Kennedy kommt immer von der Maschek-Seite und erwischt einen eiskalt
Erzählstimme, manchmal ein „Ich“, manchmal ein „Du“. Beinah organisch greifen die Blickwechsel ineinander und fügen sich zum unverkennbaren Kennedy-Sound. Der besitzt die alte Sogwirkung, ist aber mit den Jahren anstrengender geworden. Vielleicht könnte man sagen: abstrakter und deutlich anspruchsvoller zu lesen. Als gäbe Kennedy sich nicht mehr einfach mit der guten, alten Kunst des Spannungsaufbaus und Dialogschreibens zufrieden. Sie will experimentieren. Das Politische spielt
A.L. Kennedy: Der letzte Schrei. Erzählungen. Aus dem Englischen von Ingo Herzke. Hanser. 208 S., € 20,50
dabei eine große Rolle. In „Die Auswirkungen der guten Regierung auf die Stadt“ geht es um eine Soldatin, die mit ihrem Liebhaber einen Kurzurlaub in Blackpool verbringt. Das „beschissene Blackpool“ wird unter ihren Blicken vom Tourismus-Mekka zur einsturzgefährdeten Fassade einer Zivilisation, die Folter von Gefangenen zulässt und den am Rande beteiligten Soldaten anrät, einfach nicht genau zuzuhören und hinzuschauen, „denn Zuhören zeigt Wirkung“. Die Sehnsucht nach Rettung und Heilung wird bei Kennedy selten erfüllt. Bei ihr bekommt nicht mal ein Scheidungskind den Hund, den es als Trost bräuchte. Worum es in den Geschichten geht, weiß man allerdings immer erst hinterher. Kennedy kommt von der Maschek-Seite und erwischt einen eiskalt. Sogar dann, wenn sie einen Kuss oder Hoffnung auf Versöhnung gestattet. JULIA KOSPACH
Oh Familie, oh Schutz vor ihr! Dialogmeisterin Anne Tyler seziert in „Der leuchtend blaue Faden“ fesselnd ein Großfamilienleben nne Tyler ist die große Unbekannte A unter den US-amerikanischen Literaturstars. Die 74-Jährige gilt als „legendär
scheu“. Sie hat so gut wie alle wichtigen anglo-amerikanischen Literaturpreise bekommen, ihre Bücher verkaufen sich millionenfach, sie wurde verfilmt, Leser und Kritik lieben sie gleichermaßen. Sie selbst aber entzieht sich bis fast zur völligen Unsichtbarkeit: nichts als ein in Eleganz gealtertes Fotogesicht auf Buchumschlägen und kaum ein halbes Dutzend Interviews in fünf Jahrzehnten. Selbst als sie 1989 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, kam sie nicht selbst, sondern schickte ihre Lektorin. Wenn sie über ihr Schreiben Auskunft geben solle, so Tyler, falle ihr das Schreiben danach gleich eine Zeitlang schwerer. Anne Tyler bleibt lieber privat – persönlich und
in der Themenwahl. Rituale und Gleichmaß prägen Tylers Alltag in Baltimore, Maryland, wo sie seit langem lebt und wo auch alle ihre Romane spielen. Ihr Baltimore ist nicht das kriminalitätsversehrte, heruntergewirtschaftete Baltimore der USTV-Serie „The Wire“ und auch nicht das der intellektuellen Elite der Johns Hopkins University. Es ist das Baltimore der kleinen Dinge und kleinen Leben, in denen Familie und Beziehungsbande im Mittelpunkt stehen. Tylers Mittelstandshelden sind bis zum Hals im verworrenen, Generationen um-
spannenden Geflecht von Familienbanden verheddert, ihre Identität bezieht sich im Guten wie im Schlechten aus diesen Banden und sie fragen sich – so es ihnen überhaupt gelingt oder erstrebenswert scheint loszukommen – verwirrt, wie zum Teufel sie zu einer eigenen Identität finden sollen, wenn sie diese nicht mehr täglich neu aus der Quelle ihrer Herkunftsgeschichte speisen können. Nicht anders geht es den Mitgliedern der Familie Whitshank, deren Geschichte Anne Tyler in „Der leuchtend blaue Faden“ erzählt. Da ist das Großelternpaar Red und Abby, deren erwachsene Töchter Amanda und Jeannie und deren Söhne Stem und Denny, wobei Letzterer schon seit Teenagertagen mit Bravour die Doppelrolle des schwarzen Schafes und verlorenen Sohnes spielt. „Sie besaßen“, schreibt Anne Tyler, „das Talent so zu tun, als ob alles bestens wäre“, was sie durchaus nicht zur Ausnahme macht. Insgesamt passiert in diesem grandiosen Roman nicht viel, schon gar nichts, was über das Maß dessen hinausginge, das jeder von uns im Lauf seines Leben erleben wird oder könnte: Streit auf Familienfeiern, gemeinsamer Strandurlaub im Sommer, größer werdende Kinder und Enkel, Ehe-Auf und Ehe-Ab, beunruhigend alternde Eltern, Erinnerungen und Wiederholungen, Dutzende Male erzählte Familienanekdoten – im Fall der Whitshanks beziehen sich diese vor allem auf Reds Vater Junior.
Insgesamt passiert in diesem grandiosen Roman nicht viel
Bühne dieses Roman-Kammerspiels ist das Familienhaus der Whitshanks, das nicht weniger Persönlichkeit besitzt als die handelnden Personen. Wie so oft bei Tyler ist es weniger die Geschichte selbst, die so fesselt, als die Art, wie sie erzählt ist. Die komplexe Romanstruktur mit ihren souveränen Zeitsprüngen ist allein schon aufregend. Dazu kommen Tylers Dialoge, von deren Kunst schon oft geschwärmt worden ist. Einmal mehr bleibt einem der Mund offen vor
Anne Tyler: Der leuchtend blaue Faden. Aus dem Englischen von Ursula-Maria Mössner. Kein & Aber. 448 S., € 23,60
Bewunderung, mit welcher unaufgesetzten Präzision ihre Dialoge winzige Stimmungsnuancen wiedergeben oder auslösen können und wie stark sich das beim Lesen vermittelt. Allein die zehn Seiten Dialog, mit denen der Roman beginnt, qualifizieren ihn für den besten Buchanfang des Jahres. Tyler ist eine Virtuosin, die aus der Jahrzehnte umspannenden Oberflächenbeschreibung banalen Großfamilienalltags die Tiefenstruktur herausarbeitet, die aus etwas ganz anderem, nämlich den Gefühlen ihrer Figuren besteht: aus Schmerz und Kränkung, einseitiger Liebe und Missverständnissen, Kompromissen und Erinnerungen, Fehlentscheidungen und kleinen Lügen, Zorn, Heiterkeit, Langeweile und – wie immer in Familien – sehr viel Eifersucht. Nichts wird behauptet, alles tritt einfach zutage. Das ist das Großartige an Anne Tyler. Es wirkt, als wäre es nichts, dabei ist es höchste Kunst und will einen nicht loslassen. JULIA KOSPACH
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Das Leben im Schwebezustand Boris Pofalla zieht durch Berliner Clubs, Jana Beňová kommt nicht aus der postkommunistischen Tristesse raus
In „Low“ wird eine Flucht mit toxischen Mit-
teln beschrieben: „Ernsthaft, wer von uns weiß schon, wo er vor ’ner Woche mit wem was gemacht hat?“ Die Palette ist groß: Speed, Koks, Pillen und Gras hat man schon auf Seite 32 hinter sich gebracht. Es folgt Experimentelleres: Opium, LSD (das war damals in der 11. Klasse), MDMA, Crystal Meth und Ketamin. Zusammen mit Gin Tonic, Wodka Cola, Kölsch und Mezcal-Shots verschwimmt die Erzählzeit von ein paar Monaten zu einer gefühlt stunden-
losen Sauce, einem Rausch, in dem sich Upper und Downer bekämpfen. Wann hört die Vergangenheit auf, wann fängt die Gegenwart an?, fragt sich der junge Mann. In der Vergangenheit jedenfalls liegt ein Punkt, an dem die Dinge anfingen auseinanderzufliegen. Diese Einsicht verspricht im Laufe der Geschichte aber wenig Verwandlung und keine sichtbare Verbesserung. Die Tage unterscheiden sich einzig durch die Drogenart, zwischen Tag- und Nachtleben liegt ein Haufen bunter Flyer für Privatpartys und Clubbings in alten Schwimmbädern und verlassenen Häuserruinen („Es ist beinahe egal, was man tagsüber macht, solange man nur abends etwas vorhat, das langsam näher rückt“). Das Leben im Schwebezustand braucht Anhaltspunkte und Rituale. Der Ich-Erzähler sucht nach seinem Freund Moritz und weiß dabei nicht, wer er eigentlich selbst ist. Verloren stolpert er seit dem Verschwinden von Moritz alleine durch die Nächte. Auf der Suche blendet er an den Schauplätzen ehemaliger Ekstase zurück zu den Erinnerungen an Moritz und ihre jugendlichen Erlebnisse. Letztlich bleibt der Geruch eines leeren Clubs: nach alten Ledersesseln, verschüttetem Schnaps, Reinigungsmittel und feuchtem Beton. Die Drogen von Jana Beňová sind starke Bewegungsverben. Es pulsiert, galoppiert und prallt schon im ersten Absatz ab. Im Speisesaal des Provinzgymnasiums begann Rosas Sehnsucht nach Unabhängigkeit. Statt zur Schulspeisung geht sie ins Kaufhaus Prior, kauft russische Eier und Coca-Cola (lies: Freiheit und Anarchie). Dort am Selbstbedienungsimbiss sind alle gleich, unabhängig und erwachsen. Hier hüpft auch die auktoriale Erzählperspektive erstmals in die Ich-Form. Rosa will ein Teil der großen Welt sein, nicht des Kollektivs. 1999 ist sie 16 und verteidigt ihre Neigung zur Wirklichkeitsflucht mit Walter Benjamin. Dieser schreibe nämlich, „wenn man verabsäumt, mit sechzehn von zu Hause wegzulaufen, dann verabsäumt man etwas Unersetzbares und
Wichtiges für seine weiteren Lebensjahre. Und sei es, dass die Flucht nur achtundvierzig Stunden andauert. Nachholen kann man das nicht. Es ist ebenso wichtig, mit dreißig von einem Mann wegzulaufen.“ Das macht Rosa gewissermaßen zu ihrem Lebensmotto. So beginnt das Schuleschwänzen, das Rauchen und die abendlichen Treffen mit Son im Café. Son heißt wie die Nachsilbe nordischer Familiennamen und wie das skandinavische Wort für Sohn, aus dem diese Anhängsel-Familiennamen entstanden sind. Auch er will kein Anhängsel größerer Gesellschaften sein. Son und Rosa, das Mädchen von der Siedlung hinterm Hauptbahnhof, einte schon als Kinder, dass sie abhauen wollten. Vögel, Flügel und die Bücher von Camus brin-
Boris Pofalla: Low. Metrolit, 240 S., € 20,60
Jana Beňová: Abhauen! Aus dem Slowakischen von Andrea Koch-Reynolds. Residenz, 136 S., € 18,90
gen sie rettend fort von den Feindbildern der disziplinierten Arbeit und Unbeweglichkeit. Und das ist so lyrisch, wie es klingt. „Prosa erzählt etwas, Poesie bewirkt etwas mit Hilfe von Worten“, so sehen die beiden die Welt. Traumartig assoziativ in Verse geflochten, bestimmen Stroboskopsätze den temporeichen Text. Es duellieren sich prädikatlose Sätze und Partizipreihen in bildhafter Sprache. Dazwischen heißt es immer: „Abhauen!“ Später möchte Rosa aus dem Alltag, aus Ehe, Arbeit und Cellulite ausbrechen. Man fragt sich, wie es so weit kommen konnte, wo sie doch als 16-Jährige so rebellisch erschien. Ihre Liebe zu Son ist mit dessen Augenkrankheit erblindet. Bevor die Vision vom gemeinsamen Flüchten verschwindet, flieht Rosa lieber mit einem anderen, dem Marionettenspieler Corman. Paris, Kalifornien, Bratislava oder zumindest im Schienenersatzbus von Tulln nach Krems – Ortswechsel sollen Rettung versprechen. Darauf wartet auch der Leser und fragt sich: Ist das eine Spirale, in die das Buch sich dreht? Um festzustellen: Es ist die dumpfe Grundstimmung, depressiv wie ein ewig grauer Jänner in postkommunistischer Tristesse. So bleibt es bis zum Ende, wenn auch metaphorisch. J U L I A N E F I S C H E R
Illustr ation: anna hazod
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er Totenkopf ist der Smiley unseres Jahrhunderts. Warum das so ist, erklärt Tom dem Ich-Erzähler im Taxi von einem Club zur nächsten Party. Die Erläuterung jener These wäre bestimmt interessant, aber diese Tiefen erreicht der Roman von Boris Pofalla nicht. Er blubbert, ob bewusst oder unbewusst, an der Oberfläche einer dekadenten Szene der Berliner Clubwelt. Der Erzähler von „Low“ ist Teil einer Subszene und nicht Stellvertreter einer gesamten Bindestrich-Generation, die man interpretierend viel zu oft über jeden zeitgenössischen Adoleszenzroman schmiert wie eine luftdichte, dicke Paste. Er ist geprägt vom hedonistischen Lebensgefühl verlorener Upper-Class-Kids, die sich kreativ wähnen oder einfach nur narzisstisch cool. Ihre Rebellion beschränkt sich darauf, sich dem Alltag, dem Durchschnitt, der Gesellschaft und ihren Idealen zu entziehen, davor zu flüchten – ohne zu wissen, wohin. Freiheit bedeutet für sie, außerhalb des Systems zu leben, ohne Zeitgefühl, ohne Vergangenheit, ohne Plan, weder für den nächsten Tag noch für das Leben, und auch ohne echte Probleme. Einen BMW2002 fährt man ja trotzdem. Die Eltern denken, Müttersöhnchen sei artig in die Studienlaufbahn gestartet. Aber man fühlt sich nicht als Arztsohn, sondern als wildes, gesetzloses Tier: „Treten Sie näher, nur keine Scheu, haben Sie Teil am aufregenden Leben junger Großstädter am Anfang des dritten Jahrtausends.“
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Der Osten gibt nicht auf Thomas Brussig und Alexander Osang, literarische Wende-Spezialisten, werfen erneut Blicke zurück in die DDR
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homas Brussig war einer der ersten Wende-Autoren. Mit „Helden wie wir“ (1995) schuf er diesbezüglich einen epochalen Roman, der sowohl dramatisiert als auch als Film zu sehen war. 20 Jahre danach bringt er nun mit „Das gibt’s in keinem Russenfilm“ einen weiteren Wende-Roman heraus. Dieses Mal erklärt er aber nicht, wie es zum Mauerfall kam, sondern ignoriert die Geschichte – oder besser: Er schreibt sie um. In Brussigs Roman fällt die Wiedervereinigung aus, die Mauer bleibt stehen. In der DDR überlebt der Kommunismus.
Thomas Brussig macht sich dabei auch selbst zum Thema. In einer fiktiven Autobiografie, in der einzig die bibliografischen Daten stimmen, spinnt der Autor lustvoll die Geschichte des geteilten Landes weiter. Der Ausgangspunkt ist die DDR vor dem Mauerfall: Brussigs Debüt, die „Wasserfarben“, wird im ostdeutschen Aufbau Verlag gedruckt, weil gerade ein Kontingent Papier frei ist – wie sich später herausstellt, bekam er den Vorzug vor der zu systemkritischen Christa Wolf. Brussig wird von heute auf morgen ein Star. Bei seiner ersten Lesung lässt er seiner Euphorie freien Lauf und verkündet folgende drei Versprechen: Er wird aus der DDR erst dann ausreisen, wenn jeder DDR-Bürger das darf; er wird auf sein erstes Telefon so lange warten, bis alle Genossen eines haben; und er wird Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ erst dann lesen, wenn das Buch nicht mehr auf dem Index steht. Das machte ihn 1988 in der DDR zu so etwas wie einen Punk. Der Jungautor landet sehr bald in der Boheme von Ostberlin. Mit Heiner Müller und Christoph Hein quatscht er über die Praktiken der Stasi. Weiters ehrt ihn ein doppelseitiger Maxim-Biller-Verriss im Spiegel. Natürlich gibt’s auch Kuriositäten, so wird etwa Ingo Schulze der Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Und Michael Ballack führt die DDR-Kicker in der Weltmeisterschaft 2006 ins Viertelfina-
le, wo sie erst in der Verlängerung an der BRD scheitern. Inhaltlich treibt der Autor den Roman ganz gut voran, zumal sich die Romanfigur Brussig nicht einfach abschieben lässt, sondern ein Systemkritiker bleibt. Er ist ein Opfer der Stasi, hält jedoch den Verleumdungen stand. Verteidigt wird er übrigens von einem gewissen Gregor Gysi. Damit das Romankonstrukt wirtschaftlich funktioniert, macht der Autor die DDR zur stromerzeugenden Supermacht. Mit einem Stromauto nach Tesla-Bauart schafft sie es an die technologische Weltspitze. Das kann man sich ja vielleicht noch vorstellen, aber hält das wirklich einen Staat am Leben, der schon so am Abgrund taumelte wie die DDR vor dem Mauerfall? Wahrscheinlich nicht. Trotz mancher Einwände ist die Versuchsanordnung aber interessant. Brussig fragt sich, wie viele Menschen sich wirklich gegen eine Diktatur auflehnen oder die Grenzen eines Systems ausloten, wenn es rein wirtschaftlich ganz gut ausgeht. Die Antwort ist ernüchternd: Cash macht fesch, auch ein Land wie die DDR. Ausgerechnet der FC Bayern München ist ein Bindeglied zwischen Thomas Brussig und Alexander Osang. Während bei Brussig der „Z-Strom“ aus der DDR Trikotsponsor der Bayern wird, schrieb Osang für den Spiegel zum Anpfiff der Frühlingssaison in der deutschen Bundesliga eine Kolumne über die Bayern. Womit wir im Prinzip schon beim Thema sind: Vielen Lesern ist Osang, trotz einer ansehnlichen Werkliste, eher als Reporter ein Begriff. Das passt von der Herangehensweise auch
gut zu seinem neuen Roman „Comeback“. Der Autor erdachte dafür die fiktive Ostrock-Band Die Steine, angelehnt an die Ostberliner Bands Pankow und Silly. Die Steine gründeten sich in den frühen 1980er-Jahren in der DDR und erreichten nach holpriger Laufbahn zur Zeit der Wende ihren kolossalen Höhepunkt. 25.000 Besucher kamen im Sommer 1988 zu ihrem großen Open
Thomas Brussig: Das gibt’s in keinem Russenfilm. S. Fischer, 384 S., € 20,60
Air in Berlin-Friedrichshain. Alle warteten auf Antworten, Die Steine gaben sie ihnen für eine Nacht. Ihr damaliger Hit „Wartesaal“ spiegelte das Lebensgefühl der Bevölkerung wider: Raus aus dem Wartesaal, jetzt muss etwas Neues kommen. Der Roman setzt aber 2014 ein. Wie so viele Bands sollen auch Die Steine – zum wiederholten Mal – wiedervereint werden. In kurzen, bündigen Kapiteln, die an seine Reportagen erinnern, schreibt Osang über die verschiedenen Stationen der Gruppe. Er wählt dafür immer den Blickwinkel eines anderen Bandmitglieds Alex gerät durch einige West-Auftritte in die Fänge der Stasi und fungiert irgendwann nicht nur als Gitarrist, sondern auch als Spitzel. Conny, der als Manager die Band zusammenhält, stirbt bei einem Unfall mit einem russischen Truppentransporter. Nora, die Leadsängerin und eine charismatische Rockerin, versucht nach der Wende in New York Fuß zu fassen – erfolglos. Osang springt etwas unkoordiniert durch die
Alexander Osang: Comeback. S. Fischer, 288 S., € 19,60
Zeit, was den Lese- und Gedankenfluss leider hemmt. Dafür gelingen ihm feinfühlige Bilder. Er zeigt Menschen, die eigentlich nie ans Ziel ihrer Träume gelangen. Sogar am Tag ihres Triumphs schrammen sie am Glück vorbei: Sie können den großen Moment, das Sommer-Open-Air mit den vielen Besuchern, einfach nicht fassen. Doch trotz interner Intrigen, Neid und Liebesfrust gelingt es ihnen auch nicht, mit der Band abzuschließen. Immer wieder trommelt Nora die Musiker zusammen. Eine gewisse Parallele zu den Rolling Stones mag hier emotional mitschwingen, die Stones ließen bekanntlich auch keine Turbulenz aus. Die Steine erleben die Höhen und Tiefen des Rock-’n’-Roll-Lebens allerdings auf wesentlich bescheidenerem Niveau. Am Ende bleibt wenig übrig. Osang begleitet die Band bei der Landung im Nirgendwo, im Gepäck einige Scheiben Vinyl und unzählige Versatzstücke dessen, was man Leben nennt. M A R T I N G . W A N K O
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Schonungslose Ehrlichkeit im Bauhausstil In „Der Tag, als meine Frau einen Mann fand“ schildert Sibylle Berg die Qualen eines Langzeitpaares achen wir uns nichts vor: Das Leben ist die Hölle. Ein ZumutungsmaraM thon, der ausnahmslos tödlich endet. Mo-
mente der Freude gewährt eine kurze hormonelle Springflut, die jedoch bald im staubigen Flussbett einer staatlich beglaubigten Lebensgemeinschaft versickert. Das Rinnsal der Lust wird schmaler und schmaler. Kann man sich nicht gleich die Kugel geben? Könnte man. Oder man liest ein Buch von Sibylle Berg. Frau Berg nennt die Scheiße beim Namen und schildert das Leben, wie es ist, sogar noch ein bisschen schlimmer. Das ist ihr Trick, und dieser Trick bringt gleichzeitig einen therapeutischen Effekt mit sich. Die deutsche Schriftstellerin überzeichnet die Dinge mit spürbarer Lust, und als Leser darf man aufatmen, weil es im eigenen Leben zwar eh auch mühsam ist, aber doch nicht ganz so horrormäßig zugeht wie in Frau Bergs Büchern. In „Vielen Dank für das Leben“, ihrem letz-
ten Roman, durfte man daran teilhaben, wie ein als Zwitter geborenes Heimkind alle Schmach dieser Welt erdulden musste. In ihrem neuen Werk richtet die 52-Jährige den Fokus ihres Interesses weg von geschlechtlichen Randgruppen und direkt drauf auf das malträtierte Herz der Gesellschaft: die monogame Langzeitbeziehung. Rasmus und Chloe sind schon seit langem ein Paar: Er ist Theaterregisseur, sie ist seine Frau. Der Deutsche mit (finnischem) Migrationshintergrund war vor Ewigkeiten
mal ein angesagter Regisseur, jetzt muss es die Provinz tun oder, wie im ersten Teil des Romans, das Ausland. Irgendwo in einem Dritte-Welt-Land, aber immerhin am Meer, versucht Rasmus Einheimische – Christoph Schlingensief, schau oba! – mit einem Theaterprojekt zu beglücken. Die wollen aber lieber Bier statt Kultur. Ab und zu versucht Rasmus auch, der Morgenerektion sei Dank, seine Frau Chloe zu begatten, mit einem Schwanz, der „etwas schief gebogen, dünn und nach vorne spitz zulaufend“ ist. Das Glück bleibt ein einseitiges. Die tropische Hitze, das kulturelle Desinteresse der Einheimischen und die Sackgassenhaftigkeit ihres Daseins setzen den beiden armen Berg-Protagonisten derart zu, dass sie sich in einem nahen Vergnügungsort der touristischen Unterschicht so richtig volllaufen lassen. Als Special bekommt man danach noch eine kleine Sexmassage, jeder für sich. Was soll man sagen: Chloe hat mit dem jungen, göttergleichen Masseur Benny den besten Sex seit Ewigkeiten. Man gönnt es ihr von Herzen. Wo einst Verhärmtheit war, wächst nun sexuelle Hörigkeit. Bis zum Ende ihres Aufenthalts vögelt Chloe quasi durch. Zurück in ihrer architektonisch anspruchsvollen Wohnungsanlage in Deutschland, in der zwischen Sichtbetonwänden Edward Hopper’sche Einsamkeitsgestalten verunglücken, siecht sie dahin. Doch der lockenköpfige Adonis reist ihr nach. Nach einiger Zeit entwickelt sich das Zu-
sammenleben von Rasmus, Chloe und Benny zu einer sadomasochistisch grundierten Ménage-à-trois.
Frau Berg nennt die Scheiße beim Namen und schildert das Leben, wie es ist
Sibylle Berg: Der Tag, als meine Frau einen Mann fand. Hanser, 254 S., € 20,50
Da sagt man erst einmal: Uff! Und: Gratulation! Gratulation für tausend wahre Sätze. Man kommt aus dem Notieren fantastisch witziger, wundervoll böser und abgrundtief wahrer Sätze gar nicht mehr raus. Was Berg in ihrem Bauhausstil da über Paarbeziehungen, das Alter und den Alltag linksliberalsupertolerant-supertoter Paarbeziehungen bemerkt, hat die Klasse schonungsloser Ehrlichkeit. Und als Gimmick bekommt die deutsche Theaterszene noch 20 knackige Peitschenschläge auf ihren nackten Po. Gut: Benny ist mit seinem sonnigen Wesen, seinem perfekten Körper und seinem Fickvirtuosentum etwas arg sexfantasieklischeehaft geraten, aber auch der mittelalten, mitteleuropäischen fiktionalen Frau sei ihr Spaß gegönnt. Bergs Volte zum Ende des Romans, als sie die abwechselnde Schilderung des Geschehens aus der Sicht von Rasmus und Chloe aufbricht und Bennys Perspektive für einmal mit einfließen lässt, wirkt wie eine misslungene Entschuldigung für die Flachheit der Figur. Am Ende kommt es natürlich knüppeldick. Also: Herzinfarkt, Koma, Lungenentzündung, Syphilis. Einer wird vom Laster überfahren. „Die Wilden, Unbeherrschten“ müssen sterben und „die grauen Mäuse bleiben übrig“. So ist es eben, das Leben. STEFAN ENDER
Netter Wochenendtrip nach Italien Das hätte es in der Goethezeit nicht gegeben: Jan Brandts „Tod in Turin“ zeichnet eine etwas andere italienische Reise nach oethe und Seume, Moritz und Heine, G Thomas und Heinrich Mann, Bachmann und Bernhard, Henscheid, Brink-
mann und Krausser: „Alle deutschsprachigen Schriftsteller von Weltrang haben über ihre italienische Reise geschrieben.“ Dies schreibt der deutschsprachige Schriftsteller Jan Brandt in seinem jüngsten Buch. Es handelt von seiner Reise zur Buchmesse in Turin im vergangenen Jahr. Auf Einladung seines italienischen Verlags prä-
sentierte er dort die Übersetzung seines Romans „Gegen die Welt“. Mit diesem Debüt sorgte er 2011 für Furore: ein Epos von fast 1000 Seiten, das in der ostfriesischen Provinz das Lebensgefühl einer ganzen Generation ausbreitet. Mit der 60. und vorerst letzten Lesung aus dem Buch vor beflissenem hessischem Provinzpublikum beginnt sein Bericht. Er wechselt noch kurz zu einer Gastdozentur nach England, um dann endlich zur dreitägigen Italienreise durchzustarten. Zum Goethe blieb immerhin eineinhalb Jahre. Mit jener Detailversessenheit, die er schon in seinem vorigen Buch zur Perfektion getrieben hat, schildert er die Tage in Turin: die Fahrt ins Hotel, das im legendären ehemaligen Fiat-Werk untergebracht ist, die Begegnungen mit Schriftstellerkollegen, italienischen Verlagsleuten und Journalisten. Alles muss notiert werden, nichts darf verlorengehen, nicht einmal die Namen der zahllosen Pasta-Sorten, die ein edler Super-
markt anbietet. Wo der Text vor lauter Informationsfülle zu platzen droht, entlastet er sich in endlosen Fußnoten. Die pseudonaiven, höchst komischen Illustrationen von Tom Smith dokumentieren zusätzlich wichtige Schlüsselszenen. Goethe fand in Italien zu sich selbst, Rolf Dieter Brinkmann brachte sich in Rom gegen alle bildungsbürgerlichen Konventionen in Stellung, Nietzsche umarmte in Turin ein Pferd und verabschiedete sich damit endgültig in den Wahnsinn. Mit solchen Extremerfahrungen kann Brandt zunächst einmal nicht dienen. Er tut, was die Verlagsleute von ihm erwarten, stromert ansonsten durch die Stadt, will sich auch das Grabtuch Jesu nicht entgehen lassen, das allerdings gerade durch eine Kopie ersetzt worden ist: ein netter, im Grunde banaler Wochenendtrip, weit entfernt von irgendwelchen Initiationserfahrungen. Und doch arbeitet es in ihm, verschieben sich seine inneren Koordinaten. „Ich bin im Himmel gewesen ... In Turin habe ich in drei Tagen mehr erlebt als in Berlin in drei Wochen ... Und jetzt, da ich wieder zurück bin, erscheint mir alles, was ich in Turin erlebt habe, wie der Traum eines anderen.“ Dabei ist ja nicht einmal sicher, wer da aus Turin zurückgekehrt ist. Beim Einchecken für den Heimflug nämlich kommt es zu einer gespenstischen Verwechslung. Die Identität des Autors löst sich auf, damit verbunden kommt ein jäher Wechsel von
Alles muss notiert werden, nichts darf verlorengehen
akribischem Realismus ins phantastische Register. Das muss der Tod in Turin sein, den der Titel beschwört, jene Grenzerfahrung, die in Italien durchlebt haben muss, wer ein deutschsprachiger Schriftsteller von Weltrang werden will. Spätestens jetzt sollte jedem Leser klar sein, dass der Jan Brandt, den er über gute 300 Seiten in Turin begleitet hat, nicht in jeder Einzelheit mit jenem Jan Brandt zu verwechseln ist, der all diese Geschichten erzählt. Beiden aber ist gemeinsam, dass sie an einem großen Roman arbeiten, der von der deutschen Auswanderung nach Amerika handeln soll. „Tod in Turin“, ausdrücklich als „Materialienband I“ deklariert, darf also wohl als eine Gelegenheitsarbeit verstanden werden, als eine parodistische, ein wenig kokette Spielerei, mit der Jan Brandt einen Platz unter den wichtigen Autoren seiner Generation der heute 40-Jährigen reklamiert. Gleichzeitig macht er Ambivalenzen und Wi-
Jan Brandt: Tod in Turin. Eine italienische Reise ohne Wiederkehr. Mit Zeichnungen von Tom Smith. DuMont, 304 S., € 18,50
dersprüche deutlich, die Gegenwartsliteratur heute aushalten muss. Ihre bildungsbürgerliche Herkunft muss sie nicht verleugnen, auch wenn kaum einer davon noch Genaueres wissen will. Sie darf cool und anachronistisch zugleich sein, so frei wie vielleicht kein anderes Medium. Eine Ahnung von dieser Freiheit vermittelt Jan Brandts italienische Reise. Und wann kommt sein nächster Roman? TOBIAS HE YL
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Aus dem wilden Pannonien Der 1989 verstorbene Danilo Kiš ist eine fixe Größe der europäischen Literatur und doch ein Unbekannter
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anilo Kiš liebte das literarische Spiel mit Texttypen, das Zuschreiben und Herauslocken neuer Bedeutungsebenen. Dieser Umstand ist in seinem vielfältigen Werk deutlich spürbar, werden hier doch am laufenden Band Fakten und Fiktionen miteinander verbunden, persönliche Impressionen und historische Betrachtung nebeneinander montiert. Nur sechs Jahre vor seinem frühen Tod schrieb er unter dem Titel „Geburtsurkunde“ eine autobiografische Miniatur, die den gleichen Prinzipien folgt. Der als Eintrag für ein Nachschlagewerk geplante Text, das dann bezeichnenderweise aber niemals erschien, unterläuft alle konventionellen Erwartungshaltungen, die der Titel aufruft. Er legt vielmehr die literarische Kraft des vermeintlichen Dokuments frei. Experimente dieser Art waren Programm bei Kiš – ein Ansatz, dem der Historiker Mark Thompson in seiner nun auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegenden Studie nur zu gerne aufgenommen hat. Die kurze Eigendarstellung des Schriftstellers, die wenig mehr als zwei Druckseiten umfasst, hat er an prominenter Stelle integriert und zum Ausgangspunkt seiner Untersuchungen gemacht. Seine Annäherung an Kiš ist deshalb auch
keine klassische Biografie, vielmehr ein eigenwilliger, verspielter Zugriff auf ein nicht weniger eigenwilliges, verspieltes Œuvre. Thompson schlüsselt die historischen Kontexte eines Lebens und Werks auf, das sich aus dem Schatten des Zweiten Weltkriegs und der Shoah herausentwickelt hat und in denen das Echo der realen Gewalt spürbar geblieben ist. Der von Kiš selbst betriebenen Verflechtung von Existenz und Schaffen entspricht auch die Struktur von Thompsons von erläuternden Exkursen durchzogener Arbeit. Einerseits entfaltet er, unter ständiger Rückkopplung an den ursprünglichen „Geburtsurkunde“-Text, Satz für Satz den biografischen Verlauf eines auf Literatur
ausgerichteten Lebens. Andererseits unterbricht er mit sogenannten „Zwischenspielen“ die vermeintliche Linearität der zu schreibenden Biografie und setzt detaillierte Einzeluntersuchungen der literarischen Werke in der Reihenfolge ihres Erscheinens dazwischen. Im Verlauf der Lektüre ergibt sich der Eindruck
eines enzyklopädischen Netzes, das durch interne Verweise noch zusätzlich gestützt wird. Thompson imitiert auf freundschaftliche Weise die Schreibhaltung von Kiš. Er bewegt sich sprunghaft, doch immer nachvollziehbar durch die Existenz eines Literaten, der die eigene Biografie immer als Verhängnis und die Geschichte (bzw. die Geschichtsschreibung) als Herausforderung zur Auseinandersetzung verstanden hat. Als Sohn eines ungarischen Juden und einer Montenegrinerin wird Kiš 1935 im Königreich Jugoslawien geboren. Seine Kindheit ist von der Flucht nach Ungarn und der Verschleppung des Vaters nach Auschwitz geprägt. Die Deportation bleibt zentrales Thema bei Kiš, der die Verweigerung seiner jüdischen Identität nicht selten im literarischen Spiegelbild des serbisch-orthodox getauften Kindes, das er selbst war (und zugleich auch nicht), auftreten lässt. Der Wunsch zu schreiben prägt schon seine Schulzeit und verdichtet sich während seines Studiums der Literaturwissenschaft, manifestiert sich auch in seiner Arbeit als Lektor in Paris. Als Emigrant wollte sich Kiš dabei aber nie verstanden wissen, mehr als literarischer Kosmopolit, der sich zwischen Bruno Schulz und Jorge Luis Borges positionierte. Das Persönliche und das Allgemeine prallen in seinen Arbeiten aufeinander, die integrierten Bezüge zwischen dem Lokalen und dem Europäischen prägen seine Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte. Nicht zufällig stehen die nun auch wieder zugänglichen Werke „Garten, Asche“, „Frühe Leiden“ „Sanduhr“ unter dem facettenreichen Übertitel des „Familienzirkus“.
