FALTER Bücherfrühling 2014

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FALTER

Bücher-Frühling 2014 80 Bücher auf 48 Seiten

Nr. 11a/14

ILLUSTR ATION: DANIEL MATZENBACHER

1914–2014: Karl Kraus, Weltkriegsprosa +++ Paargeschichten: Reza, Glattauer +++ Romane: Fian, Reitzer, Roßbacher Immer gut: Canetti, Nathanael West +++ Verlagsporträt: Matthes & Seitz Berlin +++ Freiheit: Kann man zu viel davon haben? +++ Pop: zwei Monumentalgeschichten +++ Weitere Themen: Generation Y, Arschlöcher, Scharfrichter etc. Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2440/2014


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10.03.2014 12:18:27 Uhr


i n h a l t    Illustrationen

Editorial

Dennis Lehane

Liebe Leserin, lieber Leser! Im Frühjahr keimt und sprießt es. Nicht immer nur das Schöne: Der Literaturteil des Bücherfrühlings setzt ein mit einem Schwerpunkt zum Ersten Weltkrieg. Und auch der Fokus auf Paargeschichten bringt wenig Idyllisches ans Licht. Umso tröstlicher und wichtiger: Unter den Neuerscheinungen finden sich einige verdammt gute Bücher. Der Verlag Matthes & Seitz Berlin, dem der Sachbuchteil den Aufmacher widmet, hat sich u.a. dem Verhältnis von Mensch und Natur verschrieben. Seine auch optisch und haptisch schönen Bücher lassen den Unterschied zwischen Sachbuch und Literatur verschwimmen. Weitere Themen: Freiheit, Max Weber, Geschichte des Pop und der (Frühlings-)Wind ...

Daniel Matzenbacher, Jg. 1955, laut Eigendefinition „einer dieser spät quereingestiegenen Autodidakten“, liebt digitale Collagen, die nicht computergeneriert, sondern aus Fundstücken zusammengesetzt sind

Literatur Aichner, Bernhard   15 Ahava, Selja   24 Andersch, Alfred   27 Kraus, Karl   4 Barker, Pat   7 Bernhard, Thomas   21 Canetti, Elias   22 Echenoz, Jean   8

Elmiger, Dorothee   20 Ferk, Janko   8 Fian, Antonio   11 Frisch, Max   27 Glattauer, Daniel   18 Gombrowicz, Witold  27 Goubran, Alfred   10 Hawthorne, Nathaniel  19 Hawthorne, Sophia   19 Helfer, Monika   18 Klüssendorf, Angelika  26 Laher, Ludwig   13 Matz, Wolfgang   17

K IR STIN BR EITENFELLNER S eb a sti a n f a sth u ber

Mosebach, Martin   20 Puganigg, Ingrid   18 Reitzer, Angelika   12 Reza, Yasmina   16 Roßbacher, Verena   14 Schimmelbusch, Alexander   21 Sfar, Joann   26 StaniŠić, SaŠa   25 Steinfest, Heinrich   24 Winder, Ludwig   9 West, Nathanael   23 Zimmermann, Peter   10

Liter atur

„Die letzten Tage der Menschheit“: Franz Schuh und Armin Thurnher über Karl Kraus – und was man von ihm lernen kann Weltkriegsprosa I: „Tobys Zimmer“ von Pat Barker Weltkriegsprosa II: Ziemlich schlanke Romane zum Thema von Jean Echenoz und Janko Ferk Weltkriegsprosa III: Ludwig Winders „Der Thronfolger“ Alfred Goubran reist „Durch die Zeit in meinem Zimmer“ Peter Zimmermann verweigert in „Stille“ Klarheit Antonio Fian verliert die Kontrolle: „Polykrates-Syndrom“ Angelika Reitzers „Wir Erben“: ein Roman in zwei Teilen Ludwig Laher spricht einen NS-Verbrecher posthum schuldig Verena Roßbacher schreibt in „ Schwätzen und Schlachten“

über zwei schlaffe Typen und tendiert zum Schwätzen

Bernhard Aichner will mit einem Thriller groß rauskommen Yasmin Reza beweist mit dem Episodenroman „Glücklich die Glücklichen“, dass sie fast alles über Paare weiß Wolfgang Matz spürt der „Kunst des Ehebruchs“ nach Daniel Glattauer macht in „Die Wunderübung“, was er kann Monika Helfer und Ingrid Puganigg suchen noch ihr Thema Sophia und Nathaniel Hawthorne haben ein gemeinsames

Tagebuch über ihr Leben als frühe Bio-Bobos verfasst Martin Mosebach lädt zum „Blutbuchenfest“, Doderer steht auf der Gästeliste ganz oben Dorothee Elmiger beweist mit „Schlafgänger“ Fantasie Thomas-Bernhard-Festspiele mit einem Roman von Alexander Schimmelbusch und einem neuen Mahler-Band Elias Canetti war der Todfeind: „Das Buch gegen den Tod“ Nathanael West in neuer Übersetzung Heinrich Steinfest ist der sprachoriginelle „Allesforscher“ Selja Ahavas „Der Tag, an dem ein Wal durch London ...“ Saša Stanišić meldet sich mit „Vor dem Fest“ zurück Angelika Klüssendorf erzählt vom Mädchen „April“ Joann Sfar zeichnet originelle „Vampir“-Geschichten Berliner Notizen von Max Frisch und anderen

Sachbuch Bruckmaier, Karl  41 Bund, Kerstin   40 Cartier, Stephan  45 Diederichsen, D.   41 Ferreira, Pedro  37 Gauß, Karl-Markus   46 Goldstein, Jürgen   31 Greiner, Ulrich   43 Harrington, Joel F.  44 Harrison, Lorraine   30 Heilmann, Julia   42

Herzog, Lisa   32 James, Aaron   43 Jeges, Oliver   40 Kaesler, Dirk   38 Kaube, Jürgen   38 Klages, Ludwig   30 Ladurner, Ulrich   33 Leonhard, Jörn  39 Lethen, Helmut   36 Lindemann, Thomas   42 Maaz, Hans-Joachim   42 Mainzer, Klaus   37 Menschik, Kat   30

Person, Jutta   31 Pollack, Martin   34

Foto: Gaby Gerster © Diogenes Verlag

Besprochene Autoren

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Raffles, Hugh   31 Renn, Ortwin   35 Salecl, Renata   32 Schroeder, Renée   35 Schwarz, Egon   39 Sezgin, Hilal   45 Shore, Marci   34

Der neue Roman vom Autor von Mystic River und Shutter Island

Strasser, Peter   46 Teschke, Holger   31

Sachbuch

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Verlagsporträt Matthes & Seitz Berlin macht die derzeit

schönsten (Sach-)Bücher

28–31

Ökologie Ludwig Klages’ wieder aufgelegter Grundlagentext  30 Garten Zwei neue Bücher, eine Graphic Novel und ein Lexikon  30 Reihenporträt Die „Naturkunden“ von Matthes & Seitz sind

informativ, unterhaltsam und einfach schön  31 Philosophie Haben wir zu viel oder zu wenig Freiheit?  32 Geografie Lampedusa – eine Insel von trauriger Berühmtheit  33 Osteuropa Martin Pollack bereist kontaminierte Landschaften  34 Osteuropa Marci Shore über das Nachleben des Totalitarismus  34 Weltrettung I Vor welchen Risiken sollen wir uns fürchten?  35 Weltrettung II Lob der Bildung und Warnung vor der Kirche  35 Ikonografie Helmut Lethen über die Wirksamkeit der Bilder  36 Mathematik Ist Big Data gut oder böse?  37 Physik Eine Hymne auf die Geschichte der Relativitätstheorie  37 150. Geburtstag von Max Weber Jürgen Kaube und  38 Dirk Kaesler legen Biografien des großen Soziologen vor Geschichte Noch eine Geschichte des Ersten Weltkriegs? Jörn Leonhards „Büchse der Pandora“ muss man gelesen haben!  39 Geschichte Egon Schwarz kennt das Wiener Fin de Siècle und die Rolle der Juden darin wie kein Zweiter  39 Generationen Die nach 1980 Geborenen bekommt Labels  40 Pop Zwei Monumentalgeschichten  41 Psychologie Hans-Joachim Maaz erklärt die Psychotherapie  42 Pädagogik Plädoyer gegen blöde Elternsprüche  42 Soziologie Alles über Arschlöcher  43 Kulturgeschichte Woher rührt der Schamverlust?  43 Geschichte Eine grandiose Biografie über einen Scharfrichter  44 Tierrechte Hilal Sezgin wider die Gewalt an Tieren  45 Kulturgeschichte Alles über den Wind  46 Essay Neues von Peter Strasser und Karl-Markus Gauß  46 Kochen Neue Kochbücher für den Frühling  47

Dennis Lehane In der Nacht Roman · Diogenes

592 Seiten, Leinen, € (A) 23.60 Auch als Diogenes E-Book

Amerika während der Prohibition. Joe Coughlin, ein kleiner Handlanger des Syndikats in Boston, steigt in Florida zum mächtigsten Rum-Schmuggler seiner Zeit auf. Und setzt sein Leben aufs Spiel – aus Liebe zu einer Frau. Ein atemloses, literarisches Gangster-Epos. Zum Buchtrailer

Impressum Falter 11a/14 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Sebastian Fasthuber Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H., Layout: Barbara Blaha, Reini Hackl; Korrektur: Helmut Gutbrunner, Patrick Sabbagh, Rainer Sigl Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau. DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 MG ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar. Bücher-Frühling ist eine entgeltliche Einschaltung aufgrund einer Subvention durch das

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liter atur

Immer noch die letzten Tage O

b sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs gerade zum 100. Mal jährt oder auch in praktisch jeder anderen Lage: Um das, was Karl Kraus geschrieben hat, kommt man praktisch nicht herum. Bei Jung und Jung sind gerade „Die ­letzten Tage der Menschheit“, nach seiner Zeitschrift Die Fackel wohl Kraus’ zweitwichtigstes Werk, mit einem Nachwort von Franz Schuh erschienen. Aus diesem Anlass sprach der Essayist mit Armin Thurnher über die Bedeutung von Karl Kraus damals und heute.

Falter: Was kann man als Autor von Karl Kraus lernen? Franz Schuh: Man kann von Kraus alles und nichts lernen. Alles heißt: Man kann durch sein Werk die Sprache kennen lernen. Sowohl Ästhetisches als auch Intellektuelles ist in der Sprache selbstverständlich enthalten. Man kann es ihr entnehmen, wenn man in der Lage ist, sie zu bedenken. Zugleich hat Kraus vor Augen geführt, dass die Verletzung der Sprache eine Verletzung der menschenmöglichen Moral ist. Im Sprachdenken kommt zur Logik und zur Ästhetik noch die Ethik hinzu. Bestimmte Sprechweisen, das lernt man von Kraus, sind bestimmte Handlungsweisen. Die Differenz zwischen Reden und Handeln ist nur vorläufig. Am Ende werden sie so handeln, wie sie sprechen. Das zeigt die Fackel, das zeigt Kraus’ Werk. Armin Thurnher: Vielleicht sollte man zwei Dinge ergänzen. Das eine ist das Prozesshafte im Kraus’schen Sprachgebrauch – dass er immer auch ein Verfahren durchführt und über jemanden zu Gericht sitzt. Das andere ist mit großer Vorsicht zu genießen, macht aber Karl Kraus sehr faszinierend – sich der Sprache auszuliefern. Er hat es so ausgedrückt: „Ich beherrsche die Sprache nicht; aber die Sprache beherrscht mich vollkommen.“ Was man von ihm lernen kann, ist nicht, ihn nachzuahmen, sondern das eigene Sprachgewissen zu verfeinern. Schuh: Man kann nichts von ihm lernen – damit meinte ich die Versuchung, ihn nachzuahmen. Es gilt ja für alle Großen in der Literatur: Durch die Begeisterung, die sie auslösen, hat man das Gefühl, dass es überhaupt nicht anders geht, als die das machen. Bei Kraus entsteht für den leidenschaftlichen Leser eine charakteristische Doppelbindung: Einerseits hat man das Gefühl, so klingt das einzig Wahre. Und zugleich ist Kraus der, von dem man weiß, dass er sich den Ton verbittet: Er gehört ihm allein.

Wichtig für Kraus ist ja der Begriff Persönlichkeit. Schuh: Kraus war ein Anhänger des Persönlichkeitsideals. Die eigene Persönlichkeit (heutzutage neigt jede eigene Persönlichkeit zum Zerfall, zur Auflösung in heterogene Rollen) ist am Ende das, was im Kampf gegen die Scheinpersönlichkeiten zählt. Zur Nachahmung nicht empfohlen: „Nichts trostloser als seine Adepten“, hat Walter Benjamin über Kraus gesagt, „nichts gottverlassener als seine Gegner.“ Diesem Aphorismus kann man eines ablesen: Die

Auseinandersetzung mit Kraus ist kein Spiel, sie hat eine Härte, bei der vieles auf dem Spiel steht. Er ist kein Autor, bei dem man gefahrlos in die Schule gehen kann, er ist einer, bei dem man viel verlernen und verspielen kann – einschließlich der eigenen Persönlichkeit. Thurnher: Das Anziehende an ihm und seiner Persönlichkeit ist, dass er sie hat und gleichzeitig mit ihr spielt wie ein Schauspieler. Von ihm stammt der Satz: „Was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst.“ Weiters macht ihn seine genaue Fähigkeit des Hörens unglaublich attraktiv. Er konnte Dinge so erfinden, als hätte jemand anderer sie wirklich so gesagt, vielleicht sogar besser. Diese Genauigkeit regt zum Nachäffen an, auf das man sich allerdings nicht einlassen darf.

Zur Person

Karl Kraus Geboren 1874 in Jičín, Böhmen. Publizist und Schriftsteller, einer der bedeutendsten Sprach- und Kulturkritiker, Satiriker und Essayisten, Aphoristiker und Dichter deutscher Sprache. 1899 gründete er die Sie haben beide von Kraus gelernt. Wie Zeitschrift Die Fackel. entgeht man der Gefahr, zu einem Kraus„Die letzten Tage der Jünger zu werden? Menschheit“ sind in Schuh: Jüngerschaft ist etwas Verdammens- den Jahren 1915 bis wertes, weil sie ja impliziert, der Jünger be- 1922 als Reaktion auf käme für sein Treiben den Segen seines den Ersten Weltkrieg Herrn. In dieser Darstellung zeigt sich eines entstanden. Kraus der neurotisierenden Probleme: Man neigt starb 1936 in Wien

Kraus gegenüber entweder zur Unterwürfigkeit, die man kompensiert, indem man ihn nachahmt. Oder man zieht gleich die bloße Unterwürfigkeit vor und wagt nicht einmal mehr die Imitation. Oder man wird in einer Art und Weise vom Original abhängig, die man selber nicht durchschaut. Sollte das in meinem Schreiben der Fall sein, muss ich auf die Liste der Verdammten! Thurnher: Ich kann für mich in Anspruch nehmen, dass mich Franz Schuh früh genug explizit gewarnt hat: Man müsse die Schule des Karl Kraus durchlaufen, dürfe sie aber keinesfalls als dessen Jünger verlassen. Ich war zum Teil gefährdet. Kraus hatte seine Jünger, die er durchaus nicht von sich gewiesen hat. Und er hatte einen manichäischen Gestus, jene einzugemeinden, die mit ihm übereinstimmten, und jene, die er zurückwies, so abzuweisen, dass sie im schlimmsten Fall vernichtet waren. Schuh: Kraus hatte aber nicht nur Feinde, die Idioten waren. „Lange vor den Diktatoren“, schrieb Robert Musil, „hat unsere Zeit die geistige Diktatorenverehrung hergebracht“, und er nannte Karl Kraus namentlich. Es war erkennbar: Wenn man das gefährliche Spiel und diese Spracherotik, die man von Kraus lernen kann, mit einer bestimmten Haltung verbindet, gerät man schnell ins Angeführtwerden. Kraus schrieb in einer Tradition des Triumphes, die er zum Großteil selbst erfunden hat – in der der polemischen Satire. Er beherrschte auch die rosa Satire, aber seine Stärke war die schwarze. Ich verstehe unter Polemik die Kunst, einen Gegenstand, einen Menschen zu definieren, indem man ihn total ablehnt. Bei einer phänomenologischen Meditation ist das Urteil sekundär. Bei der Polemik wird das Urteil zur Hauptsache, ohne dass dabei das analytische Potenzial des Denkens (zum Beispiel durch Wutanfälle) aufgegeben würde. Thurnher: Ich glaube, dass dieses begründete Urteilen von seinen Vorlesungen und

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit: Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franz Schuh. Jung und Jung, 800 S., € 28,–

von seinem Theater der Dichtung schwer zu trennen ist. Man macht sich heute kaum einen Begriff von der Bedeutung, die Karl Kraus damals literarisch hatte. Aus gegenwärtiger Perspektive würde man ihn eher als Randerscheinung bezeichnen. Zu seinen Lebzeiten war er für die literarische Welt eine zentrale Figur – nicht nur in Wien, sondern in Europa. Und zwar nicht nur wegen der Fackel, sondern auch wegen seiner Vorlesungen. Er knüpfte mit seinem Bekenntnis zu einem deklamatorischen Pathos an die Tradition des alten Burgtheaters an. Auch die Modernisten der Zeit hat das ergriffen. Nach übereinstimmendem Zeugnis von Canetti, Adorno, Broch oder Schönberg kam da eine Kraft herüber, der man fast wehrlos ausgeliefert war. Schuh: Die Menschen zu seinen Lebzeiten waren stets damit konfrontiert, dass etwas Überraschendes von ihm kam. Sie haben ja nicht wissen können, was in der nächsten Fackel drinstand. Aus der Berechenbarkeit der „Marke“ und aus ihrem eingespielten Überraschungspotenzial entstand eine Erwartung, eine Spannung, die heute Geschichte ist. Darum können wir uns relativ leicht distanzieren. Die Fackel ist ein Teil unseres Kulturguts, damals war sie eine schmerzhafte Spitze gegen die Kultur. Wobei „schmerzhaft“ auch Gefahr bedeutet. Canetti hat es beschrieben, wie diese Vorlesungen Hetzmeuten produziert haben. Heute ist es dieser widerwärtige Journalismus, der täglich irgendeine andere – um es widerwärtig journalistisch zu sagen – Sau durchs Dorf treibt. Das ist in den Angriffen der Fackel auch passiert, allerdings auf einem unerreichbaren ästhetischen (und auf einem nachvollziehbaren moralischen) Niveau. Thurnher: Hetzmeuten waren eine Zeiterscheinung. Zum Beispiel hat auch Anton Kuh in seinem polemischen Vortrag gegen Kraus eine Hetzmeute mobilisiert. Vorlesungen waren damals, in Abwesenheit der technischen Medien von heute, ein ganz anders wirksames Medium. Kraus hat dieses Genre wie kein anderer beherrscht. Ich kenne keinen anderen Schriftsteller, der eine so zentrale Wichtigkeit für die damalige Zeit gehabt hätte wie er. Schuh: Man darf nicht vergessen, dass diese Wichtigkeit durch eine Gegenmaßnahme relativiert wurde – durch das sogenannte Totschweigen. Viele der Artikel, die in der Presse zu lesen waren, handelten von Kraus, ohne dass er vorkam. Er schuf einen Horizont, in dem seine Feinde sich selbst verteidigten, ohne den Angreifer zu nennen. Das ist eine satirische Meisterleistung. Die berühmte Rede von Anton Kuh gehört zum Jämmerlichsten, was die österreichische Intelligenz je hervorgebracht hat. Sie war die Reaktion eines Menschen, der für die Drecksblätter arbeitete, und der das, um sich selbst zu retten, mit allen Mitteln verteidigt hat. Thurnher: Diese Békessy-Zeitungen wurden damals als Zeichen des Modernismus genommen. Schuh: Waren sie auch. Fortsetzung auf Seite 6

F o t o : A P A / T r u d e F l e i s c h m a n n / W r . S t a d t - u . La n d e s b i b l i o t h e k

Franz Schuh und Armin Thurnher im Gespräch über Karl Kraus – und wie man mit seinem Werk umgehen soll


Illustr ation: daniel matzenbacher

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Fortsetzung von Seite 4 Thurnher: Ähnlich wie die Fellner’schen Il-

lustrierten, die in Österreich ebenfalls als Zeichen der Modernität empfangen wurden. Man hat versucht, die moralischen Einwände von Kraus gegen diese Publizistik als altmodisch hinzustellen. Diese Auseinandersetzung ist von erstaunlicher Aktualität. Schon Jahre vor dem Auftreten des Imre Békessy in Wien prägt Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ den Begriff des Revolverjournalisten und schildert erpresserische Praktiken, die später tatsächlich angewendet wurden. Schuh: Kraus war ein radikaler Gegner des Liberalismus, auch weil der Liberalismus die Kommerzialisierung der öffentlichen

„Niemand ist immer so hellwach wie der Dichter in seiner besten Form. Du stützt dich auf die Phrase“

Kommunikation eingeführt hat: Sprache und Sprechen müssen Geld bringen. Das war für Kraus einer der Gründe, den Liberalismus zu hassen. Das Werden der Sprache zur Ware war eine der großen Fronten, an denen er gekämpft und siegreich verloren hat. Verloren, denn dieser ganze Mist, gegen den sich niemand wehren kann, blüht und blüht. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen durch diese Ausgeburten „Die letzten Tage der Menschheit“ hindurchscheinen. Thurnher: Was ich als Publizist an dem Modell Fackel interessant finde, ist weniger, dass es möglich wurde, weil Kraus aus reichem Hause kam, sondern dass er sich Inseraten verweigert hat. Er hat auch zu seiner Leserschaft eine besondere Beziehung unterhalten und sich herausgenommen, wenn zum Beispiel eine Leserin einen besonders hassenswerten Brief über Rosa Luxemburg geschrieben hat, ihr das Abonnement zu entziehen. Was eine ganz vernünftige Überlegung, aber unter heutigen Verhältnissen fast undenkbar ist. Ich würde mir ganz gerne leisten können, verschiedenen Leuten auch den digitalen Zugang zum Medium entziehen zu können. Wie geht man mit einer Erscheinung wie Karl Kraus nach seinem Tod um? Vieles an ihm wirkt aus heutiger Sicht doch sehr fremd. Schuh: Man hat mit Kraus gemacht, was man mit allen anderen auch macht: Den meisten sind sie gleichgültig. Sonst versucht man sich mit der Fremdheit zu verbünden und sich die Fremden anzueignen. Aber das Fremdsein von Kraus heißt nicht, dass er beziehungslos in der geistigen Landschaft herumsteht. Er ist in dieser Einzelheit ein renitenter Spiegel für die anderen. Thurnher: Er ist das publizistisch ganz Andere.

liter atur Schuh: Wir leben in einem Zeitalter der affirmativen Kultur. Die Kultur dient in der Hauptsache dazu, die Beschädigungen und Konflikte in der Politik und der Ökonomie zu verschönern, zu idyllisieren und zum Schein aufzuheben. Für Kraus gilt, dass er keinen tröstlichen Überbau geschaffen hat, sondern dass seine Texte in das Herz der ökonomischen und politischen Dinge trafen. Dort, wo eine Gesellschaft sich selber wehtut, ist seine Polemik anzutreffen. An so einem Ort ein Bollwerk zu errichten und es auch noch Fackel zu nennen, ist eine grandiose Einmaligkeit, die uns fremd ist. Thurnher: Fremd ist auch diese Unbedingtheit des Urteils, die nicht einer Weltanschauung geschuldet ist, sondern sich aus dem jeweiligen Sachverhalt und aus dem jeweiligen Verhalten der Person ergibt. Es kann das Schwert des Urteils über einen herniedergehen, der bisher ein Freund des Hauses war. Das führt dazu, dass die politischen Urteile des Karl Kraus teilweise unnachvollziehbar erscheinen. Er hat über Franz Ferdinand einen freundlichen Nachruf nur deshalb geschrieben, weil dieser nicht auf die journalistischen Schmöcke gehört hätte. Das geht bis zu Dollfuß, den Kraus als letztes Bollwerk gegen Hitler verstanden hat, weil er von den Sozialdemokraten enttäuscht war. Diese Urteile erscheinen uns vollkommen inkonsistent und halten ihn uns auch fremd.