Mark Thompson: Geburtsurkunde. Die Geschichte von Danilo Kiš. Hanser, 508 S., € 30,80
Danilo Kiš: Familienzirkus. Die großen Romane und Erzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Hanser, 912 S., € 35,90
Hier fand Kiš in deutlicher Abgrenzung zum simplen Provinzialismus zu einer spezifischen Form der Autofiktion, die wie auch sein Frühwerk unter dem deutlichen Einfluss von Gide und Proust steht. Von Buch zu Buch entwickelt er ein Werk weiter, das, so Thompson, auf die „immanente Anwesenheit von Kulturen in Form von Anspielungen, Reminiszenzen, Zitaten aus dem gesamten europäischen Erbe“ setzt. Neben der Auseinandersetzung mit dem abwesenden Vater verpflichtete sich Kiš in leidenschaftlicher Ablehnung nationalistischer Vereinnahmung zu einem Abarbeiten an einem mythisch überformten Mitteleuropa, das für ihn unter dem Namen Pannonien firmiert. Es ist ein Raum der Grenzüberschreitungen und Verwischungen, dem er sich mit einer tastenden, kartografisch anmutenden Literatur annähert. Bei allen Verwirrspielen ist sich Kiš, wie Thompson schlüssig nachweist, durchaus der historischen Tiefendimension dieser römischen Namenswahl bewusst, positioniert er sich damit doch deutlich abseits des von ihm abgelehnten marxistischen Geschichtsverständnisses, dem er sein alternatives Modell eines Heimatlosen entgegenstellt. Seine von Verweigerung geprägte Ableh-
nung von Ideologien findet sich wohl nirgendwo so deutlich wie im vieldiskutierten, ebenfalls wieder erhältlichen Roman „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“, in dem sich Kiš mit dem Terror des Stalinismus auseinandersetzt. Ausgerechnet der Konflikt um dieses Buch stärkte seine internationale Bekanntheit und führte zu einer Selbstverteidigung in Form eines weiteren Buchs. Mit „Anatomiestunde“ legte Kiš kenntnisreich seine literarischen Methoden dar – die Neuauflage dieses wunderbaren Texts steht noch an. Mark Thompsons Werkbiografie als auch die literarischen Arbeiten von Danilo Kiš verlangen nach einer aufmerksamen Lektüre. Sie fordern den Leser und belohnen die Anstrengung. T H O M A S B A L L H A U S E n
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Die letzten Kriegstage in Berlin Heinz Reins ursprünglich 1947 erschienener Roman „Finale Berlin“ ist eine grandiose Wiederentdeckung
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er Jubiläumskalender ist zum absoluten Herrscher des literarischen Lebens avanciert. Es regiert der Terror der runden Zahl. Je einfallsloser die Verlage, desto bereitwilliger delegieren sie ihre Programmpolitik an den Kalender, desto mechanischer bedienen sie Gedenktage mit den dazu passenden Büchern. Zum Glück gibt es Ausnahmen. Am 8. Mai wird der Zweite Weltkrieg in Europa seit 70 Jahren zu Ende sein. Zum Jahrestag hat sich Schöffling etwas wirklich Originelles einfallen lassen. Statt in der Flut der Konjunkturbücher gedankenlos mitzupaddeln, hat der Frankfurter Verlag eine Wiederentdeckung an Land gezogen: einen der ersten literarischen Texte über den Untergang Berlins in den letzten Kriegstagen. Mit der Wiederauflage des Romans „Finale
Berlin“ aus dem Jahr 1947 macht der Verlag auf das Werk eines fast vergessenen Autors aufmerksam – des Erzählers und Journalisten Heinz Rein, der 1906 in Berlin geboren, 1933 als Linker von den Nazis mit Schreibverbot belegt und zeitweise in Gestapo-Haft genommen wurde. Nach dem Krieg arbeitete er als freier Schriftsteller in der DDR, ehe er nach endlosen Querelen und dem Bruch mit der SED in den 1950ern nach BadenBaden zog, wo er 1991 starb. „Finale Berlin“ wurde unmittelbar nach Kriegsende geschrieben, offenbar in größtem Tempo, als Heinz Reins Erinnerun-
gen an die letzten Tage Berlins noch akut und lebendig und die Eindrücke vom Alltag der Zivilbevölkerung in der untergehenden Reichshauptstadt noch frisch waren. Das würde auch manche dramaturgische Unbeholfenheit und sprachlich-stilistische Nachlässigkeit im Text erklären. Allein was tut’s, wenn wir Leser doch augenblicklich hineingezogen werden. Der Roman liest sich packend, roh, atemlos und ungestüm. Die Unmittelbarkeit des Erlebens springt einen aus jeder Seite an. Aus den fast 800 Seiten dieser dokumentarischen Romanchronik über die letzten zwei Wochen vor der Kapitulation Berlins am 2. Mai 1945 schlagen uns Sirenengeheul, Bombengetöse und Geschützdonner entgegen, der Lärm zusammenkrachender Häuser, das Prasseln ungelöschter Brände, das Dröhnen der Artillerieeinschläge der herannahenden Roten Armee, die sich immer weiter ins Stadtzentrum vorkämpft. Dazwischen sind die gebellten Befehle fanatischer SS-Kämpfer zu hören, die bis zum letzten Moment noch Jugendliche und alte Männer als „Verteidiger von Berlin“ in den Straßenkampf gegen die Sowjetsoldaten hetzen, „Werwölfe“ losschicken und Jagd auf Deserteure machen, um sie an den Laternenpfählen aufzuknüpfen. Aus den Volksempfängern kreischen die Stimmen der Nazi-Führer mit ihren hysterischen Durchhalteparolen. Der Panzerbär, das „Kampfblatt für die Verteidiger von
IRAK
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Der US-amerikanische Autor Jeff Archer berichtet aus dem Auge des imperialistischen Taifuns über die planmäßige Zerstörung des Irak und die massenhafte Ermordung seiner Bewohner – ein Verbrechen, das längst AuschwitzDimensionen erreicht hat, aber bis heute straflos geblieben ist.
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Groß-Berlin“, überzieht den eingekesselten Stadtkern mit blindwütiger Propaganda. Rein streut solche Radio- und Zeitungsmeldungen im dokumentarischen Wortlaut ein. Trümmerstaub, Bunkermief, modrige Kellerluft und der Gestank verwesender Leichen in den Straßen legen sich erstickend über die Romanseiten.
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mit, was es für die ausgehungerte und verängstigte Zivilbevölkerung der Stadt hieß, zwischen Mitte April und dem Tag der Kapitulation im umkämpften und völlig zerstörten Zentrum der Reichshauptstadt, der Hauptkampfzone der letzten Tage, ausharren zu müssen. Die Menschen haben Todesangst: Sie fürchten sich vor den Sowjets und sehnen sie doch herbei. Wann kommen endlich die Russen und machen dem Schrecken ein schreckliches Ende? (Dass sie nicht nur als Befreier, sondern auch als Plünderer, Uhrenräuber und Vergewaltiger kamen, verschweigt der Autor nicht.) Heinz Reins Tagebuch-Roman erschien erstmals zwei Jahre nach Kriegsende. Bereits 1947 druckte der Ostberliner SEDParteiverlag Dietz trotz Papierknappheit das umfangreiche Werk in 80.000 Exemplaren. „Finale Berlin“ wurde zu einem der ersten Bestseller der Nachkriegszeit. 1980 brachte die Büchergilde Gutenberg eine Neuausgabe heraus, doch danach geriet der Roman in Vergessenheit. Zu Unrecht. „Finale Berlin“ liest sich überwach, aufsässig, wütend, empört über die sinnlosen Grausamkeiten der NaziKämpfer, die in einer Untergangsraserei ihrer offenkundig verlorenen Sache noch zahllose Menschen opferten. In seiner Tag-fürTag-Chronik erzählt Rein von einer kleinen Gruppe von Nazi-Gegnern, die sich konspirativ in einer Kneipe in Berlins zerstörter Mitte zusammenfindet. Ihr gehören neben dem Kneipenwirt auch ein untergetauchter kommunistischer Gewerkschaftler und ein sozialdemokratischer Arzt an. Hauptfigur ist ein junger Soldat, der von seiner Kompanie desertiert ist und von der Gruppe versteckt wird. Mit äußerster Vorsicht, Umsicht und List sucht sich diese über die Tage des Endkampfes zu retten. Alle wollen nur noch am Leben bleiben. Trotzdem führen sie weiterhin Sabotageakte durch, helfen Illegalen und verteilen heimlich Flugblätter mit Aufrufen zur Kapitulation. Als gefährlichste Feinde stehen ihnen die ver-
bissenen SS-Leute gegenüber, die in ihrer gnadenlosen Suche nach Untergetauchten und Deserteuren die Straßen und die Schutzkeller durchpflügen. Dazu kommen die Denunzianten, die noch in letzter Stunde bereit sind, buchstäblich jeden als verdächtig bei der Gestapo anzuzeigen. Heinz Rein arbeitet sich vor allem an der dumpf duldenden Willfährigkeit der Deutschen ab, die zwölf Jahre Nazi-Terror gefügig mitmachten – bis zum Untergang. Gelegentlich geht der linke Volkspädagoge mit ihm durch. Das schlägt sich in Form didaktisch belehrender Passagen nieder, auf die der heutige Leser lieber verzichten würde. Das tut aber der zeithistorischen Bedeutung dieses bemerkenswerten Romans keinen Abbruch. SIGRID LÖFFLER
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„Als würde mir die Schädeldecke entfernt“ Zur ersten vollständigen Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson (1830–1886) in deutscher Übersetzung
Im ersten überlieferten Gedicht aus 1850 hebt
die 20-Jährige noch recht konventionell an: „Ihr Musen, auf! Stimmt an den göttlichen Gesang, / dass hehres Garn sich flicht ins Valentinsgedicht!“ Noch wird viel geseufzt und nach Zweisamkeit geschmachtet, bald kommen aber Selbstironie und eines der wichtigsten Motive der Dickinson – Melancholie gepaart mit Ekstatik – ins Spiel. Sie imaginiert sich als Tänzerin, bekennt aber sogleich: „Den Spitzentanz beherrsch ich nicht / Kein Mensch hat’s mich gelehrt – / Doch oft ergreifet meinen Sinn / Ein solcher Übermut.“ Das romantisch grundierte Understatement gerät außer Rand und Band, wenn es in „Wild Nights“, über deren Sinn die Interpreten bis heute rätseln, heißt: „Sturmnächte – Sturmnächte! / Wär ich bei dir / In solchen Sturmnächten / Schwelgten wir! (…) Verankert sein – heut Nacht – / In dir!“ Der Adressat dieser Wildheit ist unbekannt, eher bekannt ist, dass es dabei nicht (oder nicht nur) um Sex geht. Bis heute unbekannt ist auch der Grund jener mysteriösen Depression, die dazu führte, dass Emily Dickinson ab ihrem 22. Lebensjahr für Jahrzehnte das eigene Haus praktisch nicht mehr verließ. Sie hält die Verbindung zur Welt stattdessen durch Briefe aufrecht. „Ein Brief ist eine Erdenfreude / Den Göttern vorenthalten“, dichtete sie einmal. Dem Bruder schreibt sie übers Wetter, Freunden und Bekannten erzählt sie aus ihrem Alltag, vom Einkochen von Weingelee oder von ihrem Hund; vor allem legt sie diesen Briefen aber Gedichte bei. Ein Drittel ihrer 1800 literarischen Texte verschickte sie per Post. Zu Lebzeiten veröffentlicht Emily Dickinson ganze zehn Gedichte. Ein wiederkehrendes Motiv ihrer quasimetaphysischen, vom traditionellen Kirchenlied ausgehenden Dichtung in kurzen Jamben sind poetische Definitionsversuche abstrakter Begriffe. „Is Heaven a physician?“, wird da etwa gefragt. Ihrem Gott schneidet die Dickinson einmal die Hand ab, über den nachgerade feministisch angekratzten Allmächtigen heißt es in einem anderen Gedicht: „Freilich ist Gott neidisch – / Er kann es nicht ertragen / Dass wir uns lieber miteinander / Als mit Ihm abgeben.“
Die göttliche Dreifaltigkeit wird in einer Art ketzerischen Naturreligion aufgehoben: „Im Namen der Biene – / Des Schmetterlings – / Und der Brise – Amen!“ Wohlgemerkt, es handelt sich hier um ein ganzes Gedicht. Biene, Schmetterling, Brise: Mehr braucht es dafür nicht. Die Knappheit solch literarischer Figuren, die
Emily Dickinson: Sämtliche Gedichte. Zweisprachig. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler. Hanser, 1408 S., € 51,30
Zu Lebzeiten veröffentlicht Emily Dickinson ganze zehn Gedichte
immer mehr zu Verkürzung und zu einer Flut von Gedankenstrichen tendieren, machen die Gedichte manchmal zu regelrechten Wortanfällen. Zur Veröffentlichung waren die Texte ohnedies nicht bestimmt. In Bezug auf Publikum und Dichterruhm nahm die Dichterin eine geradezu antikapitalistische Haltung ein: „Publizieren – heißt Versteigern / Eines Menschen Geist.“ Doch ist Emily Dickinson nicht nur in dieser Hinsicht modern. Sie nimmt mit ihren Texten mehr als nur den freien Vers vorweg. Ein Gedicht an den Wind liest sich eigentlich schon wie ein Vorläufer des Rap: „Der Wind kam nicht aus dem Obstgarten – heut – / Kam von weiter her! / Spielte nicht mit Heu – zog vorbei – / Ließ den Hut in Ruh – / Ein unbeständiger Kerl ist er – und sehr / Gib’s zu – / Lässt Er einen Zapfen an der Tür / Auf der Tanne war er dann – das ist klar / Doch wo ist die Tanne – gib das an – / Warst du dort irgendwann?“ Dickinsons Gedichte sind keine „Naturgedichte“ im herkömmlichen Sinn. Vielmehr handelt es sich um Spekulationen über Grundfragen des Lebens, über Distanz und Sympathie, Liebe und Sexualität, Angst und Hoffnung. Thomas Higginson, einen der wenigen persönlichen Freunde, empfängt die Dickinson im August 1873, wie üblich ganz in Weiß gehüllt, in der Hand hält sie ein Büschchen Rosmarin-Seidelbast. Kommt die 43-jährige Dichterin ihm erst kindlich und manieriert vor, so verschwindet ihre Naivität, sobald es um Literatur geht. Dickinson laut Higginson: „Wenn ich ein Buch lese und mir ist, als würde mir die Schädeldecke entfernt, weiß ich: Das ist Poesie.”
Eine feministische Poetik gut 50 Jahre vor Expressionismus, Dada und Surrealismus trug Dickinsons Werk den Ruf eines amerikanischen Marquis de Sade ein. Tatsächlich ist es mit zahlreichen Foltermetaphern durchsetzt: „Gewicht von Nadeln borstig – / Das stößt, und perforiert – / Damit, falls Fleisch der Wucht hält Stand – / Der Stich – Kalt insistiert (…).“ Dickinsons ekstatischer Liebesdiskurs legt gnadenlos die nackte Seele bloß. Liebe sticht und verletzt. Ein Dickinson-Bewunderer aus jüngerer Zeit, der englische Lyriker und Kritiker Ted Hughes, attestiert ihr „mystischen Furor“. Die scheinbar unpolitische Dickinson habe darüber hinaus mit ihren Gedichten eine „Neuschaffung Amerikas“ unternommen. Den Amerikanischen Bürgerkrieg, vor dessen blutigem Hintergrund ihr Werk entstand, habe sie ins Innere ihres poetischen, alle traditionellen Bande kappenden Systems verlegt. Wie dem auch sei, schwer zu fassen sind die Gedichte allemal. In einem späten Gedicht voll geradezu un-
menschlicher Zartheit heißt es: „To see the Summer Sky / Is Poetry, though never in a Book it lie – / True Poems flee –“. An diesen äußerst komprimierten poetischen Ekstasen werden bisweilen auch die Grenze des Übersetzens deutlich: „Den Sommerhimmel sehn / Ist Poesie, mag sie auch nie in Büchern stehn – / Echte Gedichte fliehn.“ Auch von der rasanten Dynamik einer Zeile wie „Take all away from me, but leave me ecstasy“ bleibt im Deutschen nicht viel übrig: „Nehmt alles fort, doch lasst mir die Ekstase, / Dann bin ich reicher, als die Zeitgenossen – / Steht mir mein Reichsein an, wenn just vor meinem Heim / Die Mehrbesitzenden sind endlos arm?“ Dennoch: Gunhild Küblers Ausgabe der „Sämtlichen Gedichte“ von Emily Dickinson ist eine editorische Meisterleistung, sorgfältig kommentiert und von einem ausführlichen Nachwort auch zur verwickelten Editions- und Rezeptionsgeschichte abgerundet. ERICH K LEIN
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er Weg der 1830 in eine angesehene Familie aus Amherst, Massachusetts, geborenen Emily Dickinson schien vorgezeichnet. Der Großvater war einer der Gründer des renommierten Amherst College, der Vater zeitweiliger Kongressabgeordneter der Whig Party. Emily war wohl für die standesgemäße Heirat einer höheren Tochter bestimmt. Stattdessen schrieb sie Gedichte wie dieses: „Mein Lieb ist wohl ein Vogel – Weil es fliegt! / Und sterblich ist es wohl – / Weil es erliegt. / Wie Bienen sticht es! / Ach, Du seltsam Lieb! / Verwirrest mich.” Sie studierte alte Sprachen, Philosophie und Naturwissenschaften und besuchte ein „Female Seminary“. Im Elternhaus wurden zeitgenössische amerikanische Philosophen wie Emerson und Thoreau oder auch Darwins „Entstehung der Arten“ diskutiert. Dass die junge Frau zu einer Vorläuferin der Lyrik der Moderne werden würde, war trotzdem nicht abzusehen.
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Gegen das Böse ist kein Kraut gewachsen Maria Matios erzählt in ihrem Roman „Mitternachtsblüte“ vom Ende der Multikulturalität in der Bukowina scheremoschne, ein Dorf im Grenzwald zwischen der Ukraine und Rumänien, T ist kein guter Ort für jugendliche Sonder-
linge, schon gar nicht 1940. Die Bukowina, seit jeher Spielball der Mächte, dient Maria Matios erneut als Schauplatz eines ihrer Romane. Sie selbst wurde 1959 im einst ethnisch bunten „Buchenland“ geboren, das bis 1918 Teil der Habsburgermonarchie war. Der Zweite Weltkrieg kam über die Bukowina wie eine Naturgewalt, sie geriet wiederholt zwischen die Fronten, wurde zu dem, was Timothy Snyder „Bloodlands“ und Martin Pollack „kontaminierte Landschaft“ nennt: Zuerst wurde sie durch die Rote Armee annektiert, die vermeintlichen Konterrevolutionäre wurden zu Tausenden nach Zentralasien deportiert. Im Juni 1941 fiel die deutsche Wehrmacht ein und begann sofort mit dem Holocaust. Davon erzählt Matios in „Mitternachtsblüte“ wie in ihrem letzten Roman „Darina, die Süße“ aus Frauenperspektive, von einer Randfigur, die an einer stigmatisierenden Krankheit leidet. Das wunderliche Kind Iwanka hat Epilepsie. Fast ein Viertel des Buches nimmt sich Matios Zeit, das dörfliche Leben zu beschreiben, beinahe eine Idylle – wenn auch mit prügelndem Vater und bäuerlicher Subsistenzwirtschaft: eine noch nicht elektrifizierte Welt, in der man um den toten Vater weint, aber nicht um den Säugling, weil die Mutter ohnehin jedes Jahr schwanger ist. Mädchen werden mit 14
verheiratet: „Ein Mädel soll lange Haare haben, doch einen kurzen Verstand.“ Das kennt man aus der heimischen Anti-Heimatliteratur; dort erfährt man aber nichts über das Zusammenleben von Ruthenen, Rumänen, Polen, Deutschen, Huzulen, Bojken und Lemken. Die jüdischen Nachbarn sollen zwar die Kirche nicht be- Matios schildert treten, aber man heizt ihnen bereitwillig eine Landschaft, die am Sabbat den Ofen an. Man weiß, dass ihre Unschuld verliert es ihnen seit jeher als Ersten an den Kragen geht, doch herrscht eine gewisse Indolenz („Das geht uns nichts an“). Matios’ Sprache ist einfach, ihre Klarheit lässt
erkennen, wovon zu erzählen ist. Die Dialoge haben zuweilen eine stifterartige Förmlichkeit. Die volkstümliche Gläubigkeit des Kindes sowie das Unverständnis von Eltern und Dorfgemeinschaft beschreibt Matios mehr als genau. Iwanka schneidet sich nach falsch verstandenem Brauchtum in die Hand, weder Hexe noch Heiler können ihren Arm retten, am Ende muss der jüdische Wanderdoktor die Blutvergiftung stoppen. Sie will Hagel mit blankem Hintern vertreiben, eine unliebsame Schwägerin mittels der getrockneten Speiseröhre eines Wolfes verfluchen, die überall lauernden Teufel mit Kräutern bannen. Da weiß man schon: Das große Unheil kommt erst, und kein Zauber wird es aufhalten. „Das Paradies ist im Himmel, hat die Großmutter gesagt, und die Hölle ist auf Erden.“
Maria Matios: Mitternachtsblüte. Aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck. Haymon, 224 S., € 19,90
Die Enge des Dorfes, die archaische Schicksalergebenheit, die gewachsenen ethnischen Ressentiments sind nichts im Vergleich zur maschinellen Gewalt, die nun über Tscheremoschne hereinbricht. Matios schildert eine Landschaft, die ihre Unschuld verliert. Das zeichnet sich ab, als der galizische Schmuggler Petro erzählt, die Polen seien vor den Deutschen gefallen „wie eine angesägte Föhre, ... die Menschen und Länder werden aussortiert wie Nüsse“. Kurz darauf beginnen die Sowjets, die Dorfgemeinschaft auseinanderzureißen, das wahre Morden passiert unter den Deutschen. Mitten drin Iwanka, deren kindlicher Aberglaube sich in Entsetzen über die Gräueltaten verwandelt. Das Ende der Bukowina ist bekannt, jenes des Romans lässt eine kleine, individuelle Hoffnung. Matios geht es um „Wahrheit, Reue und Vergebung“. Die Autorin fiel unter dem Oligarchen Janukowitsch in Ungnade und kandidierte nach dessen Sturz erfolgreich für das ukrainische Parlament. Nicht zuletzt deswegen ist sie eine der bekanntesten Autorinnen des Landes, die auch ins Chinesische und Japanische übersetzt wurde. Die deutsche Übersetzung des Romans stammt von Maria Weissenböck (verdienstvoll, bis auf „die Großmutter lernte ihr“). Das im Roman oft wiederholte Motiv der streitenden Brüder illustriert wohl auch den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine. DOMINIK A MEINDL
Wie man sich von sich selbst befreit Der erfolgreiche autobiografische Erstlingsroman von Édouard Louis ist ein soziales Lehrstück douard Louis hieß ursprünglich ÉdouÉ ard Bellegueule, gerufen wurde er „Eddy“. So steht es im autobiografischen
Roman, den der Autor 2012 in Paris veröffentlichte, und auch in der Wirklichkeit verhält es sich so. „Schönmaul“, mit diesem Namen ist das Kind gestraft; die entsprechenden Wortspiele werden gleich zu Beginn des Romans zitiert. Édouard Louis, 22, hat sich von den Fesseln seiner Herkunft befreit, indem er dieses Buch schrieb. Die Befreiung hat auch einen finanziellen Hintergrund, denn der junge Autor entstammt einer Schicht, die man als neues Lumpenproletariat bezeichnen könnte, und sein Erstling war in Paris ein Bestseller. Die Vorgeschichte seiner Befreiung kann man in „Das Ende von Eddy“ nachlesen. Schon der Titel weist darauf hin: Eddy Bellegueule gibt es nicht mehr. Die Niederschrift und Veröffentlichung des Romans ist gleichbedeutend mit seiner Vernichtung. „En finir avec Eddy“ lautet der Titel im Origi-
nal. Hinrich Schmidt-Henkel, ein außerordentlich gewandter Übersetzer, der viele sprachliche Register zu ziehen versteht, bildet den von Louis häufig zitierten nordfranzösischen Soziolekt geradezu lustvoll nach – beim Titel scheint er aber etwas schmähstad gewesen zu sein (oder hat ihn ein Lektor behindert?). „Schluss mit Bellegueule“ würde passen und käme dem Original näher.