Schuh: Bei einer Inszenierung der „Letz-

ten Tage der Menschheit“ stand dann tatsächlich in einer Zeitung: „Es war ein Bombenerfolg.“

Armin Thurnher rät allen, die mit der Sprache arbeiten, zu Kraus, um „das eigene Sprachgewissen zu verfeinern“

Franz Schuh warnt vor übertriebenem Krausianertum: „Jüngerschaft ist etwas Verdammenswertes“

Bisweilen wurde Kraus auf seine Sprachkritik reduziert. Mir zumindest ist er im Germanistikstudium so vermittelt worden. Schuh: Ja, wir haben eine Welt. Man sieht es, wenn man aus dem Fenster schaut: Unten ist ein indisches Restaurant und wir wissen, was wir im Kopf haben, ist nicht identisch mit der Welt da draußen. Dieses Kopfbild ist ja kein indisches Restaurant. Und doch haben wir die Welt, die wir da draußen sehen, im Kopf. In diesem Kopf ist auch die Sprache. Sie bildet das, was wir von der Welt wissen, mitteilsam in unserem Kopf ab. Sprachkritik heißt bei Kraus nicht Fokussieren auf die Sprache als herausgehobenem Fetisch. Es heißt den Zugang, den wir zur Welt haben, zu erkennen, zu erforschen, zu erproben und mit der Sprache auch was zu machen: Poesie zum Beispiel. Thurnher: Sprachkritik nicht als Sprachpolizei. Schuh: Oder Fetischisierung von Sprache. Wenn man die Fackel liest, geht es mit der Sprache um die Welt. Thurnher: Wobei viele Leute, die als Sprachpolizisten auftreten, sich gerne krausianisch verkleiden. Davor muss gewarnt werden. Kraus’ Sprachkritik enthält ja seine große Kritik der Phrase als eine Verkürzung oder Zurechtrichtung der Welt mithilfe von Sprache. Das ist das Wesen seiner Sprachkritik: dass uns die Presse mit ihren Phrasen die Kraft nimmt, uns vorzustellen, was wirklich die Folgen von Handlungen sind. Wenn etwas einschlägt wie eine Bombe, macht uns das blind für die wirklichen Folgen eines Bombeneinschlags.

Hinter der Phrase versteckt sich nicht unbedingt schlechtes oder schlampiges Deutsch. Können Sie den Begriff, wie Kraus ihn gebrauchte, definieren? Schuh: Wenn sie das berücksichtigen, was ich vorhin über das indische Restaurant „da draußen“ gesagt habe, dann ist die Phrase der am meisten gelungene Versuch, diesen flüssigen Kontakt des Logos mit der Wirklichkeit durch eine gestanzte Formel zu unterbrechen. Die Phrase bietet auch eine Entlastung, sie ermöglicht die Standardisierung der Kommunikation, durch die sie erst richtig kommerziell werden kann. Niemand ist immer so hellwach wie der Dichter in seiner besten Form. Du stützt dich auf die Phrasen im Umlauf. Wenn du Pech hast, unterbrichst du dadurch deinen Kontakt zur Welt überhaupt und beginnst sie – siehe „Die letzten Tage der Menschheit“ – zu zerstören. Erst wenn der Krieg vorüber ist, begreifen viele, dass sie an Phrasen geglaubt haben. Durch die Phrase wird der Blick auf die Welt verbarrikadiert, was umso leichter geht, als unser Blick auf die Welt immer beschränkt ist. Wie schützt man sich als Journalist vor der Phrase? Thurnher: Man muss das Bewusstsein für Prozesse, die ablaufen, wenn man etwas beschreibt, überhaupt einmal erwerben und es immer wieder sensibilisieren. Die Phrase ist

„Es kann das Schwert des Urteils über einen herniedergehen, der bisher ein Freund des Hauses war“

immer die einfachste Lösung. Sich ihr zu widersetzen, darin besteht das kleine Einmaleins jeglichen Schreibens. Damit müsste man an den Universitäten beginnen, wenn man Literatur betrachtet. Die Kunsthalle fragte im Vorjahr anlässlich eines Schwerpunkts: „What would Thomas Bernhard do?“ Wenn man statt Thomas Bernhard Karl Kraus einsetzt, klingt die Frage noch absurder, oder? Schuh: Was mit dieser Frage verbunden ist, ist ein nicht aufgeklärtes Beschwören großer Geister. Passiert bei Bernhardinern und Krausianern. Man soll der Großen gedenken, aber man muss auch bei den Größten zur Kenntnis nehmen, dass sie nicht mehr sind. Wir können sie nicht wieder zum Leben bringen, um zu kommandieren, was sie uns sagen würden. Thurnher: Vor allem erspart man sich dadurch die Frage: Was würde ich selber tun? Die ist doch wahrscheinlich wichtiger. M o d e r a t i o n : S . F a st h u b e r

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Fotos: heribert corn

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Im Krieg lösen sich alle Werte und Ideale auf Kaum ein Autor hat den Ersten Weltkrieg so häufig aufgegriffen wie die Engländerin Pat Barker ach der „Regeneration“-Trilogie N über Englands Dichter des Ersten Weltkriegs und „Life Class“, ei-

nem Roman über dessen Maler, ist „Tobys Zimmer“ Pat Barkers fünftes Buch über die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Ein ironisch-süffisanter Ton ist über die komplizierten Verhältnisse der kleinbürgerlichen Familie Brook gebreitet. Doktor Brook betrügt seine Ehefrau. Die jüngere Tochter Elinor ist Kunststudentin, der Bruder angehender Mediziner, die ältere Schwester Rachel neckt die Jüngeren. Die Unbeschwertheit des Jahres 1912 wird bei einem sommerlichen Morgenspaziergang sogleich von düsteren Symbolismen überlagert: „Saphirblau und smaragdgrün schimmernde Schmeißfliegen klebten an einem Kothaufen mitten auf dem Weg.“ Das im ersten Moment kindisch anmutende Gerangel von Elinor und Toby in einer verlassenen Mühle führt zu einem leidenschaftlichen und irritierenden Kuss. Komplett ist die Verwirrung, als die Schwester in der darauffolgenden Szene in das Zimmer des Bruders kommt und mit diesem schläft. Die inzestuöse Liebe wird zum eigentlichen Antriebsmotor einer Geschichte, in der sich alle herkömmlichen Werte und Identitäten auflösen und neu definiert werden müssen. Den Vordergrund dieses obskuren Geheimnisses stellt Elinors Leben als Studentin an Londons renommierter Slade School of Fine Arts dar. Barker mischt hier Fakten und Fiktion. Elinor Brook und ihre Künstlerfreunde sind nach dem Vorbild von Paul Nash, Dora Carrington und anderen Protagonisten der damals jungen englischen Avantgarde geformt. Elinor besucht einen Anatomiekurs für Kunststudenten – die kommende Verwüstung alles Fleisches durch den Krieg liegt direkt vor Augen; sie ist vom „kittbraunen Fleisch“ der zu sezierenden Leichen fasziniert. Mit dem Malerkollegen und Womanizer Kit Neville unterhält sie eine platonische Beziehung und zieht nachts durch London, bei der Semester-Abschlussfeier lernt sie schließlich Paul Tarrant kennen. Auch er ist Maler – und: „Der Arbeiterakzent aus dem Norden brachte sie etwas aus der Fassung.“ Der zweite Teil, der drei Viertel des Romans ausmacht, spielt 1917. Die Angst um den Bruder, der als Arzt an der Front in Frankreich dient, weicht rasch der schrecklichen Gewissheit: Toby ist gefallen. Die genauen Umstände seines Todes sind nicht bekannt. Ein Paket mit seiner Uniform wird nach Hause geschickt. Elinor breitet den Feldrock des Bruders über dessen Bett und kniet davor nieder. Noch ist der Geruch seines Körpers schwach zu spüren.

Unter dem zerrissenen Innenfutter findet sie eine Seite seines Abschiedsbriefes, in dem Toby erklärte: „Ich komme nicht zurück.“ Elinor, die sich mittlerweile in den Kreisen der Londoner Bloomsbury Group bewegt, sinniert in ihrem Tagebuch über die Bemerkungen von Virginia Woolf – „warum eigentlich Frauen außerhalb politischer Prozesse stehen und der Krieg daher mit ihnen nichts zu tun hat?“. Der Tod des Bruders und der Krieg be-

wirken den entscheidenden Schritt zu ihrer Emanzipation als Frau und Künstlerin. Elinor schneidet sich die Haare ab und beginnt gegen den Tod des Bruders anzumalen: leere Landschaften, in denen immer nur eine Figur am Rande schattenhaft auftaucht. Missbraucht sie, wird sie sich später fragen, den Toten als ihre „Muse“? Es ist Barkers Meisterschaft geschuldet, die Erzählung weder in raunende Nekrophilie noch Dekadenz kippen zu lassen. Ihre Aufmerksamkeit gilt vielmehr dem Horror des Krieges. Elinor kommt auf der Suche nach den wahren Umständen von Tobys Tod in das Queen Mary Hospital in Sidcup, wo sie als „Medizinzeichnerin“ hunderte Kriegsversehrte zu Gesicht bekommt. Unter den Verletzten befindet sich Kit Neville, der seine Nase verloren hat. Er hatte mit Toby an der Front bis zu dessen Tod Kontakt, will allerdings nicht darüber reden. Mittlerweile ist auch Paul Tarrant aus dem Krieg zurückgekehrt, mit dessen Hilfe Elinor schließlich das Geheimnis um den Tod des Bruders lüftet. Kit Neville hatte seinen Vorgesetzten Toby Brook in verfänglicher Umarmung mit einem Pferdeknecht überrascht und das homosexuelle „Vergehen“ gemeldet. Toby, als Militärarzt, in der Truppe eigentlich hoch angesehen, weil er sich leidenschaftlich um die Rettung Verwundeter kümmerte, blieb nur Selbstmord als Ausweg. „Tobys Zimmer“ hat gegenüber allen mittlerweile Usus gewordenen Verdikten über die Undarstellbarkeit der Schrecken des Krieges einen Vorteil. Barker traut sich diese direkt zu erzählen und vertraut dabei ihrer Methode: Realismus, lang erprobt, ohne allen Firlefanz, bisweilen mit kurzen, leicht kitschigen Passagen, meist aber souverän und voller Spannung bis zum Ende. ERICH K LEIN

Pat Barker: Tobys Zimmer. Deutsch von Miriam Mandelkow. Dörlemann, 397 S., € 24,60

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Kürze schützt vor Längen nicht Zwei kurze Romane über den Ersten Weltkrieg, einmal aus der Frosch-, einmal aus Doppeladler-Perspektive

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rankreich braucht kein Gedenkjahr, um sich an den Ersten Weltkrieg zu erinnern. Nirgendwo sonst ist „la Grande Guerre“ ähnlich prominent im kollektiven Gedächtnis verankert, jährliche Siegesparade auf den Champs-Elysées am 11. November und detailreicher Geschichtsunterricht bereits in der Volksschule inklusive. Gar nicht so verwunderlich, hält man sich die Namen der blutigsten Schlachten des Krieges vor Augen: Chemin des Dames, Somme, Verdun – es sind vor allem französische Dörfer und Landstriche, in denen heute endlose Gräberfelder besichtigt werden können. Der „Große Krieg“ war und ist in Frankreich für Generationen von Historikern, Politikern, Journalisten und Künstlern ein Dauerbrenner. „All das ist schon tausendfach beschrieben

worden, vielleicht lohnt es sich gar nicht weiter, sich bei dieser stumpfsinnigen, stinkenden Oper aufzuhalten“, bemerkt folgerichtig der Erzähler in Jean Echenoz’ Weltkriegsroman „14“ angesichts des alltäglichen Grauens in den Schützengräben. „Vielleicht ist es übrigens nicht einmal sehr nützlich oder treffend, den Krieg mit einer Oper zu vergleichen, schon gar nicht, wenn man kein besonderer Freund der Oper ist, obgleich der Krieg wie sie gewaltig ist, atemraubend, exzessiv, voller quälender Längen, wie sie furchtbar viel Lärm macht und auf die Dauer meist auch ziemlich langweilig ist.“ Der so formulierte Widerwille, den Krieg zu beschreiben, hält den Erzähler freilich nicht davon ab, selbst das eine oder andere Kabinettsstück an Beschreibungskunst zu liefern, beispielsweise die verheerenden Folgen eines deutschen Granatentreffers in einem französischen Unterstand, die er seinen Lesern in aller anschaulichen Grausigkeit vor Augen führt. Doch geht es auf den 120 Seiten, die Echenoz für den Weltkrieg übrig hat – womit für quälende Längen kein Platz ist – tatsächlich weniger um das Gemetzel an und für sich. In wenigen Strichen und exemplarischen Episoden, inspiriert durch authentische Korrespondenzen von Kriegsteilnehmern, zeichnet Echenoz die Schicksale von fünf Männern und einer Frau nach, die aus ihren beschaulichen Existenzen in den Strudel der Ereignisse gerissen werden.

Konsterniert registriert Anthime, die Hauptfigur, dass die erwartete Generalmobilmachung ausgerechnet auf einen Samstag fällt: „Er reagierte nicht sofort, sondern lauschte fast eine Minute lang den feierlich dröhnenden Glocken, richtete dann sein Gefährt wieder auf und setzte den Fuß aufs Pedal, um den Hang hinabzurollen und den Weg nach Hause einzuschlagen. (...) Als er in die Stadt kam, sah Anthime, wie immer mehr Leute ihre Häuser verließen, sich zu Trupps versammelten und dann in Richtung Place Royale losgingen.“ Noch ist die Welt nicht aus den Fugen. Es folgen Musterung, Gewaltmärsche, erste Scharmützel, das Leben im Schützengraben, und bald schon ist ein abgerissener Arm kein schreckliches Schicksal mehr, sondern ein Glücksfall, um den man beneidet wird. Von den fünf eingerückten Männern kommen drei überhaupt nicht zurück, zwei verstümmelt. Auch von der zarten, von Blicken und Andeutungen lebenden Romantik, die sich vor dem Krieg zwischen Anthime und der schwangeren Verlobten seines Bruders Charles entsponnen hat, bleibt nichts übrig, das über den rohen Satz „Dann penetrierte und befruchtete“ er sie hinausgehen könnte. Charles’ Kind hat seinen Vater ohnehin noch vor der Geburt verloren. Aus der Perspektive derjenigen, die ihn am eigenen Leib miterlebten, zeigt Echenoz nichts weniger als den Untergang des alten Europa. Er macht das in konzentrierter und doch federleichter, von jedem Ballast befreiter Prosa, die dem Leser viel Raum lässt, ohne beliebig zu sein. Mit der unmittelbaren Vorgeschichte der 1914 losgetretenen Katastrophe beschäftigt sich der Kärntner Autor und Literaturwissenschaftler Janko Ferk, im Unterschied zu Echenoz aber nicht aus dem Blickwinkel des gemeinen Volkes. In seinem ebenfalls nicht sehr dicken, als „Sarajevo-Roman“ beworbenen Buch „Der Kaiser schickt Soldaten aus“ erzählt er die sich fatal kreuzenden Lebensgeschichten des Thronfolgers Franz Ferdinand und seines Mörders Gavrilo Princip entlang ausgewählter Daten. Diese Vorgangsweise ist auch bei Krimiautoren und Historikern beliebt. Leider hat Ferks Buch aber weder die Spannung eines Krimis – was bei einem so hinlänglich bekannten Plot auch wirklich eine Meister-

leistung bedeutet hätte –, noch dürfte es historisch Interessierte zufriedenstellen. Allzu willkürlich gewählt und gewichtet wirken die von Ferk präsentierten Ereignisse. Der Erzähler, der den „Roman“ in erster Li-

„Und bald schon ist ein abgerissener Arm kein schreckliches Schicksal mehr“

Jean Echenoz: 14. Deutsch von Hinrich SchmidtHenkel. Hanser Berlin, 128 S., € 15,40

Janko Ferk: Der Kaiser schickt Soldaten aus. Ein SarajevoRoman. Styria, 160 S., € 19,99

nie als Vehikel für historisch-essayistische Betrachtungen nützt, interessiert sich vor allem für die Strenge der habsburgischen Hausregeln und die Inkompetenz österreichisch-ungarischer Spitzenbeamter, verabsäumt es dabei aber, den historischen Figuren die Tiefe und Eigenständigkeit zu verleihen, die sie überhaupt erst zu Romanfiguren machen würde. Es entsteht vielmehr der Eindruck, der Autor habe auf bekannte Fotos aus dem habsburgischen Familienalbum ein paar Sprech- und Denkblasen geklebt. Nach einer Aussprache mit seinem Neffen, der nicht standesgemäß heiraten will, „neigte der Kaiser seinen Kopf, trat an seinen Schreibtisch, an dem er den Großteil seines Lebens verbracht hatte, stützte sich mit der rechten Hand leicht ab und überließ sich seinen Gedanken. ‚Diesem verliebten Heißsporn fehlt jedes Verantwortungsgefühl. Das Erzhaus bedeutet ihm wohl nichts. Eine Ausnahme vom Familienstatut kommt nicht in Frage.‘“ Und so weiter. Nach einem Scherz des inzwischen doch noch verheirateten Franz Ferdinand über ein mögliches Attentat in Bosnien lässt der Erzähler seine Frau Sophie, „die seine Ansage nicht spaßig fand“, mit dem Satz „Franzi, bitte, mach’ mit solchen Sachen keine Witze! Gott behüte dich!“, antworten. Die Erzählerpassagen wirken wie Material-

schlachten. Jahreszahlen, und von denen gibt es viele, werden stets ausgeschrieben, Adelige mit all ihren Vornamen in eine Geschichte eingeführt, in der die abgegriffene Metapher vom Pulverfass Balkan und dem Flächenbrand Europas als ziemlich verschlissener roter Faden herhalten muss. Den Eindruck, das alles in irgendeiner Form schon einmal gelesen zu haben, verstärkt der Hang des Erzählers, ihm offenbar wichtige Aussagen mehrfach zu wiederholen: „Es ist und bleibt auf dieser Welt so, dass Fanatismus und blinder Hass Kenntnisse und Bildung nicht ersetzen. Nicht ersetzen können. Nie ersetzen werden.“ Hat das eigentlich irgendjemand behauptet? GEORG RENÖCK L


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Biografie einer sehr unerfreulichen Persönlichkeit Dem Vergessen entrissen: Ludwig Winders Franz-Ferdinand-Roman „Der Thronfolger“

ner Wiederveröffentlichung eine herausragende Bedeutung zu. Zsolnay legt ein 1937 in der Schweiz publiziertes Werk von Ludwig Winder neu auf. Für den größten Teil des deutschsprachigen Publikums handelt es sich um eine Erstbegegnung, war doch die Verbreitung des Buches eines jüdischen Autors in Deutschland damals undenkbar; in Österreich wurde es aufgrund des „Traditionsschutzgesetzes“, mit dem der Ständestaat vor allem das Andenken an alles Habsburgische unter „Naturschutz“ stellte, umgehend verboten. Ludwig Winder war zu seiner Zeit kein Unbekannter. Ein Vielschreiber, vor allem Theaterkritiker, auch politischer Essayist, wurde er von Max Brod nach Kafkas Tod an dessen Stelle in den „Prager Kreis“ aufgenommen. Dass seine Romane inzwischen vergessen sind, verdankt sich in erster Linie den Zeitumständen. Nach dem Überfall auf die Tschechoslowakei wurde er ins Exil nach England vertrieben, wo er 1946 mit nur 57 Jahren starb. Nun kann man endlich eine der hellsichtigsten Analysen

einer zentralen Figur der kakanischen Untergangsgeschichte durch einen Zeitgenossen lesen. Die Form des biografischen Romans macht zunächst skeptisch. Etwaige Bedenken zerstreuen sich jedoch nach wenigen Seiten Lektüre, schnell ist man von der Kombination akribischer Recherche und plastischer Darstellung überzeugt. Dabei macht es einem der Gegenstand des „Thronfolgers“ wirklich nicht leicht. Von einer sympathischen Figur kann bei Franz

Ferdinand nicht die Rede sein. Bigotterie, Militarismus, Paranoia und Demokratiefeindlichkeit sind die Komponenten, die zu einem stimmigen System eines autoritären Charakters geschlossen werden. Wie es Winder gelingt, ohne Dämonisierung und Karikatur dieser sehr unerfreulichen Persönlichkeit näherzukommen, zeugt von einem analytischen Apparat, der Seelenkundliches von Freud und Schnitzler aufnimmt. Belastet durch ererbte TBC und psychischen Bürden wie dem manischen dynastischen Ehrgeiz der Mutter wird die Kindheit dargestellt. So werden Züge wie sein Jagd- und Sammeltrieb verständlicher.