Die Erzählung selbst hat etwas Gewalttätiges, nach dem Selbstverständnis des Autors handelt es sich um Gegengewalt gegen das gewalttätige System. Die davon Betroffenen und im Buch Beschriebenen beziehen die literarische Gewalt aber auf sich selbst: Der will uns vernichten! Mitsamt seinem Eddy will Louis auch die Umgebung zerstören, in der er aufgewachsen ist, also die Menschen im Dorf Hallencourt: Mach kaputt, was dich kaputt macht, Literatur gegen Verrohung und Verrohung gegen Literatur, gegen die Schwulen, gegen die Weicheier. „Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu“, dieser Satz von Thomas Bernhard, den Louis als literarisches Vorbild nennt, könnte als Motto vor „Das Ende von Eddy“ stehen. Der Blick auf Familienmitglieder und Verwandte, Kumpel und Schulkollegen ist erbarmungslos, sicher nicht der einzig mögliche, das war Louis beim Schreiben bewusst, aber geeignet, um verschwiegene, wenngleich offensichtliche Wahrheiten der postindustriellen Gesellschaft ans Tageslicht zu bringen. Weite Kreise der Bevölkerung sind von einer Pauperisierung erfasst worden, die einhergeht mit einer zunehmenden, aggressiven Unbildung, einer Kulturlosigkeit, die Ressentiments aller Art bis hin zum Rassismus nährt. Der Roman macht den Begriff „sekundärer Analphabetismus“ sinnlich fassbar. Ähnliche Verfahren zwischen Fiktion und Dokumentation haben in Frankreich
Louis war 18, 19 und hatte von Literatur nicht viel Ahnung, als er das Buch schrieb
Édouard Louis: Das Ende von Eddy. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. S. Fischer, 208 S., € 19,60
und Belgien Autoren und Filmemacher versucht, indem sie die aus den Erzählungen bereits verschwundene Arbeitswelt wieder eingeführt haben, und zwar als kaputte, heruntergekommene, als Milieu einer drohenden und faktischen Arbeitslosigkeit bei wachsender Arbeitsunlust. Wunderknaben und Fräuleinwunder heben die
Massenmedien ja gern aus der Taufe und lassen sie, wenn sie nicht halten, was sie versprechen, auch rasch wieder fallen. Louis war 18, 19 und hatte von Literatur nicht viel Ahnung, als er das Buch schrieb. Sein Erzähltalent ist authentisch, es zeigt sich in zahllosen kleinen Szenen, Beobachtungen, Sentenzen. Außerdem ist seine Haltung zur Welt für einen Jugendlichen erstaunlich bewusst und selbstbewusst, treffend, manchmal vielleicht ungerecht, notwendig ungerecht, um den Bildern ihre Schärfe zu geben. Ein einziges Mal lässt Louis eine Figur auftreten, deren abweichende Sichtweise er als Autor in Erwägung zieht. Es handelt sich um einen Lehrer am städtischen Gymnasium, den er offenbar schätzt. Diese Erziehungsperson gehört bereits zum Milieu der Gebildeten, in dem sich Édouard Louis heute bewegt. Am angehenden Gymnasiasten hebt der Lehrer dessen „unbedingten Willen“ hervor, der ihm selbst nicht bewusst war und den Autor immer noch erstaunt. LEOPOLD FEDER MAIR
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iese Anthologie anlässlich des 80. Geburtstages von Alois Mock ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. Sie ist kein Bericht von Weggefährten Alois Mocks. Sie ist kein Rückblick auf sein bedeutungsvolles Leben und Wirken, keine Würdigung seiner Visionen, die an Strahlkraft bis heute nichts eingebüßt haben. Sie ist vielmehr alles in einem. Mit Beiträgen von Erhard Busek, Niki Glattauer, Peter Hofbauer, Toni Innauer, Sebastian Kurz, Monika Langthaler, Robert Menasse, Heinz Prüller, Erwin Pröll, Wolfgang Schüssel, Hubert Wachter, u.v.m. ●
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ordana Kuic´ schildert in ihrem Jahrhundertroman fünf Frauenschicksale in einer Zeit großer gesellschaftlicher Umbrüche. Vor dem Hintergrund der politischen Ereignisse zwischen 1914 und 1945 machen sich die fünf Schwestern – Nina, Buka, Klara, Blanka und Riki – der sephardisch-jüdischen Familie Salom von Sarajevo aus auf die Suche nach Entfaltung und Liebe. Ethnische und konfessionelle Schranken überwindend, gehen sie neue Wege. Diese führen sie u.a. nach Zagreb, Venedig, Wien, Paris und Belgrad, wobei sie immer wieder nach Sarajevo zurückkehren. ●
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er große österreichische Schriftsteller Robert Schindel als Dramatiker voller Poesie, leidenschaftlich und weise. Wir sind eingeladen in ein elegantes Wiener Wohnzimmer. Der soignierte Privatier Joseph Herzog wird sechzig. Sein treuer Freund Konstantin - Leporello - hat einen Rat für den alternden, zweifelnden Don Juan: „Suche dir von allen, die du, die dich geliebt, die Wichtigsten, die Schwierigsten, die Wachesten heraus.“ Und dann beginnt das Fest, zu dem sie alle kommen werden. Die große Party für den Jubilar. Oder ist es eine Höllenfahrt? ●
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ie Erbseninseln? Ein winziges Ostsee-Archipel, das auf kaum einer Karte eingezeichnet ist. Mit gesundem Respekt vor den Fakten und gutem Appetit auf eine Portion Seemannsgarn erzählt Doris Brockmann in zehn gewitzten Fernreportagen, was Peter der Große auf den Erbseninseln mit Friedrich Wilhelm I. zu klären hatte, warum Kurt Wallander dort Heringe verkostet oder weshalb der Schweinebauer Michael Rasmussen achtundzwanzigmal rund um die Hauptinsel lief. Ein Fünkchen Wahrheit steckt in all diesen Passagen – mehrenteils sogar ein kapitaler Funke. ●
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owohl positive als auch negative Entwicklungen, die sich seit dem Ende der Blockkonfrontation, dem Ost-West-Konflikt, ergeben haben, werden dargestellt und im Lichte der gegenwärtigen, schwierigen Weltlage bewertet. Expertinnen und Experten beleuchten das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven und kommen ebenso zu Wort wie Angehörige der jüngeren Generation, die den kalten Krieg selbst nicht mehr miterlebt haben. Persönliche Erfahrungen werden ebenso eingebracht wie fundierte Analysen und das Thema vertiefende Berichte. ●
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as passiert, wenn ein Schöngeist und Kopfmensch vor handwerkliche Herausforderungen gestellt wird? Wenn anstelle von Formulierungen Böden geschliffen werden müssen? Wenn Nägel und Haken in unschuldige Wände eingeschlagen werden sollen, die Ästhetik aber unbedingt gewahrt werden muss? Der Baumarkt stellt sich als persönlicher Hades des eigenwilligen Kulturjournalisten W. heraus und die paar Minuten, die der Intellektuelle dort verbringt, lösen ein wahres Trauma aus, wecken aber auch ein tief in ihm schlummerndes Wesen ... ●
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tatement. Bekenntnis. Biographie. Aufreger. Anreger. Die Antworten auf alle brennenden Fragen zur Halbzeit. Warum treten Socken paarweise auf, was macht einen guten Horrorfilm oder Politiker wirklich aus? Wie weit ist Mariazell oder die Rente weg? Wie sehr tut Hedonismus oder ein Fichtenholzspan im Hintern weh? Wir, das sind alle, die zwischen 1960 und 1980 geboren sind. Das sind jene, welche die Antibabypille überlebt haben. Und die Achtziger dazu. Wir, das sind alle, die wissen, dass die Rente die kostspieligste Art ist, auf den Tod zu warten. ●
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Der Mann, der alle erschauern lässt Mit „The Hunter“ von Richard Stark liegt ein Klassiker des Krimigenres in neuer Übersetzung vor
Schon nach wenigen Seiten ist klar, was für ein
Kaliber Parker ist. Mit dem Kerl ist nicht zu spaßen, als Profi-Verbrecher kann er sich keinen Humor leisten. Und es ist auch klar, wo das alles hinführen wird. Parker wird der Reihe nach alle, die ihn verraten haben oder als Mitwisser eine Gefahr für ihn darstellen könnten, zur Strecke bringen. Um das Aufklären eines Rätsels geht es hier schon mal nicht. Aber warum auch? Richard Starks „The Hunter“ (von Hollywood 1967 als „Point Blank“ und 1999
als „Payback“ verfilmt) beweist, dass gute Krimis keinen spannenden Plot benötigen. Auch Bezüge zu aktuellen Themen und das Ausstreuen von Lokalkolorit, wie im zeitgenössischen Kriminalroman gängig, sind im Grunde überflüssig.
Parker begeht Raubüberfälle, scheiden sie sich nicht groß von anderen wie andere arbeiten Romanen, in erster Linie Menschen und gehen Wirklich fesselnde Krimis haben, da unter-
ihre Schwächen im Visier. In der Hinsicht liefert Parker – kein Vorname nötig – erstklassiges Anschauungsmaterial. Er wird charakterisiert als Superverbrecher, der ausschließlich kalt berechnend vorgeht. Er macht meist nur einen Job im Jahr, und auch den führt er nach akribischer Vorbereitung nur dann durch, wenn er ihm sicher genug erscheint – oft sind es sehr profitable Überfälle auf Geldtransporte. Bei seiner Arbeit erlaubt er sich keine Emotionen. Gefühle führen am Ende höchstens zu Unachtsamkeiten und Fehlern. Und Parker vertraut niemandem, nicht einmal jenen Verbrecherkollegen, mit denen er schon erfolgreich zusammengearbeitet hat. All das konnte man in den letzten Jahren schon in Büchern wie „Fragen Sie den Papagei“ oder „Keiner rennt für immer“ nachlesen. Der Zsolnay Verlag hat die ParkerRomanreihe von Richard Stark dankenswerterweise wiederentdeckt und Neuübersetzungen der Bücher anfertigen lassen. Richard Stark war eines der Pseudonyme des äußerst produktiven US-Schriftstellers Donald E. Westlake (1933–2008). Mit „The Hunter“ präsentiert der Verlag nun Nikolaus Stingls (er ist Thomas-Pynchon-erprobt) glänzende Neuübertragung des allerersten Parker-Romans aus dem Jahr 1962. Und auf einmal ergibt sich ein ganz neuer Blick auf die Figur. Denn schon das „Verpiss dich“ auf der ersten Seite ist eigentlich eine viel zu starke Gemütsregung für den wortkargen Gangster. Auch sonst passt der Rachefeldzug, den Parker virtuos inszeniert, nicht zu seiner emotionslosen Art in späteren Büchern der Serie.
Aber er ist fertig mit den Nerven, da ihn neben einem Partner auch die eigene Frau verraten hat. Wenn er nicht gerade jemandem nachstellt und ihn abmurkst, muss Parker sich mit Whisky schmerzfrei trinken. Dabei scheint sich der früher Parker auch etwas zu überschätzen. Sonst würde er sich nicht sogar mit hohen Mitgliedern der amerikanischen Mafia einlassen. Ob das gut geht? Sein Schöpfer hat einmal über Parker gesagt: „In Westernfilmen gibt es häufig die Szene, wo der Held am Lagerfeuer sitzt, und ihm gegenüber ist dieser Typ, der kein Wort sagt. Ich rücke diesen schweigsamen Mann in den Mittelpunkt des Geschehens.“ Stark zeigt im Debütroman den Grund für seine Schweigsamkeit: die Vorgeschichte Parkers, die er zu Ende bringen musste, um ein anderer werden zu können. In späteren Werken sollte er die Figur langsam ausdifferenzieren und nach und nach auf die Spitze treiben. Parker spricht dann kein Wort zu viel mehr,
Richard Stark: The Hunter. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Zsolnay, 191 S., € 18,40
trinkt keinen Tropfen, denkt und handelt dafür blitzschnell. Und er begeht so gut wie keinen Fehler mehr. Trotzdem wächst einem die Figur, je unnahbarer, mysteriöser und unmenschlicher sie wird, umso mehr ans Herz. Mit ein wenig Fantasie kann man in Parker nicht nur eine Westernfigur erkennen. Er trägt auch schon Züge des modernen Menschen, der nur für seinen Beruf lebt. Was Parker antreibt und warum ausgerechnet Verbrechen sein Beruf ist, erfährt man aber nie: Es ist einfach sein Job. Parker begeht Raubüberfälle, wie andere arbeiten gehen. Und er ist verdammt gut darin. Das galt auch für Richard Stark. Seitenschinden war dem Mann fremd, er verstand sich auf einen schlanken, lakonischen Stil und eine effiziente Erzählökonomie. Unschlagbar ist in dem Zusammenhang der erste Satz des Romans „Der Gewinner geht leer aus“: „Als das Telefon läutete, war Parker gerade in der Garage und brachte einen Mann um.“ S E B A S T I A N F A S T H U B E R
Illustr ation: anna hazod
A
ls ein junger Kerl mit gesunder Gesichtsfarbe in einem Chevy ihm eine Mitfahrgelegenheit anbot, sagte Parker ihm, er solle sich verpissen.“ Richard Starks Roman „The Hunter“ beginnt mit einem starken Satz und einem ebensolchen Bild. Grimmig stapft der Held über die George Washington Bridge. Es ist das erste Mal, dass er sie zu Fuß überquert. Die Männer, die in ihren Autos an ihm vorbeifahren, schenken ihm höchstens einen mitleidigen Blick. Das weibliche Geschlecht reagiert ganz anders auf den Anblick des athletischen 2-Meter-Manns: „Die Frauen in den vorbeifahrenden Autos sahen ihn an und erschauerten. Sie wussten, er war ein Dreckskerl, sie wussten, seine großen Hände waren zum Zuschlagen geschaffen, sie wussten, sein Gesicht würde sich nie zu einem Lächeln verziehen, wenn er eine Frau ansah. Sie wussten, was er war, sie dankten Gott für ihren Ehemann, und trotzdem erschauerten sie.“ Parker hat freilich keine Augen für die Damenwelt. Er wurde gerade aus dem Gefängnis entlassen und ist auf dem Weg zurück in die Stadt. Besser gesagt: Er hat sich selbst entlassen und beim Ausbruch einen Wärter getötet, obwohl er nur noch wenige Wochen hätte absitzen müssen. Aber er konnte nicht mehr warten. Parker muss sich an denen rächen, die ihm bei seinem letzten Coup übel mitgespielt haben, als es darum ging, die Beute zu verteilen. Die leben in dem Glauben, er sei tot.
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Ein Reporter zwischen den Fronten Gila Lustiger legt einen Krimi im Gewand eines Gesellschaftsromans vor ls „Gesellschaftsroman, der sich im Gewand eines Krimis verA steckt“ bezeichnet die gebürtige
Frankfurterin Gila Lustiger ihr jüngstes Buch, in dem sie mit den Augen einer lange in Paris ansässigen kritischen Ausländerin auf die französischen Verhältnisse blickt. Vielleicht ist es aber auch eher umgekehrt, und „Die Schuld der anderen“ ist ein Krimi im Gewand eines Gesellschaftsromans, der die Aufklärung eines Prostituiertenmords nur zum Anlass nimmt, um sich einen französischen Umweltskandal und die darin verwickelten sozialen, ökonomischen und politischen Machteliten Frankreichs kritisch vorzuknöpfen. In seiner Eigenschaft als Genreliteratur ist
der Krimi schließlich ohnehin meist der Stärkere: Gegen feinnervigere Romanorganismen pflegt er seine robusten Regeln energisch durchzusetzen. Gila Lustiger hilft sich, indem sie bewusst das Genre Wirtschaftskrimi mit seinen typischen Erzählmustern und erwartbaren Charaktermasken für sich
arbeiten lässt – nur um die Krimiregeln letztlich mit einem feinen Dreh zu überlisten. Zunächst lässt die Autorin die ganzen hard-boiled Typen des Genres aufmarschieren. Den skrupellosen Wirtschaftsboss. Den korrupten Politiker. Den ängstlichen Kleinbürger mit dem dunklen Geheimnis. Den mutigen Einzelkämpfer, der es mit einem mächtigen Konzern aufnimmt. Den bärbeißigen Kommissar. Den hartnäckigen Aufdeckungsjournalisten. Seinen abgebrühten Chefredakteur, der ihm trotzdem aus journalistischem Ethos den Rücken freihält. Zunächst scheint es bloß um den 30 Jahre zurückliegenden Mord an einer Prostituierten zu gehen, den ein Aufdeckungsjournalist nachrecherchiert. Erst jetzt ist es anhand einer DNA-Probe gelungen, den Täter zu überführen, der die junge Frau damals in ihrem Appartement vergewaltigt und erdrosselt haben soll. Doch der Reporter zweifelt an dessen Schuld. Der Fall erweist sich als weitaus komplizierter, als die Polizei gerne anneh-
men möchte, und zieht immer weitere Kreise. Schließlich kommt der Reporter einem
Umweltverbrechen und einem Komplott zu dessen Verschleierung auf die Spur. Durch eine krebserregende Chemikalie erkranken die Arbeiter eines Agrargroßkonzerns seit Jahren an Nierenkrebs, ohne dass die Proteste der Betroffenen und des Betriebsarztes daran etwas ändern würden. Profit geht vor Gesundheit: Da der Konzern mit Abwanderung ins Ausland droht, knickt die Politik vor der Macht der Chemielobby ein. Den korrupten Spitzen von Politik und Industrie ging es immer nur um Vertuschung. Dass gerade die Streiter für Wahrheit und Gerechtigkeit ihren Moralismus meist hinter zynischem und kaltschnäuzigem Gerede verbergen, gehört noch zu den Krimiklischees. Doch mit ihrer Hauptfigur sprengt die Autorin das Genrekorsett Der Reporter Rappaport, der einer jüdischen Großindustriellenfamilie entstammt, steht zwischen den Fronten. Von seiner famili-
ären Herkunft her ist er der Unternehmerelite zugehörig. Als passionierter Aufdeckungsjournalist ist er ein Einzelkämpfer im Korruptions- und Verbrechensgeflecht der Machteliten. Seine Vorgänger reichen von den Watergate-Enthüllern Woodward und Bernstein bis zu den fiktiven Aufdeckern Mikael Blomkvist und Lisbeth Salander in Stieg Larssons „Millenniums“-Krimis. Der Herkunft nach gehört Rappaport zu den Mächtigen, aber mit dem Herzen ist er bei den Machtlosen – ein Skeptiker, der seine Ambivalenzen auslebt. Allein seinetwegen hätte sich die Lektüre schon gelohnt. S I G R I D L Ö F F L E R
Gila Lustiger: Die Schuld der anderen. Berlin Verlag, 494 S., € 23,70
In Abwesenheit von Lord Fiddlebottom Grausliche Mogelpackung: Der neue Krimi von Christian David ist eigentlich ein Thriller ach der Zusammenarbeit anlässN lich einer Mordserie an jungen Frauen im Sommer (im Roman „Mäd-
chenauge“) treffen Staatsanwältin Lilly Horn und Polizeimajor Belonoz in Christan Davids neuem Roman ein weiteres Mal aufeinander. Mittlerweile ist es Dezember geworden. Die Christkindlmärkte warten nur darauf, Menschen in Vorweihnachtsstimmung mit Alkohol abzufüllen. Politische Intrigen, hauptsächlich auf Bundesebene, laufen auf Hochtouren. Kunstmanagerinnen betreiben Guerilla-Marketing für eine Gedenkausstellung. Und im Türkenschanzpark entdeckt man eine verstümmelte männliche Leiche in einem Plastiksack. Bald taucht im Internet ein Filmmitschnitt der Bluttat auf. Fast zur gleichen Zeit erhält die Mutter eines hochbegabten Elfjährigen eine Lösegeldforderung für das Kind, und bei einer Geiselnahme geht einiges schief: Eine Frau wird erschossen. Dummerweise war vom Geiselnehmer ausgerechnet Belonoz, der als Chef der Wiener Mordkommission an sich mit solchen Verbrechen nichts zu tun hat, als Verhandler angefordert worden. Das führt zu Verstimmungen in der Poli-
Christian David: Sonnenbraut. Deuticke, 478 S., € 20,50
zeihierarchie und sehr schnell zu Belonoz’ Suspendierung. Puh, wir schreiben gerade einmal Tag zwei der Handlung. Willkommen in „Sonnenbraut“, dem neuen Thriller-Krimi-Mix von Christian David. In seinen besten Momenten, und davon gibt es schon eine Handvoll, ist Davids jüngstes Werk spannend. Dass er, entgegen dem Untertitel, sehr viel eher einen Thriller als einen „Kriminalroman“ vorlegt, lässt sich schon an den teilweise drastisch geschilderten Folter- und Tötungsszenen ablesen. Das Buch ist auch deshalb ein Thriller, weil man in einem klassischen Krimi immer ein bisschen mit raten kann. Hat sich Lord Fiddlebottom jetzt nicht unabsichtlich verplappert? War Madame Zsazsa nun Augenzeugin, oder will sie sich nur ein Alibi verschaffen, um von ihrem Techtelmechtel mit dem Botschafter abzulenken? So in der Art. Das geht hier aber gar nicht.
en überschlagen sich kollegiale Intrigen. Die Wiener Lokalpolitik drängt sich in die Ermittlung um die Entführung des Knaben. Und feministische Studentenverbindungen mischen auch noch mit. Für den größeren Teil des Buches drängt sich weniger das Attribut „spannend“ als vielmehr „geschwätzig“ auf. Immerhin bemüht sich Christian David redlich und erfolgreich, seine Hauptfiguren weder frauenfeindlich noch homophob sein zu lassen und
seinen Zorn über so manche politische Entwicklung im Österreich der Gegenwart deutlich zum Ausdruck zu bringen. Davon abgesehen wäre hier weniger – deutlich weniger – mehr gewesen. Vielleicht kommt das ja im dritten nach einem Korbblütler benannten Roman. Wie wäre es dann, nach „Mädchenauge“ und „Sonnenbraut“, mit „Kronenwucher“? Die Spur führt nach Skandinavien – oder zurück in die Monarchie. M A R T I N L H O T Z K Y
WIENkrImI
Ständig telefonieren Figuren mit Ge-
sprächspartnern und Informanten, die für den Leser anonym bleiben, oder verschicken elektronische Kurznachrichten. Und Zeuginnen und Zeugen lügen unerfahrene, dienstmüde Polizeibeamte an. Noch etwas stört: Während sowohl Belonoz als auch Lilly Horn ziemlich rätselhaft und verschwiegen agieren, kann man das von der auktorialen Erzählerstimme nicht behaupten. Zahlreiche Nebenhandlungen buhlen um Aufmerksamkeit. So fliegen im Innenministerium die Messer tief und schnell. In BoulevardmediAnzeige_106_95_tatort SB.indd 1
Edith Kneifl (Hg.)
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13 österreichische Krimiautor Innen unternehmen mörderische Streifzüge durch Schönbrunn. 272 Seiten, € 22,90
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„Wir trauen den Kindern zu wenig zu“
Dorothea Löcker macht seit 30 Jahren Kinderbücher – aus Überzeugung. Aber die Branche ist hart umkämpft
„Naiv und unerschrocken“ startete sie damals
ohne große strategische Überlegungen oder markttechnische Erhebungen ins Abenteuer Verlag, erinnert sich Löcker. Beim Sichten internationaler Kinderbücher machte sie eine überraschende Entdeckung: „Österreich und Deutschland waren damals extrem hintennach. Bücher, die in Holland mit der Altersempfehlung ,4 bis 6 Jahre‘ gekennzeichnet waren, liefern bei uns unter ,6 bis 8 Jahre‘. Bis heute verstehen es manche Länder besser, pädagogische Dinge auf eine lockere Art zu vermitteln. Wir trauen den Kindern zu wenig zu. Dabei kann man im Kinderbuch alles besprechen.“ Aber es hat sich auch eine Menge entwickelt. Inzwischen werden Kinder auch in unseren Breiten ernster genommen – und gewisse Anliegen von Dorothea Löcker sind längst im Mainstream angekommen: „Unser Zugang war nie der pädagogische. Aber wir haben doch eine gewisse Haltung, die einfließt. Ich wollte zum Beispiel immer Bücher mit starken Mädchen als Helden machen. Mittlerweile werden die aber eh überall gemacht.“ Was macht für Dorothea Löcker ein gelungenes Kinderbuch aus? „Es muss eine gute Geschichte sein, am besten schön illustriert, das ist mir sehr wichtig. Am liebsten ist es mir, wenn die Geschichte lustig ist, aber auch eine Botschaft mitgetragen wird. Im Grunde sind die Kriterien nicht viel anders als bei Literatur für Erwachsene.“ Löcker traut Kindern einiges zu. Das liegt auch an ihrer eigenen Lesesozialisation. Aufgewachsen ist sie als Tochter des
Schriftstellers Reinhard Federmann, umgeben von Büchern. Die Kinderbuchabteilung in der Städtischen Bücherei hatte sie bald durch („Ich durfte nur drei Bücher pro Woche ausleihen, das war mir irgendwann zu wenig“), also begann sie mit zehn Jahren, die Bibliothek des Vaters durchzuarbeiten. Mit elf, zwölf Jahren las sie die französischen Existenzialisten, aber auch Krimis von Dashiel Hammett. „Das war vielleicht ein bisschen früh“, sagt sie heute, „aber ich habe das alles geliebt.“ Dazu kam der frühe Kontakt mit Schriftstellern: „Durch meinen Vater waren die immer da. Für mich waren das ganz normale Leute. Diese Hochachtung, die manche Leute immer noch vor Schriftstellern haben, finde ich übertrieben.“ Die Berufswahl gestaltete sich trotzdem schwierig. Löcker konnte sich lang nicht zwischen Schreiben und Zeichnen entscheiden. Als Verlegerin hat sie das Glück, alle ihre Neigungen verbinden und darüber hinaus – ein weiteres Talent von ihr – Leute zusammenbringen zu können. Zunächst arbeitete sie im Löcker Verlag ihres damaligen Mannes Erhard Löcker mit, wollte schon in den 1970ern dort eine Kinderbuchschiene aufbauen. Dann kam
die Trennung dazwischen. 1984 erfüllte sie sich mit Picus ihren Traum. Endlich konnte sie zur weltweit bedeutendsten Kinderbuchmesse nach Bologna fahren, von der sie schon lange träumte. Zur Person Dorothea Löcker, Jg. 1948, bewegte sich als Tochter eines Schriftstellers von klein auf in der Bücherwelt. 1984 gründete sie mit Alexander Potyka den Picus Verlag
Die fliegenden Kerle aus Bullerbü: Frau Löckers liebste Kinderbücher
Erich Kästner: Das fliegende Klassenzimmer
Astrid Lindgren: Wir Kinder aus Bullerbü
Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen
Leo Lionni: Frederick
Janosch: Oh, wie schön ist Panama
Chiara Carrer: Otto Karotto
In Bologna trifft sich die Kinderbuchszene je-
des Jahr. Man tauscht sich aus, trifft Illustratoren aus aller Welt und überlegt, welche internationalen Bücher man einkaufen könnte. Wobei die Konkurrenz hart ist: „Ein englisches Kinderbuch zu bekommen ist für uns völlig unmöglich. Überhaupt haben einige große Verlage und Verlagsgruppen alles ziemlich gut in der Hand. Für kleine Verlage ist es schwer. Manche Buchhändler in Deutschland sagen: ,Wir haben zehn Kinderbuchverlage im Sortiment, wir brauchen keinen elften.‘ Ganz egal, was man ihnen bringt.“ Als qualitätsförderlich hat sich die Veröffentlichungsschwemme durch Verlagsgruppen natürlich nicht erwiesen. Es gibt heute sehr viele Kinderbücher, die lustig anzusehen, aber inhaltlich lieblos gestaltet und spürbar am Reißbrett entstanden sind. Genau darin liegt aber auch die Chance kleiner Verlag wie Picus, sich mit wenigen, aber besonderen Büchern zu profilieren. Schön, wenn manche Titel sich doch wie warme Semmeln verkaufen. Etwa „Wien. Stadtführer für Kinder“, über die Jahre das meistverkaufte Picus-Buch. Oder „Quaxi, der Fernsehfrosch“, in den 1980ern ein Bestseller. „Das hat zwar eigentlich nicht zu unserer Linie gepasst“, sagt Löcker. „Aber ich habe mir damals bewusst überlegt, ein Buch zu machen, das sich richtig verkauft. Der Wetterfrosch war gerade neu im ORF, wir haben genau den richtigen Zeitpunkt erwischt. Das schafft man halt leider nicht ständig.“ Welches Buch sich gut verkaufen wird und welches weniger, kann sie aber bis heute nicht wirklich vorhersagen, gibt die Verlegerin zu. „Es ist viel Versuch und Irrtum dabei. Und man muss aufpassen, dass manche Bücher nicht schon in der Kalkulation ein Verlust sind. Bilderbücher rechnen sich bei kleinen Auflagen nicht, weil der Aufwand so groß ist.“ Bei allen Schwierigkeiten hält der Job Dorothea Löcker jung. In einem Alter, in dem andere längst in Pension sind, denkt sie nicht ans Leisertreten. Privat hat die dreifache Großmutter auch noch eine Mission zu erfüllen: „Bei meinen älteren beiden Enkeln hatte ich nie die Gelegenheit zum Vorlesen. Mein Sohn hat seinen Kindern jeden Abend drei bis vier Kinderbücher vorgelesen, da gab es keinen Bedarf. Aber vielleicht bin ich bei meinem jüngsten Enkelkind, das vor kurzem auf die Welt gekommen ist, als Vorleserin gefragt.“ SEBASTIAN FASTHUBER
foto: picus verlag
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enn Kinder einmal fürs Lesen entflammt sind, dann betreiben sie es mit einer unglaublichen Leidenschaft und auch Genauigkeit. Dorothea Löcker erinnert sich daran, vor vielen Jahren ihre Tochter, damals eine Volksschülerin, einmal in die Druckerei mitgenommen zu haben: „Es ging um die Druckabstimmung eines Kinderbuchs. Sie hat sich das in Ruhe angeschaut, plötzlich auf eine Stelle gedeutet und gesagt: ,Da ist ein Fehler.‘ Sie hat Recht gehabt. Ich habe den Druck sofort stoppen lassen. Das werde ich nie vergessen.“ Seit 1984 propagiert Löcker als Verlegerin in Österreich das gute Kinderbuch. Mittlerweile ist der Picus Verlag, den sie gemeinsam mit Alexander Potyka führt, ein liebevoll geführter Gemischtwarenladen, der Literatur, „Lesereisen“ zu europäischen Städten und eben auch Kinderbücher publiziert. In seiner Anfangszeit hat sich der Verlag aber noch fast ausschließlich auf Bücher für ganz junge Leserinnen und Leser konzentriert. Das erste Programm bestand aus vier Kinderbüchern und einem Architekturtitel.
Illustr ation: Anna hazod
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Auch Lehmriesen brauchen Aufgaben Anke Kuhl legt mit „Lehmriese lebt!“ ihren ersten Comic über einen von Kindern gebauten Golem und dessen Bändigung vor inder lieben Gatsch. Am Rand eines Bachlaufs finden Olli und Ulla herrlich K fettigen. Sie ziehen sich vorsorglich aus und
fangen an zu formen. „Hhm – sieht aus wie ein gigantisches Vanillekipferl“, meint Olli. Als sie fertig sind, klettern sie auf einen Baum, um ihr Werk besser betrachten zu können, bedauern, dass die riesige, liegende Lehmgestalt zu schwer zum Aufstellen sei – und machen sich auf den Heimweg. In der Nacht gibt es ein Gewitter, Sturm kommt auf, Tropfen fallen, ein Blütenkelch neigt sich zur Stirn des Riesen – und plötzlich schlägt dieser die Augen auf. Er blickt um sich, erhebt sich mit frei schwebendem Kopf (einen Hals haben die Kinder vergessen oder nicht für notwendig erachtet) und macht sich auf in Richtung Stadt. Pardon, dieser Sprachwitz muss sein: Anke
Kuhl, geboren 1970 in Frankfurt am Main, gehört zu den coolsten zeitgenössischen Kinderbuchillustratorinnen. Ein wackliger Strich, Glubschaugen und eine das bloß hübsch Anzusehende ignorierende ästhetische Nonchalance gehören zu ihren Erkennungsmerkmalen. Im Herbst legte sie zusammen mit Katharina von der Gathen ein schonungsloses Aufklärungsbuch für Kinder im Grundschulalter vor („Klär mich auf. 101 echte Kinderfragen rund um ein aufregendes Thema“). Nun erscheint ihr erster Comic unter dem Titel „Lehmriese lebt!“. Der Lehmriese, das Monster ohne Namen, stellt dabei eine Wiederbelebung
oder vielmehr Neuinterpretation der Figur des Golems aus der jüdischen Mystik des Mittelalters dar, jenes aus Lehm geformten menschenähnlichen Wesens, das stumm ist, aber Aufträge ausführen kann. Jacob Grimm machte den Golem bei den Romantikern bekannt, Erfolgsromane wie „Der Golem“ von Gustav Meyrink oder Stummfilme wie jene von Paul Wegener befriedigten die Angstlust des frühen 20. Jahrhunderts. Das alchemistische Kunststück der Erschaffung eines Golems, das ursprünglich nur Gelehrten und Weisen zugetraut wurde, gelingt den Kindern bei Kuhl spielend. Aber auch ihr Lehmmann richtet zunächst nur Unheil an. Statt dem Förster zu helfen, Unkraut zu jäten, reißt er Tannen aus. In der Stadt angekommen, stiehlt er ein Eis und wird von seinen Erschaffern Olli und Ulla entdeckt, die ihm zum Friseur und in den Supermarkt folgen, wo er sich ebenfalls gehörig danebenbenimmt. Die Polizei wird gerufen, und Olli und Ulla beschleicht ein schlechtes Gewissen, schließlich sind für die Existenz des Golems verantwortlich. Aber das würde ihnen ohnehin niemand glauben. Mittlerweile steht der Lehmriese wie sein mythologischer Verwandter King Kong auf dem Rathausdach und läutet die herausgerissenen Glocken. Die Feuerwehr kommt angebraust, um ihn herunterzuspritzen – der Augenblick, an dem die Kinder sich endlich genötigt fühlen einschreiten.
Anke Kuhl gehört zu den coolsten zeitgenössischen Kinderbuchillustratorinnen
Anke Kuhl: Lehmriese lebt! Comic. Reprodukt, 80 S., € 18,50 (ab 5)
„Sie bringen ihn ja um!!!“, rufen sie. Was sich schon beim Friseur angedeutet hat, wird hier zur Lebensgefahr: dass der Lehm riese sich in Matsch auflöst, wenn er nass wird. Zum Glück kennt sich der Friseur mit Golems aus: „Wenn die Kinder tatsächlich aus Versehen einen Golem gebaut haben, dann hört er natürlich auch nur auf die beiden.“ Sofort melden die Bürger riesengroße Wün-
sche an, die zum Teil über den Schaden, den der Lehmriese angerichtet hat, weit hinausgehen. Was tun Olli und Ulla? Sie bitten ihn per Megafon, vom Dach herunterzukommen und mit ihnen zu spielen. Ergänzt wird die liebevoll gezeichnete Geschichte durch humorvolle Schautafeln über Douglastannen, Eissorten (von „Kühler Kopf “ bis „Fruchtiger Fuß“), Frisuren, Supermarktangebote und eine Feuerwehrbedienungsanleitung. Und am Schluss klärt Kuhl ihre kleinen Leser auf sympathische Weise über die Geschichte und Zwiespältigkeit ihrer Figur auf. Meist sei der Golem freundlich und helfe seinen Schöpfern bei der Erledigung von Aufgaben. In der bekanntesten Geschichte unterstütze er die Juden in Prag, sich gegen Anfeindungen und falsche Beschuldigungen zu verteidigen. In anderen sei er plump und dümmlich, in manchen sogar böse oder gewalttätig – aber vielleicht habe man ihm da nur die falsche Aufgabe gestellt. K IR STIN BREITENFELLNER
Machismo auf Erdmännchen-Niveau Grandios daneben: In „Dickes Fell“ von Moritz Matthies geht es herrlich unkorrekt zu. Das sollte man seinem Kind zumuten enn sich ein menschlicher Detektiv W ein Erdmännchen (Suricata Suricatta) als Partner nimmt, könnte man mei-
nen, dass es sich um einen besonders fantasievollen Plot für Kinder handelt. Oder um eine Geschichte für Erwachsene, in der eine abgehalfterte Witzfigur eine alkoholinduzierte Psychose durchlebt. Das merkwürdig Hybride an dem vierten Band „Dickes Fell“ aus der populären Erdmännchen-Krimiserie von Moritz Matthies ist, dass man sie weder der Jugend- noch der Erwachsenenliteratur eindeutig zuordnen kann. Erschienen ist sie bei Fischer Scherz, einem publizistischen Zweig des S. Fischer Verlags, dessen Programm sich aus Memoiren historischer Figuren, Lebenshilfeklassikern und skurrilen Krimis zusammensetzt. Stars der Geschichte sind die Brüder Ray und
Rufus. Sie stammen aus dem ersten Wurf des Erdmännchen-Clans des Berliner Zoos. Der eine ist ein beherzter Draufgänger, der andere ein von Ängsten geplagtes Genie. Gemeinsam geraten sie an den Detektiv Phil Mahlow, der in der Lage ist, „Erdmännisch“ zu verstehen. Mahlow ist das kaum verschleierte Berliner Gegenstück zu Philip Marlowe, dem unglücklichen, Bourbon liebenden, aber moralisch einwandfreien Privatermittler von Raymond Chandler. Nach „Ausgefressen“, „Voll Speed“ und „Dumm gelaufen“ ist nun im vierten Band Phil gleich zu Beginn außer Gefecht gesetzt.