„PERFEKT INSZENIERT, WUNDERBAR

Ludwig Winder: Der Thronfolger. Zsolnay, 572 S., € 26,80

Mehr noch fasziniert der soziologische Befund, den Winder seinem unglückseligen Helden in dessen historischer Dimension ausstellt. Bei aller kritischen ­Schärfe, mit der Franz Ferdinand den lethargischen Zustand des Staatswesens ­erkannte, das zu übernehmen er sich vorbereitete, und trotz des Strebens, eine neue Elite um sich zu scharen, bleibt es doch höchst unklar, welche Remedia außer Krieg und Unterdrückung er anzubieten gehabt hätte. In Winders Darstellung der Ausweglosigkeit wird die drückende Last der „Allianz von Thron und Altar“, die mit Franz ­Ferdinands wahnhafter Religiosität korrespondiert, überdeutlich. Nicht um Abrechnung mit dem Vielvölkerstaat, einer vergangenen, unmöglich gewordenen Notwendigkeit, geht es Winder, nicht um einen Nachruf wie bei Joseph Roth, sondern um Orientierung in der eigenen Wirklichkeit, in der die Dämonen des Nationalismus nach der Knebelung durch das Habsburgerreich erst so richtig ­losgelassen, die Gespenster des politischen Katholizismus nicht besiegt waren und dadurch erst die Fratzen der Faschismen verschiedener Provenienz auftauchen konnten. THOMAS LEITNER

Bernhard Aichner Totenfrau Vollständige Lesung Gelesen von Christian Berkel 1 mp3-CD, € 19,99 [D/A] / sFr 29,90* ISBN: 978-3-8445-1415-5

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Das Meer suchen, die Berge finden Autor und Musiker Alfred Goubran eröffnet in dem Roman „Durch die Zeit in meinem Zimmer“ seltsame Parallelwelten lias führt ein verpflichtungsloses Dasein auf niedrigem Niveau, sein ZimE mer gehört dem Vater, das Geld bringen

Gelegenheitsjobs, die nicht an die Substanz gehen. So kann er sich Zukunftsplänen verweigern. Die Handlung spielt zu einer Zeit, als in Zügen noch geraucht werden durfte. Trotz reduzierter Erwartungen an das Leben und nikotingelber Zähne bekommt Elias regelmäßig Damenbesuch. Gleich zu Beginn nimmt der Icherzähler durch einen tendenziell moralisierenden Einschub das Tempo heraus (ungelebtes, uneigentliches Leben, verkniffene Träume, Spießbürger und ihre Geschäfte, you name it). Wer dieses Ich ist, das Elias an die Ränder der Stadt folgt und Einblick in seine Kindheit hat, bleibt ungeklärt, es taucht auch später nicht mehr auf. Tempus und Perspektive werden immer wieder wechseln. Dann kommt die Handlung doch in Gang: Eli-

as soll für einen Freund beträchtliche Mengen Gras zwischenlagern. Das ist der Ausgangspunkt, von dem aus sich zwei Erzählungen entspinnen, die in Parallelwelten führen. Als der Freund die Marihuanasäcke nicht wieder abholt, verkauft Elias sie selbst und macht sich mit dem Erlös davon – er will einmal das Meer sehen. Von hier an werden Passagen eingeblendet, in denen Elias (ist er es?) mit einer Erkrankung zu kämpfen hat. Die Grenzen zwischen Fiebertraum, Halluzination und

Erinnerungen verschwimmen, das Zeitgefühl ist perdu. Die Zugreise zum Meer endet in einem Skigebiet, die Busfahrt über den Pass mit einem Felssturz, der heimliche Fußmarsch über die Grenze in der Irre. Goubran nimmt sich hier die alte Stadt-Land-Dialektik noch einmal vor: Von der urbanen Eremitage in die Bergödnis – einsam bist du sowieso. Auch diese Erzählung hat etwas Unwirkliches, Traumwandlerisches, etwa die Sicherheit, mit der Elias gerade vor Einbruch der Winternacht auf eine rettende Heuhütte stößt, wie er am nächsten Tag von einer Alten und einem buckligen(!) Jungen gefunden wird. Die beiden wirken seltsam aus der Zeit gefallen, so wie alle Bewohner der Holzhütten, in die sie ihn mitnehmen. Elias bekommt die Kleidung vom Sohn, der im Krieg geblieben sein soll. Am nächsten Tag will er eigentlich über die Grenze, folgt aber spontan den Schneestapfen der Alten, die ihn zum „Schwarzen Schloss“ führen. Hier könnte man an Kafka denken, vielleicht sogar an einen seltsamen „Nachsommer“, aber das führt nicht weit. Spätestens im Schloss, mitten im Niemandsland, wird’s endgültig mysteriös. Isabel tritt auf, Schlossbesitzerin, Privatgelehrte und Hirnforscherin. Sie klärt Elias auf, dass die Dorfbewohner unter „Verrindung“, an „mimetischer Progerie“ litten und in Wahrheit gar nicht so alt seien. Wieder verliert man den Boden unter den Füßen.

„Ungelebtes, uneigentliches Leben, verkniffene Träume, Spießbürger und ihre Geschäfte, you name it“

Alfred Goubran: Durch die Zeit in meinem Zimmer. Braumüller, 196 S., € 19,90 Lesung: 19.3., Wien, Nationalbibliothek

Goubran, unlängst 50 geworden, ist bekannt als Übersetzer, Essayist, Songwriter (demnächst erscheint das Album „Die Glut“, das er mit der halben Mannschaft von Naked Lunch eingespielt hat). Seit dem Ende seines Verlags edition selene arbeitet er wieder verstärkt selbst als Literat. Während er in Essays und Interviews dezidiert

politisch Stellung bezieht („das Land ist schön, die Gegend ist schrecklich“), geht es ihm literarisch um das Schaffen und Wahren von Geheimnissen. Das ist bei ihm programmatisch, nur im Opaken bestehe die Möglichkeit für Neues. Dementsprechend ermöglicht „Durch die Zeit in meinem Zimmer“ die Wahl: Hat Elias das Zimmer überhaupt verlassen? Oder kommt er aus dem Schwarzen Schloss nicht mehr heraus? In die sprachlich dichten Erzählungen mischen sich immer wieder visuell ins Detail gehende Beschreibungen. Dazu kommen phänomenologische Reflexionen über Wahrnehmung und Erinnerung. Dinge erinnern sich von selbst. Die Offenheit der Perspektiven ist der Aufmerksamkeit beim Lesen aber insgesamt förderlich: Man bleibt dran, um den Anschluss nicht zu verlieren. Goubran will viel, schafft viel, löst nicht alles ein. Möglicherweise tut ihm Thomas Weber keinen Gefallen, wenn er ihn auf der Rückseite als den „vielleicht größten Autor, den Österreich derzeit zu bieten hat“ tituliert. DOMINIK A MEINDL

Katharina steigt in eine Badewanne, Paul ertrinkt In Peter Zimmermanns Roman „Stille“ begegnet man einem rätselhaft verschlungenen Figurenensemble ie Wiener Autor und Journalist Peter Zimmermann hat bislang diverse liteD rarische Genres durchgespielt – den histo-

rischen und den Kriminalroman und neben zwei Essaybänden eine Art Heimatroman. „Stille“ ist nun eine Liebesgeschichte mit den Mitteln des Absurden. Vielleicht auch vice versa – genau lässt sich das bei den Protagonisten Jan, Katharina, Paul, Camilla, Iris und Freddie nicht sagen. Es beginnt im unwegsamen Gelände eines unbekannten Landes. „Es wird Regen geben“, sagt ein ominöser Wächter zu seinem Gefangenen. Dessen Antwort: „Gefangener 64979324. Auf seinem Platz.“ Von diesem Häftling namens Jan ist vorerst nicht mehr zu erfahren, als dass er der Welt abhanden kam und in einer „Dreyfus-Hütte, der Teufelsinsel-Hütte, der Hütte ohne Wiederkehr“ haust. Peter Zimmermann beschreibt detailgenau, souverän realistisch und ohne jeglichen Symbolismus eine Endzeitgegend – Käfer und Asseln, eine Krähe, Lichtreflexe, immer wieder Regen. Der Klarheit der Landschaftsdarstellung radi-

kal entgegengesetzt verlaufen verschlungene Erzählstränge und vor allem aus Jans Perspektive entwickelte Erinnerungsbewegungen. Jan beschwört seine Liebe zu Katharina, die ihrerseits in einer fernen, offenkundig alltäglichen Welt lebt und in Gesprächen mit einem Therapeuten ihre Vergangenheit durchforstet. Jans Jugendfreund Paul und dessen Geliebte Camilla tauchen

auf; mit Camilla hatte Katharina eine lesbische Beziehung, Paul ertrank bei einem Bootsausflug. Schließlich ist da noch Iris, zu der sich Jan vor seiner Verhaftung geflüchtet hatte; von ihr, die in einem amerikanischen Gefängnis einsitzt, weil sie verdächtigt wird, ihren Mann Freddie umgebracht zu haben, versucht Katharina etwas über Jans Verschwinden herauszufinden. So kompliziert der Plot von „Stille“ anmutet, Zimmermanns nüchternem Erzählduktus gelingt es, Spannung aufzubauen. Rätselhaftigkeit wird zum weltbeherrschenden Gesetz und zur wichtigsten Eigenschaft aller Figuren: Verstehen sie sich selbst? Kennt sie der Erzähler? Wurde Katharina tatsächlich Opfer von Kindesmissbrauch? Während Paul im Wasser versinkt, steigt Katharina in eine Badewanne – was bedeuten solche Koinzidenzen? Verschiedene Andeutungen wechseln zu Jugenderinnerungen an die Musik von Uriah Heep und eine Joyce-Lektüre – und schließlich zur Mikroerzählung darüber, wie Paul, immer auf der Suche nach der absoluten Farbe Schwarz, als Maler gescheitert war: „Ihm war nun klar, dass die Bilder von einer großen Geheimnislosigkeit erzählten. Und von einem großen Irrtum.“ Die Kehrseite des Mysteriösen ist das Banale, aber selbst dies bleibt ein Rätsel. Das der Erzählung eingeschriebene Roadmovie bewegt sich zunächst zu einer Geschichte über die Landung der Amerikaner in Sizilien. Es folgen die 1960er samt

„Rätselhaftigkeit wird zum weltbeherrschenden Gesetz und zur wichtigsten Eigenschaft aller Figuren“

Timothy Leary und LSD. Schließlich trifft man den Spross der aus ­Litauen stammenden New Yorker Zirkusdynastie Harlin. Katharina erhofft sich dort Auskunft über Jan – die Frage, wie alles zusammenpasst, stellt sich schon längst nicht mehr, auch wenn es einmal heißt: „Die ­Lebenden kannst du hinter dir lassen oder du kannst dich mit ihnen arrangieren. Die Toten aber hängen an dir wie deine eigenen Gliedmaßen.“ Was Jan und Katharina betrifft, so kommt ihre

Peter Zimmermann: Stille. Secession, 213 S., € 20,60

Geschichte zu keinem Ende – es bleiben amorphe Angst, ein nie mehr nachlassender Schockzustand: „Der Mensch will ja auf alles eine Antwort haben, also schaut er so lange in das trübe Nichts hinein, bis er glaubt, darin etwas zu erkennen, ein Gesicht, wie beim Turiner Leichentuch oder im Rauch der brennenden Twintowers.“ Die Frage nach der Liebe aber, wer hier wen je überhaupt geliebt hat, endet in einem doppelten Showdown. In Bezug auf Jan, der sich immerhin schon seit acht Jahren in Gefangenschaft befindet, heißt es: „Es ist zu früh für dich. Die Geschichte ist nicht zu Ende.“ Katharina fragt aus der Entfernung in seine Resignation hinein: „Was ist es, Jan, was hält uns zusammen?“ Und: „Alle Liebesgeschichten sind banal.“ Als wollte sie selbst eine Antwort auf diesen Befund geben, folgt einer der schönsten Romanschlüsse seit langem: „Nichts wird je von Bedeutung sein.“ E R i c h klei n


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Ich hatte die Zeit meines Lebens Antonio Fian erzählt in „Das Polykrates-Syndrom“ die Geschichte eines Mannes, der die Kontrolle verliert

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ntonio Fian hat einen Roman geschrieben. Auf den ersten Blick ist das eine merkwürdige Konstellation, ein seltsames Paar. Ein Text von mehr als 100, im konkreten Fall sogar über 200 Seiten stellt im Werk des Autors, der über seine Arbeit sagt, sie bestehe zu einem wesentlichen Teil aus Wegstreichen, Kürzen, Reduzieren, den epischen Ausnahmefall dar. Der erste und bislang einzige Roman des in Wien lebenden Mannes aus Spittal an der Drau – „Schratt“ – erschien 1992. Das ist lange her. Der Rezensent besuchte damals die sechste Klasse einer AHS in Oberösterreich und befand sich mitten in seiner ersten Thomas-Bernhard-Phase. Fian war ihm noch nicht bekannt, so konnte er auch nicht wissen, dass dieser sein erstes Dramolett Ende der 80er für den Falter – ein dem Gymnasiasten ebenfalls unbekanntes Medium – anlässlich der Erregung um die Uraufführung von „Heldenplatz“ geschrieben hatte. Viel Wasser ist die Drau runtergeflossen. Fian

hatte anderweitig gut zu tun. Sein Hauptprojekt war und ist die Erneuerung des Dramoletts. Als Schüler von Nestroy, Kraus, Beckett, Bernhard und nicht zuletzt seines Landsmanns Werner Kofler hat er es in dieser kleinen Form zu großer Meisterschaft gebracht. Nebenschauplätze gab es immer: Stücke, Hörspiele, Erzählungen, Gedichte. Nichts davon widerspricht dem geläufigen Bild von Fian als Kurzstreckenspezialist. Wobei man dadurch leicht übersehen kann, dass die einzelnen Dramolette wie die Mikrodramen in „Die letzten Tage der Menschheit“ auch immer in einem Zusammenhang stehen. Dennoch: Dass er noch einmal zum Roman zurückkehren würde, überraschte sogar den Autor selbst. „Das Polykrates-Syndrom“ geht zurück auf eine unrealisiert gebliebene Filmidee. Der Stoff hat Fian nicht losgelassen, und so wurde daraus im Lauf von zehn Jahren in einigen Arbeitsphasen

und mit langen Pausen dazwischen ein Roman. Fast noch überraschender kommt „Das Polykrates-Syndrom“ für den Leser. Mit diesem Buch hätte kaum jemand von Fian gerechnet. Man könnte diese Schilderung eines Kontrollverlusts auf Raten ruhig auch als Thriller, als Horror- oder Splattergeschichte verkaufen – als eine, in der am Ende wohlgemerkt nichts aufgeklärt wird. Ganz anders als in den Dramoletten geht es nicht um österreichische Politik, auch nicht um den Kultur- und Literaturbetrieb, sondern um eine fesselnd erzählte Story. Der Held und Erzähler heißt Arthur. Und da das Buch irgendwann in den 90ern – man rechnet noch in Schilling, im Fernsehen sind entweder Al Bundy oder Sonja Kirchberger zu sehen – spielt, ist man geneigt, ihn einen akademischen Slacker zu nennen. Karrieretechnisch ist er freiwillig unter seinen Möglichkeiten geblieben. Anstatt in einer Schule zu unterrichten, arbeitet er halbtags in einem Copyshop. Nachhilfestunden bringen ein bisschen Extrageld, das es streng genommen gar nicht brauchen würde, da Arthurs Frau umso eifriger an ihrer Karriere arbeitet. Ziel: jüngste Schuldirektorin Wiens. Das gibt dem Gatten viel Zeit, um in Lokalen Billard zu spielen und Leonard Cohen zu hören. Eines Tages betritt eine junge Frau namens Alice den Copyshop. Sie hinterlässt Arthur eine Nachricht. Ganz gegen seine Gewohnheiten folgt er ihr – und kriegt prompt eine Abreibung von ihrem Ex. Trotzdem fängt er etwas mit ihr an. Seine durchschnittlich schöne, vor allem aber sehr geordnete Existenz gerät in der Folge gründlich durcheinander. Doch siehe da: Bis zu einem gewissen Grad genießt er das, schiebt nach und nach alle Bedenken beiseite und hat, wie man nach „Dirty Dancing“ sagen würde, die Zeit seines Lebens. Dass sein Glück ein Ablaufdatum hat, ist Arthur bewusst, leidet er doch unter dem titelgebenden, von Fian erfundenen

„Man könnte diese Schilderung eines Kontrollverlusts auf Raten ruhig auch als Thriller verkaufen“

Wenn es einem Autor auf intelligente Weise

Antonio Fian: Das PolykratesSyndrom. Droschl, 238 S., € 19,60 Lesung: 16.3., Wien, Café Else

PIPER. BÜCHER, ÜBER DIE MAN SPRICHT.

»Heinrich Steinfest unterhält auf höchstem Niveau. Er öffnet uns Lesern buchstäblich die Augen für die Vielfalt und den Reichtum der Schöpfung.« Denis Scheck Heinrich Steinfest präsentiert sein Buch: 9.4. Hartliebs Bücher, Wien

© Burkhard Riegels

REINLESEN

Syndrom. Wer daran laboriert, lebt im Bewusstsein, dass man nicht ewig Glück haben kann. Polykrates hat das einst geglaubt – und sich gründlich getäuscht. Arthur fällt denn auch recht bald die erste Leiche vor die Füße. Wie überhaupt plötzliche Todesfälle, die eine gründliche Leichenentsorgung nach sich ziehen, eine große Rolle in dem Buch spielen. Mehr sei von der Handlung nicht verraten, die Spoiler-Gefahr ist beträchtlich. Es handelt sich hier um eines dieser Bücher – und es folgt eine Formulierung, bei der man sich windet, weil es um Fian geht und um keinen gemachten Bestseller mit riesigem Werbebudget dahinter, aber doch trifft es im Positiven zu –, die man nicht mehr aus der Hand legen kann, weil man gespannt ist, wie es weitergeht und welche Wendung die Geschichte im nächsten Kapitel nehmen wird.