Gerade noch kann er sich mit einer tückischen Schussverletzung zum Erdmännchengehege schleppen, wo seine aufgeweckten Freunde es mithilfe des zwielichtigen Tierarztes Jennings schaffen, ihn ins nahegelegene Krankenhaus zu verfrachten. Es entspinnt sich eine Geschichte um Phils ehemalige Geliebte Mo, die ihm am Krankenbett gesteht, dass er der Vater ihrer Tochter Lea ist. Ein ominöses schwarzes Buch, mit dem Lea vor Mecki Messer und seinen finsteren Gestalten flüchten kann, gerät zum MacGuffin der aberwitzigen Verfolgungsjagd vor einer detailverliebten Kulisse rund um den Berliner Zoo. Was Ray und Rufus so liebenswert macht, sind ihre fabelartigen Zuschreibungen, die ihren Witz eben durch Analogien mit dem Menschlichen beziehen. Der unglücklich in ein Chinchilla-Mädchen verliebte Ray und Rufus, der sich dummerweise mit der Frau des Clan-Chefs einlässt, sind zwar ein ungleiches Brüderpaar, halten aber zusammen, wenn es darauf ankommt. Liebenswert aufgetischt sind auch die tierischen Nebenfiguren, die ihnen zu Hilfe eilen: Gorilla Kong, der sich kurz um Lea kümmert, sich von ihr wie eine Puppe schminken lässt und in einer grandiosen Autofahrt Polizisten in die Irre führt, oder Justus, das Panzernashorn, das als wuchtige Geheimwaffe Ganoven vertreiben kann. Der sonst so mutige König der Tiere, Löwe Kunze, dagegen bekommt von Ich-Er-
Liebenswert aufgetischt sind auch die tierischen Nebenfiguren
Moritz Matthies: Dickes Fell. Fischer Scherz Verlag, 316 S., € 15,50 (ab 10) Die gleichnamige Hörbuch-CD ist bei Argon erschienen
zähler Ray sein Fett weg, weil ausgerechnet er den Schwanz einzieht, wenn es brenzlig wird. Auch die in der Kinderliteratur so beliebten Pinguine und Flamingos gehören in „Dickes Fell“ zu den geschlagenen Hunden. Ihnen wird von den Erdmännchen bei jeder Gelegenheit wenig Verstand attestiert. Der originelle Plot und die witzigen Dialoge
kommen durch lautes Vorlesen besonders zur Geltung. Wer Bedenken hat, Kindern Unkorrektes vorzubringen, der sollte die Erdmännchen-Krimis allerdings besser meiden. Ihre flotten, aber gar nicht so blöden Sprüche kann man jedoch auch zum Anlass nehmen, um den dunklen Seiten des Lebens mit einem Zwinkern auf Kinderaugenhöhe zu begegnen. Dabei geht es etwa um die Frage, wie Machoallüren am besten ad absurdum geführt werden können. Das Bild des niedlichen Erdmännchens als Macho funktioniert dafür bestens. Für weiterführende Diskussionen mit den Kindern sind die schrägen Geschichten von Ray und Rufus hervorragendes Ausgangsmaterial. Wer den deutschen Schauspieler Christoph Maria Herbst schätzt, wird auch das von ihm eingelesene Hörbuch mögen. Mit seinen verspielten Stimmmodulationen, denen gleichzeitig etwas Gelangweiltes anhaftet, schafft er es, den merkwürdigen Krimi aus dem Erdmännchen-Milieu in ein lustiges Schlachtfeld für die Ohren zu verwandeln. MARIANNE SCHRECK
k i n d e r l i t e r a t u r Für Erstleser
Neue Kinderbücher – Für die Augen
Katzen können auch Geschichten erzählen
Der Zirkus darf nicht sterben. Seine bes-
uschel ist eine Katze. Eine ganz normale Katze wie Millionen anK dere auch, sollte man meinen. Das
Haus der Familie, bei der sie lebt, dient ihr als Basislager für ihre Abenteuer im Garten und in der Umgebung. Die Katzenklappe dient als Tor zur Welt – und wieder zurück zum sicheren Futter- und Schlafplatz. Doch in den Augen ihrer Ernährer ist Kuschel ein Monster. An einem Tag schleppt sie einen toten Vogel an und lässt ihn ausgerechnet am Teppich liegen. Kurz darauf wiederholt sich das Theater mit einer Maus. Die Tochter der Familie liebt ihr Kätzchen über alles, ist aber ganz fertig, weil Kuschel andere Tiere tötet. Die Eltern, besonders der Vater, sehen in der „Killerkatze“ ein Ärgernis. Die Grenze ist erreicht, als Kuschel eines Tages einen toten Hasen durch die Katzenklappe zieht. Die Katzenklappe wird daraufhin zugenagelt: Kuschel kann zwar noch rauslaufen, aber muss vor der Tür warten, bis sie wieder ins Haus darf. Anne Fines Buch ist im englischen Original schon vor 20 Jahren erschienen. Die Ausgabe des Moritz Verlags punktet mit liebevollen Illustrationen zum Familienleben mit Katze. Der Clou der Geschichte ist die Erzählhaltung: Kuschel redet selbst. Und als Katze hat sie natürlich einen ganz eigenen Blick auf die Dinge. Katzen haben das Internet erobert. Warum sollen sie keine Kinderbücher schreiben können? „Tagebuch einer Killerkatze“ beweist: Es ist möglich. sebastian Fasthuber
ISBN 978-3-407-82064-8
| 13,40 a
Anne Fine: Tagebuch einer Killerkatze. Dt.v. Barbara Heller. Illustrationen v. Axel Scheffler. Moritz, 64 S., € 10,30 (ab 6)
ten Tage hat er hinter sich, aber es gibt ihn immer noch. Vor allem in Kinderbüchern ist der Zirkus nach wie vor sehr präsent. Der junge, umtriebige und schon vielfach ausgezeichnete österreichische Illustrator Michael Roher legt zu dem Thema im Luftschacht Verlag ein neues Buch vor. Wie so oft bei Luftschacht ist ein kunstvoll gestaltetes Werk herausgekommen, bei dem auch Eltern voll auf ihre Kosten kommen. Der Zirkus „Sorriso“ ist von besonderer Art. Hier wird unmöglich Scheinendes möglich: etwa ein Mädchen mit Giraffenbeinen oder eine Jongliernummer mit Klobesen und Kettensäge. Roher, der für Illustrationen und Text verantwortlich zeichnet, gerät ins Fabulieren. So lässt er den Jongleur nebenbei noch die Schatten der durch die Luft sausenden Gegenstän-
Michael Roher: Sorriso. Luftschacht, 32 S., € 18,90 (ab 4)
de „in Meerestiere, Beutelratten, Vögel oder Fabelwesen mit Drachenschwänzen, Hexenbesen oder auch in Pekinesen“ verwandeln. Vor allem aber ist das Buch ein Fest für die Augen. s f Kinder sind Entdecker. Bilderbücher,
die Kindern die Welt zeigen und ihnen darüber etwas über die Vielfalt der Welt vermitteln, haben Konjunktur. Vor zwei Jahren sorgte das wunderschöne Großformat-Werk „Alle Welt. Das Landkartenbuch“ für Furore. Der Prachtband lud Kinder und auch deren Eltern zu einer Entdeckungsreise um die Welt ein. Die ausgewählten Länder wurden mit ihren berühmtesten Sehenswürdigkeiten und kulturellen Eigenheiten vorgestellt. Nicht ganz so detailliert gestaltet, aber auch schön anzuschauen ist der „Atlas der Abenteuer“, der zum Blättern und Erkunden einlädt. Jede Doppelseite zeigt ein ähnliches Bild – alle sieben Kontinente und die Weltmee-
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Für gestresste Familien Sarah Sheppard: Atlas der Abenteuer. Weltkarten für Entdecker und Tagträumer. Dt. v. Angelika Kutsch. Klett Kinderbuch, 40 S., € 15,40 (ab 5)
re. Aber der Inhalt ändert sich mit jedem Umblättern. Der Atlas klappert die Welt nach ihren Besonderheiten ab: mystischen Orten, giftigen Tieren, Piraten und Schätzen oder Vulkanen und Erdbebengebieten. In ganz kurzen Texten werden Phänomene wie das Ungeheuer von Loch Ness oder Bigfoot und Yeti erklärt. Nett und lehrreich. sf Mit Worten lässt sich nicht alles sagen.
An eine Grenze stoßen sie, wenn es um die kindliche Angst vor Gespenstern und Monstern geht. Erklären, was sie an diesen so fürchterlich finden und warum sie sich ausgerechnet bei ihnen zu Hause verstecken sollen, können nämlich nur die wenigsten Kinder. Dafür haben sie umso tollere Bilder davon parat, welche Hexe angeblich kurz vorm Einschlafen über ihrem Bett schwebt und welches Monster sie ausgerechnet am Sonntagnachmittag im Garten gesehen haben wollen. Ohne Worte funktioniert auch Alice Hoogstads Bilderbuch „Das kunterbunte Monsterbuch“. Und es liefert mit seinen tatsächlich sehr farbenfrohen Ungeheuern einen nicht üblen Erklärungsversuch, warum Kinder Monster so reizen: weil sie das genaue Gegenteil zum normalen Alltag darstellen. Bei Hoogstad macht sich die Monsterarmee dann auch daran, Farbe in das Grau der Stadt zu bringen. Kein Wunder, dass die Monster so freundlich aussehen. sf
Alice Hoogstad: Das kunterbunte Monsterbuch. Aracari, 32 S., € 15,40 (ab 3)
Wenn die Eltern schnarchen, statt vorzulesen ltern kennen das. Der Arbeitstag war hektisch, schon ruft die E abendliche Pflicht: „Vorlesen!“ Nichts
ist schöner als der Kinderkopf auf der Schulter. Aber manchmal sinkt der erschöpfte Vater vor dem Kind in den Schlaf, zur Enttäuschung der Kleinen. Man könnte die Kinder nun ohne Geschichten ins Bett legen oder ein Hörspiel in den CD-Spieler einlegen. Aber es gibt auch noch eine Alternative: Vorlese-Apps und digitales Papier. Man soll Kindern zwar keine flimmernden Screens in die Hand drücken, aber immer mehr Jugendbücher können am abgedimmten iPad von einer Stimme vorgelesen und geblättert werden. Sie vereinen die Qualitäten von Hörspiel und Bilderbuch. Anders als bei Computerspielen flimmert und fiept es hier nicht, sondern Kinder können in Traumwelten eintauchen. Wer es schaurig mag, kann zu den Hörbüchern vom „Struwwelpeter“ oder von „Max und Moritz“ greifen (meine Kids lieben es). Eine antiautoritäre Alternative dazu ist die Märchen-App „Wo schlafen die Schwäne?“. In neun wunderschön gezeichneten Szenen, die von Musik untermalt werden, erzählt ein Sprecher in hypnotisierendem Ton die Geschichte eines Schwanes, der die Tiere des Waldes besucht. Sehr liebevoll gestaltet ist auch die kostenlose App zum Buch „Elefantenpups“. Kinder können verschiedene Bilder wählen, auf denen Tiere Instrumente spielen. So erobern sie die Welt der Instrumente interaktiv. Wer auf Comics steht, dem seien die Hörbücher des Indianerjungen Yakari empfohlen. Auch Wimmelbücher gibt es als Apps. Wer kein Tablet im Bett will, dem sei „Tiptoi“ von Ravensburger empfohlen. Mit einem digitalen Lesestift können Kinder in Büchern mit „digitalem Papier“ Bilder anklicken und die Geschichten anhören. Eine Alternative zum Vorlesen? Nein. Aber besser als der schnarchende Vater. f l o r i a n k l e n k
Wenn Lisa wütend ist, dann wird ihr Schatten riesengroß, dann könnte sie einen Knoten in jeden Baum machen, dann würde sie am liebsten alle auf den Mond schießen. Ein Bilderbuch über ein starkes Gefühl und wie man damit umgehen kann. beltz.de
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Sachbuch
Werdet endlich erwachsen – und hört nie auf zu lernen!
• Beginne nicht zu spät! • Lerne nicht zu lange am Stück! • Lerne an verschiedenen Orten! • Mache Pausen zwischen dem Wiederholen! • Lass dich ablenken! • Teste dich selbst! • Nicht vergessen zu schlafen!
illustr ation: anna hazod
Lerntipps von Benedict Carey
S a c h b u c h
D
er Titel des neuen Buchs von Susan Neiman „Warum erwachsen werden?“ führt in die Irre. „Werdet endlich erwachsen!“ müsste es eigentlich heißen, denn Neiman beklagt in ihm die Infantilisierung unserer Kultur und schlägt einen neuen Begriff des Erwachsenseins vor. In seinem am weitesten verbreiteten Verständnis bedeutet Erwachsensein heutzutage, „auf die eigenen Hoffnungen und auf Träume zu verzichten, die Grenzen, die uns die Realität setzt, zu akzeptieren und sich mit einem Leben abzufinden, das weniger abenteuerlich, interessant und bedeutsam ist, als man am Beginn annahm“. Aber das Leben ist weder so wunderbar, wie wir als Kinder glaubten, noch so schrecklich, wie es sich uns als Jugendliche darstellte. Auf der Suche nach einem anderen Modell der Reife greift Neiman auf die Gedanken der Aufklärung zurück. Denn, so ihre These: „Erwachsenwerden ist ein Problem der Aufklärung, und nichts zeigt so deutlich, dass wir die Erben der Aufklärung sind, ob wir dieses Erbe nun antreten oder nicht.“ Obwohl das Bashing dieser philosophischen Epoche zu einem beliebten Sport geworden sei, gebe es zu ihr nur die Alternativen der vormodernen Nostalgie und des postmodernen Misstrauens.
Erwachsensein und Aufklärung Die US-amerikanische Philosophin, geboren 1955, studierte in Harvard, u.a. bei John Rawls, unterrichtete an der Freien Universität Berlin, hatte Professuren in Yale und Tel Aviv inne und leitet heute das Einstein Forum in Potsdam. Ihr Buch liefert nicht nur einen Crashkurs in Sachen Aufklärung, sondern auch ein Plädoyer, sich ihren schwer zu lesenden Titanen Immanuel Kant einmal selbst zur Brust zu nehmen. Denn Kants Konzept der Aufklärung als Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit trage immer noch, obwohl die Ursache heute nicht mehr in repressiven gesellschaftlichen und religiösen Strukturen liege, sondern in dem gefügigen Konsumverhalten der Massen und deren Manipulation durch Industrie und Werbung, aber auch in überängstlichen Eltern und einem bevormundenden Staat sowie neuen Formen von religiös induziertem Fundamentalismus. Für den zeitgenössischen Jugendkult liefert Neiman eine ungewöhnliche Erklärung: Vielen Berufen und Arbeitsprozessen mangele es heute an Sinn, und die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen stelle eine Bedrohung der Zukunft dar. „Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend.“ Die verbreitete Ansicht, die Jahre zwischen 16 und 26, „wenn die Muskeln der jungen Männer und die Haut der jungen Frauen am schönsten erblühen“, seien die besten des Lebens, habe schädliche Folgen. Denn tatsächlich bedeute dieses Jahrzehnt für die meisten Heranwachsenden eine Zeit der Orientierung und Unsicherheit – was die Sache noch verschlimmert. „Wenn ich jetzt zerrissen und verängstigt bin, was soll ich von den Zeiten meines Lebens erwarten, die nur schlimmer werden, wie mir alle sagen?“ Neiman untersucht die Entstehung der Definition des Lebens als Prozess des Niedergangs, die sich in den letzten 100 Jahren noch dramatisierte: „Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schien das Erwachsen-
werden nur öde, an seinem Ende wirkte es nun kläglich.“ Es stimme schon, konzediert Neiman, als Erwachsener ist das Leben „trüber und langweiliger, aber es tut auch nicht mehr so weh“. Außerdem zeigen Statistiken, dass die meisten Menschen nur bis ins mittlere Alter unglücklicher werden, mit zunehmendem Alter aber immer glücklicher – und zwar unabhängig von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Situation, von den USA bis Zimbabwe. Denn unsere Urteilskraft nehme zu, aber auch die Fähigkeit, den Moment zu genießen und sich selbst einzuschätzen.
Ein subversives Ideal Deswegen sei es an der Zeit, das Erwachsensein zum Ideal zu erheben, einem subversiven Ideal allerdings, das nie vollkommen erreicht werden kann, nach dem zu streben sich aber umso mehr lohnt. Erwachsensein bedeutet, ohne Gewissheit zu leben, aber einzusehen, „dass wir unvermeidlich immer nach ihr suchen werden“. Und es hat weniger mit Wissen als mit dem Mut zu tun, seine eigene Urteilskraft zu benutzen. Der erste Denker, der das Erwachsensein als philosophisches Problem behandelte, war Jean-Jacques Rousseau. In „Emile oder die Grenzen der Erziehung“ (1762) lernt sein Zögling, „weder Sklave der eigenen Launen noch eines fremden Willens zu sein“. Allerdings wird er zu dieser Freiheit nicht nur gezwungen, sondern auch für die „beste aller Welten“ vorbereitet. Aber, fragt Neiman: „Wie bereiten wir ein Kind auf eine Welt vor, die nicht so ist, wie sie sein sollte?“ Und kehrt noch einmal zu Kant zurück, der es als ein Gebot der Vernunft ansah, angesichts der Unvollkommenheit der Welt nicht in Resignation zu verharren oder in Rage zu geraten. Philosophie und Wissenschaften sind seitdem diesen Weg angetreten, die Welt oder zumindest die Bedingungen, unter denen Menschen leben, zu verändern. „Insofern ist die Philosophie selbst ein entscheidender Teil des Erwachsenwerdens.“ Sie tröstet und beruhigt nicht, sondern macht unser Leben zu einem Balanceakt, in dem wir immer ein Auge darauf haben müssen, „wie die Welt sein sollte, und zugleich niemals aus dem Blick zu verlieren, wie sie ist“. Und wann ist dieser Prozess abgeschlossen? Natürlich nie. Und je länger wir – statistisch gesehen – leben, desto wichtiger wird er. Wenig überraschend plädiert Neiman denn auch für ein lebenslanges Lernen mit den – zugegeben nicht sehr originellen – Elementen Arbeit, Bildung und Reisen, wobei vor allem Letzteres uns dazu befähige, die Welt wie neu wahrzunehmen und vorgefasste Meinungen und Verhaltensmuster zu überprüfen.
Warum sollen wir lernen, wie sollen wir lernen und wie lange? Susan Neiman und Benedict Carey haben Antworten darauf
„Weil es uns nicht gelungen ist, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugend gerne hineinwachsen möchte, idealisieren wir die Phasen der Kindheit und Jugend“ Susan Neiman
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lin und Konsequenz verabschiedet, die so sehr danach klingen, sich Gewalt antun zu müssen. Wie kann man ohne Qual lernen und sich dabei die „Marotten des Gehirns“ zunutze machen? Careys Antwort: Geringfügige Modifikationen unserer Lern- und Übungsroutinen reichen dafür aus. Der Wissenschaftsjournalist der New York Times zitiert Experimente und Studien, die erweisen, dass Lernrituale wie die berühmte Stille und ein fixer Ort die Lernleistung verringern, die lange verpönte Ablenkung – sogar ein kleiner Ausflug zu Facebook! – sie hingegen steigern kann. Zu den guten Nachrichten gehört auch, dass weder Angst noch Dummheit die Hauptschuldigen bei unterdurchschnittlichen Prüfungsleistungen darstellen, sondern vielmehr jene Illusion der Abrufflüssigkeit, die durch kurzfristiges Pauken hervorgerufen wird. „Pauken funktioniert gut, wenn man unter Druck ist. Allerdings bleibt das so Gelernte nicht langfristig im Gedächtnis verankert.“ Was dagegen hilft: frühes Beginnen, Wiederholungen und Pausen. Carey legt mit seinem Buch nicht nur eine Einführung in die Gedächtnisbildung und eine Ehrenrettung des unsystematischen und spontanen Lernens vor, sondern auch von Leistungstests und Prüfungen selbst. Wir beherrschen Fakten und Fähigkeiten besser, wenn wir sie abrufen und nicht bloß wiederholen, das gilt sogar für Vortests und Ratespiele, aber insbesondere für Selbsttests, die bloßem Textmarkieren haushoch überlegen sind. Carey schlägt deswegen vor, Tests als Lernmethode und nicht als Instrumente zur Messung des Leistungsniveaus von Schülern zu betrachten.
Forget to learn
Benedict Carey: Neues Lernen. Warum Faulheit und Ablenkung dabei helfen. Rowohlt, 352 S., € 20,60
Pauken war gestern Dem Thema Lernen widmet sich eine zweite Neuerscheinung, die Neimans Buch ergänzt, indem sie darüber Auskunft gibt, wie wir lernen, und dazu mit überraschenden und nützlichen Erkenntnissen aufwartet. Lebenslanges Lernen bedeutet nicht nur Sammlung neuen Faktenwissens, aber auch. Was es aber keinesfalls implizieren muss, betont Benedict Carey, ist Pauken. Sein Buch „Neues Lernen. Warum Faulheit und Ablenkung dabei helfen“ vermag Lernen schmackhaft zu machen, weil es sich von den alten Geißeln Fleiß, Diszip-
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Susan Neiman: Warum erwachsen werden? Eine philosophische Ermutigung. Hanser, 240 S., € 20,50
Sogar das Vergessen wird hier rehabilitiert, denn zeitweises Vergessen ist notwendig, um Inhalte tiefer im Gedächtnis zu verankern. Dieselbe Wirkung haben gezielte Selbstunterbrechungen und der Schlaf, denn einmal auf Schiene gesetzt, arbeitet das Gehirn auch ohne unser Zutun weiter, indem es Inhalte sortiert und konsolidiert. „Die Erforschung des Vergessens hat uns in den letzten Jahrzehnten dazu gezwungen, die Theorie des Lernens von Grund auf umzuschreiben.“ Unser Gehirn stammt noch aus Jäger-und-Sammler-Zeiten, es ist nicht nur auf Multitasking programmiert, sondern in einem ganz wesentlichen Sinn auf Lernen. Carey gibt zahlreiche Tipps, wie man das Lernen ohne erhöhten Aufwand verbessern kann. Seine Methoden sind altersunabhängig und erleichtern den Erwerb von Faktenwissen, aber auch von Fremdsprachen und eignen sich sogar für Schärfung der Wahrnehmung und Urteilskraft, wie Carey anhand eines Test zur Erkennung von kunstgeschichtlichen Epochen demonstriert. Sie sind anwendbar auf wissenschaftliche Problemlösung, aber auch auf den schöpferischen Akt. Grob zusammengefasst lauten sie: Ortswechsel, Abwechslung, Pausen und Ablenkung von zehn, 20 Minuten beim Lernen, Wiederholungen sowie Lerninhalte zu mischen und zu verschränken. „Gemischtes Üben fördert nicht nur unsere Geschicklichkeit insgesamt und unser Unterscheidungsvermögen. Es wappnet uns auch für die Bälle, die uns das Leben im wörtlichen und übertragenen Sinn zuwirft.“
K irs t in B rei t enfellner
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Sachbuch
Hitler steckt uns immer noch in der Gurgel Religionskritik: Adolf Holl legt ein fantastisches Buch über Hitler und Hindus, Religion und Gewalt vor Intervie w: Erich K lein
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er Theologe und Kirchenkritiker Adolf Holl wird heuer 85. Obwohl oder gerade weil sein Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft“ von 1971 ihm die Suspendierung vom Priesteramt einbrachte, hat er nicht aufgehört, über Religion nach zudenken und zu schreiben. Zu seinen Lebensthemen gehört aber auch der Nationalsozialismus, der seine Kindheit und Jugend prägte. Erst als er sein Buch „Braunau am Ganges“ geschrie ben hatte, erzählt er im Gespräch mit dem Falter, konnte er Adolf Hitler auch aus sei nen nächtlichen Träumen verbannen und sich so persönlich von dessen Schatten existenz befreien. Aber was hat Hitler mit Indien zu tun und Braunau mit dem Ganges? Falter: Auf der ersten Seite Ihres Buches entsteigen Sie in Indien dem Flugzeug, sehen einen Vogel und sagen, das ist Hitler. Können Sie das genauer erklären? Adolf Holl: Ein amerikanischer Journalist hat vor etlichen Jahren die wichtigsten Au toren über Hitler interviewt und schloss da raus, wir Westler würden mit Adolf Hitler nicht fertig. Das heißt: Unsere Suche nach dem Bösen ist erfolglos geblieben. Trotz al ler westlichen Gedankenproduktion, Philo sophie, Soziologie und Wirtschaftswissen schaft ist es nicht gelungen, mit dem Herrn Hitler und dem, was er angerichtet hat, in irgendeiner Weise zurechtzukommen. Man kann ihn nicht einfach vergessen. Er lebt weiter, und sei es im Internet. Holl: So ist es. Man kann ihn weder run terschlucken noch ausspucken – er steckt uns in der Gurgel. Wenn wir mit unserem Kognitionssystem nicht weiterkommen, so mein Grundgedanke, probieren wir für die Dauer der Lektüre das System der Hindus aus. Hier bräuchte Hitler ein paar Millio nen Wiedergeburten, um endlich ins Nir wana zu gelangen. Das ließe selbst Hitler schrumpfen. In Ihrem Buch wird Hitlers Hund Blondie als Wladimir Putin wiedergeboren. Ist das nicht frivol? Holl: Ich muss hier einen Trick verraten. Das Buch ist einerseits sachhaltig, ich er zähle die letzten 100 Jahre der indischen Geschichte mit den Engländern. Gleich zeitig führe ich ab der ersten Seite Allein gespräche. Das habe ich vom heiligen Au gustinus übernommen, von dessen „Solilo quia“. Ich, der Autor, habe ein Visavis, mit dem ich spreche, und das vertritt die Hin dus. Das Ganze funktioniert wie ein Thea terstück, und die Hauptperson ist ein Gott, Lord Schiwa. Daneben lassen Sie Vermittler zwischen Indien und Europa wie die Esoterikpionierin Helena Blavatsky oder den Sektenführer Bhagwan auftreten, aber auch den indischen Faschisten Subhash Chandra Bose. Holl: Ich versuche mich mit meinem Pu blikum in merkwürdige religiöse Gefilde zu bewegen, die auch politisch wirksam sind. Subhash Chandra Bose wäre in In dien nach dem Zweiten Weltkrieg vermut
lich so wichtig geworden wie Nehru oder Gandhi, er starb aber bereits 1945. Bose kam aus Bengalen, wo es einen Tempel mit Lord Schiwa und seiner Gefährtin Kali gibt, keine sehr freundlichen Gestalten. Bose ist heute noch in indischen Tempeln zu be sichtigen, und zwar mit einem Elefanten kopf. Die Inder haben kein Problem, in al ler Ruhe Räucherstäbchen vor ihm anzu zünden. Wir im Westen bringen so etwas nicht mehr zusammen. Wozu sollten wir? Bose ging doch eine Art Allianz mit Hitler ein! Holl: Bose war ein gewaltbereiter Politiker, der nach dem Grundsatz vorging: Die Fein de meiner Feinde sind meine Freunde. Sei ne Feinde waren die Engländer, die ihn ins Gefängnis warfen, wo er Tuberkulose be kam, die er dann in Wien auskurierte. Er traf nicht nur Hitler, sondern auch Himm ler. Mein Vorgehen besteht darin, reale po litische Informationen langsam, aber si cher in mythologisches Reden und Schrei ben zu verwandeln. Zum Beispiel, wenn ich schreibe: Lord Schiwa hatte Lust auf einen Atomkrieg. Warum schreiben Sie nicht über den Islam? Das wäre doch aktueller! Holl: Die Frage habe ich erwartet. Ich habe mich mit dem Islam ausführlich in „Der lachende Christus“ von 2005 befasst. Das Land mit der lebhaftesten religiösen Reali
Zur Person Adolf Holl, geboren 1930 in Wien, 1954 zum Priester geweiht; ab 1963 Dozent an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Wien. Sein Buch „Jesus in schlechter Gesellschaft“ (1971) brachte ihn in Konflikt mit der Amtskirche, 1973 wurde ihm die Lehrberechtigung entzogen, 1976 folgte die Suspendierung vom Priesteramt. Zuletzt erschienen: „Wie gründe ich eine Religion“ (2009), „Können Priester fliegen? Plädoyer für den Wunderglauben“ (2012), „Braunau am Ganges“ (2015). 2014 erschien Egon Christian Leitners umfangreicher Band „Zur frohen Zukunft. Werkstattgespräche mit Adolf Holl“
Foto: h e r ib e r t c o r n
tät ist heute allerdings Indien. China kann man vergessen, in Europa gibt es auch we nig lebhafte Religiosität außer Pfarrhofsjau sen, Freundlichkeit, ein bisschen Feminis mus und Umweltverantwortung. Für einen Schriftsteller wie mich sind das nebensäch lich Dinge. Im Islam gibt es Gewalttätig keiten, von denen wir ständig hören, und ich werde mich hüten, hier zu verallgemei nern. Aber das zähle ich nicht zu religiöser Lebhaftigkeit, es stellt eher einen Schutz schild oder eine Tarnung dar. In der Mitte Ihres Buches sitzen Sie als Mitglied der Hitlerjugend auf einer Parkbank, die für Juden verboten ist. Aber man hat nicht den Eindruck, Sie würden von vergangenen Dämonen vor sich hergetrieben. Holl: Ich habe die Warnungen aus meinem Freundeskreis zur Kenntnis genommen, mit den Gräueln des Nationalsozialismus nicht leichtfertig umzugehen. Ich weiß auch, dass bei allen Versuchen, das Unsägliche ins Er innerungsgeschehen zu heben, auch deren Vergeblichkeit mitgemeint ist. Das Denk mal für die ermordeten Juden Europas in Berlin hat mich etwa persönlich ratlos zu rückgelassen. Aber als katholischer Kaplan in den 1950er- und 1960er-Jahren hatte ich mindestens einmal im Jahr, in der Karwo che, vorzulesen: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder.“ Das ist laut Evange lium die Stimme der Juden. Diese bösar
S a c h b u c h tige Stelle kam 20 Jahre lang über meine Lippen, und das muss ich wissen, solan ge ich lebe. Die katholische Kirche geht mittlerweile kritisch mit ihrer Rolle im Nationalsozialismus um. Im Wiener Stephansdom hängt ein Kreuz, in dessen Sockel ein Behälter mit Asche aus Auschwitz eingelassen ist. Holl: Als junger Priester vertrat ich die Mei nung, man sollte den Dom und sein defek tes Dach nicht wieder renovieren, damit es den Gläubigen hie und da beim Beten auf den Kopf regnet, um also ihre Erinnerung etwas lebhafter zu gestalten – nämlich dar an, dass sie möglicherweise zugeschaut ha
„Ich konnte mich also persönlich von Hitlers Schattenexistenz befreien“ Adolf holl
ben, als die Wiener Juden mit der Zahn bürste das Trottoir säuberten. Die Grund voraussetzung ist für mich bei allem, an das „Heil Hitler“ von Kardinal Innitzer zu erinnern, der den „Anschluss“ Österreichs an Hitlerdeutschland begrüßte. Haben Sie tatsächlich von Hitler geträumt? Holl: Er kam häufig – und verriet mir ein mal sogar seine Telefonnummer. Hitler hielt mich im Traum mit den sechs Zahlen seiner
Nummer zum Narren. Ein anderer Traum: Im Jahr 1945, als Hitler schon nicht mehr in der besten Verfassung war, verlieh er in der Reichskanzlei einigen Pimpfen einen Orden. Er verlangte meinen Ausweis und zerriss ihn. Für mich war es ein sehr inte ressanter Traum, weil er mir offenbar ei nen neuen Namen geben wollte, wie beim Eintritt in einen Orden. Hitler hat meine alte Vergangenheit zerrissen. Das Traumge schehen ist also religionsgeschichtlich bes tens informiert. Manchmal gibt es dort natürlich auch nur einfachen Blödsinn, der aus Tagesres ten besteht. Nachdem ich „Braunau am Ganges“ geschrieben hatte, ist er mir im Traum nicht mehr gekommen. Ich konnte mich also persönlich von seiner Schatten existenz befreien. Das Buch endet in Hartheim, in der oberösterreichischen Tötungsanstalt der Nazis, und das Schlusswort wird den Frauen überlassen. Holl: Zur Frauenfrage eine Predigt zu halten missfällt mir. Aber nachdem die männli che Hälfte der Weltbevölkerung in den letz ten 5000 Jahren nur das zustande brach te, was wir jetzt vor uns haben, wäre es an der Zeit, den Gedanken zu kultivieren, jetzt sollen einmal die Frauen zeigen, was sie zusammenbringen. Die Chancen wer den ihnen ja zunehmend eingeräumt, si cher noch immer zu wenig, aber immerhin gibt es Frauen in hohen und höchsten po litischen Positionen. Abgesehen von den Philosophinnen Hannah Arendt und Simone Weil kommen in Ihrem Buch wenig sympathische Figuren vor.