400 Seiten. Gebunden € 20,60 (A). Auch als Hörbuch und E-Book erhältlich.

gelingt, dem Leser immer wieder den Boden unter den Füßen wegzuziehen und ihn gleichzeitig so in die Handlung reinzuziehen, dass er, wie der stets vor neuen Aufgaben stehende Held des Romans, gar nicht anders kann, als sich jeder neuen, brenzligirrwitzigen Situation zu stellen, dann ist daran nichts auszusetzen. Im Gegenteil: Die österreichische Literatur könnte mehr Bücher dieser Art vertragen. Dass auch eine positive Rezension im Standard mit dem pflichtschuldig vorgetragenen Einwand daherkam, an einigen Stellen würde „Das Polykrates-Syndrom“ im Genrehaften bleiben, zeugt nur von der Angst des Kritikers, sich womöglich unter Niveau zu amüsieren. Unsinn: Wenn man bedenkt, zu welcher literarischen Meisterschaft es vor allem US-amerikanische Autoren in Genres wie dem Thriller gebracht haben, muss ein solcher Vorwurf gerade gegen einen Autor mit derart ausgeprägtem Sprachgefühl wie Fian ins Leere gehen. Kurz: Ziehen Sie sich dieses Buch rein. SEBASTIAN FASTHUBER


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Treffen sich zwei am Konzerthaus-Klo Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ fürchtet sich davor, eine Geschichte zu erzählen

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ngelika Reitzer ist die Schriftstellerin, die sich um das Pronomen erste Person Plural kümmert. Ihr vorletzter Roman „unter uns“ (2010) beschreibt ein Milieu der Fortysomethings mit all seinen fragilen und fragwürdigen Lebensentwürfen und handelt von Familie, ohne deswegen schon ein Familienroman im herkömmlichen Sinne zu sein. Letzteres trifft auch auf das jüngste Werk der gebürtigen Grazerin zu. „Wir Erben“ führt recht unvermittelt in das Leben von Marianne und damit auch deren weitverzweigte Familie ein, die sich aus Anlass des Todes von Mariannes Großmutter Jutta in deren Haus im fiktiven niederösterreichischen Kaff Gumpenthal versammelt. Der Leser hat seine liebe Not, sich unter all den Großtanten, Cousinen, Schwiegertöchtern, Haushaltshilfen und Schulfreunden zurechtzufinden. Nachdem man die meisten von ihnen schnell

wieder vergessen hat (und auch vergessen darf, weil sie des Weiteren keine große Rolle spielen), werden zumindest die Konturen einer Geschichte sichtbar: Marianne, die ein bissl zu viel trinkt, hat einen mittlerweile erwachsenen Sohn von einem Schulfreund, der als Vater nie zur Verfügung stand, so wie auch sie selbst von ihrer Großmutter Jutta aufgezogen wurde und nun deren Baumschule, die sie schon zu deren Lebzeiten übernommen hat, offiziell erbt.

Im letzten Kapitel des Romans unterhalten sich zwei Mädchen in altklugem Ton übers Leben und darüber, wie Biografien zustande kommen: „Geht es dir auch so? Dass du ständig auf Menschen triffst, die schon wissen, wie es weitergeht? Mit dir. Mit allen. Als würden sie deine Geschichte, die noch gar nicht erzählt ist, ziemlich gut kennen?“ Keine Frage: Die Autorin misstraut dem woh-

ligen Gefühl, das sich einstellt, sobald man nur imstande ist, „die Ereignisse in der ­Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben“ (wie es in Musils „Mann ohne Eigenschaften“ heißt); sie glaubt nicht daran, dass sich Biografien sauber auf einen Lebensfaden fädeln lassen. Die Frage ist bloß, ob die schiere Verweigerung einer solchen chronologischen Ordnung auch schon einen erhöhten Erkenntnisgewinn beschert. Der Fleckerlteppich aus Fakten, Andeutungen, Wahrnehmungen und belanglosen Details, der im ersten Teil von „Wir Erben“ ausgerollt wird, macht den Roman nicht notwendig komplexer, ganz gewiss aber komplizierter. Wobei sich der Leser für das seltsam ungeklärte Verhältnis Mariannes zur eigenen Mutter schon deutlich mehr interessieren würde als für den Unterschied zwischen einem Fürhackdexel und Plätzdexel (es handelt sich um Werkzeuge zur Holzbearbeitung).

„Reitzer glaubt nicht daran, dass sich Biografien sauber auf einen Lebensfaden fädeln lassen“

Wesentlich straffer ist der zweite Teil des Ro-

Falters True sTories

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Sport, Spaß, Sex und Gewalt in 17 True Stories Ohne Geld, mit mäßigen Englischkenntnissen verließ der junge Soudek 1960 Wien. Ein mitreißender Erzähler erinnert sich an sein spannendes Leben zwischen hartem Training, schießwütigen Nachbarn, psychopathischen Verbrechern und hinreißenden Frauen.

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Angelika Reitzer: Wir Erben. Jung und Jung, 344 S., € 22,90 Lesung: 27.3., Rauris, Literaturtage; 7.4., Graz, Literaturhaus

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12.08.2013 16:07:59 Uhr

Hinzu kommt, dass die Erzählposition nicht durchgehalten wird. Recht willkürlich wechselt der Roman für kurze Passagen in die erste Person, schert an anderer Stelle dafür aus dem streng personalen Erzählen aus, wenn notwendige Basisinfos für die Leser etwas ungelenk in die erlebte Rede montiert werden. Aus Furchtsamkeit, ja nicht naiv zu erzählen oder finale Deutungsangebote zu machen, wird nichts auserzählt, alles nur angerissen, sodass dem Roman schließlich das Sujet abhandenzukommen droht. Das ist auch insofern bedauerlich, als Reitzer abseits der kalkulierten narrativen Selbstkasteiung sehr schöne und anrührende Passagen glücken: etwa wenn Marianne den langjährigen Mitarbeiter der Baumschule, der irgendwie zur Familie zählt und doch ein Gastarbeiter geblieben ist, in dessen Heimatland besucht oder wenn ihr überraschend in eine mondänere, maritime Existenz aufgebrochener Freund Roman frühzeitig stirbt – und kaum etwas von diesem bleibt: „(…) die Koffer mit seiner Kleidung und den Anzügen in großen Säcken, die man aufhängen konnte, es waren doch nur vier. Im dem fünften wurde er begraben.“ mans erzählt, in dessen Mittelpunkt unversehens eine ganz andere Protagonistin steht: Siri ist in der DDR aufgewachsen und flieht als 16-Jährige mit ihren Eltern und der jüngeren Schwester über Ungarn nach Österreich. Kurz darauf fällt die Berliner Mauer und die Familie kehrt unverrichteter Dinge in ihre alte Wohnung im deutschen Osten zurück, wo freilich niemand auf sie gewartet hat. Auch Teile der Möblierung fehlen. Im Unterschied zum ersten Teil, der vielfach mit Rückblenden und Vorgriffen arbeitet, wird die Erzählung von Siri einigermaßen chronologisch präsentiert, ist aber von Anfang an der Kontingenz der Geschichte unterworfen: Mit ihrer Flucht nehmen die Kortners beträchtliche Risiken und Verluste in Kauf, die sich wenige Monate später als sinnlos erweisen. Dumm gelaufen. Auch abseits solcher historischen Ereignisse bleibt der Faden von Siris Leben an Zufälle geknüpft. Apropos „geknüpft“: Eröffnet sich zunächst die Möglichkeiten einer Karriere im Teppichhandel und die Aussicht, mit einem persischen Unternehmerehepaar in den Iran zu reisen, so wird ein USA-Stipendium im Rahmen eines halbherzig begonnenen Kunstgeschichtestudiums zur tatsächlich realisierten Option. In der kleinen Universitätsstadt geht Siri infolge eines Radunfalls ihres Riechvermögens verlustig. Dort lernt sie auch ihre japanischen Kommilitoninnen kennen, mit denen sie später einen Städtetrip nach Wien unternehmen und dort – auf dem Klo des Konzerthauses – zufällig auf die ihr bis dahin unbekannte Marianne treffen wird. Womit auf Seite 316 mit dieser sehr beiläufig, um nicht zu sagen hopatatschig erzählten Begegnung immerhin geklärt wäre, wie die beiden Teile des Buches miteinander zusammenhängen. Die Frage, warum sie einen Roman ergeben, ist damit freilich noch nicht beantwortet. K L AUS NÜCHTERN


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Fritz Bitter, das war Ihr Leben! Ludwig Laher spricht in „Bitter“ einen Nazi-Verbrecher, der sich nach dem Krieg rauswand, posthum schuldig em Österreicher Ludwig Laher, VerD fasser etwa des Asyl-Romans „Verfahren“, haftet das Etikett des engagierten Li-

teraten an. Zumindest greift er gern zeitgeschichtliche oder politisch brisante Stoffe auf. Allerdings handelt es sich bei Laher um keinen Polterer, sondern um einen vorsichtigen, zurückhaltenden Autor, der sorgsam mit seinem Material umgeht und seine Urteile fein abwägt. Nur manchmal wird er zornig, und dann aus gutem Grund. In „Bitter“ erzählt Laher die Geschichte eines Polizisten und späteren Juristen, der sich sehr früh Hitler anschloss und unter ihm im Zweiten Weltkrieg sogar eine ziemlich große Nummer wurde. Und danach? Nun weiß man, dass es das Österreich der Zweiten Republik mit der Aufarbeitung und Aufklärung von Nazi-Verbrechen nicht so hatte. Wie Lahers „Held“ sich trotz erdrückender Beweise für seine Verbrechen mit dreisten Lügen und Ausreden rauswinden konnte (er „wird es in der Kunst der Relativierung nach dem Krieg zu höchster Meisterschaft bringen“) und praktisch ungeschoren davonkam, ehe er früh verstarb, überrascht einen an dieser Geschichte dann aber doch. Der Mann, um den es hier geht, war ein öster-

reichischer NS-Kriegsverbrecher mit erheblichem Wirkungskreis und u.a. als GestapoChef in Wiener Neustadt, Charkow und Verona tätig. Man muss ihn sich als sympathischen Zeitgenossen vorstellen, der fast

überall gut ankam. Bitter, so wird er genannt, war ein geselliger Typ und dem Alkohol, Männerbünden wie auch Frauengeschichten schon seit frühen Jahren sehr zugeneigt. Wenn er wollte, konnte er charmant sein – vor allem, wenn es darum ging, auf der Karriereleiter Schritt für Schritt nach oben zu kommen. Um seine Familie, die Frau und die beiden kleinen Töchter kümmerte er sich umso weniger. Die Pflicht ging vor, was für Bitter praktisch war, da ihm die Pflicht sehr viel Spaß machte („wirklich lieben tut Fritz die Bewegung“). Aus dem realen Vorbild Friedrich Kranebitter wird dabei im Buch Fritz Bitter. Der Name wird verkürzt „wie ein erzähltes Leben, noch dazu ein so schillerndes“. Langsam wird bei der Lektüre ersichtlich, für wie viele Verbrechen – Enteignungen, Folterungen, bald auch Ermordungen bis hin zu Massenerschießungen – dieser Mann verantwortlich oder zumindest mitverantwortlich war. Dass er sich dafür nie wirklich verantworten musste, ist das unfassbar erscheinende Faktum, um das „Bitter“ stets kreist: „Zu Lebzeiten wird Dr. Friedrich Bitter es sich ersparen dürfen zu kommentieren, was sich zusammentragen lassen wird über ihn als veritablen Massenmörder. Niemand wird ihn je danach fragen, niemand.“ Laher verfolgt mit seinem Roman nun durchaus das Anliegen, den Protagonisten für dessen reales Vorbild posthum schul-

dig zu sprechen. „Niemand will selbstgefällig zu Gericht sitzen auf den folgenden gut zweihundert Seiten“, schreibt er in der Vorbemerkung, „doch ist es nötig, dem Mann nicht alles durchgehen zu lassen und einen Ton dafür zu finden, den er versteht. Sonst wickelt er einen um den Finger.“ „Man muss ihn sich als sympathischen Zeitgenossen vorstellen, der fast überall gut ankam“

Ludwig Laher: Bitter. Wallstein, 237 S., € 20,50 Lesung: 7.4.., Wien, Alte Schmiede

Das will der Autor tunlichst vermeiden. Mit-

unter fühlt er sich daher bemüßigt, als Erzähler an den Leser heranzutreten und ihm etwas ins Ohr zu flüstern. So heißt es über Bitters Nachkriegsjahre, in denen er als Versicherungsinspektor unterkam: „Muss extra betont werden, dass die Provisionen ordentlich fließen, dass der große Charmeur und Charismatiker, der ewige Tausendsassa diesem seinem Arbeitgeber schnell so viel Freude bereitet wie vordem jenem, in dessen Namen er verbrennen ließ?“ Anscheinend ja. Dieser Hang zum Erklären kann man dem Buch als Schwäche auslegen. Überhaupt wirkt vieles in dem akribisch recherchierten Roman nicht gerade formschön, aber nach Eleganz zu streben, dürfte auch nicht Lahers Motivation gewesen sein. Dies zeigt sich vor allem an der oft geradezu hölzernen Sprache, in der die schrecklichen Taten der Hauptfigur aufgerollt und rekapituliert werden, ohne dass daraus eine runde Erzählung, ein vollständiges Bild der Person entstehen würde. Bitters Nazi-Karriere verdient keine schönere Sprache, als die, die Laher ihm zugesteht. S E B A S T I A N F A S T H U B E R

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Innsbruck | Tyrolia, Maria-Theresien-Str. 15, 6020 Innsbruck | Tyrolia Max Media, Maximilianstr. 9, 6020 Innsbruck | Riepenhausen, Langer Graben 1, 6060 Hall in Tirol | Riepenhausen, Andreas-Hofer-Str. 10, 6130 Schwaz | Zangerl, Salzburger Str. 12, 6300 Wörgl | Lippott, Unterer Stadtpl. 25, 6330 Kufstein | Tyrolia, Rathausst. 1, 6460 Immst | Jöchler, Malserstr. 16, 6500 Landeck | Vorarlberg: Eulenspiegel, Marktstr. 42, 6845 Hohenems | Ananas, Marktpl. 10, 6850 Dornbirn | Brunner, Rathausstr. 2, 6900 Bregenz | Ländlebuch, Strabonstr. 2a, 6900 Bregenz | Brunner, Dr.-Schneider-Str. 22, 6973 Höchst | Burgenland: s’Lesekistl, Obere Hauptstr. 2, 7122 Gols | Buchwelten, Hauptstr. 8, 7350 Oberpullendorf | Pokorny, Schulg. 9, 7400 Oberwart | Wagner, Grazer Str. 22, 7551 Stegersbach | Steiermark: Bücherstube, Prokopig. 16, 8010 Graz | Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfg. 25, 8010 Graz | Leykam, Stempferg. 3, 8010 Graz | Moser Ulrich, Am Eisernen Tor 1, 8010 Graz | büchersegler, Lendkai 31, 8020 Graz | Leykam, Lazarettgürtel 55, 8025 Graz | Plautz, Sparkassenpl. 2, 8200 Gleisdorf | Buchner, Hauptstr. 13, 8280 Fürstenfeld | Leykam, Hauptpl. 2, 8330 Feldbach | Leykam, Mitterg. 18, 8600 Bruck/Muhr | Mayr, Kurort 50, 8623 Aflenz | Kerbiser, Wiener Str. 17, 8680 Mürzzuschlag | Morawa, Burgg. 100, 8750 Judenburg | Hinterschweiger, Anna Neumannstr. 43, 8850 Murau | Buch + Boot, Altausse 11, 8992 Altaussee | Kärnten: Heyn Johannes, Kramerg. 2, 9020 Klagenfurt | Besold, Hauptpl. 14, 9300 St. Veit/Glan | Tyrolia, Roseng. 3-5, 9900 Lienz


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Unendlicher Spaß im Torten-Hotspot In „Schwätzen und Schlachten“, dem zweiten Roman von Verena Roßbacher, geht es größtenteils um Ersteres

Aber fangen wir von vorne an. Worum geht’s

in „Schwätzen und Schlachten“, dem zweiten Roman der in Berlin lebenden Mittdreißigerin eigentlich? Um zwei männliche Luschen Anfang 30, die in Berlin leben. David Stanjic ist ein Passivitätsjunkie und ein schlechter Trinker. Er liebt schöne nackte Frauen und stammt aus dem „Krisengebiet“ Österreich, was der Autorin ermöglicht, Eismann Ötzi und Kellermann Fritzl als schon etwas abgelutschte Beispiele für die Eigenartigkeit dieses Landes heranzuziehen. Stanjics Freund Frederik von Sydow tut ähnlich wenig wie dieser. Auch er will eine

Frau, hat aber noch deutlich seltener eine als Stanjic, nämlich nie. Immerhin nennt er jedoch eine eindrucksvolle Großmutter sein familiäres Eigen: Auguste von Sydow hat immer frisch ondulierte Haare, die nach Hefe, Zimt und Butter riechen, und sie betreibt ein kleines, stets volles Café in Berlin, das Visite-ma-tante, kurz „Tante“ genannt. Der Roman findet in Augustes Tortenund Müßiggangs-Hotspot einen zentralen urbanen Schauplatz, und mit Augustes Landsitz irgendwo an der polnischen Grenze einen weiteren, romantisch-ländlichen. Auf diesem wird die Autorin zum Ende der 630 Seiten hin ein pittoreskes Großfamilienweihnachtsfest inszenieren, mit Klavierspiel, Keksebackerei und Halali inklusive. Aber wir greifen vor.

„Das Ausmaß des Stoffes und des Zierwerks lösen nach einiger Zeit Erstickungsgefühle aus“

Sydow und Stanjic haben zwar keine Frau-

en, aber dafür einen Freund, mit dem sie fallweise kammermusizieren. Peter Glaser macht was mit neuen Medien, betritt die brokatumrahmte Bühne des Romans aber eher selten. Dies hindert Roßbacher nicht, Glaser zum Aufhänger eines zarten Suspensefadens zu machen, den die Autorin in ihr üppiges belletristisches Retro- und Regressionsidyll einwebt. Stanjic findet in Glasers Wohnung den „Schlachtentext“, und dieser lässt in ihm die Vermutung keimen, dass Glaser ein Gewaltverbrechen planen könnte. Sydow und Stanjic beginnen ihre detektivische Recherchearbeit zusammen mit ihren Zwillingsgeschwistern Dilettantismus und Schusseligkeit. Zudem hat sich Stanjic in Katharina verschaut, eine Freundin von Glaser. Roßbacher gelingt hier eine der zaghaftesten Liebesgeschichten der deutschen Literatur. Das Spannungselement mit dem Schlachtentext hätte sich die Autorin dagegen sparen können – irgendwo in der Gegend um Seite 300 macht sie sich sogar schon selbst darüber lustig, dass eh kein Leser mehr daran glaubt. Richtig. Trotzdem hätte sie sich mit der Auflösung ein bisschen mehr Mühe geben können: Die-

se gerät aufgrund der mangelhaften Vorpräsenz des Bösewichts blass und lauwarm und wirkt wie an äußerst krausen Haaren herbeigezogen. Aber um das (Ab-)Schlachten ist es der Österreicherin in ihrem Roman ja weniger gegangen, weit interessensnäher liegt ihr das Schwätzen. Wer zu den Themenbereichen Elsässer Schnauz, Töpfern, Boviste, Paris-Syndrom und Feng-Shui erfahren möchte, was sie oder er nie wissen wollte, sollte den Roman lesen. Und auch wer schöne, altmodische Begriffe wie Anrichte, Büttel, Plauze, Nervenfieber, Beinkleider, Gardinenpredigt, Trunkenbold oder fideler Geselle wertschätzt, kommt auf seine Kosten. Denn Roßbacher ist nicht nur eine große Ironikerin, sondern auch eine hingebungsvolle Sprachkünstlerin – sie kann sogar das Wetter gut. Leider fließt der Handlungsgang so gemächlich dahin wie ein Tropfen Honig – und das nur, wenn man Glück hat; mitunter verhält er sich auch wie ein Tropfen Harz. Und die Hauptfiguren sind keine Menschen, sondern komisches, comicnahes Personal. Nach Roßbachers von der Kritik hochgelobtem

Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten. Kiepenheuer & Witsch, 630 S., € 25,70

Romandebüt von 2009, „Verlangen nach Drachen“, ist mit „Schwätzen und Schlachten“ nun der ideale Roman für sprachverliebte Ironiker mit Hang zum idealisierten Vorgestern erschienen. Amüsante Lektüre womöglich auch für Menschen, die an einer langen, leichten Krankheit laborieren – im Optimalfall in den Wochen vor Weihnachten. Wer nicht in diese Zielgruppen fällt, wäre womöglich glücklicher gewesen, wenn Roßbachers Opus magnum auf Novellenlänge eingekocht und als Taschenbuch mit einer süßen Umschlaggestaltung auf den Buchmarkt geworfen worden wäre. Der giert doch eh nach so was. Aber dazu hätte man einen echten Lektor gebraucht, der sich durchsetzt, und nicht einen, der sich auch noch in die Speckfalten dieses übergewichtigen Romans hineinquetschen lässt. STEFAN ENDER

Illustr ation: daniel matzenbacher

E

in ausladendes, ein ausuferndes, ein überbordendes Werk, üppig, mächtig, kolossal. Im Lauf der Lektüre fühlt sich der Leser, als wäre er unter einem erdrückend schweren, weinroten Brokatvorhang zu liegen gekommen, der kein Ende zu finden scheint. In jedem Faltenwurf findet sich eine neue vermeintliche Kuriosität versteckt, mit güldenem Erzählfaden auf liebevoll altmodische Art in das Ungetüm eingestickt. Das Ausmaß des Stoffes und des Zierwerks lösen nach einiger Zeit Erstickungsgefühle aus. Um es mit Tamino zu singen: Zu Hilfe, ein Lektor, sonst bin ich verloren! Und da kommt er schon, im zweiten der 139 Kapitel dieses Romans. Da Verena Roßbacher, Jahrgang 1979, einer ironiebegabten Generation angehört und offensichtlich auch um ihre Neigung zum Epischen, zum Vom-Hundertsten-ins-TausendsteKommen weiß, hat sie den Lektor in ihren Roman gleich mit eingebaut. Olaf heißt er und streitet sich also in zahllosen Einschüben mit der Autorin, ob dieser Seitenstrang denn wirklich sein müsse, wo denn diese neue Figur jetzt plötzlich herkomme, welchen familiären Hintergrund diese habe, und so weiter und so fort. Und bitte an Kapitelüberschriften denken! Ja, ja. Das ist am Anfang sehr lustig, mit fortlaufender Seitenzahl aber irgendwann dann nicht mehr so sehr. Wie eigentlich der ganze Roman.


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Wenn sich der Schalter umlegt Mit dem Thriller „Totenfrau“ könnte für Bernhard Aichner eine große Karriere beginnen. Ein Porträt

Ü

berschreitet man einmal die Grenze und tötet Menschen, dann fällt es beim zweiten Mal nicht mehr so schwer. Und beim dritten Mal ist es fast schon Routine. So ergeht es in „Totenfrau“ der Heldin namens Blum, die nicht nur aufgrund ihres Berufs als Bestatterin ein Naheverhältnis zum Tod hat. Bereits auf den ersten Seiten von Bernhard Aichners Roman bringt sie ihre Eltern um. Sie hat sich lange genug von ihnen unterdrücken lassen.

foto: fotowerk aichner

Alles Folgende steht unter dem Eindruck

dieses ersten Kapitels, in dem Blum nachdrücklich ihre Kaltblütigkeit demonstriert. Dass es Aichner gelingt, sie dem Leser auf den folgenden 400 Seiten als durchaus nette Person, liebende Ehefrau und Mutter zu verkaufen, ist keine schlechte Leistung. Irgendwann beginnt sie trotzdem wieder zu morden – aus Rache. „Mir ist wichtig, dass ich immer etwas Neues mache“, erzählt der aus Osttirol stammende Autor über die Entstehung des Buchs. „In dem Fall ist es kein Krimi, in dem ein Mord passiert, der später aufgeklärt wird, sondern man weiß von Anfang an: Das ist eine Mörderin. Ich wollte aus der Perspektive einer Frau schreiben, die keine Skrupel hat zu töten, und sie so nett darstellen, wie es nur geht.“ Das war originell genug, um Aichner zu einem ordentlichen Karriereschub zu verhelfen. Erschienen seine Bücher bislang im Innsbrucker Haymon Verlag bzw. bei dessen kleinem Bruder Skarabäus, so kam es zu einem Wettbieten darum, welcher Verlag „Totenfrau“ bekommen sollte – ein Verfahren, wie es sonst bei Bestsellern im angloamerikanischen Raum zur Anwendung kommt. Den Zuschlag hat schließlich btb erhalten, ein Verlag der Gruppe Random House. „Ich hätte gleich das erste Gebot angenommen“, rekapituliert Aichner. „Mein Agent hat natürlich die anderen Verlage, die interessiert waren, über das Gebot informiert. So wurde öfters nachgezogen und draufgelegt.“ Nicht weniger als fünf Häuser

haben mitgeboten. Für den Autor ein surreales Erlebnis: „Ich bin daheim gesessen und habe mir gedacht: Ich kann nicht mehr.“ Apropos „Agent“: Aichner hat sich, auch das ist für einen österreichischen Autor ungewöhnlich, während des Schreibens entschieden, einen zu nehmen. „Ich habe geschaut, welche Autoren die deutschen Agenten unter Vertrag haben – und habe mir die sechs besten rausgesucht“, sagt er. „Von den sechs wollten vier mein Exposé. Das war ein gutes Gefühl. Wenn die dich wollen, ist das Buch praktisch verkauft. Mein Agent Georg Simader kriegt 97 Prozent der Bücher seiner Klienten unter.“ Hier fängt die unglaubliche Geschichte des angesagten Erfolgs „Totenfrau“ aber erst an. Denn inzwischen hat Random House auch schon Lizenzen in zahlreiche Länder verkauft. „Totenfrau“ wird derzeit ins Englische, Französische, Norwegische, Italienische, Niederländische und Polnische übersetzt, in den USA wird es bei Scribner erscheinen, was Aichner zu einem Verlagskollegen von Stephen King macht. Und auch die Chancen auf eine Verfilmung stehen derzeit gut.

Zur Person Bernhard Aichner Geboren 1972 in Innsbruck, aufgewachsen in Osttirol. Schulabbrecher, Kellner, Fotograf, spätberufener Germanistikstudent und schließlich Autor. „Totenfrau“ ist bereits sein siebter Roman und sein erster Thriller.

Eine steile Laufbahn für einen, der erst die

Schule abgebrochen, mit etwas über 20 zu schreiben begonnen und im zweiten Bildungsweg Germanistik studiert hat. Wobei der elitäre Zugang nie seiner war: „Ich habe einmal meinen Lieblingsprofessor gefragt, ob es mir schaden würde, einen Krimi zu schreiben. Zum Glück hat er gesagt: ,Passt schon. Wenn du Leser willst, schreib einen Krimi.‘“ Vorher aber versuchte er sich an einem Roadmovie („Das Nötigste über das Glück“, 2004) und schrieb zwei weitere Romane zwischen poetischen Bildern und dramatischen Konstellationen („Nur Blau“, 2006, „Schnee kommt“, 2009). Vor drei Jahren gab er mit „Für immer tot“ dann sein Krimidebüt. Inzwischen sind drei Bücher um den Totengräber Max Broll erschienen. „Keine Regionalkrimis“, wie der Verfasser betont.

Bernhard Aichner: Totenfrau. btb, 448 S., € 20,60 Lesung: 20.3., Wien, Thalia 1030

„Ich habe mich dagegen gewehrt, dass der Verlag ,Ein Tirol-Krimi‘ draufschreibt. Sonst hätten wir wahrscheinlich dreimal so viele Bücher verkauft.“ Letzteres dürfte ihm mit dem neuen ­Roman nun locker gelingen. „Ich ­hätte gern ganz viele Leser“, sagt er unverblümt. Dass sein nächster Roman (wieder ein Thriller) praktisch fertig ist, nimmt ihm auch ­etwaigen Druck, sollte sich „Totenfrau“ ­tatsächlich zum Bestseller entwickeln. Wie es danach weitergeht, hat Aichner ebenfalls schon geplottet: noch ein Thriller sowie ein weiterer Max-BrollKrimi werden folgen. Die Pläne reichen noch weiter: „Danach

schreibe ich endlich einen Liebesroman. Bis dahin kann ich es mir hoffentlich erlauben. Dem Wolf Haas hätte man ,Das Wetter vor 15 Jahren‘ wahrscheinlich auch nicht abgekauft, wenn er nicht vorher die Brenner-Romane geschrieben hätte.“ Vom Schreiben leben konnte Bernhard Aichner bislang noch nicht. Musste er auch nicht, betreibt er doch in Innsbruck ein Fotoatelier. Die meisten Aufträge wird in der nächsten Zeit seine Frau, mit der er sich die Arbeit teilt, übernehmen müssen. Ganz aufgeben will Aichner das Fotografieren aber nicht: „Dafür macht es mir zu viel Spaß. Und wer weiß, was in fünf Jahren ist?“ Ein nicht ganz realistischer Plan C wäre noch, auf Bestatter umzusatteln. Zur Recherche für den Roman half Aichner in einem Innsbrucker Bestattungsinstitut aus: „Ich habe mich um die Versorgung der Toten gekümmert – Haare waschen, frisieren, anziehen. Das war gut für mich und hat mir die Angst vor dem Tod ein bisschen genommen.“ Wie aber sieht es mit dem Umbringen aus? „Das habe ich mich beim Schreiben oft gefragt: Könnte ich das auch tun? Die Antwort lautet: Ja. Jeder hat etwas Böses in sich. Aber damit sich der Schalter umlegt und man es wirklich tut, braucht es sehr viel.“ SEBASTIAN FASTHUBER


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Käse, Klischees und Klosterneuburg Mit dem Episodenroman „Glücklich die Glücklichen“ liefert Yasmina Reza fast eine aufregende Phänomenologie des Paares

einander? Der beste Ort, um Paare zu beobachten und Antworten auf diese Fragen zu bekom­ men, ist natürlich die Käsetheke. Denn von einem perfekt gereiften Brie zum ­Blowjob ist es oft nur ein kleiner Schritt. Die Schot­ tin A.L. Kennedy, eine der kundigsten Paar­ beobachterinnen der zeitgenössischen Li­ teratur, beschreibt in ihrer Erzählung „Ver­ schont“, wie sich der ehefrustrierte Greg und eine ihm völlig unbekannte Frau in der Schlange vor der Käsetheke kennenler­ nen und kurz darauf im Bett landen. Odile und Robert, die nun von Yasmi­ na Reza in den Supermarkt geschickt wer­ den, haben das Knistern der Kennenlern­ phase, in der der Käsekauf noch von eroti­ schen Konnotationen begleitet wird, längst hinter sich: „Wer mag denn diesen ScheißMorbier?!“ Wo Odile recht hat, hat sie recht: Morbier

braucht echt keine Sau. Aber um das geht es hier natürlich nicht, sondern um einen bizarren Kampf der Geschlechter. Gerade hat sich Odile doch glatt „wieder in die Kä­ seschlange gestellt“, da herrscht sie Robert an: „Ich zähle bis drei ...“ Mit ihren weltweit gespielten Stücken „Kunst“ und „Der Gott des Gemetzels“ hat sich Reza als gewitzte Phänomenolo­ gin bürgerlicher Eskalationsszenarien er­ wiesen, und das Eingangskapitel zu „Glück­

lich die Glücklichen“ zeigt die Französin auch auf der Höhe ihrer Kunst: Wie sich das Gender-Gerangel mit seinen Über- und Un­ tergriffen aufbaut, bis schließlich der Käse „Reza ist eine Virtufliegt, ist scharf beobachtet und höchst ver­ osin, wenn es darum geht, Situationen gnüglich zu lesen.

vom Komischen ins Katastrophale kippen benden Kapitel des Buches nicht zu. „Glück­ zu lassen“ Leider trifft das auf die meisten der verblei­

lich die Glücklichen“ ist als „Roman“ ausge­ wiesen. Tatsächlich handelt es sich um eine Abfolge von kurzen, vielfach nicht mehr als sieben, acht Seiten umfassenden Epi­ soden, in der das 19 Personen umfassende ­Figurenarsenal multiperspektivisch aufge­ fächert wird und zu Wort kommt. Das ist freilich eher kompliziert als kom­ plex: Der Leser muss ständig darüber nach­ denken, wer noch schnell einmal Pascaline und Paola, Rémi und Raoul waren und wo sie bereits vorgekommen sind, ohne dass die korrekte Auflösung sonderlich spannen­ de Erkenntnisse liefern würde. Das Quartett hatte sich doch schon in „Kunst“ und „Gott des Gemetzels“ als sehr effektive Konstellation erwiesen. Wa­ rum also hat sich die Autorin nicht auch hier auf Odile und Robert und das mit die­ sen befreundete Ehepaar, die Hutners, be­ schränkt? Was für ein Prosakammerspiel hätte daraus nicht werden können! Reza ist eine Virtuosin, wenn es dar­ um geht, Situationen vom Komischen ins Katastrophale kippen zu lassen. Er sei ein Mann, der das Glück „in Würfelform“ su­ che, ätzt Robert über Lionel, die männliche

Hälfte der Hutners, auf deren symbiotische Spießigkeit er und Odile gern ein bisschen verächtlich herabblicken (was den eigenen ehelichen Kleinkrieg dann ja auch gleich in ein milderes Licht taucht). Bloß haben Lio­ nel und Pascaline einen guten Grund, etwas näher zusammenzurücken. Ihr Sohn hält sich nämlich für Céline Dion. Und, nein, das ist kein Witz. Wer sich so etwas Grandioses einfallen lässt,

Yasmina Reza: Glücklich die Glücklichen. Deutsch von Frank Heibert und Hinrich SchmidtHenkel. Hanser, 176 S., € 18,40

kriegt bald einmal ein Problem, das Niveau zu halten. Dass Odile offenbar hin und wie­ der mit Rémi in die Kiste hüpft, nimmt man ja noch mit einem gewissen Interesse zur Kenntnis, und man mag vielleicht auch das Niveau goutieren, auf dem sich der Chauf­ feur und die Kostümassistentin während eines Drehs in Klosterneuburg über die Raffinesse des Designs von Pim’s-Kekspa­ ckungen unterhalten. Aber schon die kli­ scheehafte Selbstbezichtigungsmechanik, die hinter der Abgebrühtheitsrhetorik der promiskuitiven Chantal klappernd zu ver­ nehmen ist, geht einem ein bisschen auf die Nerven. Und, sorry, das Verhältnis von Virgine zu deren Großtante ist uns wirk­ lich wurscht. Richtig gut wird es erst, wenn Reza wie­ der zu Robert und Odile zurückkehrt – dies­ mal freilich nicht mehr an die Käsetheke, sondern auf den Friedhof. Aber da ist der schlanke Roman dann auch schon auf sei­ nen letzten 25 Seiten angelangt. Ein Ro­ man, der eigentlich ziemlich gut hätte wer­ den können. K L AUS NÜCHTERN

Illustr ation: daniel matzenbacher

aare sind ein tolles Thema. Wie ent­ P stehen sie? Wohin gehen sie? Was hält sie zusammen? Was treibt sie aus­


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Ehebruch im Wandel der Zeit Wolfgang Matz widmet sich Emma, Anna, Effi und ihren heutigen Pendants

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m Jahre 1948 erreicht den Schriftsteller und Philosophen Günther Anders in seinem New Yorker Exil eine Flaschenpost aus der Vergangenheit, sieben „Totenfässer“ mit Liebesbriefen, Tagebüchern, Schulheften und anderen Stücken aus dem Nachlass seiner Eltern und Großeltern. Eine der Günther Anders mit so großer Verspätung zugestellten Kisten enthielt die Briefe von Freundinnen an Anders’ damals junge Großmutter. Diese Briefe sind Variationen des Madame-BovarySchicksals. Die Schreiberinnen, so Anders, fühlten sich allesamt betrogen. Sie waren Ehen eingegangen unter Zwang, ohne Leidenschaft und ohne die Wahl zu haben. Dies brachte sie in Widerspruch zu den Freiheitsidealen des liberalen Bürgertums, dem sie entstammten, und in Widerspruch zu den Klassikern, die das Fundament ihrer schöngeistigen Bildung lieferten. Die jungen Frauen, denen der Nachgeborene in den Briefen begegnet, begannen aufzubegehren und betrogen nun ihrerseits ihre Männer. In seinem brillanten Buch „Lieben gestern. Notizen zur Geschichte des Fühlens“ nimmt Anders diese Briefe zum Anlass, um darüber nachzudenken, was zwischen 1870 und 1950 aus Liebe, Treue, Ehe und Sexualität geworden ist. Das tut auch der Literaturwissenschaftler,

Übersetzer und Lektor des Hanser Verlages Wolfgang Matz. Er stellt sich die Frage, wie die drei großen Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts – Flauberts „Madame Bovary“, Tolstois „Anna Karenina“ und Fontanes „Effi Briest“ – sich zueinander verhalten und ob sie, aus der Perspektive gegenwärtiger Ehebruchromane gelesen – Matz widmet sich mit Hingabe Arno Geigers Roman „Alles über Sally“ und Michel Houellebecqs Roman-Gewaltakt „Elementarteilchen“ –, neue Seiten zeigen. Das ist ungemein erfrischend und sollte überhaupt eine Maxime der Literaturkritik sein: alte Werke im Horizont der Gegenwart zu lesen, ohne dabei den jeweiligen historischen Ort zu verleugnen. Wer dies tut, ­handelt meist sträflich naiv; als ob, ungeachtet aller gesellschaftlichen Entwicklungen, die großen Themen wie Liebe und Verrat sich nie änderten; als ob es keine Evolution und keine Geschichte der Gefühle und der sie einzäunenden Institutionen gäbe. Diese vergleichende Lektüre zeitlich so weit auseinanderliegender Romane erweist sich vor allem im der Gegenwart gewidmeten Kapitel des Buches als schlüssig. Emma Bovary wird im Jahre 1857 als Romanfigur öffentlich unglücklich, Sally und ihr Mann Alfred erscheinen als langgedientes Ehepaar im Jahr 2007 auf der Bildfläche eines Romans, als alle Kämpfe längst geschlagen scheinen. Emma und Anna begingen Selbstmord oder starben wie Effi; Sally und ihr Mann leben wahrscheinlich in einer mühsam austarierten Ehe gar nicht so unglücklich weiter, während der große Provokateur Houellebecq die immer ihrer Zeit nachhinkenden Gefühle mit den Glücksversprechen auf genetisch programmierte, endlich zum Glück befreite Menschen zusammenkrachen lässt.

„Die Kunst des Ehebruchs“ holt Emma, Effi und Anna, wie Matz sie vertraulich nennt, vor allem durch bewusst gesetzte sprachliche Kontrapunkte auf die Bühne unserer Gegenwart: Da erscheint dann zum Beispiel die Ehe, auf Tolstois eigenes Ehedrama gemünzt, als „die kleinstmögliche kriminelle Vereinigung“. Dem Autor gehen allerdings nicht selten die (Formulier-) Pferde durch, Flauberts Emma hat es ihm offensichtlich angetan: Einmal „ist es kein Wunder, dass Charles stehenden Fußes der scharfen Emma verfällt“, ein andermal versteht man „mit Blick auf Emmas Hinterteil (…) dass es kommt, wie’s kommen muss“. „Wenn es schwierig wird mit den Gefühlen (…), dann schlägt die Stunde der Romane“ – so lautet das Fazit. Allerdings nicht nur die Stunde der großen Romane, sondern auch der Trivialliteratur, die Emma Bovarys Gefühlsleben und dessen sprachlichen Ausdruck kontaminiert. Dem Reden oder Nichtreden über Gefühle und Sex widmet sich das Buch ausführlich, wodurch auch sichtbar wird, dass die gesellschaftlichen Veränderungen wie die Veränderungen im Verhalten der Einzelnen sich sprachlich abbilden – in den Leerstellen bei Fontane etwa, dessen Figuren am stärksten im engen Korsett ihrer Lebensweise und ihrer Sprache stecken; was symptomatischen Ausdruck im berühmten letzten Satz dieses Romans findet: „,Ach, Luise‘, seufzt der alte Briest, ,lass … das ist ein zu weites Feld.‘“ Worauf noch ein größerer Akzent zu legen gewesen wäre, ist die Tatsache, dass Frauen in der Reihe der „klassischen“ Ehebruchsgeschichtenschreiber von Flaubert bis Geiger als schreibende Subjekte kaum in Erscheinung treten. Sie sind Gegenstand der Analyse, Auslöserinnen von Skandalen, Opfer der Verhältnisse wie vor allem Effi Briest, der am wenigsten Empathie zuteil wird, Vorkämpferinnen auch eines selbstbestimmten Lebens. Die Romane von Tolstois Frau Tolstaja, die sehr viel später aus dem Nachlass veröffentlicht wurden, staffieren die Konflikte mit sprachlichen Versatzstücken aus, wo Tolstoi aufs Ganze geht, so Matz’ Urteil. Zu Recht verweist er auf Tolstois existenzielle und sprachliche Radikalität, wie sie nach „Anna Karenina“ vor allem in der Erzählung „Kreutzersonate“ zum Ausdruck kommt. Der späte Tolstoi zeigt keinen anderen Ausweg aus dem Widerspruch zwischen Moral und Trieb als die im praktischen Leben undurchführbare Entsagung. Fontane kommt schlechter weg, Flaubert ist der große Vorläufer, der Analytiker der gesellschaftlichen Umbrüche ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Buch bringt seinen Lesern die Romane, die Figuren und die Autoren, vor allem Tolstoi und seine Frau, näher. Die zentralen Thesen werden jedoch zu oft wiederholt, zu forciert setzt der Text auf die sprachlichen Pointen, zu nahe kommt er alltäglichen Binsenweisheiten: „Wer heiratet, der baut darauf, dass er nun etwas hat, auf das er bauen kann.“ Trotzdem: ein lesenswertes Buch eines ungemein belesenen Autors. BERNHARD FE T Z

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Falters KRimis

„Wenn es schwierig wird mit den Gefühlen, dann schlägt die Stunde der Romane“

TaTorT raThauS 13 Kriminalgeschichten aus Wien Intrige, Kleinkriminalität, ja sogar Mord und Totschlag lauern überall, ob auf dem Rathausplatz oder im Rathauspark, beim Eistraum, am Life Ball, bei einer Gala in den ehrwürdigen Hallen des Hauses und in den Magistratsabteilungen der Stadt. Das Böse schläft nie! 272 Seiten, 5 22,90

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Wolfgang Matz: Die Kunst des Ehebruchs. Emma, Anna, Effi und ihre Männer. Wallstein, 304 S., € 25,60

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Zu zweit in der Beziehungskiste Daniel Glattauers „Die Wunderübung“ und „Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit“ von Monika Helfer und Ingrid Puganigg aarweise Probleme zu lösen ist zweifellos eine qualvolle Angelegenheit. SeP hen sich zwei gar nicht mehr raus, können

sie auf die Idee kommen, den Weg zum Paartherapeuten anzutreten. Einen Weg antreten klingt nicht zufällig nach Schafott und Scharfrichter. Zweifellos empfindet es manch Beteiligter genau so. Alsbald findet man sich in der therapeutischen Praxis wieder, zumeist ein Raum, dessen Gestaltung ganz unverhohlen den „Zwang zur Ungezwungenheit“ ausstrahlt, was den Druck auf alle Beteiligten, jetzt doch endlich einmal ein ­offenes, lockeres Wort zu sprechen, nur noch weiter steigert. So weit das Klischee, so weit das Setting in

Daniel Glattauers neuem Werk „Die Wunderübung“. Unterschrieben ist es „Eine Komödie“. Tatsächlich ist es das Wesen jeder verfahrenen Partnerschaft, dass die schablonenhaften Streitereien, die ständig wiederholten Keilereien und das zermürbende Vorwurfs-Ping-Pong für Außenstehende unfreiwillig komisch klingen. Das ist bei Glattauer nicht anders und gut getroffen. Eine Komödie ist ­selbstverständlich zugleich auch ein Trauerspiel – jedenfalls gilt das für den hier beschriebenen Fall von ­Joana und Valentin, einem ­Ehepaar um die 40, das sich entschlossen hat, einen Paartherapeuten aufzusuchen und, als das Buch einsetzt, gerade zum ersten Mal dessen Schwelle überschritten hat. Beide befinden sich bereits im Stadium fortgeschrittener Befangenheit, als ihr Gespräch mit dem Therapeuten – im Buch ausschließlich „Berater“ genannt – einsetzt. Daniel Glattauer selbst ist hier ganz und gar in seinem Element. Er schreibt in Dialogen, wie er es schon in seinen beiden berühmten E-Mail-Romanen „Gut gegen Nordwind“ (2006) und „Alle sieben Wellen“ (2009) oder einer Reihe von Arbeiten fürs Theater getan hat.