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Holl: Lustig, dass Sie da niemand Sympa thischen finden (Holl blättert im Register, Anm.). Also bitte – Franz von Assisi ist da! Der ist mir noch immer relativ sympathisch, auch wenn er, würde er jetzt bei der Tür he reinkommen, wie ein Iltis stinken würde. Außerdem – Jesus kommt sehr oft vor. Ich gestehe, er ist mir im ganzen Register am ehesten sympathisch. Über Jesus heißt es an einer Stelle ein wenig kryptisch, er dürfe „erst beim jüngsten Gericht an Zerstörung denken“. Holl: Da ich mit Jesus seit 60 Jahren sozu sagen auf Du und Du bin, darf ich ihn ge legentlich am Barte zupfen, wenn er denn einen hat. Er steht mir wirklich nahe. In einer Neuauflage zu meinem FranziskusBuch schreib ich einmal: „Und so entfernen sich die beiden Gestalten des Jesus und des Franz von Assisi von uns …“ Die genau do kumentierte Biografie des Franz von Assi si füllt die Lücken in der Biografie von Je sus Christus, von dem wir in Wirklichkeit wenig wissen. Ich ließ die beiden in der Abendsonne zu einer Gestalt verschmel zen und dachte dabei an Charlie Chaplin, der mit seiner Freundin in die Sonne hi neingeht. Weiter hieß es: „und die beiden verschmelzen allmählich zu einer Figur, bis diese in der untergehenden Sonne des Christentums verschwindet“. Mehr kann ich dazu nicht mehr sagen. Ist das Ihr Schlusswort zum Christentum? Demnächst feiern Sie ihren 85. Geburtstag. Wovon handelt Ihr nächstes Buch? Holl: Das verrate ich nicht, das ist ein un gelegtes Ei. Aber 30 Seiten sind schon auf der Welt. F
„In Indien würde Hitler zu einem lächerlichen Vogel zusammenschrumpfen“ :: Hitler und kein Ende? Die Lieblingsfrage al
ler europäischen Diskurse beantwortet der Wiener Theologe und Religionssoziologe Adolf Holl in seinem neuen Buch „Braunau am Ganges“ gleich zu Beginn mit dem la konischen Satz: „Das ist gut möglich.“ Zu mindest im Internet werde der Massenmör der aus dem oberösterreichischen Braunau weiterleben. Die eigentliche Frage in Be zug auf Hitler müsse allerdings lauten: Wie wird eine säkulare Gesellschaft diese schon zu Lebzeiten und erst recht posthum sa kralisierte Ungestalt namens Hitler wie der los? Adolf Holl greift zu einem Gedankenspiel: Im Denken der Hindus mit seinen tausendfa chen Wiedergeburten schrumpfe das Sym bol des absolut Bösen zu einer bloßen Kre atur zusammen. In Indien würde Hitler zu einem lächerlichen Vogel. Und: „Fest steht, dass die Swastika nicht vom Nordpol auf die Hitlerfahne geflogen ist, sondern aus Indien. Die Bezeichnung des Hakenkreu zes im Sanskrit lässt an Glück und Segen denken, nicht an das Unheil Hitler. So stellt sich die Frage, ob Religion unschuldig blei
ben kann.“ Aber Holls provokante und zu gleich anarchistische Ausführungen be schränken sich nicht auf die Symbolebene. Sogleich steht die Frage nach der Schuld aller Weltreligionen im Raum. In knapper Sprache und unterschiedlichen Gen
res, vom Sachtext über Traumerzählungen bis zu mythologischer Rede, werden Paral leluniversen entfaltet: Reiseeindrücke, in dische Geschichte, Tagespolitik, Meldun gen über Massenvergewaltigungen indi scher Frauen und Hindugottheiten wirbeln durcheinander. „Ein indischer Computer spezialist geht in seinen Tempel, zündet ein Räucherstäbchen vor seiner Gottheit an und arbeitet dann weiter an seinen Program men.“ Wie soll das gehen? Antworten darauf sucht Adolf Holl ei nerseits in den wechselseitigen Einflüssen zwischen Indien und Europa in den letz ten 150 Jahren. Seine Gewährsleute sind der Philosoph Arthur Schopenhauer, die Esoterikerin Helena Blavatsky, die briti sche Theosophin Annie Besant, der Religi onswissenschaftler Mircea Eliade oder der faschistische Politiker Subhash Chandra
Adolf Holl: Braunau am Ganges. Residenz, 144 S., € 17,90
Bose, aber auch zeitgenössische indische Gurus und Psychoanalytiker. Zugleich führt Holl aber auch ein intimes Gespräch mit in dischen Göttern wie Lord Schiwa und des sen Begleiterin Kali, die vor keinerlei Ge walttätigkeiten zurückschrecken. Wie steht es also mit dem Bösen?, fragt er. Und: Was hat das Ganze mit dem Burnout der west lichen Kultur und deren Dauersinnsuche zu tun? Adolf Holls Fragen sind bisweilen ebenso sug
gestiv wie seine Antworten: „Wozu der Ho kuspokus der Brahmanen?“, heißt es am Schluss. „Die Hindus verneigten sich nach dem Zähneputzen vor der aufgehenden Sonne, sofern sie auf dem Land lebten wie ihre Vorfahren. Braunau am Ganges liegt immer im Osten.“ Holls Buch verlangt eine langsame, kon zentrierte Lektüre, und seine Fabulierkunst grenzt immer wieder an Phantastik. Das verwundert aber auch nicht weiter, schließ lich ist Adolf Holl – wie Franz Schuh ein mal bemerkt hat – „einer der besten Schrift steller Österreichs“.
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Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1
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Sachbuch
These ads suck! Die Erfindung des Suchens Internet: Zwei Google-Manager erklären, wie ihre Firma funktioniert und sich das Arbeiten verändert hat
Cool sind sie, die Menschen aus dem Silicon
Valley. Und die allercoolsten sind die „Googler“ – schreiben zwei Bosse von Google. Aber sie schreiben’s cool. Eric Schmidt und Jonathan Rosenberg erzählen diese Storys aus erster Hand. Schmidt ist jener Mann, den die Google-Gründer Sergey Brin und Larry Page holten, um das von ihnen gegründete Start-up gemeinsam in einen Weltkonzern mit über 50.000 Mitarbeitern zu transformieren. Rosenberg stieg zur selben Zeit als Chef des Produktmanagements ein. Ausschlaggebend waren nicht ihre wirtschaftliche Erfahrung und Ausbildung gewesen, sondern ihre technische. Google expandierte rasant, der Börsengang wurde vorbereitet. Schmidt hatte bereits gelernt, dass er hier anders managen musste als bisher: „Einer der Hauptgründe für unseren Erfolg ist jedoch, dass der Plan, den wir dem Vorstand (…) vorlegten, kein echter Businessplan war.“ Gerade die Offenheit einer unvollständigen Strategie machte das Unternehmen in einer Welt mit wenigen vorhersagbaren Parametern zum Big Player. Virtueller Weihrauch weht da schon in recht dicken Schwaden. Doch der Coolnessfaktor trägt. Was Google tut, wie es geführt wird, wie das Buch geschrieben ist: All das
wirkt locker aus dem Handgelenk geschüttelt. Die hier gesammelten Schnipsel liefern nicht nur eitle Nabelschau, sondern klare Konturen eines Unternehmens, das anders werkt als viele andere. Die Sätze der beiden Manager, formuliert mithilfe ihres Kommunikationschef Alan Eagle, zeichnen mit klaren Pinselstrichen ein Bild, das naturgemäß subjektiv bleibt. Manchmal, wenn der Leser direkt angesprochen wird, neigt sich das stilistische Gleichgewicht ein wenig in Richtung Ratgeber. „Immer den Nutzer im Fokus zu haben“ nen-
nen die Manager das wichtigste Prinzip des Unternehmens. Dies hieße auch, die Bedürfnisse des Suchmaschinenbenützers über jene der zahlenden Werbekunden zu stellen, versichern die Herren, denen vorgeworfen wird, Nutzerdaten für Werbekunden auszubeuten und bereitwillig mit der NSA zu kooperieren. Noch überraschender wirkt ein interner Grundsatz von Google: „Tu nichts Böses“ („Don’t be evil“). Glaubt man das jemandem, der im Verdacht steht, Datenschutzbestimmungen zu verletzen? Als Beispiel bringen die Autoren die Aufgabe ihres China-Engagements. Als die Verhandlungen über die Lockerung der Zensurbestimmungen kein Ergebnis brachten und chinesische Hacker versuchten, Google-Accounts von Menschenrechtsorganisationen zu knacken, zog sich Google aus ethischen Gründen – und unter großem Medienecho – aus China zurück. Höchste Priorität geben die Manager dem Recruiting. „Smarte Kreative“ heißt das Zauberwort. Sie gilt es zu finden und zu binden. Diesen Wunderwuzzis der SiliconValley-Welt muss man schon einiges bieten: selbstbestimmte Arbeitszeit, Gratis-Mittagessen in Luxus-Cafeterias am Google-Campus, gesponserte Massagen. Vor allem aber brauchen sie Gestaltungsspielraum. Die Mitarbeiter dürfen hier auf eigene Faust Innovationsprojekte starten. Personalentscheidungen – auch über Spitzenpositionen – werden in Komitees getroffen.
Google, die mit Abstand erfolgreichste Internet-Suchmaschine, wurde 1998 gegründet und ging 2004 an die Börse. 2014 zählte sie 52.000 Mitarbeiter. Der Name des Unternehmens spielt auf „googol“, die englischsprachige Bezeichnung für die Zahl 10100 (also eine 1 mit 100 Nullen), an
Eric Schmidt, Jonathan Rosenberg (mit Alan Eagle): Wie Google tickt. Campus, 294 S., € 27,80
„Sprich mit den Ingenieuren“ war eine der wichtigsten Leitlinien, die man den neuen Managern zu Beginn ihrer Google-Karriere mitgab. Der Weg in die schöne neue Welt fiel den in klassischen Wirtschaftsbetrieben sozialisierten Autoren nicht immer leicht: „Was einen als Chef von Kreativen wirklich frustriert, ist die Tatsache, dass man kaum Macht hat“, halten sie zur ungewohnten Führungskultur fest. Auf der anderen Waagschale liegt das erwartete Engagement: Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine anzuheuernde Google-Mitarbeiterin lautet etwa: „Sie will viel erreichen, und das geht nicht in neun Stunden an fünf Tagen die Woche.“ Ebenso selbstverständlich liest man über spontan angesetzte Meetings sonntagnachmittags. Misserfolge werden hier ganz offen abgehandelt, oft mit augenzwinkernder Selbstironie. Für Selbstkritik bei heiklen Themen wie Datenschutz oder überfordernden Arbeitsbedingungen reicht es aber dann doch nicht ganz. Am Ende hat man sich flott durch eine Sammlung von Erfolgsrezepten aus dem Hause Google gelesen. Am Rand des Weges lassen sich ein paar technische Details sammeln: was den Google-Algorithmus von anderen Suchmaschinen unterscheidet, wie Google Earth entstand oder was die virtuellen Museumsräume „Open Gallery“ bieten. Auf die Frage, wie ein Unternehmen im vernetzten globalisierten Zeitalter geführt werden kann, finden sich hier Antworten, die nachweislich funktioniert haben und die den Jahrzehnte langen Konsens gängiger Managementlehren infrage stellen. Der mühelose Stil erzeugt einen Sog: Die Einblicke in die Eingeweide eines riesigen Unternehmens lassen sich von vorne bis hinten in einem Stück lesen. Nutzen bringen sie nicht nur Technikern und Managern, sondern alle Lesern mit Interesse an neuen Arbeitswelten.
A nd r e a s K r e m l a
illustr ation: anna hazod
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as wäre eine Firmenlegende ohne Heldengeschichten? Larry Page gefiel nicht, was seine Suchmaschine an Inseraten lieferte, als er nach einem Oldtimer-Motorrad suchte. Also berief er ein Meeting ein und …? Falsch! Er hängte einen Ausdruck der mauen Ergebnisse ans schwarze Brett nebst einem Zettel, der seinem Unmut Ausdruck verlieh: „These ads suck.“ Dann begab er sich ins Wochenende. Am nächsten Montag überraschten ihn fünf Informatiker: Sie hatten den Aushang des Chefs gesehen, seiner Kritik recht gegeben und sich ans Programmieren gemacht – um nun einen neuen Algorithmus zu präsentieren, der die vorgefundene Schwäche ausmerzte.
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Informationsaustausch und Überwachungsstaat Geschichte: Anton Tantner erzählt die Geschichte der Fragämter und Adressbüros als die der ersten Suchmaschinen ist das neue Schlagwort in Igennformation der Geschichtsschreibung. Historiker fravermehrt danach, wie Informationen
zirkulierten, gesammelt, genutzt und – ja – auch gehandelt wurden. „Die ersten Suchmaschinen“ heißt das neue Buch des Wiener Historikers Anton Tantner. Der Untertitel erklärt, worum es geht: „Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-Comptoirs“. Diese Einrichtungen waren privatwirtschaftliche Informationsumschlagstellen. Wer einen Dienstboten, eine Mitfahrgelegenheit, eine Wohnung oder eine bestimmte Ware anzubieten hatte oder suchte, ließ sein Anliegen gegen Gebühr in den Registern der Adressbüros eintragen. Tantner spricht von Entzeitlichung und Ent-
räumlichung der Kommunikation. Entzeitlichung, weil die Information gespeichert wurde und meist einige Wochen verfügbar war. Enträumlichung, weil die Comptoirs häufig auch eigene Publikationen herausgaben, die entsprechenden Anfragen und Angebote somit auch anderswo verfügbar waren. In der gedruckten Form tritt einem die ganze Fülle, aber auch die Mondänität des frühneuzeitlichen Alltags entgegen. Aus diesen „Intelligenzblättern“ entwickelten sich im 19. Jahrhundert die Anzeigenabteilungen der Tageszeitungen. Die Stärke von Tantners Buch liegt in der chronologischen und geografischen Breite.
Seine Untersuchung reicht vom frühen 17. bis ins 19. Jahrhundert und wandert von Paris und London in den deutschsprachigen und habsburgischen Raum, nach Wien, Prag, Preßburg (Bratislava), nach Frankfurt und Preußen, aber auch nach Basel und Zürich. Ende des 18. Jahrhunderts gab es fast in jeder größeren Stadt ein Comptoir. Neben dem „Kerngeschäft“ fungierten manche Adressbüros auch als Lesekabinett oder Leihbibliothek oder sogar als, wie wir heute sagen würden, Bildungseinrichtung. Auch Armenfürsorge stand gelegentlich auf der Agenda. Die Geschichte der Fragämter ist aber, das zeigt Tantners Tour d’Europe, vor allem auch die Geschichte ihres Scheiterns. Zahlreiche Projekte sind nicht über das Planungsstadium hinausgekommen, weil die Obrigkeit das Ansuchen ablehnte oder die Fragämter nach kurzer Zeit den Informationshandel wieder einstellten. Hinzu kam der Widerstand jener Akteure, die die Adressbüros als direkte Konkurrenz fürchteten, sprich: die traditionellen Arbeitsvermittler wie auch Händler aller Art. Denn die zu verkaufenden Gegenstände wurden häufig nicht nur registriert, sondern auch in den Geschäftsräumen aufgestellt.
Anton Tantner: Die ersten Suchmaschinen. Adressbüros, Fragämter, Intelligenz-CompTantner schreibt flüssig und jargonfrei, trotz- toirs. Wagenbach, dem ist die Lektüre des an sich dünnen 173 S., € 20,50
Büchleins etwas ermüdend. Über weite Phasen erschöpft sich der Text in der bloßen Aufzählung der Adressbüros und ihrer Betreiber, bleibt zu sehr im Empirischen stecken und bemüht sich zu wenig um theoriegetriebene Analyse. Dies lässt sich zum Teil durch die widrige Quellenlage entschuldigen. Oft haben sich wenig mehr als die Ankündigungen der Adressbüros erhalten, über deren Tagesgeschäft wissen wir mangels Register in der Regel gar nichts. Gleichwohl: Die Pionierarbeit ist verdienstvoll. Und auf einen spannenden Punkt
weist Tantner immer wieder hin: Die Adressbüros, die ja dem Informationsaustausch von Privatpersonen dienen sollten, wurden von Anfang an vonseiten der Obrigkeit als mögliches Kontrollinstrument wahrgenommen. Einerseits versprachen die Adressbüros ihren Kunden „Datenschutz“, dienten sich aber andererseits auch als Meldestelle etwa für Reisende an. Darf man hier Parallelen ziehen zu den Mesalliancen zwischen Betreibern von Suchmaschinen und dem datenhungrigen modernen Überwachungsstaat? Tantner findet ja. Und hat wohl recht: Wer systematisch personenbezogene Informationen sammelt, wird wohl immer die Begehrlichkeit der Herrschenden wecken.
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Sachbuch
Was kommt als Nächstes im Westen? Geschichte: Heinrich August Winkler kommt mit seiner „Geschichte des Westens“ in der Gegenwart an
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llein der Umfang ist imposant und Ehrfurcht gebietend. Insgesamt sind es über 4.600 Seiten, die der deutsche Historiker Heinrich August Winkler seit 2009 bei C. H. Beck publiziert hat. Mit dem soeben erschienenen vierten Band ist das Reihenwerk, das hauptsächlich von der Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts handelt, komplett. Wer wagt heutzutage noch, solch ein Mammutprojekt in Angriff zu nehmen? Und das mit enormer Sachkenntnis, die wie nebenbei jede Menge Details einfließen lässt und auch Widerspruch erlaubt? Winkler behält souverän die Übersicht, entwickelt fast enzyklopädischen Eifer, ohne oberflächlich zu wirken. Mit stilistischer Bravour steuert er die Lesbarkeit, die Erzählung fließt trotz Komplexität kompakt dahin. Ohne intellektuelle Aufdringlichkeit baut Winkler historische Analysen und zeitgenössische Diskurse ein. Der 1938 in Königsberg geborene Doyen der deutschen Historiker, seit Jahrzehnten einer der kritischen Geister in der Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit, vermag jedenfalls mit seinen Kompendien auch ein großes Leserpublikum zu überzeugen.
Gegenwart! What’s next? Im soeben erschienenen letzten Buch der Tetralogie betritt Heinrich August Winkler schwankenden Boden: „Die Zeit der Gegenwart“. Wie soll man ein Buch, das die großen Linien zeichnen will, gerade mitten in einer Zeitenwende abschließen? Winkler muss Ratlosigkeit konzedieren. Die Kapitelüberschrift „Das Ende der Sicherheit“ trifft zwar, ist aber gleichzeitig unbefriedigend. Der Analytiker wird flugs zum Auguren, der Historiker stöbert im Ungewissen: What’s next? Drei ausführlich beschriebene große Konfliktfelder Europas sieht Winkler gegenwärtig, die Konsens und Frieden bedrohen und das große Projekt des Westens infrage stellen: Erstens ist der Zusammenhalt der EU bedroht; bei den Europaratswahlen fiel ein Drittel der Stimmen auf EU-kritische oder EU-feindliche Parteien. Zweitens baut sich rund um die Annexion der Krim und die Kämpfe im Osten der Ukraine, wo bereits Tausende ihr Leben ließen, ein großer Konflikt zwischen Russischer Föderation und EU/Nato auf. Drittens erobern im Irak und in Syrien IS-Fundamentalisten große Territorien und treiben die Destabilisierung des arabischen Raumes mit Ausstrahlung auf Europa weiter voran. Dabei hatte das neue Zeitalter im Sinne des Westens so gut begonnen. Die Berliner Mauer fiel im Herbst 1989, der kommunistische Ostblock löste sich innerhalb einiger Monate auf, die Sowjetunion zerfiel mit dem Putsch gegen Gorbatschow 1991. Amerikaner und Westeuropäer sahen sich als Profiteure des Freiheitsdranges im Ostens. Die USA triumphierten schlussendlich im Kalten Krieg, durften sich konkurrenzlos als einzige bestimmende militärische Weltmacht sehen, was politische Analysten in Erinnerung an das Römische Weltreich von der „pax americana“ sprechen ließ.
Die EU dehnte sich Schritt für Schritt nach Osten aus, die Einführung des Euro war zur Vertiefung der innereuropäischen Beziehungen gedacht. Mit Clinton, Blair und Schröder betraten Politiker die politische Bühne, die Soft Power, sozialdemokrati- „Die Wühlarbeit des sche Werte, internationale Kooperation normativen Projekts des Westens ist noch repräsentierten.
Kein Ende der Geschichte Winkler sieht allerdings schon in dieser Zeit Kräfte am Werk, die das Unheil der späteren Jahre ankündigten. Mit den einstürzenden Türmen des World Trade Centers 2001, mit George W. Bushs anschließendem „Krieg gegen den Terror“ und der Weltfinanzkrise 2008 war dann die schöne Ansage vom „Ende der Geschichte“, von der fortschreitenden Durchsetzung der „westlichen Werte“ zumindest partiell vorbei. Mit dem Krieg gegen Afghanistan, vor allem mit der Formierung der Anti-Saddam-Koalition begannen sich deutlich Risse im westlichen Gefüge zu zeigen. Die BushAdministration teilte den Kontinent in ein altes und in ein neues Europa. Winkler rechnet in aller nüchternen Deutlichkeit und beklemmenden Ausführlichkeit mit den damals führenden Politikern ab, die wesentliche Bestandteile der Wertegemeinschaft sistierten und Europa wie die USA an einen moralischen Abgrund führten. Rechtsstaatliche Grundsätze, Folterverbot oder die Geltung des Völkerrechts wurden über Bord geworfen, mit verheerenden Folgen. Weltwirtschaftskrise, Bankenzusammenbrüche, Steuerflucht und Staatsschulden ließen dann in einer zweiten Welle viele Länder des alten Kontinents in Schock und Depression stürzen. Wie aus diesem Dilemma herausfinden, wenn gleichzeitig in Europa eine Renationalisierung stattfindet und eine wirtschaftspolitische Harmonisierung außer Sicht ist? Winkler belebt in langen, schlüssigen Erzählungen, was an Entwicklungen und Ereignissen in den vergangenen Jahren an uns vorbeigezogen ist, zeichnet das Zeitgeschehen bis zum Herbst 2014 nach, entwirrt die im Kopf abgelegte Geschichte zu einer festgefügten Chronik der Jetztzeit.
lange nicht zu Ende“ Heinrich August Winkler
„Wenn das 20. Jahrhundert mit dem Jahr 1914 begann, könnten zukünftige Historiker durchaus sagen, das 21. Jahrhundert habe im Jahr 2014 begonnen“ Heinrich August Winkler
Heinrich August Winkler: Und da kommen auch Zweifel auf, ob Geschichte des Winkler für uns wirklich die große Über- Westens: sicht formt, indem er sich auf Europa, die Von den Anfängen USA, Russland und den Nahen Osten kon- der Antike bis zum zentriert und den markanten Veränderun- 20. Jahrhundert. gen der Geopolitik und Weltökonomie, den Bd. 1, 1350 S., demografischen Entwicklungen und Mig- € 41,10
Politik oder Konzerne?
rationsströmungen, den neuen Big Player China, Indien und Brasilien so wenig Aufmerksamkeit schenkt. Da mag hineinspielen, dass er mit allzu viel Leidenschaft sein Projekt von der „Geschichte des Westens“ verfolgt, in das etwa der israelisch-palästinensische Konflikt, die rasanten ökonomischen Entwicklungen in den BRIC-Staaten, den asiatischen Schwellenländern oder Afrika nur begrenzt hineinpassen. Winkler setzt weiterhin auf den Primat der Politik und vernachlässigt dabei, dass die Globalisierung der Weltwirtschaft, die Macht der internationalen Konzerne, die Sicherung der Rohstoffe, die internationale
Die Zeit der Weltkriege. 1914–1945. Bd. 2, 1343 S., € 41,10 Vom Kalten Krieg zum Mauerfall. Bd. 3, 1258 S., € 41,10 Die Zeit der Gegenwart. Bd. 4, 687 S., € 30,80 Alle: C. H. Beck
Arbeitsteilung oder die Mobilität von Produktion, Investitionen und Finanzprodukten die Politik längst am Tropf der Ökonomie hängen lassen. Die Regierungen kommen und gehen im Takt der Wahlen, es dominiert die „Alternativlosigkeit“. Am Fall Berlusconi zeigt Winkler, dass demokratische Institutionen und Gewaltenteilung vielfach zur Fassade einer „Postdemokratie“ (Colin Crouch) geworden sind; aber dieser Befund traf nicht nur auf Italien zu. Winklers normativer, im Kern ideengeschichtlicher Ansatz blieb in der bisherigen Rezeption seiner Arbeiten nicht unwidersprochen. Der wandelbare Begriff des „Westens“ ist das Narrativ seiner Problemgeschichte. In vielen Jahrhunderten hat sich Stück für Stück die „westliche Wertegemeinschaft“ herausgebildet, in den frühen Manifesten der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und der Französischen Revolution hat die Idee von den unveräußerlichen Menschenrechten ihre Gründungsdokumente erhalten.
Menschenrechte und Kritik Einmal in den Köpfen, so Winklers Mantra, haben sich die Prinzipien der Menschenwürde, der religiösen Toleranz, der Meinungsfreiheit, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität wie der Herrschaft des Rechts ihren Weg gebahnt, haben zu repräsentativer Demokratie geführt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, beschlossen am 10. Dezember 1948 von der Vollversammlung der Vereinten Nationen, hat die Idee des „Westens“ zu weltweiter Gültigkeit erhoben. Seit dieser Globalisierung humanitärer Prinzipien steht die Berufung auf sie überall und jederzeit auf gesetzlicher Basis. Sie waren zwar oft nicht einklagbar, blieben aber nicht folgenlos: Wem Menschenrechte vorenthalten blieben, konnte sich auf sie berufen. Winkler sieht diesen Faktor als determinierende Kraft der Geschichte. Im dritten Band der „Geschichte des Westens“, „Vom Kalten Krieg zum Mauerfall“, erschienen im September 2014, funktionierte Winklers methodisches Verfahren überzeugender. Die westlichen Demokratien machten nach 1945 die Menschenrechte zur Waffe im ideologischen Kampf gegen die kommunistischen Diktaturen. Diese prangerten umgekehrt den Kolonialismus und die Rassendiskriminierung, den Darwinismus des Kapitalismus und die brutale Machtsicherung in Asien, Afrika und Lateinamerika an. Die Stärke des Westens, so führt Winkler schlüssig aus, waren trotz aller (von ihm penibel geschilderten) Desaster Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit. Die subversive Kraft der Kritik hat den Westen über alle Krisen in der Konfrontation zwischen West und Ost zum Triumph geführt. Anspruch und Realisierung von Winklers historiografischem Unternehmen machen staunen: Es schaut nach leichter Hand aus, aber es muss eine enorme Anstrengung gekostet haben, in der Komposition des Ganzen Wachheit und Konzentration zu halten und die Fäden nicht aus der Hand zu geben. Alfred Pfoser
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Das Russland, nach dem sich Putin sehnt Geschichte: Orlando Figes’ Meisterwerk erklärt die Vergangenheit Russlands und damit auch seine Gegenwart
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ktoberrevolution und Sowjetmacht gehören zu den großen Rätseln des 20. Jahrhunderts. Deren Anfang und Ende rufen gleichermaßen Erstaunen hervor: Wie gelang es 1917 einer kleinen Gruppe von Revolutionären, das riesige Russland in kürzester Zeit in seine Gewalt zu bringen? Warum verschwanden deren Nachfolger samt allmächtigem Staatsapparat 74 Jahre später fast sang- und klanglos von der Bildfläche? Der vielleicht prominenteste unter den jünge-
ren Russlandspezialisten, die sich an dieser Frage abarbeiten, ist der britische Historiker Orlando Figes. Drei seiner allesamt exzellent geschrieben voluminösen Bücher – „Die Tragödie eines Volkes“ (1998), „Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands“ (2002) und „Die Flüsterer. Leben in Stalins Russland“ (2008) – haben unterschiedliche Phasen des Sowjetexperiments zum Gegenstand und gelten als Standardwerke. Orlando Figes’ jüngste Publikation „Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert“ ist ein Meisterwerk, sowohl was die Klarheit der Darstellung als auch die Gewichtung der Fragestellungen betrifft. Wider alle Marktschreierei, was die Brisanz seines Gegenstandes betrifft, erklärt er im Vorwort: „Ungeachtet seiner jüngsten Intervention in der Ukraine ist Russland nicht länger die aggressive Bedrohung, die es einst für den Westen darstellte, wenngleich es auf seine Nachbarstaaten aus der ehemaligen Sowjetunion anders wirken mag. Es zettelt keine ausländischen Kriege mehr an. Wirtschaftlich gesehen ist es nur noch ein blasses Abbild des Kraftzentrums, das es unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg war. Siebzig Jahre Kommunismus haben es ruiniert.“ Der revolutionäre Zyklus Russlands beginnt für
Orlando Figes 1891 mit der gewaltigen öffentlichen Resonanz auf eine dramatische Hungersnot, die 36 Millionen Menschen zwischen Ural und Ukraine betraf. Russ-
Orlando Figes: Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert. Hanser, 383 S., € 26,80
land politisierte und organisierte sich erstmals gegen seine Regierung. Bislang war die Grundhaltung der Leibeigenen gewesen: „Was bedeute ein armer Bauer für einen hohen Herren? Nicht einmal so viel wie ein Hund. Der kann wenigstens zubeißen, während der Bauer alles hinnimmt.“ Das Zarentum sah sich weder der Ausnahmesituation noch der ohnehin rasanten Urbanisierung des Landes oder der Entwicklung der Marktwirtschaft gewachsen. Zar Nikolaus II. jammerte in sein Tagebuch: „Was soll nur aus mir werden und aus Russland?“ Eine gescheiterte Revolution im Jahr 1905, widersprüchliche Reformversuche und der fatale Erste Weltkrieg führten 1917 zu jener vielfach mythisierten Oktoberrevolution, die der Historiker Figes nüchtern sieht: „im Grunde nur ein Putsch, der unbemerkt von der großen Mehrheit der Einwohner Petrograds verlief “. Den Kommunismus brachte die Revolution dennoch hervor: Zuerst im äußerst blutigen russischen Bürgerkrieg in Form des sogenannten Kriegskommunismus, später Grundlage des totalitären Sowjetstaates. Ab 1924 waren Terrorregime und kommunistischer Führerkult voll etabliert – für Lenin, den Führer der Revolution, macht der Historiker sarkastisch mildernde Umstände geltend: „Unter Lenin wurden weniger Menschen umgebracht. Lenin zögerte nicht, Revolutionsgegner umbringen zu lassen, er gestattete aber nicht, dass man seine Parteigenossen wegen ihrer politischen Überzeugungen inhaftierte oder ermordete.“ Bezeichnend, dass acht der 20 Kapitel von
Figes’ Buch dem System Stalin gewidmet sind. Revolution bedeutete für diesen Kampf gegen die Bauern, Industrialisierung, seine Mittel waren Terror und Gulag, unter Stalin erfolgte eine Kulturrevolution vom kommunistischen Internationalismus zum russischen Nationalismus. Der feierte auch nach dem Sieg im „Großen Va-
SCHLECHTE STIMMUNG hat jeder mal. Damit sie nicht zur Depression wird, sollten wir sie
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terländischen Krieg“ – der Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde wichtigster Gründungsmythos der UdSSR – fröhliche Urstände. Stalins führender Ideologe Andrej Schdanow erklärte etwa, die russische Literatur habe „das Recht, anderen Völkern eine neue, universelle Moral beizubringen“. Die von vielen Frontsoldaten im Zweiten Weltkrieg erlebte „spontane Entstalinisierung“ führte als Hoffnung auf einen Kommunismus mit menschlichem Antlitz zu Chruschtschows „Tauwetter“ und bildete auch noch für Gorbatschows Perestroj ka Mitte der 1980er-Jahre die Grundlage weiterer „Revolutionen“. Wenig bekannt ist, dass auch Gorbatschow seine Reformen mit der Losung „Zurück zu Lenin!“ begann. Figes’ Befund über das Ende der Sowjetunion:
„Keines der Probleme, die Gorbatschow durch Reformen lösen wollte, bedrohte die Existenz des Sowjetsystems. (…) Die wirkliche Krise war eine Folge von Gorbatschows Reformen, nämlich die Auflösung von Macht und Autorität der Partei.“ Die Situation wurde revolutionär, weil die herrschende Elite auf die Seite des Volkes überwechselte. Der britische Historiker kritisiert schließlich auch den Westen, der 1991, nach der Auflösung der UdSSR, bloß „an wirtschaftlicher Liberalisierung interessiert war“ und sich um Demokratie in Russland nicht weiter scherte. „Durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems wurde die Verteilung der Vermögen und Macht in Russland keineswegs demokratisiert.“ Damals, nach dem Ende des Kommunismus, habe niemand die Wiederkehr eines autoritären Staats erwartet – Wladimir Putins aktuelle „Rückforderung der sowjetischen Vergangenheit“ mache es notwendig, dass wir „den Bolschewismus – seine Vorgeschichte und sein Erbe – von Neuem im langen Bogen der Geschichte betrachten“. Kurz: Auch wer Russland heute verstehen will, muss Orlando Figes lesen. Erich K lein
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Sachbuch
Bohnen aus Bolivien oder Mist und Müll Ökologie: Zwei neue Bücher widmen sich der Nahrungsmittelproduktion, im Biobereich und in der Tierzucht
Seine Recherchen führen ihn zu einer bolivi-
anischen Bauernfamilie. Laufer ist überrascht, doch noch biozertifizierte Bohnen zu finden, aber noch mehr erstaunt ist der Bauer – darüber, dass jemand wegen seiner Bohnen aus den fernen USA zu ihm reist. Der Kontrast zwischen den auch für westliche Maßstäbe nicht gerade billigen Lebensmitteln und der materiellen Armut, in der Bauern in solchen Ländern leben und arbeiten, gibt zu denken. Von den teuren Preisen der Bio-Zertifizierungen profitierten nicht die Bauern – das scheint eine weltweite Konstante zu sein. Leider ist Laufer bei seinen weiteren Recherchen weniger Erfolg beschieden. Denn je größer die Entfernungen sind und je stärker in der Landwirtschaft auf Export gesetzt wird, desto eher kann betrogen werden. Und desto geringer sind dabei auch tatsächlich die Hemmungen. Das gilt für Bio ebenso wie für den weltweiten Handel mit Lebensmitteln generell. Ein Teil des Problems besteht darin, dass die Produzenten ihre eigenen Kontrolleure bezahlen.
Laufer findet auch positive Beispiele – etwa in Österreich. Er interviewt heimische BioGrößen wie den „Zurück zum Ursprung“Erfinder Werner Lampert, Joachim Massani, den zurückhaltenderen Leiter des Qualitätsmanagements von Spar, den Grünen-Agrarexperten Wolfgang Pirklhuber und einen pensionierten Beamten des Gesundheitsministeriums. Dieser erklärt, ein wichtiges Prinzip der Bio-Landwirtschaft in Österreich sei, dass der ganze Hof auf Bio umstellen müsse, was laut EU-Vorschriften nicht vorgesehen ist, die deswegen für Bio-Puristen nicht glaubwürdig sind. Eine interessante Frage stellt der Betreiber eines bekannten Bio-Hofes in Niederösterreich: „Warum ist es nicht Vorschrift, auf konventionell erzeugten Lebensmitteln den Totenkopf abzubilden, wie auf Giftfässern? Warum müssen die Biobauern für die Peter Laufer: Zertifizierung zahlen?“ Bio? Die Wahrheit Den Missständen in der konventionellen Land-
wirtschaft widmet sich Tanja Busse in ihrem Buch „Die Wegwerfkuh“. Sie weist nach, dass die Forderung nach Effizienz, die in der Landwirtschaft in den letzten Jahrzehnten um sich gegriffen hat, ein alles andere als effizientes System zur Folge hat. Und stellt deswegen die Frage: Was ist eigentlich Effizienz? Was meinen die Vertreterinnen und Vertreter der Agrarindustrie damit, und was lassen sie dabei unberücksichtigt? Etwa Milchkühe, die trotz einer natürlichen Lebenserwartung von 20 Jahren schon nach drei Jahren geschlachtet werden, weil sie zu einer so hohen Milchproduktion getrieben werden, dass sie davon krank werden. Immer öfter kommt es auch vor, dass trächtige Kühe geschlachtet werden, was lange ein Tabu war. Der Grund liegt in den Preisen von Hormontests, die für zu teuer erklärt werden, obwohl sie im Vergleich zum Verlust von Kälbern eigentlich günstig wären. Ebenso wenig effizient ist es, Schweinerassen
über unser Essen. Residenz, 288 S., € 19,90
zu züchten, die mehr Ferkel werfen, als sie Zitzen haben. Busse macht deutlich, dass ein gravierender Unterschied zwischen Mist und Müll besteht: In der Kreislaufwirtschaft traditioneller Höfe fällt Mist an, der verwertet werden kann, wohingegen in der konventionellen Landwirtschaft viel unbrauchbarer Müll produziert wird. Zu Müll, Ausschuss, Abfall deklariert werden auch viele Nutztiere, schwächere Individuen der sogenannten „Hochleistungsrassen“. Busse konzentriert sich auf Deutschland, aber ihre Analysen sind für die gesamte konventionelle Landwirtschaft gültig. Ein großes Problem stellt die zunehmende Abhängigkeit der oft verschuldeten Landwirte von wenigen großen Konzernen dar, die nicht nur Saatgut, Dünger und Pestizide herstellen. In der Geflügelmast verkaufen Konzerne Küken, Futter und Medikamente an die Landwirte und nehmen ihnen die schlachtreifen Hühner ab. Die Preise bestimmen die Konzerne. Das Risiko und die Aufzuchtskosten tragen die Bauern. Es sei etwa notwendig, schwache Ferkel sofort
Tanja Busse: Die Wegwerfkuh. Wie unsere Landwirtschaft Tiere verheizt, Bauern ruiniert, Ressourcen verschwendet und was wir dagegen tun können. Blessing, 288 S., € 17,50
zu töten, anstatt sie wie früher oft üblich hochzupäppeln, wird Bauern eingeredet. Das führt zu einer voranschreitenden Verrohung, prangert Busse an. Ihr Buch macht deutlich, wie sehr der neoliberale Wegwerfund Schnell-schnell-Gedanke Menschen, Tiere und Landschaft zunehmend ruiniert. Der allgemeine Burnout, verstanden als die Erschöpfung von Landschaften, Böden, Tieren und Menschen, ist systembedingt. Zu Busses Quellen zählen die zahlreichen Bauern, die aus diesem System ausgestiegen sind. Sie sind es auch, die der Autorin Anlass zu Hoffnung geben. Auch die Tatsache, dass sich von Konsumentenseite immer mehr Widerstand regt, ist für Busse ein Zeichen dafür, dass es so in der Landwirtschaft nicht weitergehen kann. K a r i n c h l a dek
illustr ation: anna hazod
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n einem Supermarkt in Oregon kauft Peter Laufer schwarze Bohnen und Walnüsse, beides mit Bio-Siegel versehen. Als der US-amerikanische Enthüllungsjournalist die Herkunftsangaben sieht, staunt er nicht schlecht. Werden im bettelarmen Bolivien schwarze Bohnen und im korrupten Kasachstan Walnüsse in biologischer Landwirtschaft angebaut? Dass die Beantwortung dieser Frage mit umfangreicheren Recherchen verbunden sein würde, dürfte Laufer klar gewesen sein. Er versucht zunächst, von der US-Zertifizierungsbehörde nähere Auskunft zu erhalten, wo er auf ein von Bürokratie und Mitarbeitermangel geprägtes System trifft, das auf Fragen gar nicht eingestellt ist. Deswegen geht er andere Wege – in vollem Bewusstsein, dass diese nur ihm als versiertem Journalisten offenstehen.
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Sie ist hübsch und amüsant, ohne zu klammern Biologie: Martin Windrows Buch über die Beziehung zu einer Eule ist großes Kino zwischen zwei Buchdeckeln ann begegnet Eule, Mann verliert M Eule, Mann begegnet Eule seines Lebens. So kurz und prosaisch könnte man
den Inhalt dieses Buches zusammenfassen. Oder aber von einer Liebesgeschichte und einem Entwicklungsroman sprechen. Als Harry Potter an seinem elften Geburtstag in die magische Welt eintritt, bekommt er eine Schleiereule namens Hedwig geschenkt. Martin Windrow ist zwar keine Romanfigur, sondern britischer Militärhistoriker, aber auch er wird verzaubert, als er eine Eule als Haustier in seine Wohnung in London aufnimmt. Wellington, so nennt er den Steinkauz, war aber mit Artgenossen aufgewachsen und hatte das schmale Zeitfenster, in dem Vögel auf Menschen geprägt werden können, verpasst. Windrows erste Erfahrungen mit diesem Raubvogel sind daher schmerzhaft und von Missverständnissen geprägt. Eine schlecht verschlossene Volierentüre, durch die Wellington ins Freie entkommt, beendet diese erste Eulenbeziehung vorzeitig. Fasziniert von diesen intelligenten Tieren macht sich der Autor auf die Suche nach einem Nestling, den er von Anfang an sozialisieren und für das Zusammenleben mit ihm heranziehen kann. Diesmal ist es ein Waldkauz, den er wegen sei-
ner mitteilsamen Lautäußerungen Mumble (dt.: Murmler) nennt. Mumble lebt sich schnell als eine Art geflügelte Katze ein, die ein gemütliches Zuhause und den Kontakt
mit der Menschen-Eule liebt. Waldkäuze sind, anders als die Potter’sche Schleiereule, in Mitteleuropa die häufigste Eulenart. Den typischen Ruf eines Waldkauzes hat fast jeder schon gehört: ein langgezogenes „Huh-Huhuhu-Huuuh“ des Männchens, auf das die Weibchen mit einem rauen „Kuwitt“ antworten. Windrow versteht es in angenehm lesbarer Weise genaue Beobachtungen und anekdotische Schilderungen mit Hintergrundinformationen über die Mythologie und die Lebensweise und Ökologie der Waldkäuze zu verschneiden. Scheinbar ganz nebenbei lernt man mehr über diese Vogelart, als man in so manchem ornithologischen Fachbuch finden könnte. Aber am besten lesen sich jene Kapitel, in denen der Autor seine persönlichen Erlebnisse mit Mumble beschreibt. Hier kann man die wunderbare Beziehungsgeschichte zwischen zwei ungleichen Lebewesen nachempfinden, sich aber auch an dem feinen britischen Humor erfreuen, der in allen Schilderungen hervorblitzt. Die Szene, in der das Käuzchen aus der Wohnung entkommt und Windrow mit einem eingegipsten Bein und einem toten Hühnerküken als Lockmittel durch das nächtliche London humpelt, hätte bestens in eine Folge von „Monty Python’s Flying Circus“ gepasst. Auf die ihm im Lauf der Jahre immer öfter gestellte Frage, warum er denn gerade mit einer Eule zusammenlebe, legt Windrow sich folgende Antwort zurecht:
„Sie ist außerordentlich hübsch und amüsant. Sie ist anschmiegsam, ohne zu klammern, und sie duftet so gut. Es ist ihr egal, um welche Uhrzeit ich nach Hause komme, sie plappert nicht beim Frühstück, und es passiert eher selten, dass wir uns darüber streiten, wer welchen Teil der Sonntagszeitung kriegt.“ Als ihm klar wurde, welche Rückschlüs-
Martin Windrow: Die Eule, die gerne aus dem Wasserhahn trank. Mein Leben mit Mumble. Hanser, 318 S., € 20,50
se solche Aussagen auf seine Einstellung zu menschlichen Paarbeziehungen zulassen könnten, strich er sie aus seinem Gesprächsrepertoire und antwortete nur mehr mit einem kargen „Warum denn nicht“. Auch Mumble bekommt das Problem jener Haustiere, die von ihren wohlmeinenden Besitzern zu viel gefüttert werden. Aber gerade Raubvögel sollten immer noch Platz im Magen haben. Deswegen wiegen Falkner ihre Tiere täglich, um den optimalen Hungerzustand für die Jagd zu bestimmen. Als einmal ein vermeintlicher Tierfreund in die Voliere eindringt, um den „armen“ Greifvogel zu befreien, stirbt der Waldkauz vor Aufregung an einem Herzinfarkt. Windrows Schilderung, wie er den Verlust bewältigt, gehört neben Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung „Krambambuli“ (1884) über einen Jagdhund zu den berührendsten literarischen Texten über die Beziehung zwischen Mensch und Tier. Ganz großes Kino zwischen zwei Buchdeckeln. P e t e r I wa n iewi c z
Das Duell zwischen Konsumenten und Waren Konsum: Wolfgang Schivelbusch analysiert die psychische Überforderung durch Überproduktion s tobt ein ständiger Kampf da draußen. Mensch versus Dinge heißt das E Match. Die „Konsumgesellschaft“ ist längst
zum Gemeinplatz geworden. Interpretationen über unseren Verbrauch haben schon einige Autoren vorgelegt. Neu ist die Frage, ob oder inwiefern wir selbst dabei verbraucht werden. „Verbrauchskraft“ nennt Wolfgang Schivelbusch das, was sich zwischen dem Konsumenten und der Ware ereignet. „Sie ist eine Art wechselseitigen Einander-Abarbeitens, ein ,Duell‘, bei dem das Gut einen Widerstand darstellt bzw. leistet, den der Verbraucher, um in den Genuss des Nutzens zu gelangen, zu überwinden hat.“ Gemeint ist damit nicht etwa sperriges Verpackungsmaterial, sondern der Widerstand der Ware an sich, die Unbequemlichkeit neuer Schuhe beispielsweise. Der Mensch und die von ihm erschaffenen Dinge verzehren einander wechselseitig – so Schivelbuschs These. Aus dieser entwickelt er eine kleine Geschichte der „Konsumti-
on“ – und grenzt diese von einer Betrachtung der Konsumation klar ab. Argumente für seinen Ansatz findet er bei zahlreichen Vordenkern aus Philosophie und Wirtschaftswissenschaft. Die Historie menschlicher Hervorbringungen erforscht Schivelbusch schon seit Jahrzehnten. Bereits 1977 hat er eine „Geschichte der Eisenbahnreise“ vorgelegt. Zwei seiner Bücher beschäftigen sich mit Aufkommen und Auswirkungen des künstlichen Lichts. Im aktuellen schlanken „Versuch über die Konsumtion“ (so der Untertitel) geht er einen Schritt weiter. Der Fokus liegt nicht mehr auf der Auswirkung
menschlicher Errungenschaften, sondern auf der Wechselwirkung zwischen Mensch und Ware. Mit bemerkenswerten Wortprägungen. Neben der „Verbrauchskraft“ begegnet uns auch der „Güterstress“ oder die Rede vom subjektiven Energieaufwand des Konsumenten, „die erhöhte und uniformierte Anzahl von Gegenständen see-
Wolfgang Schivelbusch: Das verzehrende Leben der Dinge. Versuch über die Konsumtion. Hanser, 192 S., € 20,50
lisch zu ,besetzen‘“. Diese psychische Überforderung stelle eine spiegelbildliche Wirkung der ökonomischen Überproduktion dar, analysiert Schivelbusch. Originell ist der Vergleich der Industriellen mit der Französischen Revolution als Ungeheuer bzw. Naturgewalt, „zwei unterschiedliche Massen, die um 1800 in Bewegung gerieten und die alte Wirklichkeit umstürzten“. Das große Aha-Erlebnis bleibt jedoch aus. Der größte Verdienst dieses „Versuchs“ liegt in der Sammlung der vorhandenen Bausteine zur Erklärung der MenschDing-Beziehung. Theorie stellt Schivelbusch dabei deutlich über historische Praxisbeispiele. Konsumentenfreundlichkeit für seine Leserschaft scheint nicht seine oberste Priorität zu sein. Die „Verbrauchskraft“ ist hoch anzusetzen: Gegen hastiges Verschlungenwerden leistet das hier geschaffene geistige Gut ordnungsgemäß Widerstand.
A n d r eas K r emla
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Sachbuch
Geld oder das Wägen der Unwägbarkeiten
Freiheit als Wirklichkeit, Aufgabe und Sehnsucht
Wirtschaft: Der Philosoph Christoph Türcke hat eine exzellente Geschichte des Geldes geschrieben
Philosophie: Der Kant-Spezialist Otfried Höffe hat eine lesenswerte Monografie der Freiheit geschrieben
s gibt viele schlechte Bücher von E Philosophen. In ihnen findet man zum Beispiel zeilenlange Definitio-
ie weit ist menschliches FreiW heitsstreben und seine Verschärfung im Projekt der Moderne
nen und hat nachher nicht das Gefühl, schlauer zu sein. Oder die Autoren beziehen sich über Seiten auf Debatten, die nur Fachleute kennen. Es gibt aber auch gute Bücher von Philosophen. Sie beschreiben etwas scheinbar Bekanntes mit nur wenigen Worten anders – und schon regt es zum Nachdenken an. Oder sie stellen neue, unkonventionelle Querverbindungen her – und am Ende hat man etwas begriffen. „Mehr!“ von Christoph Türcke fällt definitiv unter die guten, um nicht zu sagen faszinierenden Bücher, und ist noch dazu glänzend geschrieben. Türcke legt damit eine Theorie des Geldes als „Verflüchtigungsgeschichte“ vor, von ursprünglichen Tempelgaben bis hin zu Computerimpulsen. Seine These: Unser Zahlungsmittel hat sich in seiner Historie immer mehr entmaterialisiert. Geld, so die Lehrmeinung unter den Öko-
nomen, hat drei Funktionen. Es dient als Tauschmittel, kann Werte aufbewahren und misst selbige. Wer Türckes Buch liest, begreift: Geld ist viel mehr als die Summe dieser drei Eigenschaften. Es formt die Menschen, ebenso wie sie es formen. Es prägt unser Leben wie kaum etwas anderes, auch wenn wir kaum darüber nachdenken. Am Beginn des Buches steht die Historie des Geldes – nach einem Prolog, der einen Rahmen schafft, indem er verschiedene Definitionen von Geld und die philosophischen Fragen dahinter erläutert. Sogar Orang-Utans kann man in Laborversuchen dahingehend trainieren, liest man hier, dass sie verschiedenfarbige Marken gegen Belohnungen eintauschen. Die menschliche Geschichte des Geldes hingegen beginnt, soweit bekannt, in der Sphäre des Sakralen, bei Tempelgaben in Mesopotamien. Die Tempel entwickelten sich allmählich zu Umschlagplätzen, verbunden durch Karawanen. Es hat wohl auch mit diesem religiösen Ursprung zu tun, dass das Geld bald die Form von Edelmetallmünzen annahm, denn sie schimmern wie Sterne – und wirken dadurch „göttlicher“ als der irdische Ton, aus dem Opfergaben zuvor bestanden hatten. Trotzdem genügte die Münze irgendwann nicht mehr. Im England der frühen Neuzeit nahm der „historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ seinen Ausgang, das, was wir heute Kapitalismus nennen. Im immer dichteren Netz aus Handelswegen reichte das Edelmetall mit seiner unzuverlässigen Förderung nicht mehr, um einen steten Strom von Waren sicherzustellen. Also ersetzte man Münzen zuneh-
mend durch Wechselbriefe. Damit entstand ein Charakteristikum des Kapitalismus: das „professionelle Wägen von Unwägbarkeiten“. Denn ob der Wechsel tatsächlich am Ende in den Münzbetrag aufgelöst wird, auf den er lautet, das ist nie ganz gewiss. Zentralbanken sollten Abhilfe schaffen. Angefangen mit der Bank of England sorgten sie dafür, dass Papiernoten „nunmehr kursieren, als ob sie Münzen wären“: „Das Gedeckte (die Noten) und die Deckung (die Münzen) hatten gleichen Rang.“ Das funktioniert allerdings nur, wenn jemand mit möglichst viel Macht dafür geradesteht, also der König oder der demokratische Souverän. Und selbst unter diesen Umständen bleibt es bis heute fraglich, ob der Ersatz je wirklich zum Original werden kann. Bald wurden Noten nur noch teilweise durch Edelmetall gedeckt, weil Letzteres knapp war. Im 20. Jahrhundert schließlich gab man die letzten Reste des Goldstandards auf und setzte stattdessen auf flexible Wechselkurse. Die Schwankungen, die man früher gefürchtet hatte, wurden zu Erwartungen, mit denen man spekulierte – und die angeblich aus dem Nichts Werte schufen. Gegen Ende seines Buches scheut sich
Türcke nicht, auch auf aktuelle Debatten einzugehen. Er befasst sich etwa mit der Rolle der Europäischen Zentralbank in der Griechenlandkrise und der Steuervermeidung internationaler Konzerne. Geld, das nur noch auf sich selbst verweist, bleibt am Ende trotzdem Ersatz für irgendetwas, lautet sein Fazit. Und zwar nicht nur für die Waren, die man dafür kaufen kann. Es hat auch einen „utopischen Überschuss“, wie Türcke es ausdrückt. Das Geld steht etwa für „Trost, Genugtuung, Geborgenheit, Genuss, Potenz“. Aber: „Den Ersatz für die Sache selbst zu nehmen, ist geradezu pervers.“ Türcke plädiert für eine Rückkehr zum Bewusstsein, dass dem Geld irgendetwas zugrunde liegen muss. Das Geld kommt in letzter Konsequenz in die Welt, um sich selbst überflüssig zu machen, indem Bedürfnisse mit seiner Hilfe erfüllt werden. Doch de facto nutzt man es lediglich, um immer mehr davon zu bekommen. Davon gelte Abstand gewinnen, um „das globale System der Plusmacherei“ zu beenden. J oseph G epp
Christoph Türcke: Mehr! Philosophie des Geldes. C.H. Beck, 480 S., € 30,80
weiterhin berechtigt und möglich? Wo findet Freiheit ihre Grenzen? Wo droht die Moderne zu scheitern? Otfried Höffe lehrte Rechts- und Sozialphilosophie in Duisburg, Fribourg und zuletzt in Tübingen, wo er 2011 emeritierte. Einer breiteren Öffentlichkeit ist er vor allem durch Arbeiten über Immanuel Kant und seine Tätigkeit als Herausgeber der Reihe „Denker“ bei C. H. Beck bekannt. Auch sein jüngstes Buch hat einführenden Charakter und ist sowohl durch die Aktualität der Fragestellungen als auch die Klarheit der Antworten jedem interessierten Laien zugänglich. Es stellt den Versuch dar, mit dem Leit-
prinzip der Freiheit die Moderne einer Kritik zu unterziehen. Grundlegende philosophische Überlegungen verbinden sich mit Gegenwartskommentaren. „Den Phänomenen folgen“ ist Höffes aus der Klassik übernommener methodischer Leitsatz. Ideengeschichtliche Hinweise geben darüber hinaus den systematischen Überlegungen eine historische Tiefendimension. Freiheit nimmt von allem Anfang der Philosophie in Griechenland an eine zentrale Stellung in der Befragung des Wesens der Menschheit ein – „als Wirklichkeit, als Aufgabe und als Sehnsucht“. In der Moderne hat ihr Verständnis als ein Konstitutiv des Menschen seine höchste visionäre Gestalt gefunden, der Freiheit damit aber auch eine bisher unbekannte Vieldeutigkeit verliehen. Die Architektur dieser Abhandlung bildet den unterschiedlichen Stellenwert des Begriffes in den einzelnen Praxisfeldern ab. So werden die Problembereiche Befreiung vom Zwang der Natur in Technik und Medizin befragt, der Liberalismus als Streben nach einer freiheitlichen Ordnung in Wirtschaft und Gesellschaft auf seine Tragfähigkeit und in Hinsicht auf das Korrektiv von Gerechtigkeit geprüft. Schließlich wird politische und personale Freiheit differenziert beleuchtet. Eine Sonderstellung als Gegenmodell zum Alltag nehmen Wissen und Kunst ein. Kreativität und Kritik spielen in diesem Bereich eine große Rolle, beides kulturelle Werte, die die Moderne erst so richtig zur Blüte gebracht hat. Die Ausführungen zu diesen Themen stellen denn auch das Glanzlicht des Buches dar. Die Rolle der Aufklärung im Kampf gegen die Zensur ist bekannt und wird hier als Ausgangspunkt genommen. Höffe differenziert freiheitsrelevantes Wissen in drei Aspekte. Neben die Emanzipation von Naturzwängen in
den angewandten Wissenschaften und sich von Tradition bzw. Vorurteilen befreiende Denkakte stellt er das eigentlich „nutzfreie“ Wissen. Dieser Begriff geht schon auf Aristoteles zurück, darauf zu insistieren erweist sich aber als von großer Aktualität, da Höffe mit dieser Dimension des Denkens dem geistfeindlichen Geschwätz über „Orchideenfächer“ die Stirn bietet. Wie alt und doch so neu die Frage der Freiheit in Philosophie und Kunst ist, zeigt er in Überlegungen, die bei Platons Kritik an den Dichtern einsetzt. Dem platonischen Vorwurf, Homer und Hesiod wären nicht der Wahrheit verpflichtet gewesen, setzt Aristoteles einen spezifisch dichterischen Wahrheitsbegriff entgegen: die innere Stimmigkeit. Sie befreit von bloß historischer Faktizität und drückt exemplarisch allgemein Menschliches aus. Eine radikale Aufwertung findet die Au-
tonomie der Kunst dann in Immanuel Kants „Kritik der Urteilskraft“. Kant billigt dem ästhetischen Urteil in seinem interesselosen Wohlgefallen Objektivität zu und räumt damit der Kunst eine spezifische Freiheit ein. Mit Auswirkungen auf den Lebensraum, den jede staatliche Ordnung auch heute der Kunst gewähren muss, die damit die Bildung eines Gegenpols zum Übergewicht von Rationalität und Wissenschaft, Technik und Ökonomie unterstützt. Auch das Kapitel über die Erziehung zur Freiheit ist äußerst lesenswert. Es propagiert im Anschluss an Kant eine Pädagogik, die gleich weit entfernt ist von den chaotischen Anwandlungen der antiautoritären Erziehung wie den aktuellen Gefahren einer bloß berufsbildnerischen Dressur. Ihr Leitbild: eine interne Kultivierung des Menschen hin auf eine Berufs-, Sozial- und Moralfähigkeit. Den Ausführungen über die Wirtschaft, in denen Markt und Wettbewerb gefeiert und das Privateigentum als zentrales Element der Freiheit hingestellt werden, hätten allerdings mehr kritische Töne gut getan. Sympathisch bleibt der Blick des Autors, der, Skepsis und Optimismus verbindend, Freiheit und Moderne als allzeit gefährdet, aber nicht gescheitert betrachtet. T homas L e i t n er
Otfried Höffe: Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne. C. H. Beck, 400 S., € 30,80
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Das Museum als Laboratorium der Gegenwart Kunstbetrieb: Hans Ulrich Obrist schreibt mehr über seine Karriere als Kurator als über das Kuratieren als Beruf ie Ausstellung „Cloaca maxima“ fand D 1994 an einem ungewöhnlichen Ort statt. Der Kurator Hans Ulrich Obrist hatte eine Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern eingeladen, damit sie sich im Züricher Museum der Stadtentwässerung mit dem Thema Dreck und Zivilisation auseinandersetzen. Gerhard Richter schickte das Foto seines Gemäldes einer Klopapierrolle, John Miller schuf Fäkalbilder und -reliefs. Das Museum war vor der Ausstellung ein ruhiges Örtchen, in das sich nur wenige Besucher verirrten; plötzlich fand es breite Beachtung. Kunstfreunde entdeckten diesen „surrealen“ Ort, an dem der Übergang zwischen privatem Schmutz und öffentlich organisierter Sauberkeit sichtbar gemacht wurde. „Das waren Augenblicke einer kreativen Vermengung nicht nur von Kunst und Leben, sondern von Kunst und einem Museum mit einer gänzlich anderen Funktion (als der eines Kunstmuseums, Anm. Red.)“, schreibt Obrist in seinem Buch „Kuratieren!“. Das Organisieren von Ausstellungen war bis
vor wenigen Jahrzehnten eine Nebenaufgabe von Museumskustoden. Seitdem Museumsschauen, Biennalen und Documentas zur Kulturindustrie gehören, rückte auch der „Ausstellungsleiter“, wie es früher einmal hieß, in den Mittelpunkt. Obrist verkörpert wie kein anderer den Typus des vielreisenden Netzwerkers, der Ausstellungen an speziellen Orten organisiert und mit Ver-
mittlungsformen experimentiert. So konzipierte er etwa in den 1990er-Jahren im Auftrag des Wiener Kunstvereins museum in progress Projekte in Zeitungen und auf Plakatflächen. Das Medium Buch erprobte Obrist vor allem in Form gesammelter Interviews, die der 46-jährige Schweizer mit bekannten Künstlern, Wissenschaftlern und Theoretikern führte. Sein gemeinsam mit Asa Raza verfasstes Werk „Kuratieren!“ ist weniger eine tiefschürfende Analyse des eigenen Metiers als ein biografischer Rückblick auf ein Vierteljahrhundert Ausstellungsmachen. Der lockere Konversationston lässt den Text wirken wie ein Interview ohne Fragen. Obrist beschreibt das Kuratieren nicht als ausgereifte Disziplin, sondern als eine mündlich tradierte Kulturtechnik, deren Werkzeuge von Generation zu Generation weitergereicht werden. Er bezeichnet den legendären documenta-Kurator Harald Szeemann, der mit kulturgeschichtlichen Themen und multimedialen Räumen die Grenzen des traditionellen Museums überschritt, als Mentor. Szeemann wiederum wurde geprägt von Willem Sandberg, der das Amsterdamer Stedelijk-Museum in Richtung Design und Typografie öffnete. Zugang zur Geschichte des Kuratierens fand Obrist durch persönliche Bekanntschaften und Antiquariatsfunde. So lernte er die Arbeit des Kunsthistorikers Alexan-
der Dorner durch dessen Buch „Überwindung der ,Kunst‘“ (dt. 1959) kennen. Dorner war zwischen 1925 bis 1937 Direktor des Provinzialmuseums Hannover und arbeitete damals mit den wegweisenden Ausstellungsgestaltern El Lissitzky oder Friedrich Kiesler zusammen. Das Museum als Laboratorium der Gegenwart ist eine Leitidee, die Obrist von Pionieren wie Dorner übernahm. Obrist ist Kurator von Biennalen und Festivals.