Man spürt, dass der Dialog sein ureigenes Metier ist. „Die Wunderübung“, deren Theateruraufführung für der Saison 2014/15 jetzt schon geplant ist, ist kein Roman, sondern ein Textbuch, geschrieben in Dialogen, Szenenwechseln, Regieanweisungen und Schauspielanleitungen. Da spricht Joana „(energisch)“, „(sehr laut)“ oder „(sehr wütend)“, Valentin „(empört)“, „(angriffslustig)“ oder „(verblüfft)“, und der Berater versucht es mit „(lachend, amüsiert an beide gerichtet)“ oder mit „(langsam, feierlich, im Ton einer Wahlrede)“. Joanas und Valentins Konflikte sind eingefahren, rollen wie auf Schienen über den Paarberater hinweg. Seine in zunehmender Lautstärke geforderte therapeutische Intervention „Rollentausch!!“ verhallt lange Zeit ungehört, nur um dann ebenfalls ohne jede Wirkung auf die Kontrahenten ausprobiert zu werden. Also greift Glattauer und durch ihn sein Paartherapeut zu härteren Bandagen – was genau er macht, kann nicht verraten werden, ohne den Lesespaß am Buch erheblich einzuschränken. So viel darf man aber sagen: Ein bisschen getrübt wird das Vergnügen an diesem durchaus amüsant zu lesenden Kammerspiel für drei eben genau dadurch, dass man dann doch bald einmal ahnt, was gespielt wird. Die große Überraschung ist keine mehr. Das ist ein echter Wermutstropfen, ändert aber nichts daran, dass man – wie immer bei Glattauer – beträchtliches Vergnügen an seinen, dem MittelschichtsWohlständler so absolut authentisch vom Maul abgeschauten Dialogen empfindet. Ratlos lässt einen ein anderes Buch zurück, das ebenfalls die im dialogischen Austausch vollzogene Paarbeziehung ins Zentrum gestellt hat. Hier geht es nicht um eine Liebesbeziehung, sondern um eine Frauenfreundschaft. Das Buch heißt „Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit“. Geschrieben haben es die Vorarlberger Schriftstellerinnen Monika Helfer und Ingrid Puganigg.

„Die regelmäßig besprochenen Absichten, einander zu treffen, schlagen stets und kontinuierlich fehl“

Zwei Frauen, die sich lange kennen und ihre Freundschaft erneuern, schreiben ­einander, wohl per E-Mail. Die eine, „M“, sitzt in Wien, die andere, „I“, in ­Hannover. Mit ihren Erfinderinnen, Monika Helfer und Ingrid Puganigg, haben sie mehr als nur die Initialen der Vornamen gemeinsam: auch das Alter, die Herkunft, Teile der Lebensgeschichte. Geschrieben sind die Mitteilungen, die die bei-

Daniel Glattauer. Die Wunderübung. Eine Komödie. Deuticke, 112 S., € 13,30

Monika Helfer, Ingrid Puganigg. Zwei Frauen warten auf eine Gelegenheit. Deuticke, 144 S., € 16,40

den Frauen einander zukommen lassen, in der Form von Kunstbriefen – mit rhetorischen Fragen, kleinen Anekdoten aus der Kindheit, Erzählungen über Enkel und Lebensgefährten, Rückblicken auf gemeinsame Erlebnisse. Die eine heiratet und kommt ins Krankenhaus. Das verändert den Ton der Korrespondenz aber nicht weiter. Die regelmäßig besprochenen Absichten, einander zu treffen, schlagen stets und kontinuierlich fehl – sodass der Eindruck entsteht, als sei das verfehlte Treffen wesentlicher Bestandteil der Freundschaft (wofür es in der Briefliteratur berühmte Vorbilder gäbe – Ivan Turgenjew oder Gustave Flaubert). Was die beiden Frauen einander schreiben? Schwer zu sagen. Sie erzählen einander vom eigenen Leben und Lieben. Aus dem Geschriebenen entsteht aber kein Bild. Es ist ein großes Geplänkel, ein einziges Ausweichen und Umgehen. Die beiden Frauen nehmen einander ernst und nicht ernst – wo es um Leben und Tod geht, sind sie unbeschwert. Bei manchem Alltäglichen werden sie streng und prinzipiell. Hier warten zwei Frauen auf eine Gelegenheit, die noch nicht gekommen ist, und setzen sich wie die Figuren, die auf dem Buchcover zu sehen sind, animalische Helmmasken auf, hinter denen sie ihre wahren Gesichter verbergen – auch wenn sie stets in Sätzen das Gegenteil behaupten und sich ihrer tief empfundenen Freundschaft versichern. Das Buch gleicht einem großen Schattenboxen. J U L I A K O S P A C H

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Selbstporträt des Paares im Paradies Apotheose eines jungen Ehepaars: das gemeinsame Tagebuch von Nathaniel und Sophia Hawthorne

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ber die soziale Verträglichkeit frischverliebter oder -vermählter Paare kann man unterschiedlicher Auffassung sein. Die Ablehnung, die sie mitunter auf sich ziehen, speist sich aus dem Wissen um ihre Autonomie und ist Symptom einer Kränkung. Die Aufforderung der Lassie Singers, die Pärchen mögen sich verpissen, es würde sie niemand vermissen, ist ja bloß Ausdruck des Wissens darum, dass es sich genau andersrum verhält: „Händchen halten und die Freunde vergessen“ – das ist es, was sich die doofen Liebespaare haben zuschulden kommen lassen. Ist man oder frau durch Paarbildung

nicht gerade des besten Freundes oder der besten Freundin verlustig gegangen, kann man die glorios hochmütige Selbstgenügsamkeit von Liebespaaren aber durchaus genießen. Ein schönes Dokument ebendieser liegt nun mit dem gemeinsamen Tagebuch von Sophia und Nathaniel Hawthorne vor, das im vergriffenen Original einfach als „The Common Journal“ firmiert, in der deutschen Übersetzung den Titel „Das Paradies der kleinen Dinge“ verpasst bekommen hat. Das klingt ein bisschen betulich, trifft den Charakter dieses vom 9. Juli 1842 bis zum 19. November 1843 sich erstreckenden Journals aber durchaus. Das gemeinsame Leben des frisch vermählten und soeben in ein altes Pfarrhaus in Concorde, Massachusetts, gezogenen Paares ist durchaus paradiesisch, wird aber aus einem sozusagen post-paradiesischen Blickwinkel beschrieben. Denn so wie Gott Adam nach dem Sündenfall dazu verdammt, sich mit Mühsal zu ernähren und das Brot im Schweiße seines Angesichts zu essen (1. Mose 3,17–19), so bekundet Nathaniel seine Abneigung gegen ebendiese Mühsal („ich hasse jede Arbeit“) und beschwert sich darüber, dass sein Paradies nicht mit Fließwasser ausgestattet ist: „Gegenwärtig sind wir in der lächerlichen Lage, nach Wasser aus der Welt draußen schicken zu müssen. Man stelle sich vor, wie sich Adam mit einem Eimer in jeder Hand aus dem Paradies schleppt, um

Wasser zu trinken zu holen oder damit Eva baden kann! Unerträglich!“ Nathaniel, der schon einen gescheiterten Versuch mit dem Leben in einer landwirtschaftlichen Kommune hinter sich hat, ist so etwas wie ein Bio-Bobo avant le lettre: Für diverse Zeitungen spinnt er „zum Wohle der Nation intellektuelles Garn“, wie es seine Frau ausdrückt, er unternimmt Spaziergänge und kümmert sich ein bisschen ums Gemüse und ums Obst, das reichlich vorhanden ist. Sein schlimmster Feind: der Kürbiskäfer. Zwar bleibt, wie Nathaniel beteuert, der Schnee auf der Allee „von allen Fußspuren unberührt (…) außer von meinen“, aber in wirklicher Abgeschiedenheit leben die Hawthornes nicht. Neben dem Dienstmädchen Molly, das „Lamm, unseren eigenen Spargel, Makkaroni & Kartoffeln“ aufträgt (Verliebte haben wirklich einen Saumagen), gibt es Kontakte zu so berühmten Nachbarn wie dem Philosophen Ralph Waldo Emerson oder dem in einer Blockhütte am Walden Pond lebenden Henry David Thoreau, den Nathaniel „hässlich wie die Sünde“, aber doch ehrlich und liebenswürdig findet, „auch wenn er wie alle anderen Transzendentalisten (…) anspruchsvoller ist, als wünschenswert wäre“. Thoreau ist es auch, dem Nathaniel ein Kanu abkauft, mit dem er etwas ungelenke und gar nicht so ungefährliche Ausflüge auf dem schwarzen und schlammigen Concorde unternimmt. Das Wasser ist das wichtigste Element in den Aufzeichnungen. Dass die gespiegelte Welt schöner, ja wirklicher sei als die reale, ist ein Gedanke, den Nathaniel wiederholt aufgreift. Der Umstand, „dass die kleinste und trägste Sumpfpfütze in sich ein Abbild Sophia & Nathaniel Hawthorne: Das Paradies der kleinen Dinge. Ein gemeinsames Tagebuch. Dt. von A. Pechmann. Jung und Jung, 200 S., € 19,90

des Himmels enthalten kann“, ist ihm Hinweis auf die Gottesebenbildlichkeit auch jener Menschen, denen man ein Seelenleben absprechen möchte, und das spiegelnde Wasser hilft ihm, Hades und Himmel in eins zu denken und das Paradies im Irdischen zu verankern: „Gestern Abend hatten wir das schönste Mondlicht, das je diese irdische Welt geheiligt hat, und als ich zum Baden in den Fluss ging, der so still wie der Tod war, schien es, als würde ich in den Himmel eintauchen. Doch möchte ich gerade jetzt lieber auf Erden sein als selbst im siebten Himmel.“ So wie der Himmel im Fluss spiegeln sich

die Hawthornes in der sie umgebenden Welt. Entgegen der behaupteten Selbstgenügsamkeit bedürfen sie dieser, denn die Paarexistenz ist, wie Peter Handke in seinem schönen und klugen Vorwort schreibt, „eine Dreiecksgeschichte (…) mit der Natur und (…) mit den Menschen“. Die Natur ist zugleich Spiegel, Echo und Kontrast-

folie der Liebenden – ist das Wetter mal schlecht, dann ist eben der andere die wahre Sonne –, und mit den Menschen verhält es sich ähnlich: Laden die Hawthornes zu Tisch, dann führt Sophie „mit aller vorstellbaren Anmut und Damenhaftigkeit den Vorsitz“ und kann ihrerseits des Gatten „Haltung würdevoller Gastfreundschaft am anderen Ende des Tisches bezeugen, so dass kein begründeter Zweifel aufkommen dürfte, dass wir beide vollendete Gastgeber waren“. Ja, glückliche Paare können schon auch nerven. Das von Alexander Pechmann sehr animiert übersetzte und untadelig edierte Journal enthält nicht alles, was ihm die beiden Verfasser anvertraut haben. Vor allem Sophie hat das Tagebuch heftig „zensiert“: Von der im Februar 1843 erlittenen Fehlgeburt finden sich nur noch Andeutungen. Die Hoffnung auf Kinder blieb indes nicht unerfüllt: Vier Monate nach dem letzten Eintrag kommt Una, das erste der drei gemeinsamen Kinder auf die Welt. K L AUS NÜCHTERN

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Es braucht Frauen, die aufräumen Martin Mosebach erweist in seinem Roman „Das Blutbuchenfest“ unverkennbar Heimito von Doderer seine Reverenz ine Literaturgeschichte des verpatzten Festes, von der Antike bis zu Horváth E und Doderer, wollte Wendelin Schmidt-

Dengler immer schreiben, leider ist er dazu nicht mehr gekommen. Martin Mosebachs neuer, epochal ausgebreiteter Roman erzählt gleich von drei verpatzten Festen; bei zweien davon gibt es einen Toten. Beim Hochzeitsfest in einem bosnischen Dorf geschieht ein Unglück, beim Geburtstagsbankett für einen Frankfurter Anwalt droht der Herztod eines Gastes die Feier zu sprengen, weshalb das feinstmechanisch aufeinander abgestimmte Gastgeberpaar den Mantel der Diskretion darüberbreitet. Das titelgebende „Blutbuchenfest“ (Blut muss also fließen!), auf das der Roman unaufhaltsam zusteuert, entgleist nicht nur, weil Hausherr und Maître de Plaisir sich aus dem Staub machen und Jugendliche die Party entern, sondern weil zur gleichen Zeit in Bosnien der Krieg ausbricht und die gar nicht heimliche Heldin des Romans, die Putzfrau Ivana, die Flucht ihrer Familie übers Handy miterlebt. Übers Handy? 1992? Mosebachs vermeintlicher Regiefehler hat eine Realismusdebatte im Feuilleton ausgelöst: ScienceFiction im realistisch ausgepinselten Gesellschaftsroman? Ausgerechnet der glühende Antimodernist Mosebach wollte auf den Kniff der Simultaneität durch Technik aber nicht verzichten. Genauso wenig kümmert er sich darum, dass es dazumal kein „Kroatisch“, sondern nur das „Serbokroatische“

gab. Diese programmatische Ignoranz ist der eine Schönheitsfehler des Buches, der andere ist womöglich noch substanziellerer Natur: Doderers Name ist gefallen. „In der Nachfolge ist bereits der Ansatz zur Parodie“ – an diesen Satz von Elazar Benyoëtz denkt man gleich im ersten Kapitel, in dem die Beschreibung Ivanas als schaumgeborene Venus in der Badewanne ihrer Arbeitgeberin den über alles Bescheid wissenden, jede Arabeske auskostenden Erzählton der „Strudlhofstiege“ perfekt imitiert. Was Doderer der Hausmeister, das ist Mosebach die Bedienerin: geheimnistragende Stabsstelle des amourösen Geschehens. Doderers Liebe zu Reptilien entspricht hier eine – unvergessliche – Hommage an die Schildkröte, und sogar die Bedeutung des häuslichen Raumes für die Erzählarchitektur übernimmt der Autor von seinem Vorbild. Die Frage bleibt, ob solch rückhaltlose Reverenz ein Kunstwerk nicht in seinem Kern bedroht.

„Was Doderer der Hausmeister, das ist Mosebach die Bedienerin“

Und doch ist „Das Blutbuchenfest“ vermut-

lich Martin Mosebachs bestes Buch, weil in all dem Stilprunk und der Manier – „Sopha“ schreibt ja nicht einmal Doderer – ein Anliegen mit ironischer Schärfe Form annimmt: gegen die wahre Welt der kleinen Leute (auch etwas Dodereskes) die Frivolität dieser Frankfurter Werbefritzen, Agenturinhaberinnen und Unternehmersgattinnen auszustellen, die sich aufplustern, als „lebten sie nicht auf hauchdünnem Eis, als

Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Hanser, 448 S., € 25,60

sei ihr Leben ein Fest und ihr Mann ein sicheres Fundament“. Der von Frau Breegen ist es nicht, Ivana entdeckt ihn im Kleiderkasten der schönen Maruscha. Ein zweiter Erzähler erschließt uns abwechselnd den Kosmos der mehr eingebildeten als echten Reichen und Schönen, zusammengehalten durch Ivana, die Ordnungskraft, und Merzinger, den windigen Szenewirt, der just aus Niederösterreich kommt. Dieser Icherzähler, ein junger Kunsthistoriker, soll für den berühmten Pläneschmied Professor Wereschnikow die Ausstellung eines verblichenen jugoslawischen Bildhauers realisieren, mit dem Ivana, welch Zufall, verwandt ist. Er scheitert darin wie in seiner Liebe zu Winnie, dem unsteten Feenwesen. Das großsprecherische Projekt am Rande des Abgrunds ist ein europäischer Kongress zur Rettung Jugoslawiens mit dem Titel „Die Wurzeln und Fundamente der menschlichen Würde in den Kulturen des Balkans“ – hier winkt die Musil’sche Parallelaktion. Verkörpert wird die menschliche Würde hingegen von der jedem Wortgeklingel abholden Ivana, einem „Homo hierarchicus“ mit „anarchischer Disposition“, der „wie ein Widder“ wütend durch die Welt rennt, um es mit ihr aufzunehmen. Mosebach lässt keinen Zweifel daran: Wenn unsere Zivilisation sich nach desaströsen Zusammenbrüchen immer wieder aufs Neue aufrappelt, dann weil sie aufräumen: Frauen wie Ivana. DANIEL A STRIGL

Die Luzidität der Grenzgänger Dorothee Elmiger entwirft in ihrem zweiten Roman „Schlafgänger“ eine tagtraumartige Poetik der Zwischenräume ie nah ist die Wirklichkeit dem W Traum? Mit ihrem zweiten Roman „Schlafgänger“ entführt uns Dorothee El-

miger in schimmernde Zwischenreiche aus Halluzination, Erinnerung und Phantasmagorie. Der Leser lauscht einem Gespräch unter Lebenskünstlern, wirren Köpfen und Hobbyphilosophen, das ihm einen schier unendlichen Erzählkosmos eröffnet. Statt auf eine lineare Handlung setzt die junge Autorin von Anfang an auf skurrile Miniaturgeschichten, die sich dem Leser wie ein funkelnder Scherbenhaufen darbieten. Geradezu leitmotivisch führen die ­tranceartigen Ausführungen eines nicht näher benannten Logistikers in das Geschehen ein. Als wäre ihm nach Tagen der Schlaflosigkeit das Realitätsvermögen entglitten, beschreibt er, wie auf einmal verschiedene „Schlafgänger“ seine Wohnung bevölkern und seither dort als inzwischen von ihm akzeptierte, aber immer noch gespenstische Zeitgenossen hausen. Der „Student aus Glendale“, ein weiterer Gesprächsteilnehmer, weiß hierzu ebenfalls von einem Amerikaner zu berichten, „der vor gut fünfzig Jahren rund zweihundert Stunden ohne Schlaf zugebracht habe. Am fünften Tag habe der Mann behauptet, er sähe Spinnen, die aus seinen Schuhen kröchen.“ Was sich diesen skurrilen Berichten, deren

Surrealität an die Methode des automatischen Schreibens denken lassen, entwindet, sind literarische Einladungen zur Verfüh-

rung durch Sprache und Geist, zur Assoziation und vor allem zu luziden Grenzgängen. Sinnbildlich daher auch immer wieder die Rede von Städten in Übergangsbezirken wie beispielsweise Texarkana (eine Kontamination aus Texas und Arkansas) oder Mexicali, „deren Name Mexico und California verbindet“. Indem die Figuren in einer endlosen Suade von ihren Reiseerfahrungen sprechen, überwinden sie nicht nur die geografischen Kartografien, sondern gleichsam jene der Vorstellungskraft. Das Ensemble, darunter auch rätselhafte Erscheinungen wie Fortunat und A. L. Erika, begründen einen poetischen Raum, der reale Orte auf magische Weise in Kunstzonen überführt.