Hans Ulrich Obrist (mit Asa Raza): Kuratieren! C. H. Beck, 205 S., € 20,60
Sein Stammhaus ist die Serpentine Gallery, deren Vizedirektor er seit 1996 ist. Die Londoner Kunsthalle, ein Pavillon in einem Park mit temporäreren Erweiterungsbauten, ist typisch für seinen kuratorischen Stil. An die Stelle starrer Ausstellungen treten Symposien und künstlerische Interventionen. Leider bleibt Obrist in seinen Betrachtungen an der Oberfläche hängen. Sein Status in der Kunstwelt ist so hervorragend, dass man sich von einem Blick in die Werkzeugkiste mehr erwartet hätte. Die selbstreflexive Frage nach der Macht der Kuratoren bleibt ausgespart. Immerhin entscheiden Leute wie Obrist im globalisierten Kunstbetrieb über Künstlerkarrieren. Da ein bisschen kulturgeschichtliches Namedropping, dort einige Anekdoten über den bildungsbürgerlichen Lifestyle: Zu einer eigenen Kunstform hat Obrist das Kuratieren nicht weiterentwickelt. MAT THIAS DUSINI
Nivellierungszwang und der Wunsch zu verschwinden Essay: Wo sind wir überhaupt noch privat? Die Schriftstellerin Anna Kim reflektiert darüber auf sehr persönliche Weise 2011 veröffentlichte Anna Kim Iten“,mdasJahr kleine Buch „Invasionen des Privaihren essayhaften Bericht von einer
Grönlandreise. Die österreichische Autorin, in Südkorea geboren, als Kleinkind nach Europa gekommen, zuerst in Deutschland, später in Wien aufgewachsen, hatte es mit dem diffusen Gefühl in den Norden gezogen, dort warte etwas auf sie. Sie hatte sich nicht getäuscht. Tatsächlich stieß sie bei ihren Gesprächen mit Grönländern über Identität, Heimat und Fremdheit auf Parallelen zu ihrer eigenen Biografie. Dort bekam Kim von einer Inuit ins Gesicht gesagt: „Du siehst grönländischer aus als ich.“ Als Fortsetzung oder Vertiefung dieses Buches
lässt sich der neue Essayband „Der sichtbare Feind. Die Gewalt des Öffentlichen und das Recht auf Privatheit“ verstehen. Kim ist eine Autorin, die auch außerhalb ihrer Romane darüber reflektiert, wie der Einzelne sich in der heutigen Welt behaupten kann; konkret: wie man seine Privatsphäre schützen kann. „(I)ch gestehe, ich bin keine Freundin des Fortschritts um jeden Preis“, schreibt sie, „mir scheint es wichtig, sich eine Auszeit zu nehmen, sich Stillstand zu gönnen, um zu überdenken, in welche Richtung man fortschreitet.“ Der dreiteilige Essay widmet sich im ersten Kapitel den Einschnitten, die das digitale Zeitalter und die massive Tendenz zur Überwachung für die Bewegungsfreiheit mit sich bringen. Um das zu verdeutli-
chen, versucht Kim eine Nacherzählung von Max Frischs Roman „Homo Faber“ (1957) aus heutiger Sicht. Es wäre ganz anders gekommen, schreibt sie, wäre Walter Faber auf Facebook und würde eine Google-Brille tragen. Dann wäre ihm nicht entgangen, dass es sich bei Sabeth mit 98-prozentiger Wahrscheinlichkeit um seine leibliche Tochter handelte. Und die Literaturgeschichte wäre um eine inzestuöse Beziehung ärmer gewesen. Der Zufall hat heute praktisch keine Chance mehr, die Zukunft ist bis zu einem gewissen Grad berechenbar geworden. Wir sind ständig sichtbar und hinterlassen überall Spuren, wie Kim mit Unbehagen beobachtet: „(F)ür viele Jahre spurlos zu verschwinden, bedarf heutzutage einer digitalen Enthaltsamkeit, die mit einer veritablen Anstrengung verbunden ist.“ Unsere Zeit leide unter einem „Nivellierungszwang“ – mit schwerwiegenden Folgen: „Alles, was aus der Reihe tanzt, gefährdet das System, dessen natürlicher Feind der Mensch ist, also muss auch dieser nivelliert werden.“ Im zweiten Kapitel macht der Text einen abrupten Sprung und erzählt die Geschichte der österreichisch-britischen Fotografin Edith Tudor-Hart (1908–1973), die für die Sowjetunion spionierte und deshalb über Jahrzehnte vom MI5 observiert wurde. Besonders interessiert Kim an ihr, wie sich das Privatleben der Frau veränderte, die ständig unter Beobachtung stand: „Wie
einer Unfreien hat man ihr das Leben entzogen, sie besitzt es nicht mehr.“ Einen direkten Bezug zur Gegenwart zieht die
Anna Kim: Der sichtbare Feind. Die Gewalt des Öffentlichen und das Recht auf Privatheit. Residenz, 111 S., € 17,90
Autorin zwar komischerweise nicht. Aber es liegt auf der Hand, dass sie davor warnt, durch das freiwillige Dokumentieren unserer Lebensumstände im Netz würden wir Material für mögliche zukünftige Verhöre zur Verfügung stellen. Auch das dritte Kapitel spricht mehr für sich, als an die vorigen anzuknüpfen. Hier landet Kim wieder bei ihrer eigenen Biografie. Sie erzählt, wie sie, die viel schneller und leichter Deutsch lernte als ihren Eltern, von diesen als Dolmetscherin eingesetzt wurde. „Ich wehrte mich gegen das Dolmetschen, gegen jedes Wort, als würde er, der Akt des Transponierens in eine andere Sprache, meine Kindheit verkürzen.“ In der Volksschule wiederum wurde sie als Exotin bestaunt, war „quasi eine Berühmtheit“. Von den Eltern ständig eingespannt, in der Schule begafft – Kim musste sich ihre Privatheit hart erkämpfen. So wird am Schluss klar, warum ihr diese so ein besonderes Anliegen ist. Als Manko von „Der sichtbare Feind“ könnte man empfinden, dass es keine klare Argumentationslinie verfolgt. Doch gerade seine hybride Form aus Essay und erzählten Passagen macht das Buch lesenswert. Es regt zum Nachdenken an, ohne sich mit großen Thesen aufzudrängen. SEBASTIAN FASTHUBER
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Sachbuch
Das Männlichkeitshormon ist keine Einbahnstraße Medizin: Robin Haring räumt mit Vorurteilen über das viel gescholtene Hormon Testosteron auf ngefangen hat alles 1935 in Zürich. A Damals gelang zwei Chemikern zum ersten Mal die künstliche Herstellung des
männlichen Sexualhormons Testosteron aus Cholesterin. Keine sechs Jahre und einen Nobelpreis später wurde das synthetische Hormon schon erstmals zur Behandlung sexueller Unterentwicklung eingesetzt. Der Effekt: tiefere Stimme, verstärkter Haarwuchs, häufigere Erektionen. „Das Rätsel um die Manneskraft“ schien ein
für alle Mal gelöst, schreibt der deutsche Demograf, Epidemiologe und Professor für Gesundheitswissenschaften Robin Haring, 33, in „Die Männerlüge“. Im Untertitel fragt er: „Wie viel Testosteron braucht der Mann?“ Um es vorwegzunehmen: Nach aktuellem Wissensstand muss man diese Frage vorläufig offen lassen, weil – um einmal mehr Ex-Bundeskanzler Fred Sinowatz zu zitieren – alles sehr kompliziert ist. Robin Haring geht es mit seinem Buch weniger um letztgültige Antworten als um einen „längst überfälligen Rettungsversuch“, bei dem „das viel gescholtene Testosteron und sein männlicher Wirt aus dem hormonellen Autopiloten“ befreit werden sollen. Denn glaubt man dem Zeitgeist und der ihn orchestrierenden medialen Darstellung treiben testosteronverseuchte Heerscharen von Alpha-Männchen die Menschheit blindlings in Bankenkrise und Umweltzerstörung, Kriege und Wachstumswahn.
Umgekehrt gilt das männliche Sexualhormon als Heilsbringer gegen das Altern, gegen ein flaues Liebesleben oder fehlenden Elan. Allein im vergangenen Jahrzehnt ist der Verkauf von Testosteronpräparaten weltweit um das Zwölffache gestiegen. Robin Haring, der in den letzten Jahren die gesundheitlichen Auswirkungen niedriger Testosteronspiegel beim Mann erforscht hat, fand es angesichts dieser widersprüchlichen Lage an der Zeit, etwas „Licht in das testosteronvernebelte Dunkel zu bringen“. Die Form eines fundierten populärwissenschaftlichen Sachbuchs ist dafür gut gewählt, zumal Haring bei aller Berufung auf zahllose Studien, Fachartikel und -bücher einen anregenden, schwungvollen Schreibstil pflegt und ein sicheres Gefühl dafür hat, wann er die Ebene der Details zugunsten des Big Picture und der Wahrung der Aufmerksamkeitsspanne seiner Leser wieder verlassen muss. Erhellend ist dieses Buch in vielerlei Hinsicht. Und es stellt klar: Kein Mann ist von einem hohen Testosteronspiegel lebenslang auf Porsche, High-Risk-Investments und Machtstreben um jeden Preis festgelegt, mit einem Wort: „die unterstellte biologische Einbahnstraße, vom Testosteronspiegel direkt auf das Verhalten zu schließen, bekommt wenig wissenschaftliche Rückendeckung“. Im Gegenteil. „Wir beginnen gerade erst zu verstehen, wie sensibel der Hormonhaushalt selbst auf feinste Umwelteinflüsse reagiert. Offen-
sichtlich beeinflussen unsere Handlungen, Erlebnisse und Verhaltensweisen den Testosteronspiegel ebenso stark, wie dieser auf das soziale Umfeld zurückwirken kann.“ Daher Harings Fazit: „Augen auf im Kreisverkehr“. Studien haben außerdem gezeigt – und Haring unterscheidet sehr genau zwischen aussagekräftigen und nicht aussagekräftigen Untersuchungen –, dass Vorurteile über verhaltensbezogene Wirkungen von Testosteron stärkere Effekte bei Probanden hatten als das Hormon selbst. Auch was die Gesundheit anlangt, ist Testoste-
Robin Haring: Die Männerlüge. Wie viel Testosteron braucht der Mann? Braumüller, 160 S., € 21,90
ron in einen sehr komplexen Kreislauf eingewoben, bei dem Ursache und Wirkung oft noch nicht genau unterschieden werden können. Sicher ist aber: Gesunde Lebensführung mit Normalgewicht, Rauchverzicht, ausgewogener Ernährung und genug Bewegung können den Testosteronspiegel bis ins Alter stabil hoch halten. Testosterontherapien umgekehrt sind im Vergleich dazu in nur wenigen Fällen angezeigt. Langweilig und mühsam im Vergleich zu Testosteron-Heilsversprechen? Vielleicht, aber doch auch tröstlich, weil angenehm unesoterisch. Im Lichte dieses unaufgeregten und fundierten Buchs betrachtet ist Testosteron nicht mehr Wundermittel und „Sündenbock eines vagen Unbehagens an der Gesellschaft“, sondern ein Biomarker für Männergesundheit, über den es noch viel herauszufinden gibt.
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Der Trieb zum Koitus und die Kultur der Erotik Philosophie: Der französische Denker André Comte-Sponville widmet sich dem Mysterium Sexualität on François de La Rochefoucauld V stammt der Gedanke, dass man dem Tod ebenso wenig fest ins Auge blicken
könne wie der Sonne. Mit diesem Zitat aus dem 17. Jahrhundert beginnt André ComteSponville, Jahrgang 1952, seine kleine Philosophie der Sexualität. Der Tod taucht darin überraschend häufig auf. Wieso sich das Nachdenken über Sexualität und Tod so rasch vermischt, darüber stellt der französische Starphilosoph gleich selbst eine erste Mutmaßung an, der in seinem langen Essay noch einige weitere folgen werden: „Vielleicht weil sich in den drei Fällen – Geschlecht, Tod, Sonne – das Wesentliche dem Blick entzieht oder ihn blendet, ihn aber trotzdem – oder gerade deshalb – fasziniert.“ Was ist das Wesentliche der Sexualität? Gewiss
nicht die Geschlechtsorgane, „sondern die Sexualität als Funktion, als Trieb, als Abgrund“. Was hier noch etwas technokratisch klingt, entfaltet sich Seite für Seite zu einer eleganten philosophischen Tour d’horizon, die man genau mit denselben Worten loben möchte, mit denen Comte-Sponville das Schreiben seines Lieblingsdenkers Montaigne preist. Der schreibe über Sexualität, „wie es sich gehört: heiter, leicht, tief, frei, luzid und humorvoll“. Über 400 Jahre nach Montaigne und seinen berühmten Essays tut es ihm Comte-Sponville gleich. Anders als beim Tod, ihrem großen Leibthema, sind die Philosophen deutlich
zurückhaltender, wenn es um die Sexualität geht, konstatiert Comte-Sponville. Die religiös gefärbten Vorurteile, in denen sich viele von ihnen ergehen, lässt er links liegen. Und er zeigt sich ganz als laizistisch geprägter Franzose, wenn er etwa Empfängnisverhütung und unbefleckte Empfängnis als zwei Beispiele für die Entkoppelung von Beischlaf und Befruchtung ins Feld führt und sich kurz darüber wundert, dass die Kirche „in dem einen Fall ein Wunder und in dem anderen eine Sünde erblickt“. Es sind die wagemutigeren unter den Philosophen, bei denen Comte-Sponville Ergiebiges zu seinem Thema findet. Für Epikur ist die Sexualität „natürlich, aber nicht notwendig“, für Schopenhauer „Ausdruck des Willens zum Leben“. Besonders aber interessieren ihn Kant und Montaigne. Ausgerechnet beim strengen Kant, von dem es heißt, er sei jungfräulich gestorben, findet Comte-Sponville zu seiner Freude ein passioniertes Plädoyer für Gleichheit und Gegenseitigkeit unter Eheleuten und Liebenden. Diese allein ermöglichten es, sich dem anderen beim Sex als Sache anzubieten, dabei aber nicht zum Objekt zu werden, sondern Person zu bleiben. Damit, so Comte-Sponville, sei aber umgekehrt auch eingeräumt, „dass dem sexuellen Begehren etwas Unmoralisches oder Unmenschliches innewohnt, das menschlicher zu gestalten unsere Aufgabe ist“. Das ist einer der Kerngedanken seines Buchs: Die Sexualität ist tatsächlich „alles
andere als ein unschuldiger Zeitvertreib“, und die Kirche beäugt sie zu Recht misstrauisch. Ihr Geheimnis bleibt auch dann fast unangetastet, wenn sie – wie in der Pornografie – zur Schau gestellt wird. „Kein Mensch weiß, wie seine Freunde Sex praktizieren, welche Gefühle oder Lust erlebnisse dabei in ihnen geweckt werden, noch wie kühn oder schamhaft sie zu Werke gehen“, bemerkt Comte-Sponville. Sex ist immer mysteriös. Das beginnt dabei,
André ComteSponville: Sex. Eine kleine Philosophie. Diogenes. 192 S., € 20,50
dass uns zwar ein Trieb mit Macht zum Koitus drängt, aber kein Instinkt lehrt, was wir dabei zu tun haben. Eine Harmonie der Geschlechter gibt es also nicht von Natur aus: „Die Organe entsprechen sich nur ungefähr. Die Begierden, Phantasien, Verhaltensweisen nicht immer. Deshalb ist alle Erotik kulturell. Wir sind Tiere, kein Vieh“, schreibt Comte-Sponville. Dass sie uns stets an unser Tier-Sein erinnert, ist die massive narzisstische Kränkung, die die Sexualität Willen und Vernunft des Menschen zufügt. Und das ist noch nicht alles. Denn wie sagt Montaigne, den Comte-Sponville so viele Male zitiert: Wenn er bedenke, „dass die Organe unserer Wonnen mit denen unsres Unrats wahllos nebeneinander untergebracht sind“, dann glaube er, „dass die Natur aus schierer Spottsucht uns das aufwühlendste Tun als unser gewöhnlichstes vermacht hat, um uns alle gleichzusetzen“.
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Urbanes Flanieren durch die Jahrtausende Geschichte: Rainer Metzger spiegelt spielerisch Stadt- und Einzelbiografien und spürt dem Esprit des Urbanen nach 1784 ist Wolfgang AmaIfolgsmdeusSeptember Mozart auf dem Gipfel seines Erin Wien: Der Adel liebt und bezahlt
ihn, er bezieht ein nobles mehrgeschoßiges Domizil in der Domgasse. Bald danach geht es bergab, seine späteren Adressen geben Zeugnis seiner finanziellen Lage und seines gesellschaftlichen Status. Insgesamt zwölf Mal in zehn Jahren zieht er um, von Absteige zu Absteige, bis zum hochverschuldeten und ruhmlosen Ende in der anonymen Erde des Friedhofs von St. Marx. Ein Weg durch die Stadt Wien, der ebenso viel vom Künstler erzählt wie von der Stadt. „Mozart ist der erste Freiberufler der Kulturgeschichte“, schreibt Rainer Metzger in seinem Buch „Die Stadt – vom antiken Athen bis zu den Megacitys“. Ein etwas irreführender Titel, denn die Stadt ist nicht die Hauptfigur dieses kurzweiligen Buches. Vielmehr beschreibt der Kunsthistoriker Metzger Städte als Hintergrund der Biografien historischer Personen, vom Athen des Sokrates in das Rom des Horaz bis zum Kinshasa des zeitgenössischen Künstlers Bodys Isek Kingelez. Oft waren seine Protagonisten ihrer Zeit voraus. Sie geben die besten Zeugen für Städte in Glanzzeiten und vor allem Städte im Wandel ab. Eine Grundidee, deren Kalkül voll und ganz
aufgeht: Der Frage nachzuspüren, wer wie und in welchen Städten zu welcher Zeit aufblüht, ist ein idealer Gradmesser für das Urbane an sich, dessen Definition über die Jahrtausende erstaunlich konstant bleibt. Die wache, ironische Distanz, mit der Sokrates seinen Athener Mitbürgern auf der Agora gegenübertritt, unterscheidet sich kaum von der lakonisch-lässigen Haltung, mit der die Dichterin Mascha Kaléko das vergnügungssüchtig wirbelnde und betriebsame Berlin der 1920er-Jahre in ihren Versen abbildet.
Es sind Beobachter und Flaneure, von Mäzenen aus der Oberschicht gefördert wie vor 2000 Jahren Horaz von seinem Förderer Gaius Maecenas oder heute Bodys Isek Kingelez von der Fondation Cartier. Diese spielerisch distanzierte Haltung prägt nicht nur die Protagonisten, sondern auch den vorliegenden Band selbst, ein durch und durch urbanes Buch – wissend, leichtfüßig, vernetzend und kritisch. Philosophen werden ebenso als metropolitane Zeitzeugen herangezogen wie Maler, Geistliche, Literaten und Architekten. Albrecht Dürer weilt in Nürnberg und Venedig, als beide Städte auf der Höhe ihrer Macht stehen. Edouard Manet bildet das Paris der von Baron Haussmann in die Altstadt geschlagenen Boulevards ab, und die italienisch-brasilianische Architektin Lina Bo Bardi im boomenden São Paulo dient als Fokus für die Stadt der Moderne. Dass die Wahl bei diesem Konzept zwangsläufig auf hochsensible Charaktere als Protagonisten fällt, bleibt nicht ohne komische Aspekte. Denn diesen feinsinnigen Naturen liegen Wehleidigkeit und Schrulligkeit nicht fern. Etwa wenn Albrecht Dürer in seinen Briefen ebenso über die miese Auftragslage jammert wie Mozart drei Jahrhunderte später in den seinen. Das ausführliche Tagebuch des Londoners Samuel Pepys, Zeitzeuge der Stadtkatastrophen Pest und Brand von 1665/1666, berichtet ebenso vom urbanen Leben in Zeiten von Zerstörung und Umbruch wie von der egoistischen Angst um den eigenen Besitz und den unzureichend vor der Gattin getarnten Frauengeschichten. Dem gegenüber stehen ernstere Kapitel wie die Erforschung der Armenviertel von New York um 1900 durch Jacob Riis, der sich auf seinen Wegen durch die Slums von Manhattan die damals noch junge Erfindung der Fotografie zunutze macht, zwi-
schen Sozialkritik, Anteilnahme und Bloßstellung oszillierend. Ähnliches taten zur selben Zeit in Wien der Journalist Emil Kläger und der Fotograf Hermann Drawe mit ihrem Werk „Wiener Quartiere des Elends und des Verbrechens“. Städte in Glanzzeiten sind seit jeher ein be-
Rainer Metzger: Die Stadt – Vom antiken Athen bis zu den Megacitys. Eine Weltgeschichte in Geschichten. Brandstätter, 272 S., 70 Abb., € 24,90
liebter Topos, ob in Romanen, Filmen oder Analysen. Sir Peter Hall widmete dem Thema 1998 sein monumentales Werk „Cities in Civilization“. Ob dort im Großen oder hier im leichthin erzählten Detail, überall wird deutlich: Im Wesen des Urbanen liegt die Begegnung mit dem Unbekannten, und Städte in ihren Blütezeiten sind von verstärkter Interaktion und Konfrontation geprägt. Gerade anhand der historischen Figuren des Buchs, den „Einzelwesen in der Polis“, wie Rainer Metzger sie nennt, spannt sich die Stadt zwischen physisch-sinnlich erlebtem Raum und dem System des bürgerlichen Zusammenlebens auf: ein Dualismus, den die Griechen Asty und Polis, die Römer Urbs und Civitas nannten. Wenig überraschend für einen Kunsthistoriker liegt der Schwerpunkt mehr auf den Biografien, und manchmal hätte man sich noch detailliertere Porträts der dazugehörigen Städte gewünscht. Trotzdem ist „Die Stadt“ ein im besten Sinne bildungsbürgerliches Buch. Souverän wissend, wie von einem sympathischen Lateinlehrer leicht und unterhaltsam erzählt. Mit Bildern, Fotos und Plänen kongenial illustriert liefert es die Erkenntnis, dass uns im Wandel der Städte der urbane Geist stets erhalten bleibt. So lässig, wie Sokrates einst durch Athen flanierte und Horaz das spatiare praktizierte, bewegen sich heute die in Designerkleidung aus dem Secondhandshop gewandeten Sapeurs durch Kinshasa. Der Flaneur stirbt niemals aus. M aik N o v o t n y
Heilende Hände oder die Erfindung der Hygiene Medizingeschichte: Anna Durnová legt eine präzise, sachliche Studie über den Arzt Ignaz Semmelweis vor ur Gott weiß die genaue Anzahl der N unschuldigen Frauen, die durch meine Hände den Tod fanden!“ Das notiert je-
ner Mann, der als „Retter der Mütter“ in die Medizingeschichte eingegangen ist. Die große Erkenntnis des Ignaz Philipp Semmelweis (1818–1865), die Bedeutung der Hygiene bei der Behandlung von Patienten, ist mittlerweile zur Selbstverständlichkeit geworden. Mitte des 19. Jahrhunderts kämpfte der ungarische Arzt, der in Wien lebte und arbeitete, an mehreren Fronten um seinen Befund. In der Praxis konnte sich nur mit Mühe durchsetzen, dass sich Ärzte ihre Hände desinfizieren. Hygienische Maßnahmen galten vorwiegend dem „Miasma“, der giftigen Ausdünstung in der Luft. In der Theorie war der Widerstand weit heftiger. Im medizinischen Diskurs wurde Semmelweis mit teilweise unseriösen Mitteln verunglimpft. Dass er selbst die Sterblichkeit unter seinen Patientinnen erhöhte, war eine der ersten statistischen Erkenntnisse der Medizingeschichte – und eine, die Semmelweis selbst erst verdauen musste.
Die Politikwissenschaftlerin Anna Durnová verzichtet darauf, die Reihe vorhandener Semmelweis-Biografien um ein Exemplar zu bereichern, und konzentriert sich auf die etwa 15 Jahre von Semmelweis’ ersten Erkenntnissen als Assistenzart bis zur Veröffentlichung seines Hauptwerks im Jahr 1861. Der eingegrenzte Zeitausschnitt erlaubt Präzision: Die alltäglichen Abläufe an der Ersten Abteilung der Geburtshilfe am Wiener Krankenhaus schildert die Autorin mit nüchterner Brutalität. Ärzte wechselten vom Leichensezieren direkt zur Geburtshilfe. Dazwischen wurden die Hände gerade mal mit Seife gewaschen. Die Sterblichkeitsraten unter den Gebärenden erreichen zeitweise fast 20 Prozent. Wie der junge Arzt den Zusammenhang zwischen „Leichengift“ und Kindbettfieber an immer mehr Indizien festmacht, liest sich wie Detektivarbeit. Manchmal durchbrechen blumige Phrasen den sonst sachlichen Stil. So erfahren wir über den zweiten zentralen Wirkungsort des Arztes, dass „die Sonne der Chlorkalklösung“ auch in Budapest aufgegangen sei.
Anna Durnová: In den Händen der Ärzte. Ignaz Semmelweis – Pionier der Hygiene. Residenz, 288 S., € 22,90
Erhellender sind die sozialgeschichtlichen Zusammenhänge. Die Patientinnen an der Frauenklinik waren zum guten Teil Ausgestoßene der Gesellschaft, verarmte Frauen, Mütter unehelicher Kinder, die sich eine Geburt zu Hause nicht leisten konnten. Diese Stichprobe von Semmelweis’ Untersuchungen stellt wohl einen weiteren Grund dar, warum sich seine Erkenntnisse nicht leicht durchsetzten. Seine Rolle als Pionier evidenzbasierter Medizin wird nur angedeutet und hätte etwas mehr Aufmerksamkeit vertragen. Semmelweis’ Ende wird angenehm sachlich abgehandelt. Die Autorin bleibt bei den Fakten seiner Einlieferung in die Irrenanstalt Döbling durch Kollegen und seines darauf folgenden Todes. Sie erwähnt die Spekulationen, die es um das „Verschwinden“ des unbequemen Arztes gibt, redet aber keiner Verschwörungstheorie das Wort. Durnová stilisiert Semmelweis weder zum Märtyrer noch zum Querulanten. Ihr Buch stellt eine spannende Studie über einen Wendepunkt der modernen Medizin dar. A n d r e as K r e m l a
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Sachbuch
Ehrliche Lupine, betrügerische Ragwurz Biologie: Stefano Mancuso legt ein leidenschaftliches Plädoyer für einen neuen Blick auf alles Grüne vor
Schon immer hatte diese wirkmächtige Haltung auch Gegenspieler – zwei ihrer bekanntesten waren der griechische Philosoph Demokrit und, fast 2500 Jahre später, Darwins Sohn Francis. Aber die wenigen, die Pflanzen für intelligente Wesen hielten, konnten sich bis in die 1950erJahre auf nicht viel mehr als ihre Intuition verlassen. Seither hat sich die Faktenlage massiv verändert, und jährlich kommt viel neues Wissen hinzu. „Aberwitzig wenig“ wüssten wir im Vergleich zu Mensch und Tier immer noch über die Pflanzen, schreibt der italienische Pflanzenforscher Stefano Mancuso in seinem von tiefer Leidenschaft beseelten Buch „Die Intelligenz der Pflanzen“. Klar bewiesen ist aber inzwischen Folgendes: Pflanzen sind empfindsame Wesen, „die über kommunikative Fähigkeiten, ein Sozialleben und raffinierte Problemlösungsstrategien verfügen“. Sie sind imstande, „sorgfältig abzuwägen und Entscheidungen zu fällen“, sie besitzen Lern-
und Erinnerungsvermögen, erkennen ihre Verwandten (das weiß man erst seit 2007) und können zwischen Handlungsalternativen abwägen. Stefano Mancuso muss es wissen. Der Italiener leitet in Florenz das Internationale Laboratorium für die Neurobiologie von Pflanzen und gilt mit über 250 wissenschaftlichen Publikationen zum Thema weltweit als der große Experte zum Thema Pflanzenintelligenz.
nierter Reflex, sondern abwägendes Handeln. Denn wenn Mimosa pudica einen Reiz, etwa Regen oder Wind, als ungefährlich einstuft, bleiben die Blätter offen.
„Pflanzen hören ohne Ohren, sehen ohne Augen und fühlen ohne Nervenbahnen und Hirn. Sie sind völlig anders strukturiert, Die Definition von Intelligenz, die seinen The- weil sie sesshaft sen dabei zugrunde liegt, meint die Fähig- leben“
keit, Problemlösungen zu finden. Diese besitzen Pflanzen in hohem Maß. Dass wir uns so schwer damit tun, das nachzuvollziehen, glaubt Mancuso, hat auch mit einem Mangel an Vorstellungskraft zu tun. Denn Pflanzen hören ohne Ohren, sehen ohne Augen und fühlen ohne Nervenbahnen und Hirn. Sie sind völlig anders strukturiert, weil sie sesshaft leben. Sie haben nicht wie der Mensch und die meisten Tiere im Lauf der Evolution alle lebenswichtigen Funktionen auf einige wenige Organe wie Hirn, Lunge oder Magen konzentriert. Im Gegenteil: „Ihr Körper ist modular aufgebaut, das heißt, jeder Körperteil ist wichtig, aber letztendlich keiner unverzichtbar.“ Das ist günstig, wenn man nicht flüchten kann. Am Beispiel unserer fünf Sinne dekliniert Mancuso die pflanzlichen Techniken der Wahrnehmung durch. Vieles davon war in den letzten Jahren bereits in den unterschiedlichsten Sachbüchern nachzulesen, aber es ist noch nie mit solcher Verve vorgetragen worden wie hier. Von chemischen Düften als der bisher noch weitgehend unentschlüsselten Sprache von Pflanzen ist hier die Rede. Von den „mechanosensiblen Kanälen“ an ihrer Epidermis, mit denen sie fühlen und hören. Das Einfalten der Blätter bei Berührung, für das Mimosen so berühmt sind, zeigt sich hier plötzlich in neuem Licht: Es ist, wie man inzwischen weiß, kein konditio-
Stefano Mancuso
Stefano Mancuso, Alessandra Viola: Die Intelligenz der Pflanzen. Kunstmann, 168 S., € 20,60
Bei Mancuso ist von ehrlichen Lupinen oder betrügerischen Ragwurzen die Rede, von wehrlosen und wehrhaften Maissorten, von der „Schüchternheit der Baumkronen“ und von der Gehirnfunktion der Pflanzen, die in allen Zellen verfügbar ist und nicht wie bei Mensch und Tier auf ein Organ zusammengezogen. Er erklärt, wie Pflanzen ohne Nervenbahnen höchst effizient Informationen übermitteln und dass Wurzeln häufig Entscheidungen treffen müssen und das auch tun. Wie man festgestellt hat, besitzen sie sogar eine Art „Schwarmintelligenz“. Anders als der Mensch haben Pflanzen nicht nur fünf Sinne bzw. Pendants dazu, sondern insgesamt 15. Unter anderem für Bodenfeuchtigkeit, für Schwerkraft und elektromagnetische Felder. So weitreichend sind ihre Fähigkeiten und so groß unsere diesbezügliche Blindheit, dass Mancuso abschließend mit einigem Recht sogar die Frage stellt, „was passieren würde, wenn wir eines schönen Tages außerirdischer Intelligenz begegnen? Würden wir sie überhaupt erkennen? Wahrscheinlich nicht. Denn offensichtlich kann sich der Mensch keine andere Intelligenz als seine eigene vorstellen.“ Fast außerirdisch klingt deshalb auch die Kunde von Plantoiden, also Robotern, die pflanzliche Fähigkeiten nachahmen. Tatsächlich aber führt die Erforschung pflanzlicher Kommunikations- und Sozialsysteme schon seit einigen Jahren zur Entwicklung „völlig neuartiger, bisher unvorstellbarer Anwendungstechnologien“, wie Mancuso berichtet. Vielleicht werden diese bald den von menschlich-tierischen Eigenschaften beeinflussten androiden Robotern den Platz streitig machen.
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illustr ation: anna hazod
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a wir uns als Krone der Schöpfung betrachten, halten wir Pflanzen zwar für Lebewesen, gehen aber im Grunde davon aus, dass sie plan- und ziellos vegetieren und höchstens reaktiv im Austausch mit ihrer Umwelt stehen. Geht es nach uns, sind sie dazu da, uns zu nähren, zu heilen, mit Werkstoffen zu versorgen und unser Auge zu erfreuen. Bereits Aristoteles hatte in seinem für die abendländische Kultur so einflussreichen Werk „De Anima“ den Pflanzen in der Ordnung aller Organismen einen Platz an der Grenze zwischen lebendig und nicht lebendig zugeteilt. Und in der biblischen Überlieferung nahm Noah vor der großen göttlichen Flut von jedem Geschöpf ein Paar mit auf seine Arche, aber keine einzige Pflanze. Der Ölzweig im Schnabel der Taube, der Noah später die Nähe von Land anzeigte, kam gleichsam aus dem Nirgendwo.
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Bummvolle Beete. Oder: Der Garten ist keine Idylle Lebenskunst: Barbara Frischmuth zelebriert in einem Tagebuch bereits zum vierten Mal ihre Gartenmenschwerdung rüne Gegenwelt und Rückzugsort vor den Zumutungen der Welt: So haben G Schriftsteller und Philosophen den Garten
immer wieder gedeutet. Der mittelalterliche Hortus conclusus hinter hohen Klostermauern, dem die moderne Gartengestaltung so viel verdankt, legt den Gedanken nahe. Er ist oft reproduziert worden, sicher auch, weil das Arbeiten im Garten auf den gärtnernden Menschen stark beruhigende Wirkung entfalten kann. Barbara Frischmuth ist Gärtnerin und Schrift-
stellerin. Seit 25 Jahren pflegt sie ihren Garten im steirischen Salzkammergut und hat ihm in dieser Zeit drei literarische Gartenbücher gewidmet. Nun erscheint mit „Der unwiderstehliche Garten“ das vierte in dieser Reihe, in der die Schriftstellerin ihre „Gartenmenschwerdung“ dokumentiert. Diesen famosen Begriff hat Frischmuth schon vor Jahren geprägt und ist seither immer wieder damit zitiert worden. Denn das Wort beschreibt sehr genau den Prozess, den jeder durchläuft, der sich tief und ernsthaft auf die Beziehung mit einem Garten einlässt. Wie Frischmuth selbst. Sie kommt zu einer ganz anderen Conclusio als der vom Garten als Gegenwelt: Gärten, schreibt sie, sind „nicht so sehr Fluchtpunkte, an denen wir sicher vor den Unbilden der Welt und dem mörderischen Treiben jenseits der Hecke, des Zauns oder der Mauer sind, sondern eher Lehrstätten, in denen wir die
Welt, die noch immer den Gesetzen der Natur gehorcht, besser erkennen lernen“. Denn der Garten, so Frischmuth, ist keine reine Idylle. In ihm herrscht wie überall sonst „die Vielfalt der Lebewesen, die ununterbrochen mit- und gegeneinander agieren“. Kämpfe um Ressourcen werden ausgetragen, und jeder, ob Pflanze oder Tier, folgt seinen Interessen. Gerade in diesem Garten-Getümmel könne der menschliche „Fürsorgemuskel“ besonders gut trainiert werden, argumentiert Frischmuth. Der Menschheit stünde es grundsätzlich nicht schlecht an, sich weniger als Krone der Schöpfung, sondern als „ein Geschlecht von Sich-Kümmernden“ zu sehen. So ließe sich eine von Frischmuth nacherzählte Parabel über die antike Göttin Cura deuten, die den Menschen aus Lehm schuf und unter deren Einfluss der Mensch steht, solange er lebt. Cura bedeutet Fürsorge, Pflege, SichKümmern, und das liegt uns nach dieser Schöpfungsgeschichte im Blut. Im Garten kann man dem mit besonderer Hingabe und Intensität und Lust nachgehen. Dabei habe man es mit „andauernder gegenseitiger Einflussnahme“ und dem Gefühl zu tun, „dem Leben durch diese oder jene Pflanze, selbst durch den Amselmann oder die Ameisen (…) ziemlich nahe gekommen zu sein“. Umsichtige Gartenmenschen lernen mit der Zeit, auf die Vorschläge zu achten, die der Garten von sich aus macht. Aber Frischmuth hält sich oft nicht daran. Hier ge-
nau liegt das ansteckend Ermutigende ihrer neuen Geschichten: dass Frischmuth sich so entspannt selbst dabei beobachtet, wie sie sich vom Garten und ihrer Neugier auf neue Pflanzen stets wieder verführen lässt. Denn eigentlich will sie sich gärtnerisch verkleinern, weil das beginnende Alter seinen Tribut fordert. Frischmuth beschreibt, wie sie Beete auflässt.
Barbara Frischmuth: Der unwiderstehliche Garten. Eine Beziehungsgeschichte. Aufbau, 233 S., € 24,90
Das geschieht unsentimental und mit etwa ebenso viel Bedauern wie Erleichterung, aber manchmal schleichen sich gerade durch die Umgestaltung neue Optionen für Bepflanzungen durch die Hintertür wieder ein. Schön ist es zu lesen, wie jemand so angenehm unaufgeregt Frieden mit seiner gärtnerischen Wiederholungstäterschaft geschlossen hat, denn natürlich steht Frischmuth trotz anders lautender Vorsätze immer wieder mit viel zu vielen eingekauften Pflanzen vor bummvollen Beeten. Sie verzeiht sich selbst leichten Herzens. Mindestens so schön wie Frischmuths Geschichten aus ihrem Gartenleben sind ihre Reflexionen über die von ihr gelesenen Gartenbücher – und vor allem über die vielen neuen Erkenntnisse, die die Wissenschaft in den letzten Jahrzehnten über Pflanzen gewonnen hat. Weiß man, wie sie kommunizieren, wahrnehmen und interagieren, werden sie gleich noch mehr zu einem echten Gegenüber. Erst recht für Barbara Frischmuth.
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Moses und Eichmann. Oder: Ist die Wahrheit rigoros? Philosophie: Der Suhrkamp Verlag macht sich um die Edition des Philosophen Hans Blumenberg verdient ie Hauptwerke des Philosophen Hans Blumenberg (1920–1996) „Arbeit am D Mythos“ (1979) und „Die Legitimität der
Neuzeit“ (1966) flößen aufgrund ihres Umfangs, ihrer Dichte und ihres Anspruchs auch heute noch Bewunderung ein, wecken aber auch ein gewisse Schwellenangst. Dem arbeitet sein Verlagshaus Suhrkamp ent-
gegen, indem es kürzere Texte aus dem Nachlass oder ein Glossar mit dem Titel „Blumenberg lesen“ ediert, erschienen im Dezember 2014 zusammen mit dem Sammelband „Goethe zum Beispiel“, der Blumenbergs Texte zum deutschen Klassiker schlechthin vereint. Bereits zwei Monate später legt der Verlag mit einem schmalen Band bisher unveröffentlichter Texte zu Sigmund Freud und Hannah Arendt unter dem Titel „Rigorismus der Wahrheit“ nach. Die editorische Akribie, die man den nur zwölf Seiten Originaltext durch Kommentar, Materialien und Nachwort angedeihen ließ, hätte auch die faszinierenden, manchmal etwas enigmatischen Gedankensplitter Blumenbergs zu Goethe zu einem zwar etwas voluminöseren, aber umso reizvolleren Kompendium gemacht. Bei „Rigorismus der Wahrheit“ entstand aus zwölf Seiten Originaltext durch Kommentar, Materialien und Nachwort ein immer noch schmaler, aber inhaltlich gewichtiger Band. Blumenberg feilte von 1971 bis 1983 an diesem Aufsatz, wohl auch, weil
er sich seines Skandalpotenzials bewusst war, stellt er doch zwei Texte einander gegenüber, die jeder für sich schon nachhaltig provozieren. Sigmund Freuds letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Schrift „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ fügte den „drei großen Kränkungen der Neuzeit“ – nach Kopernikus war die Erde nicht mehr der Mittelpunkt des Universums, nach Darwin der Mensch nicht mehr Krone der Schöpfung und nach Freuds eigener Einführung des Unbewussten das menschliche Bewusstsein nicht mehr uneingeschränkt Herr im eigenen Haus – eine vierte hinzu und beraubte die jüdisch-christliche Kultur ihres Gründervaters Moses. Moses wird darin als ägyptischer Prinz dargestellt, der den Juden den Eingottglauben des Pharaos Echnaton verkündete und sie aus der Knechtschaft in die Wüste führte. Dort erschlug ihn das durch den Rigorismus seiner Gebote gequälte jüdische Volk und wiederholte so den Vatermord, den Freud in „Totem und Tabu“ (1913) am Beginn der Zivilisation postulierte. Freud publizierte den Aufsatz wohlweislich nicht im klerikalen Österreich, sondern erst in der Emigration 1939 in London. Diesem Skandalon stellt Blumenberg Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem“ von 1963 gegenüber, den Bericht der jüdischen Philosophin über den Prozess gegen den SS-Obersturmbannführer und Leiter der Organisation und Vertreibung der Juden
aus Deutschland Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem, an dessen Ende ein Todesurteil stand. Wegen Ahrendts kritischer Sicht auf die Tätigkeit der Judenräte in Lagern und Ghettos, ihren Zweifeln an der Zuständigkeit des Gerichtes in Jerusalem, vor allem aber wegen ihres Diktums von der Banalität des Bösen gehört dieses Buch zu den am kontroversiellsten diskutierten Texten der Zeitgeschichte. Indem Ahrendt Eichmann als „Hanswurst“ anspricht, beraubt sie das Todesurteil seiner mythischen Funktion. Wie Freud seinem Volk, den Juden, den GrünHans Blumenberg: Rigorismus der Wahrheit. „Moses der Ägypter“ und weitere Texte zu Freud und Arendt. Suhrkamp, 133 S., € 14,40 Hans Blumenberg: Goethe zum Beispiel. Suhrkamp, 248 S., € 25,70 Robert Buch, Daniel Weidner (Hg.): Blumenberg lesen. Suhrkamp, 399 S., € 18,50
dervater Moses genommen hat, beraubt Ahrendt Israel seiner negativen Gründungsfigur Eichmann. Aber ihr unterlaufen dabei methodische Inkonsequenzen, meint Blumenberg, weil sie soziologische, juristische und mythengeschichtliche Aspekte vermengt. Nur Freud selbst, wäre er noch am Leben gewesen, hätte auf den ersten Blick „die mythische Dimension der Tötung des negativen Staatshelden“ erkannt. Vielleicht war es Blumenbergs Bestürzung über die „tiefliegenden Gemeinsamkeiten“ zwischen den beiden Texten, die ihn daran hinderte, seine Reflexionen zu Lebzeiten zu veröffentlichen. Der Verdienst des ehemaligen Blumenberg-Assistenten und Herausgebers dieses schmalen Bandes, Ahlrich Meyers, liegt darin, in brillanter Weise Genese und Architektur dieser intellektuellen Provokation freigelegt zu haben. Thomas Leitner
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Sachbuch
Wie viel Tom steckt in Conchita? Biografie: Tom Neuwirth betritt die Weltbühne und legt die Autobiografie der Diversitäts-Diva Conchita Wurst vor ie schlecht rasierte Sängerin hat uns D also den Song Contest gewonnen. Nachdem Conchita Wurst jahrelang im engen Kreis der queeren Burlesque-Gemeinde keck Starstatus behauptet hat, ist die vom jungen Tom Neuwirth verkörperte Kunstfigur der bärtigen Diva tatsächlich auf dem besten Wege, ein Weltstar zu werden. Zwar ist ihr Œuvre noch ausgesprochen klein – bis auf den Song-Contest-Siegertitel „Rise Like a Phoenix“ gab es noch keinen nennenswerten Chart-Erfolg –, aber die charismatische Frau Wurst nutzt ihre momentane Bekanntheit, um jetzt ihre Autobiografie zu veröffentlichen: „Ich, Conchita“, so der Titel des reich bebilderten Buchs. Um wen geht es hier? Um die irritierend schö-
ne Kunstfigur mit dem Klamauknamen, die vor einem Millionenpublikum ihr Lied gesungen hat, vor dem Europäischen Parlament in Straßburg Brandreden in Sachen Toleranz hält, in Wien den UNO-Generalsekretär trifft, den Bundespräsidenten oder den französischen Mode-Star Jean-Paul Gaultier? Oder geht es um den 26-Jährigen, der sie erfunden hat und darstellt? Oder das Bübchen, das in der Steiermark aufwuchs, Außenseiter war und blieb, bis es in der großen Stadt und mit den richtigen Freundinnen im Schlepptau unter einer Perücke und viel Schminke für Akzeptanz warb? Die meisten Interviews mit der Wurst eiern um die Frage herum, wer gerade spricht.
Tom und Conchita scheinen das manchmal selbst nicht ganz so zu wissen, und die clevere Standardantwort der beiden lautet dann: Es steckt ja so viel von Tom in Conchita. Ach so. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Wurst-Suppe ist einigermaßen dünn. Und obwohl das vom deutschen Biografie-Profi Daniel Oliver Bachmann in leicht tantigem Ton „erzählte“ und „aufgeschriebene“ Buch den Untertitel „Meine Geschichte“ trägt, erfahren wir vom „kleinen Tom“ nicht besonders viel. Ja, die Eltern, okay, die Oma, die „grüne Höhle“, in die sich das Kind zurückzieht und träumt, die schönen Kleider und die bösen Burschen, die den Schwulen in der Schule ausgrenzen. Mit 14 dann die Modeschule in Graz, ein paar Jahre später die Castingshows im ORF und so weiter. Der größte Teil dieser Ich-Geschichte dreht sich um das, was seit dem 10. Mai 2014 passiert ist, dem Tag, als Conchita Wurst den 59. Eurovision Song Contest in Kopenhagen gewann. Wie ein ausgegrenztes Kind vom Lande zur weltgewandten Diversitäts-Diva und zu einer Art Nationalheiligtum werden kann, das bei Volksschülerinnen gleichermaßen beliebt ist wie bei Parlamentariern, darauf liefert „Ich, Conchita“ leider kaum Antworten. Was auffällt: Conchita will offenbar die Wurst loswerden und seriöser wirken. In einer britischen Talkshow kündigte der Gastgeber den Star aus Österreich kürz-
lich nur noch als „Conchita“ an. Das Debütalbum, das demnächst veröffentlicht wird, trägt wohl nur noch ihren Latina-Vornamen als Titel, ebenso wie jetzt die Biografie. Das – zugegeben: irritierende – Vorleben der Wurst fehlt in der Erzählung fast komplett. Aber eben auch bei Tom Neuwirths Leben bleibt man vage. Stattdessen seitenweise Namedropping und Wiederholung dessen, was in den letzten Monaten ohnehin schon überall zu sehen und zu hören war: Conchy in Paris, in London, in Kopenhagen. Und Conchy in Wien. Dort überraschte eine gro-
Conchita Wurst (mit Daniel Oliver Bachmann): Ich, Conchita. Meine Geschichte. We are unstoppable. Langen/Müller, 180 S., € 20,60
ße Bank mit einer Werbekampagne, bei der die bärtige Lady im Mittelpunkt steht. Im Kapitel „Conchita goes banking“ präsentiert sich die Sängerin als Unternehmerin mit eigenem Büro und Angestellten, die am Welterfolg arbeiten. Und erklärt leicht blauäugig das Bankensystem. Wie hier überhaupt sehr viel erklärt wird, manches wohl, um dem deutschen Publikum österreichische Gepflogenheiten näherzubringen. Im Epilog schließlich stilisiert sich die Weltbürgerin und Song-Contest-Siegerin auch als stolze Österreicherin. Angesichts einer rot-weiß-roten Flagge auf dem Wiener Hotel Imperial wird ihr klar: „Österreich aber ist und bleibt meine Heimat – und das ist gut so.“ Irgendwie war die witzige Frau Wurst von früher unterhaltsamer. C h risto p h e r W urmdobl e r
Beschnüffeln, Gezwitscher und Blendgranaten Lebenskunst: Alexander von Schönburg führt unterhaltsam in die verlorengegangene Kulturtechnik des Smalltalks ein uss ein Buch über Smalltalk seicht M sein? Mitnichten, wie die Erläuterungen zur „Kunst des stilvollen Mitredens“
von Alexander von Schönburg beweisen. Die Kulturtechnik des Smalltalks hat im deutschsprachigen Raum einen schlechten Ruf. Das liege auch, meint von Schönburg, an der Marginalisierung der alten Eliten durch Revolutionen und Weltkriege. Im Zeitalter der Ich-AGs und Selfies wird Smalltalk oft missverstanden als Forum der Selbstdarstellung. Dabei besteht seine Geheimwaffe in deren krassem Gegensatz, dem Zuhören. Smalltalk hat stets mit Nichtigkeiten zu begin-
nen, unerlässlich für das gegenseitige Beschnüffeln. „Smalltalk ist ein Spiel. Es lebt vom Hin und Her. Alles, was man sagt, muss Raum für Gegenrede bieten.“ Smalltalk gleicht Vogelgezwitscher. Es geht nicht so sehr darum, was man sagt, sondern wie man es rüberbringt. Die größten Tabus stellen dabei Rechthaberei, Klugscheißerei und Moralisieren dar. Und der größte Feind des gelungenen Gesprächs ohne Tiefgang heißt Langeweile. Das Gegengift: die zugespitzte These, der spielerische Widerspruch. Und Lockerheit. „Be cheeky. And don’t try too hard.“ Diesen Tipp will der Autor, der für Vanity Fair, Vogue, aber auch für die FAZ geschrieben hat und seit 2009 Mitglied der Bild-Chefredaktion ist, von Stilikone Paris Hilton erhalten haben, als er unsicher auf einer Hollywood-Party weilte.
Der Spross aus altem Adelshaus gehört nicht nur durch seine Schwestern Gloria von Thurn und Taxis und Maya Flick zum internationalen Jetset, befand sich bereits als Jugendlicher auf Segeltörns mit Größen wie Henry Kissinger und fuhr mit Marion Dönhoff Porsche. Smalltalk verträgt ein gerüttelt Maß an Namedropping und Snobismus, keinesfalls aber übereifrige Zustimmung und Begeisterung, übertriebenes Lächeln, Hektik und Unsicherheit. Die Welt sei zu komplex geworden, um zu irgendetwas eine fundierte Meinung zu haben, meint der Autor. Vereinfachung stelle deswegen ein probates Mittel dar, mit der Komplexität und den Ungereimtheiten unseres Lebens umzugehen – und über die wichtigsten Themen der Jetztzeit mitreden zu können. Deswegen liefert von Schönburg Hintergrundinfos über den Stand von Debatten, die unerlässlich sind, um sich einmischen zu können – aber auch, um nicht in Fettnäpfchen zu treten, was im Zeitalter der Political Correctness nicht eben leichter geworden ist. (Für diese gilt übrigens: „Sie eifrig zu verteidigen ist genauso spießig, wie dagegen zu wettern.“) Dabei unterscheidet er zwischen Pauschalthemen, bei denen jeder etwas vermelden können muss, Jokerthemen, die durch Überraschung und Abwegigkeit punkten, und Chloroformthemen, die einlullen und Einhelligkeit herstellen. Zu Ersteren zählen etwa die haarige Genderdebatte, Fuß-
ball, Internet, Kapitalismus, moderne Kunst (besser, man redet über den Kunstmarkt!) oder Prominente. Jokerthemen gleichen Stinkbomben oder Blendgranaten, die Verwirrung stiften oder den Abgang einleiten können, wie Sex, Zeit, Buddhismus, Gottesteilchen bzw. Quantenphysik. Die amerikanische Außenpolitik, die Apoka-
Alexander von Schönburg: Smalltalk. Die Kunst des stilvollen Mitredens. Rowohlt, 320 S., € 16,50
lypse, das FAZ-Feuilleton, Fernsehserien, New York oder Quentin Tarantino eignen sich hingegen gut, um Konsens herzustellen. Manche Themen, wie Homosexualität, können auch in alle drei Kategorien fallen, je nachdem, „mit wie viel Nonkonformismus man sie zu würzen entschlossen ist“. Und der gehobene Plauderer sollte auf jeden Fall etwas über Luxushotels, die Jagd oder Pferderennen von sich geben können. Unbedingt aussparen sollte man auf Partys oder Events: Verdauung, Gesundheit, Beruf, Sternzeichen, Kinder und Witze. Und zum Savoir vivre gehört es, beim Essen nicht über das Essen zu reden. Da Alexander von Schönburg Smalltalk naturgemäß aus dem Effeff beherrscht, versteht er es auch, mit diesem Buch nicht zu langweilen. Anekdoten und Schoten aus seinem Leben sowie kleine Spitzen gegen gängige Meinungen würzen diese Ode an Lebensqualität, Lebensfreude und Liebenswürdigkeit. Nur in einem gibt sich der Autor wohl zu optimistisch: dass man Esprit lernen kann. K irstin B r e it e n f e lln e r
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Essen im Zeitalter religiöser Bedrängnis Auch bei Kochbüchern überwiegen Sekten, Fanatiker, Missionare. Noch aber gibt es Stimmen der Vernunft …
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e mehr sich unserer Kontrolle entzieht, desto mehr wollen wir bei dem, was wir selbst unter Kontrolle zu haben meinen, alles richtig machen. Die Moral der Welt ist im Arsch, aber wenigstens essen wollen wir richtig. Weil dieses Argument selbstverstärkend wirkt, folgt als nächster Schluss: Nur indem wir uns selbst verändern, verändern wir die Welt. Geht man nach dem Angebot der Verlage, ist die Debatte schon entschieden. Als gereifter Beobachter weiß man allerdings um die temporäre Natur solcher Entscheidungen. Für kurze Zeit war dennoch zu befürchten, diese Seite müsste leer bleiben, wollte sie auf vegane und diätetische Neuerscheinungen verzichten. Ganz so weit kam es nicht, aber kaum ein Verlag verzichtet auf Derartiges. Die klassische KochbuchIdee, den Stand der Spitzenküche abzubilden und damit Modelle für die Durchschnittsküche zu schaffen, befindet sich auf dem Rückzug. Es dominieren glutenfreies Mehl, wohlmeinende Herd-Wüteriche wie Björn Moschinski oder Virtuosen der Marketingpoesie wie Attila Hildmann (Vegan für Fun, Vegan for Fit, Vegan for Free – nein, das denn doch nicht). Gleich wird man sentimental und sehnt sich nach dem guten alten Kochbuch. In ungebrochener Form kann es so etwas na-
turgemäß nicht mehr geben. Patrick Allénos Riesenwerk Französische Küche reflektiert den Stand der Kochbuchdinge bereits durch seine Anmutung. Dieses Monument eines Kochbuchs sprengt jede Dimension und zeigt so, dass es sich weder in ein Regal noch in ein Klischee fügen will. Beinahe 800 Seiten, 500 Rezepte, 1500 Bilder, Format 37,5 × 28 × 6,5 cm. In einem fünf Millimeter starken Schuber liegt ein Band mit weichem Umschlag – das einzige Entgegenkommen, was seine mögliche Handhabung in der Küche anbelangt. Der Dreisternekoch Alléno bietet nicht alles, was die zeitgemäße Küche beinhaltet. Von molekularen Rezepten nimmt er Abstand, aber ohne Kombidämpfer, Thermomix, Pacojet & Co kommt er nicht aus. Allénos Gerichte nehmen keine Rücksicht auf die Möglichkeiten des Amateurs. Trotzdem kann dieser aus beinahe jedem Gericht die eine oder andere Komponente übernehmen. Ein Buch, um sich weiterzubilden. Wenn Sie bei der Erwähnung von Kombidämpfer, Thermomix und Pacojet gestutzt haben, sollten Sie vielleicht Der gastrosexuelle Mann lesen. Der Radiojournalist Carsten Otte zeigt, dass „gastrosexuell“ mehr
Paul Ivic: Vegetarische Sommerküche. Brandstätter 176 S., € 25,–
Katharina Seiser: Immer schön vegan. Brandstätter, 176 S., € 25,–
bedeutet als den arbeitsreichen Versuch, mittels Kochen Frauen zu verführen und Freunde zu beeindrucken. Otte durchstreift die gesamte Palette gehobener Lebensmittelzulieferer und erklärt, welch ausgefallene Geräte der Kochfreak benötigt. Auch Otte schlägt das Thema „Was können, was dürfen, was sollen wir essen?“ an. Selbst Tofu hat einen ökologischen Fußabdruck. „Orientierung im Dschungel der Ernährungsideologien“ versprechen Hanni Rützler und Wolfgang Reiter in ihrem Band Muss denn essen Sünde sein? Natürlich nicht, und die Verneinung dieser Frage geschieht hier durchaus reflektiert. Orthorexie lautet das Wort für die rechtgläubige Sucht, korrekt zu essen. Industriepropaganda, Handelswerbung und der Drang des Individuums, sich bei realer Deklassierung moralische Überlegenheit zu verschaffen, wirken unschön zusammen. Nicht nur das Chlorhuhn, schreiben Rützler/Reiter, wird mit Chlor desinfiziert, auch die Tränken von Biorindern und -schweinen in Europa. Augenmaß und Distanz sind nirgends ganz schlechte Ratgeber, das gilt auch für Lebensmittelmoden. Martina Salomons schlankes Plädoyer für Abkühlung Iss oder stirb (nicht)! schlägt in dieselbe Kerbe wie jenes von Rützer/Reiter. „Einen einzigen Expertenrat hört man aber viel zu wenig oft: Legen Sie die neurotische Essensfixierung ab und vergessen Sie alle Ratschläge.“ Hugh Fearnley Vielleicht nicht Hyperaufklärerisch, aber als Whittingstall: kurzfristiges Rezept empfehlenswert. light & easy, AT Die Zukunft des Essens – wer käme dabei an
Hervé This vorbei? Der legendäre französischer Chemiker und Begründer der Molekularküche hat, unerschrocken vom Trend zum Rohen und in die Steinzeit, mit ote-by-Note Cooking ein neues Buch vorN gelegt, das „The Future of Food“ (Untertitel) aus einem etwas anderen Blickwinkel zeichnet. Kochen ist Chemie, sagt This, und wenn wir schon mit Substanzen agieren, die Geschmack, Konsistenz, Geruch und Form hervorbringen, warum sollten wir uns dann mit dem reduzierten chemischen Areal des Schneidens, Reibens, Rührens, Brutzelns und Mixens begnügen? Das ist alles sehr reflektiert und charmant und wird gekrönt durch einige Rezepte aus der modernen Molekularküche. Am anderen Ende der Skala rangiert aleo, ein Buch der Steinzeitdiät. Man sieht P das Autorenduo gut gelaunt in Funktionskleidung Bäche überspringen. Gekocht werden paläolithische Dinge wie asiatischer Blumenkohlreis. Ich sehe den Steinzeitmenschen vor mir, wie er die Küchenma-
Nico Richter, Michaela Schneider: Paleo. Power Every Day. Christian, 224 S., € 30,90
Willi Klinger: Familienküche. Brandstätter, 208 S., € 29,90
Verlag. 416 S., € 25,60
Yannick Alléno: Die französische Küche. Matthaes, 782 S., € 132,90 Christine Saahs: Das Wachau Kochbuch. Brandstätter, 176 S., € 29,90
Hervé This: Note-by-Note Cooking. Columbia University Press, 256 S., € 26,20
schine anwirft (im Rezept gefordert), das Ganze mit Kokosöl anbrät und mit Fischsauce und Korianderpulver würzt. Auch Hugh Fearnley-Whittingstall markiert das andere Ende der Skala. Aber der englischen Kochjournalist mit dem appetitanregenden Namen und dem Restaurant River Cottage in Devon erfreut durch Schlichtheit und Machbarkeit. Sein Werk light & easy kommt ohne Milchprodukte und ohne Weizen aus, ist also partiell veganistisch korrekt, schrickt aber vor Huhn und Schwein (in geringen Dosen) nicht zurück. Selbst der Brandstätter Verlag kommt am Thema Vegan nicht vorbei. Immerhin löst Kochbuchautorin und Foodbloggerin Katharina Seiser die Sache elegant und präsentiert in Immer schon vegan Rezepte aus aller Welt, die es schon gab, ehe das sanfte Killerschlagwort „vegan“ aufkam. Wie macht das der Brandstätter?, fragt man
sich angesichts der Kochbuch-Produktivität dieses Hauses. Müssen wir uns Sorgen machen? Andererseits: Den Zgonc gibt’s auch noch immer. Brandstätter-Kochbücher sind gut gemacht und vor allem auch inhaltlich motiviert. Das Wachau-Kochbuch bräuchte man vielleicht nicht ganz so dringend, aber die Idee, es Christine Saahs schreiben zu lassen, lässt die Sache anders aussehen. Die Demeter-Weinbäuerin der ersten Stunde exportiert ihren Qualitätswein in alle Welt und führt den beeindruckenden Nikolaihof, Österreichs ältestes Weingut. Herausgekommen ist ein schönes, mit Wachauer Anekdoten unterlegtes Buch, das beinahe jeden Klassiker, vom Backhendl bis zum Fischgulasch, auch in der Wachau lokalisiert. Oder wer braucht so etwas wie Vegetarische Sommerküche? Wenn der Autor jedoch Paul Ivic heißt und Inhaber und Koch des vielgerühmten vegetarischen Wiener Lokals Tian ist, denken wir darüber noch einmal nach. Natürlich werden wir belohnt, sei es mit leckeren Pilzburgern oder nur damit, dass einem der gute alte Reisauflauf als Nachspeise wieder einmal begegnet. Den hat der Autor zu Gründungszeiten des Falter manchmal für das Team gekocht. Und wer braucht ein Buch namens Familienküche, präsentiert vom Geschäftsführer der Weinmarketinggesellschaft? Jeder, wenn er draufkommt, dass die Rezepte aus dem Wirtshaus Klinger stammen, dem Stammlokal Thomas Bernhards in Oberösterreich. Altmodisch lecker das alles, und das Rezept für die Kalbsbrust passt. Es kommt eben bei allem auf den Blickwinkel an, nicht zuletzt beim Geschmack. A r min t h u r n h e r
Martina Salomon: Iss oder stirb (nicht)! Styria‚ 56 S., € 7,50
H. Rützler, W. Reiter: Muss denn Essen Sünde sein? Brandstätter, 182 S., € 19,90
Carsten Otte: Der gastro sexuelle Mann. Campus, 256 S., € 25,70
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Künstler zu „Ideen brauchen Raum” / Constantin Luser, Gucˇa, 2014