„Elmiger erweist sich als wahre Magierin in Sachen Wortalchemie“

Während der Leser hierin jedoch eine enge

Wenn etwa A. L. Erika von den Einbildungen

eines verwirrten Buspassagiers in Los Angeles spricht, wird die Metropole an der amerikanischen Ostküste selbst zur illusionären Kulisse. Die 1985 in der Schweiz geborene Schriftstellerin erweist sich dabei mit ihrer Begeisterung für den Konjunktiv und Zitate wie ihrer Vorliebe für eine alles vereinnahmende Collage als wahre Magierin in Sachen Wortalchemie. Die Sprache scheint nur vorhanden, um aus ihr Vision und Transzendenz herauszuzaubern. Ähnlich der Programmatik Daniel Kehlmanns oder Sibylle Lewitscharoffs verspricht auch Elmigers Euphorie für die wundersamen Übergangwelten eine utopische Kraft, die sie bereits in ihrem gefeier-

ten Debüt „Einladung an die Waghalsigen“ (2010) beschwörte. Um aus der Tristesse einer postapokalyptischen Wüstenregion auszubrechen, begeben sich darin zwei Mädchen auf die Suche nach einem mirakulösen Fluss namens ­Buenaventura, dessen Existenz lediglich einige vergilbte Schriften bezeugen – ein schillernder Appell zum Aufbruch einer perspektivlosen Jugend, der das Potenzial zum Generationenroman in sich trägt.

Dorothee Elmiger: Schlafgänger. Dumont, 160 S., € 18,50

Verbindung zu den Protagonistinnen aufbauen kann, bleiben die zahllosen Figuren ihres aktuellen Prosabandes unzugänglich und artifiziell. Dennoch glaubt Elmiger an das Erzählen. Es dient nicht nur dazu, die Welt zu erfassen, sondern sie gleichsam poetisch mit juveniler Passion zu revolutionieren. Dass die Autorin nicht nur die Grenzen der Sprache und unserer Fantasie im elektrostatisch aufgeladenen Luftraum zwischen Tag und Traum sprengt, zeigt sich nicht zuletzt in ihrer dezidierten Schweiz-Kritik. Der von ihr diagnostizierten fremdenfeindlichen Angst der Eidgenossen vor den „Zigeunerbanden“ und einfallenden Asylanten stellt Elmiger mutig das Modell einer gewachsenen Menschheitsfamilie entgegen, deren geheimer Bund eben nicht in der gemeinsamen, sondern in der Vielzahl ihrer Geschichten zu bestehen scheint. Ein mondänes, hellsichtiges Buch.

BJÖRN HAYER


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Thomas Bernhard goes Pop Zu seinem 25. Todestag sind ihm ein ziemlich kurioser Roman und ein neuer Mahler-Band gewidmet

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rgendwann musste es passieren, so spröde konnte der Altmeister doch gar nicht sein. Der Autor und Grantscherben der Nation Thomas Bernhard wird 25 Jahre nach seinem Ableben zur Popikone erklärt, und das auf äußerst unterschiedliche Weise. Alexander Schimmelbusch, 1975 in Österreich geboren, in Deutschland und den USA aufgewachsen und als Journalist tätig, legt mit „Die Murau Identität“ seinen dritten Roman vor. In diesem wird der Tod von Thomas Bernhard als Schwindel enttarnt. Alexander, so heißt der freischaffende Journalist und Icherzähler, bekommt die versiegelten Reiseberichte Thomas Bernhards zugespielt, die kein Geringerer als sein ehemaliger Verleger Siegfried Unseld verfasst haben muss. In den Berichten reist der Verleger einige Jahre nach dem fingierten Tod zum putzmunteren Dichter nach Mallorca, wo sich dieser eine bürgerliche Existenz aufgebaut hat, mit Frau und Kind!

„Man kann mit Bernhard viel verbinden, nur keine lockere Atmosphäre“

Es ist nicht unwitzig, sich in Unselds Gedan-

kenwelt hineinzubegeben. Bernhard verprasst das Geld des Verlegers im Hotel und kauft sich dann an der Steilküste bei Deià eine pompöse Hazienda. Er stellt dem Verleger jedoch auch, fast als Gegenleistung, einen weiteren Roman in Aussicht. Das klingt schon einmal nach Bernhard, der mit Unseld schon immer seine Spielchen am Laufen hatte. Hier treten dann auch wunderbar skurrile Geschichten zutage, wie die über eine asiatische Vase, die Unseld von Bernhard geschenkt bekommen hat und sich nun als Ramsch herausstellt. Dass dem Autor ein grauer Benz aus den 1960er-Jahren gehört, passt auch, kann man sich doch noch sehr gut an die Bernhard-Dokus erinnern, in denen er mit einem schwarzen Benz durch Ohlsdorf kurvte. So weit, so gut. Die Berichte des Verlegers werden jedoch regelmäßig durch eine Art Roadmovie des Journalisten unterbrochen, der sich auf die Suche nach Thomas Bernhard begibt. Dass der Journalist hier einen ziemlich frivolen Lebensstil führt, ist zwar seine Angelegenheit, wirkt aber doch wie ein Stilbruch. Man kann mit Bernhard viel verbinden, nur keine lockere Atmosphäre. Schimmelbusch hatte beim Schreiben anscheinend nicht nur Bernhard im Kopf. Er erwähnt einige Male auch Michel Houellebecq. Überhaupt sind hier auch Autoren Teil der Story, die man in einem „Such den Bernhard“-Roman nicht erwartet hätte: Bret Easton Ellis oder Salman Rushdie zum Beispiel. Heikel wird’s bei Peter Handke. Bernhard und Handke haben sich bekanntlich nie vertragen, im späteren Alter hatten sie ein Verhältnis wie Hund und Katz, das durchaus von Bernhard ausging.

vatgelehrter auf die Ehrendoktorwürden, die ihm wegen seines „Traktats zur Weltverbesserung“ verliehen werden sollen. Aber warum eigentlich, sinniert der Gelehrte, denn das Traktat habe niemand verstanden, lediglich er selbst. Bis die Herrschaften kommen, wartet er in seinem Ohrensessel und schickt seine Dienerin über die Bühne. Mahler inszeniert sehr gut. Er holt sich aus

dem Stück seine persönlichen Highlights raus, verdichtet klug und lässt eine Thomas Bernhard ähnelnde Mahler-Figur auf einem übermächtigen Stuhl sitzend und schimpfend auf die Übergabe der Doktorehren warten. Zwischendrin schikaniert er seine Dienerin. Beide Charaktere sind „mahlerische Langnasen“ und sehr schrullig. Durch die äußerst reduzierte Form, die Mahler anwendet, gelingt eine höchst erfrischende Inszenierung. Bernhard kann sehr komisch und unglaublich menschlich dargestellt werden – vor allem, wenn Mahler zum Stift greift. Der Zeichner schafft Theater für Menschen, die im Prinzip keine Theatergänger sind oder ihren Hintern dazu nicht aufraffen können. Und das Schönste kommt am Ende. „Die Welt ist eine Kloake“, lässt Mahler seinen Bernhard sprechen, und als auf den letzten Seiten der Rektor samt Gefolge vorbeikommt, entleert sich diese als Gewitterwolke. Rawumm! Alles schwarz. MARTIN G. WANKO

N a c h d e m W e lt b e s t s e l l e r v o N J o N a s J o N a s s o N

DER

HUNDERTJÄHRIGE D E R A U S D E M F E N ST E R ST I E G U N D V E R S C H WA N D Wo er auftaucht, sind anarchie und chaos meist nicht Weit.

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Handke kriegt hier sein Fett ab. Warum eigent-

lich? Seine im Roman mehrfach erwähnten Schriften über den Balkankrieg, die ihm viel Kritik einbrachten, sind mittlerweile gegessen. Außerdem wird eine gewisse Eitelkeit, die Handke eigen ist, kritisiert. Mein Gott, Autoren mit Welterfolgen werden halt im Alter ein wenig eitel. Sätze wie „Handke ist davon überzeugt, dass jeder Satz, der ihm entweicht, Weltliteratur ist“ hätte sich Schimmelbusch schenken können.

Schade ist auch, dass die Proportionen in diesem Roman nicht ganz funktionieren: Auf das Erscheinen von Thomas Bernhard muss der Leser bis zum Schluss warten. Und dann verpflanzt der Autor Bernhard noch dazu in eine futuristische Welt, in der Gedankenströme durch Computerchips gelenkt werden können. Diese Welt erinnert wiederum eher an Houellebecqs ersten Roman „Elementarteilchen“. Lässt man einmal die Mängel beiseite, ist „Die Murau Identität“ das witzigste Bernhard-Buch, das Thomas Bernhard nicht geschrieben hat. Seine Verehrer sollten sich den Roman nicht entgehen lassen und in der Ecke für skurrile österreichische Literatur hat der Schimmelbusch sein fixes Platzerl. Der Zweite im Bunde der Bernhard-Veredler ist Nicolas Mahler. Der Illustrator und Comic-Künstler beweist mit der Auswahl der von ihm zu Graphic Novels verwandelten Büchern durchaus Geschmack: Musils „Mann ohne Eigenschaften“ war schon an der Reihe, ebenso H.C. Artmann, nun nimmt sich der Zeichner ein zweites Mal nach „Alte Meister“ Bernhards an und macht aus „Der Weltverbesserer“ eine kuriose und zugleich sehr menschliche Story. „Der Weltverbesser“ wurde 1981 unter der Regie von Claus Peymann im Schauspielhaus Bochum uraufgeführt, mit der Hauptrolle wurde Bernhard Minetti betraut. In dem Stück wartet ein greiser Pri-

Thomas Bernhard: Der Weltverbesserer. Gezeichnet von Mahler. Suhrkamp, 124 S., € 12,40

eine art skandinavische antwort auf “forrest Gump”! programmkino.de


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Ein Dokument der Todesfeindschaft Zeit seines Lebens rebellierte Elias Canetti gegen das Unvermeidliche. „Das Buch gegen den Tod“ zeugt davon

Sein Leben lang hat der Nobelpreisträger –

ein „Todfeind“ im Wortsinne – gegen das Faktum der Sterblichkeit rebelliert. Canetti hasste den Tod, er wehrte sich mit obsessiver Verbissenheit dagegen, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren. „Es ist um jeden schade“, notierte er 1951. „Niemand hätte je sterben dürfen.“ Neun Jahre zuvor, 1942, hatte der Schriftsteller in London mit der Arbeit an seinem unvollendeten Lebensprojekt be-

gonnen, einem monumentalen Anti-Todes-Buch, in dem er jahrzehntelang mit grimmiger Beharrlichkeit gegen das Wirken des Knochenmanns anschrieb. Jahr um Jahr, von 1942 bis zu seinem nicht zu verhindernden Ableben 1994, hat Canetti Material für dieses Totenbuch zusammengetragen, er hat tausende und abertausende von Notaten und Statements, Aphorismen, Geschichten und Exzerpten auf kleine, handliche Blöcke stenografiert, mit den penibel gespitzten Bleistiften, die auf seinem Schreibtisch zur Fixierung jäh einschießender Geistesblitze stets bereitlagen.

„Canetti wehrte sich mit obsessiver Verbissenheit dagegen, die Endlichkeit des Lebens zu akzeptieren“

Jetzt hat Canettis Tochter Johanna zusam-

men mit Sven Hanuschek, dem Biografen des Schriftstellers, und einem kleineren Editorenteam aus mehreren tausend Notaten eine Lesefassung des großen Todesbekämpfungsbuchs zusammengestellt, ein, wenn man so will, fragmentarisches Gegenstück zu „Masse und Macht“. Dieses „Buch gegen den Tod“, 350 Seiten dick, umfasst ein Achtel der Canetti’schen Aufzeichnungen zum Thema, zum Teil sind diese Notizen bereits in anderen Canetti-Editionen publiziert worden, zu zwei Dritteln allerdings nicht. „Das Buch über den Tod ...“, seufzt Canetti 1986, „ist immer noch mein eigentliches Buch. Werde ich es endlich in einem Zuge niederschreiben?“ Jahrzehntelang hat der Autor um eine schlüssige Form für das Wahnsinnsprojekt gerungen, 1988 scheint er ein für alle Mal zu resignieren: „Pensées gegen den Tod. Das einzig Mögliche: sie müssen Fragmente bleiben. Du darfst sie nicht selbst herausgeben. Du darfst sie nicht redigieren.“ Hat er auch nicht. Canetti hat diese Aufgabe seiner Tochter hinterlassen, und die hat, zusammen mit dem Editorenteam, gute Arbeit geleistet. Der Band präsentiert sich keineswegs als öder Textsteinbruch, in dem dann und wann ein aphoristischer Edelstein, eine epigrammatische Gemme aufblitzt. Nein, dieses Buch ist, bei aller Bruchstückhaftigkeit, ein erstaunlich klares Dokument der Todesfeindschaft, ein Konvolut

kristallklarer Sätze, dem gerade das Unabgeschlossene seinen Witz und seine existenzielle Sprengkraft verleiht. Wovon ist die Rede in Canettis Aufzeichnungen? Der Schriftsteller lässt seine thanatophoben Ängste Revue passieren, er analysiert die sophokleische „Elektra“ und beschäftigt sich mit der angeblichen Todesresistenz von Ameisen, er beschreibt ein „Himmelsbegräbnis“ in Tibet, in dem die Hochlandbewohner die Leichen ihrer Lieben an Geier verfüttern, und geht den bizarren Sterberitualen der Aborigines nach. Schon auf den ersten Seiten macht Canetti klar, dass ihm der Kampf gegen den Tod ein echtes existenzielles Anliegen ist: „Heute vor fünf Jahren ist meine Mutter gestorben“, schreibt er am 15. Juni 1942: „Kann ich wirklich fünf Jahre gelebt haben, und sie weiß von nichts? Ich will sie aus dem Sarg zurückholen, und müßte ich jede Schraube mit den Lippen wieder aufdrehen. Ich weiß, daß sie tot ist. Ich weiß, daß sie verfault ist. Aber ich werde es nie wahrhaben. Ich will sie wieder lebendig machen. Ich will alle Worte wiederhaben, die sie je gesagt hat ... Ich will die Spiegel zusammenstückeln, die einmal ihr Bild geworfen haben. Ich will jede Silbe kennen, die sie hätte sagen können, in jeder Sprache.“ Neben solchen Totenklagen der pathetischen

Elias Canetti: Das Buch gegen den Tod. Hanser, 352 S., € 25,60

Art finden sich ironische Sottisen gegen sich selbst („ich habe es so schwer, ich lebe gern“) und funkelnde Aphorismen, die sich in ihrer spöttischen Brillanz selbst ad absurdum führen: „Wer über den Tod geistreiche Dinge sagen kann, wer das über sich bringt, der verdient ihn.“ Das Anschreiben gegen den Tod scheint in Canettis Alltag den Charakter eines Rituals gewonnen zu haben, eines Abwehrzaubers gegen die bezwingende Macht des Todes, die vor allem auch eine Macht des Denkens an den Tod ist. Was dieses Buch am wenigsten bietet, ist Trost. Der Tod, das unumstößliche Faktum, dass wir und die, die wir lieben, eines Tages sterben müssen, vielleicht schon morgen, ist und bleibt ein Skandal. G Ü N T E R K A I N D L S T O R F E R

Illustr ation: daniel matzenbacher

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lar, man kann Canettis lebenslänglichen Infight gegen den Tod läppisch finden, unreif, obsessiv und in bestürzendem Maße kindisch. Schließlich hat man als mit den Begrenztheiten des Lebens ringender Agnostiker Epikurs weise Tröstungen verinnerlicht („Bin ich, ist der Tod nicht, ist der Tod, bin ich nicht“). Man hat seinen Montaigne gelesen („Nichts ist mehr schlimm für denjenigen, dem die Erkenntnis aufgegangen ist, dass es kein Unglück ist, nicht mehr zu leben“). Man hat in der Auseinandersetzung mit den vitalsten Köpfen der Philosophiegeschichte erkannt, dass das Dasein in seiner unerschöpflichen Farbigkeit seinen Wert erst vor der Folie des Todes gewinnt, dass Werden und Vergehen zu den Gesetzmäßigkeiten der Natur gehören und dass die Angst vor dem Tod, wie Psychoanalytiker behaupten, die ja bekanntlich alles wissen, letztlich nur Angst vor dem Leben sei. Klar, all das weiß man. Und dann stirbt einem die Frau weg, durch einen Autounfall oder ein geplatztes Aneurysma, beim fünfjährigen Kind der netten Nachbarsfamilie wird Knochenkrebs diagnostiziert, deine Mutter kriegt Alzheimer, und der beste Freund seit Jugendtagen, der, mit dem du vor 35 Jahren JohnLennon-Songs auf der Gitarre gezupft hast, geht eines Abends in den Wald und hängt sich auf, und du stehst vor einem schwarzverhängten Katafalk in der Einäscherungshalle und schaust zu, wie sich der Sarg des Freundes mit diskretem Surren in den Verbrennungsofen senkt. Dann bist du reif für Canetti.


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Ein ziemlich miserabler Autofahrer Die drei großen Romane von US-Autor Nathanael West liegen in neuer deutscher Übersetzung vor

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ine Briefkastentante, die an der Menschheit verzweifelt; ein junger Mann, der den Verheißungen des Kapitalismus vertraut und dafür gerne Gesundheit und Leben opfert; ein Maler, der als Dekorateur in Hollywood gerade noch über die Runden kommt: Das sind die traurigen Helden des Nathanael West. Mit seinen drei Romanen „Miss Lonelyhearts“ (1933), „Eine glatte Million“ (1934) und „Der Tag der Heuschrecke“ (1939) hat wenigstens er es zu einigem Erfolg gebracht. Der Manesse Verlag hat sie nun in den Rang von Klassikern erhoben. Seinen Eltern hätte das gefallen. Sie waren 1890 von Litauen nach New York ausgewandert und hatten es dort in kurzer Zeit in der Immobilienbranche zu einigem Erfolg gebracht. Traumatisiert vom Antisemitismus in ihrer europäischen Heimat sollte in der Neuen Welt nichts mehr an ihr Judentum erinnern. Nathan Wallenstein Weinstein, so hieß Nathanael West, als er 1903 geboren wurde, sollte in ein unauffälliges amerikanisches Leben hineinwachsen, ausgebildet an den besten Schulen. Doch Nathan war ein schlechter Schüler. Um

überhaupt aufs College zu kommen, musste er sein Abschlusszeugnis fälschen: Vergebliche Mühe, denn schon nach einem Semester wurde er wegen mangelhafter Leistungen exmatrikuliert. Auf etwas rätselhafte Weise kam er in den Besitz der Zeugnisse eines Namensvetters, die ihm den Zugang zur Universität ermöglichten. Dort machte er sich als Frauenheld einen Namen und begeisterte sich für die Literatur der europäischen und amerikanischen Avantgarde. Außerdem legte er sich einen neuen Namen zu: 1926 ließ er sich bei den Behörden als Nathanael West registrieren. Mit einer dreimonatigen Reise nach Paris vollendete er seinen Bildungsroman. Später behauptete er, er habe drei Jahre dort gelebt. Ein Lügner? Ein Hochstapler? Oder nahm er sich einfach die Freiheit, sein eigenes Leben zu erfinden? Man mag das nicht entscheiden. Er lernte den Surrealismus kennen, vielleicht auch den Dadaismus, tauchte in jene Kunst ein, die er daheim in den USA nur aus Büchern kannte. Der Sohn einer strebsamen Migrantenfamilie hatte sich in einen Bohemien verwan-

delt, der sich mit Verachtung und Spott, aber auch mit einer großen Lust an der Groteske über die Welt der Bürgerlichen und Strebsamen hermachte. Bei Manesse hat man sich, wie schon früher

bei Diogenes, gegen eine Übersetzung seines Debütromans „The Dream Life of Balso Snell“ aus dem Jahr 1931 entschieden. Er gilt als komplett misslungen, von den 500 gedruckten Exemplaren musste der Autor 150 selbst aufkaufen. Die Neuausgabe der drei kanonischen West-Romane bietet nicht nur neue Übersetzungen, sondern auch Anmerkungen und umfangreiche Nachworte. Wer sie an einem Stück liest, dem kommt es so vor, als tauche er ein in eine sehr schräge Trilogie über die USA in den Jahren der Depression – als die sie freilich nicht konzipiert sind. West, der sich seinen Lebensunterhalt mit miesen Jobs in Hollywood verdiente, kannte die Welt der kleinen Leute, der Absteiger und der chronischen Verlierer, die sich wider alle Erfahrung und besseres Wissen nicht von der Idee abbringen lassen, dass der Kapitalismus auch in ihrem Leben sein Glücksversprechen einlösen werde. „Eine glatte Million“, der mittlere Roman, treibt diese Illusion ins grausame Extrem, und empfindsame Gemüter sollten sich West vielleicht nicht gerade über dieses Buch nähern. Lemuel Pitkin wächst irgendwo in Vermont auf, das Schicksal meint es ziemlich schlecht mit ihm. Mit zarten 17 Jahren ist er bereit, alles zu tun, um innerhalb von drei Monaten das Geld zu verdienen, das seine Mutter braucht, um eine plötzlich gekündigte Hypothek zu bezahlen. Pitkin begibt sich auf eine Odyssee quer durch die USA, gerät in seiner grenzenlosen Naivität an Gauner, Verbrecher und Betrüger, verliert nach und nach sein Gebiss, ein Auge, ein Bein, ja, auch seinen Skalp. Auf einer Versammlung des Demagogen Mr Whipple wird er von der Kugel eines Kommunisten tödlich getroffen. Jetzt erst beginnt sein wirkliches Leben: Als Märtyrer der „Bewegung für den radikalen Mittelstand“ steigt er zum Helden auf. Man kann an diesem Roman sehr schön beobachten, wie West mit einem ganz realistischen Setting beginnt, das sich unverse-

Nathanael West: Miss Lonelyhearts. Deutsch von Dieter E. Zimmer, Manesse, 176 S., € 20,60

Nathanael West: Eine glatte Million. Deutsch von Dieter E. Zimmer. Manesse, 224 S., € 20,60

Nathanael West: Der Tag der Heuschrecke. Deutsch von Klaus Modick. Manesse, 272 S., € 20,60

hens in ein Horrorszenario verwandelt. Das Verfahren erinnert daran, wie sich im Surrealismus vertraute Bilder jäh in die Kulissen eines Albtraums verwandeln. Wer da noch an das Gute im Menschen glaubt, dem ist nicht zu helfen. Liebe und Vertrauen zum Beispiel sind nur noch Kraftstoffe, die den Kapitalismus und speziell die Medienindustrie in Gang halten. Davon erzählt „Miss Lonelyhearts“. Man beichtet seinen Liebeskummer nicht mehr der Freundin, sondern einer Briefkastentante, die im wirklichen Leben ein Mann ist und in der Redaktion einer Boulevardzeitung, und zwar ausgerechnet im Feuilleton, sitzt. Auf Dauer geht das an die Substanz: „Die Briefe

waren nicht mehr komisch. Er konnte nicht monatelang dreißigmal täglich den gleichen Witz komisch finden. Und an den meisten Tagen bekam er mehr als dreißig Briefe, alle einander ähnlich, mit einer herzförmigen Ausstechform aus dem Teig des Leidens gestanzt.“ Aus Mitleid schläft der Mann mit einer Leserbriefeschreiberin und wird von deren eifersüchtigem Ehemann erschossen: der nächste Märtyrer. Und schließlich „Der Tag der Heuschrecke“, häufig als Wests Meisterwerk gefeiert. Dabei fällt der Unterschied zu den beiden anderen Romanen gar nicht so sehr ins Gewicht. Allerdings präsentiert West hier eine gnadenlose Innenansicht von Hollywood. Das weckt nicht nur literarisches Interesse. Tatsächlich lebt der Roman vom Arrangement einer Unzahl trauriger, gescheiterter Existenzen, die fest daran glauben, in der Traumfabrik ihr Glück zu finden. West beschreibt, wie sich typischerweise im Umkreis der Medienindustrie ein ganz spezifisches Prekariat entwickelt, das heute in den Castingshows seine Chance suchen würde. Eine besonders traurige Figur heißt übrigens Homer Simpson und es passt zur ganzen Verrücktheit seines Schöpfers, dass die Erfinder der Simpsons angeblich nichts von ihm wussten. Nathanael West soll ein ziemlich miserabler Autofahrer gewesen sein und starb 1940 auf dem Weg zur Beerdigung seines Freundes F. Scott Fitzgerald bei einem Unfall: ein Ende, wie er es sich auch für eine seiner Romanfiguren hätte ausdenken können. TOBIAS HE YL

Falter Krimi s

Jürgen Benvenuti

Leichenschänder ein Wiener Kriminalroman Laurenz Breitmaier ist Fotograf bei der Boulevard-Zeitung Voll Dran! Als eine Serie bestialischer Hunde-Morde die Wiener in Atem hält, wird Breitmaier von seinem Chef auch als Journalist auf den Fall angesetzt. Nachdem ein junger Mann verstümmelt aufgefunden wird, recherchiert der Reporter auf eigene Faust weiter und kommt einer irrwitzigen Geschichte auf die Spur, die ihn schließlich bis in die höchsten Kreise der städtischen Politik führt.

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Vom Manager zum Bademeister Tote geistern durch Heinrich Steinfests neuen Roman, aber am Ende triumphieren das Leben und die Liebe m 26. Jänner 2004 explodierte in Taiwan ein Pottwal. Mitten im FrühverA kehr, auf der Ladefläche eines Lkw, der den

angespülten Kadaver zu einer Forschungseinrichtung in der Stadt Tainan transportieren sollte. Gärgase sprengten den verwesenden Leib, Blut und Eingeweide spritzten in alle Richtungen und besudelten Fassaden, Autos und Schaulustige. Keine gustiöse, aber eine gute Story. Heinrich Steinfest setzt dieses reale Ereignis an den Anfang seines neuen Romans „Der Allesforscher“ und ergreift die verlockende Gelegenheit, einen fiktiven Charakter zur falschen Zeit am falschen Ort sein zu lassen. Der Geschäftsreisende Sixten Braun, gerade auf dem Weg zu seinem Hotel, wird von einem Klumpen Walfleisch am Kopf getroffen, fällt für ein paar Tage ins Koma, wacht im Krankenhaus wieder auf und verliebt sich umgehend in seine Ärztin. Eine Geschichte, die mit einem explodieren-

den Wal beginnt, kann ruhig weitere dramatische Wendungen nehmen. Man ist gut eingestimmt, zum Beispiel auf einen Flugzeugabsturz. Sixten überlebt auch diesen auf wundersame Weise, schmeißt danach seinen Managerjob hin und wird Bademeister. Das Tolle an dem ungewöhnlichen Erzähler Steinfest ist, dass man das alles völlig plausibel findet und der Story bereitwillig folgt, wie ein vertrauensvoller Bergsteiger einem leicht verrückten Sherpa.

Es folgen noch mannigfaltige absurde Geschehnisse und Begebenheiten, in deren Verlauf der Held seiner großen Liebe verlustig geht, die falsche Frau heiratet, eine desaströse Scheidung übersteht, eine neue Freundin mit verschiedenfarbigen Augen und einem Nasenstecker in Sternchenform findet, einem pensionierten Messerwerfer und einer kettenrauchenden Pianistin begegnet, vor allem aber recht unverhofft Vater eines kleinen Jungen wird, der sich später als der titelgebende Allesforscher entpuppt, welcher sehr eloquent kommuniziert, freilich in keiner bekannten Sprache. Auf der turbulenten Reise durch Steinfests rapide expandierenden Romankosmos begegnet man weiters einem gesundheitlich beeinträchtigten Erpel, einem entlaufenen Strauß und einem Lawinenhund namens Andreas, der selbst gern verschüttgeht und deshalb mit zwei roten Kreuzen am Fell markiert wird, damit man ihn leichter findet. Der Österreicher Steinfest, 1961 im australischen Albury geboren, aufgewachsen in Wien, lebt als Schriftsteller und bildender Künstler in Stuttgart und hat sich vor allem mit schrägen Kriminalromanen einen Namen gemacht. Seine Geschichten wirken extrem konstruiert, doch entspinnt sich die Handlung stets eigentümlich unangestrengt, so als folge der Autor selbst seinen Figuren staunend auf ihrem Weg. Dieser Weg verläuft keineswegs geradlinig. Mehr oder weniger lohnende Umwege und Abste-

„Man folgt der Story wie ein vertrauensvoller Bergsteiger einem leicht verrückten Sherpa“

cher unterhalten bestenfalls blendend oder langweilen maximal gelinde. Eine Spezialität Steinfests sind in den Romanverlauf einmontierte Exkurse seiner Protagonisten zu verschiedensten Themen, in diesem Fall zu Vegetarismus, Korruption, dem Wesen des Hürdenlaufs, Religion, Familie, Alpinismus, Kunst und Film. Eine weitere Besonderheit sind seine Bilder:

Heinrich Steinfest: Der Allesforscher. Piper, 400 S., € 20,60 Lesung: 9.4., Wien, Hartliebs Bücher

Originale, nirgends sonst zu finden. Er beschreibt einen Augenaufschlag, der „wie ein Fächer die Luft antreibt und mit leichter Verzögerung einen vom Plafond hängenden Faden bewegt“, ein Lächeln „gleich einem Pinselstrich von Eiklar, dünn und durchsichtig“, und einen kühlen Wind, der „die Reste eines warmen Tages in der Weise zerteilte, wie eine leichte Ohrfeige links und rechts verabreicht wird“. Oder diese kleine Extravaganz: „‚Nur ganz kurz‘, sagte ich mir, wie man sich das oft sagt, bevor man in den Schlaf fällt wie eine Kuh, die aus einer dieser russischen Transportmaschinen fällt, aber eben nicht auf einem japanischen Walfangschiff landet, sondern ins Meer stürzt, ein wenig umhertreibt, um dann erneut abzusinken, in die Tiefsee zu gleiten, ins absolute Dunkel: eine tote Kuh, umgeben vom Blitzlichtgewitter jagender Anglerfische.“ Wer Steinfest schon länger schätzt, wird auch dieses Buch mögen, wer ihn noch nicht kennt, kann getrost damit anfangen. CHRISTINA DAN Y

Gott schaut auf eine Zigarette vorbei Magischer Realismus: Die Finnin Selja Ahava erzählt eine ungewöhnliche Demenzgeschichte voll Sehnsucht und Leichtigkeit nna wohnt in einem Pflegeheim irA gendwo in Finnland. Die Gegenwart verwirrt sie, und auch auf die Vergangen-

heit ist kein Verlass. Aus den Tiefen ihres Gedächtnisses steigen Erinnerungen auf: an die Sommer mit ihrem Mann Antti auf ihrer geliebten Insel, an die Zeit nach Anttis Tod in London oder an die Erfrorene, die sie an einem Wintertag im Wald gefunden hat. Hat man das nicht schon unzählige Male gelesen? Demenztragödien, deren größter Pferdefuß nicht die Larmoyanz ist und auch nicht das Klischee, sondern vor allem die Unglaubwürdigkeit. Denn wie soll man erzählen, was im Kopf eines Menschen vor sich geht, den das grundlegende Strukturelement seines Wesens im Stich lässt: sein Denkvermögen? Selja Ahava bietet eine überzeugende Varian-

te an, indem sie auf jede Wirklichkeitstreue und Wahrscheinlichkeit pfeift. Ihre Protagonistin durchlebt erneut Szenen ihres Lebens, die trotz ihrer Detailfülle fragmentarisch bleiben. Es sind nichts als Fetzen, die an der Oberfläche von Annas Gedächtnis treiben. Je mehr ihr einfällt, desto sichtbarer werden die Lücken, die sich nicht mehr schließen lassen. Ganze Lebensabschnitte liegen im Dunkeln. Nach und nach verliert sie auch die Deutungshoheit über den Teil ihrer Vergangenheit, an den sie sich zu erinnern meint. Sämtliche Grenzen beginnen zu verschwim-

men: nicht nur zwischen den Zeiten oder zwischen Einbildung und Wirklichkeit, sondern auch zwischen dem eigenen Schicksal und fremden Leben, zwischen Menschen und Tieren. In der Gegenwart, diesem einsturzgefährdeten Konstrukt, verfliegt die Zeit wie in Albträumen, wechseln Dinge ihre Bedeutung, duplizieren sich Räume. Die Verunsicherung überträgt sich auf den Leser, denn – zum Glück – gibt es in diesem Buch keine ordnende, Unklarheiten beseitigende Instanz. Mit Anna steht man auf schwankendem Grund, von dem sich das Nichts Stück für Stück holt. Ahava erzählt die Geschichte einer existenziellen Auflösung. Es gelingt ihr ohne jede Schwere. Das Jetzt, Annas Leben im Heim, bleibt dabei marginal. Der Schwerpunkt liegt auf dem Früher, und das ist vollkommen plausibel. Den Heimalltag schildert die Autorin nur sehr sparsam, und so entgeht sie nicht zuletzt Sentimentalität, unappetitlichem Naturalismus oder dem „J’accuse ...!“, das Alzheimer-Geschichten oft so schwer erträglich macht. Das Heim ist jedenfalls nicht Annas Hauptproblem. Einmal läuft sie davon und wird wieder eingefangen. Ein anderes Mal kommt Gott zu Besuch und raucht mit ihr eine Zigarette. Diese Form des magischen Realismus beherrschen vielleicht nur die Skandinavier. Da werden Babys aus Hefeteig geboren. Da besteht eine Bärenfamilie darauf, ihren Winterschlaf in Annas Wohnung zu halten. Da wachen Frauen nach

„Ahava erzählt die Geschichte einer existenziellen Auflösung. Es gelingt ihr ohne jede Schwere“

Tagen im Schnee mit einem weichen braunen Pelz auf der Haut auf. Diese poetisch-versponnenen Einfälle schleichen sich in der Geschwindigkeit von Annas zunehmender Verwirrung in die Geschichte ein. Ahava schildert all dies sehr beiläufig, in schnörkelloser, fast schon spröder Sprache. Stilistisch erinnert „Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm“ an ein Kinderbuch. Und wie jedes gute Kinderbuch ist es auch ein Sehnsuchtsbuch. Die Sehnsucht nach allem, was verloren ist,

Selja Ahava: Der Tag, an dem ein Wal durch London schwamm. Deutsch von Stefan Moster. Mare, 224 S., € 20,60

hält Anna am Leben. Sie ist ihr Exoskelett. Und auch im Leser wird Sehnsucht entfacht. Die Rückblenden auf die Insel, in denen fast nichts passiert, sind von solch leichter, lichter Schönheit, wie es nur vergangenes Glück sein kann. Man versteht, warum Anna keine Wahl hat, als innerlich immer wieder dorthin zurückzukehren, und ertappt sich beim albernen Gedanken, dass das Vergessen vielleicht auch nur ein Versuch ist, das Paradies wiederzufinden. Am Ende steht die Erkenntnis, dass Gott erst zu einem kommt, wenn sonst nichts übrig ist. Auch das erzählt Ahava mit nordisch-spleeniger Zurückhaltung, ohne jeden metaphysischen Ballast. Überhaupt ist die größte Leistung dieses Romans seine dem Thema angenehm unangemessene Leichtigkeit und Verspieltheit. Ein schönes, ­seltsames Buch, tröstlich wie eine warme Zimtschnecke in der Nacht. TABEA SOERGEL


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Käuze und andere seltsame Vögel Saša Stanišić meldet sich nach acht Jahren mit seinem zweiten Roman „Vor dem Fest“ zurück

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s ist ein Riesensprung von der belagerten Stadt Višegrad an der Drina zum stillen Städtchen Fürstenwerder in der Uckermark – geografisch, biografisch und literarisch. Saša Stanišić, der 1992 als 14-Jähriger mit seinen Eltern vor den serbischen Massakern in seiner bosnischen Heimatstadt nach Deutschland flüchtete, benötigte weitere 14 Jahre, ehe er sich die Last von der Seele schreiben und den bosnischen Bürgerkrieg für sich bewältigen konnte – mit seinem Višegrad-Roman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ (2006). Der märchensüßtraurige Kindheitsroman, auf Deutsch geschrieben und in 30 Sprachen übersetzt, wurde ein internationaler Erfolg. Stanišić musste sein Buch jahrelang rund um die Welt vorstellen und bewerben. Weshalb es acht Jahre dauerte, ehe er nun seinen neuen Roman „Vor dem Fest“ vorlegen kann, den notorisch heiklen Zweitling, der es allerdings sofort auf die Kandidatenliste für den Leipziger Buchpreis schaffte.

Foto: K atja Sämann

Eines hat das neue Buch schon auf den ers-

ten Blick mit dem Debütroman gemein: Stanišić macht sich abermals an die Verzauberung der Wirklichkeit, indem er die Welt mit Mythen und Märchen umrankt. Doch ist der Romanschauplatz diesmal nicht das zerfallende Jugoslawien, sondern die verschwundene DDR, keine umkämpfte, sondern eine fast schon aufgegebene Stadt, genauer: ein wehrhaftes Dorf, das an zwei Seen und an zwei Grenzen hockt, mit einer mittelalterlichen Mauer samt Stadttoren rundherum. Das uckermärkische Fürstenwerder, das im Roman Fürstenfelde heißt, markiert die Grenze zwischen Mecklenburg und Brandenburg. Es ist ein verschlafener Ort in einer Seenlandschaft, den sich Saša Stanišić für seinen Roman erträumte, ehe ihm eine Berliner Freundin versicherte, dass es ihn tatsächlich gibt. Ein Ort, dessen gute Zeit immer schon vorbei war und dessen Einwohner nach der Wende von 1989 häufig abwanderten, sodass das Dorf bis auf Idylle und Schrulligkeit scheinbar nichts zu bieten hat – außer dem Reichtum an Mythen, Märchen und alten Sagen, in die Stanišić es nun einspinnt und einzaubert, mithilfe von viel Wortmagie, Sprachgaukelei, Fantasie und lustvoll gefälschten alten Chroniken und Kirchenbüchern. Es ist die Nacht vor dem traditionellen Annenfest, das wie alle Überlieferung in Fürstenfelde halb vergessen oder falsch erinnert ist – abgesunkenes Brauchtum, längst eingeschlafen und nun touristisch wiedererweckt: „Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“ Die Erzählerstimme des Romans ist dieses kollektive Wir, das personifizierte raunende und staunende, spintisierende, fabulierende, schwatzhafte Dorfgesumm. Dieses Wir kann sich nur wundern, dass es Fürstenfelde überhaupt noch gibt: „Wie krass unwahrscheinlich das ist, dass seit Jahrhunderten immer welche überlebt haben, Leben gezeugt haben, und jetzt ist man selber dieses Leben.“

Zur Person SaŠa StaniŠić Geboren 1978 in Visegrad, BosnienHerzegowina, lebt seit 1992 in Deutschland. Sein Debütroman „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ erschien 2006 und war bei Lesern und Kritik ein großer Erfolg, zahlreiche Auszeichnungen folgten. Mit seinem zweiten Roman „Vor dem Fest“ hat sich Stanišić ungewöhnlich lang Zeit gelassen

„Mit 36 hat sich Stanišić immer noch den Charme eines jünglingshaften Pubertätsflaums bewahrt“

Was dieses Wir von früher zutage fördert – und „früher“ meint immer die Vorwendezeit –, verschwimmt im Ungewissen mit dem Heute. In der Nacht vor dem Fest zeigt sich das Dorf schlaflos, bevölkert von Lebenden und Toten. Die Geister der Vergangenheit treiben ihr Wesen, Heutige erscheinen als Wiedergänger verstorbener oder auch nur legendärer Gestalten von früher. Vielleicht soll das Annenfest an die Dorfhexe Anna erinnern, die einst auf dem Scheiterhaufen feierlich verbrannt worden sein soll; mehrere Anna-Wiedergängerinnen streunen durchs heutige Dorf, eine davon ist die eigenbrötlerische Joggerin Anna, doch auf dem Scheiterhaufen wird morgen wohl nur eine Puppe verbrannt werden. Das Dorf wacht und träumt zugleich, ist im Hier und Jetzt und im Früher befangen, und die meisten Erzähl- und Erinnerungsfäden laufen bei Frau Schwermuth zusammen, der übergewichtigen und depressiven Dorfchronistin und Kräuterfrau, die das Haus der Heimat des Geschichtsvereins Fürstenfelde e. V. leitet, ein seltsam geheimnistuerisches Museum für Lokalgeschichte und noch seltsameres Archiv für Lokalgeschichten, ob die Archivarin die Urkunden nun selbst gefälscht hat oder nicht. Niemand hat es beobachtet, doch ein Fenster ist eingeschlagen, das Archiv ist aufgebrochen worden. Gestohlen wurde nichts, doch offenbar sind die Geschichten aus dem Archiv ausgeschwirrt – oder aus Frau Schwermuths Geist? Nun nachtwandeln die Geister der Geschichten durchs Dorf und gehen den wachenden Dörflern durch den Kopf. Auch ein mythisches Tier schnürt durch die Nacht, durch die alten Geschichten und durch die Jahrhunderte: die Fähe, eine Füchsin auf der Jagd nach Nahrung für ihre Jungen. Genau diese wachtraumhafte nächtige Stimmung hatte Saša Stanišić für seinen Roman im Sinn: „Ich wollte eine Geschichte erzählen, in der die Geschichten sich der Menschen annehmen und im Laufe einer Nacht von ihnen Besitz ergreifen, sodass sie in eine Art Dauer-

erzählzustand verfallen, angesteckt von einem Dauererzählvirus.“ Bei allem Vergnügen an der barocken Sprach-

tümelei seiner Erfindungen oder Fundstücke aus der Dorfchronik mit all ihren Teufelssagen, Räubergeschichten und Kesselflickermärchen achtet Stanišić sehr genau auf die plausible Verankerung seines fiktiven Fürstenfelde in der Wirklichkeit. Monatelang hat er wie ein Journalist im realen Fürstenwerder Material gesammelt. Den Kindernachwuchs, die Tankstelle, den Friseur, den Stundentakt für den Bus hat der Ort verloren; manches alte Gewerbe und Handwerk stirbt aus; mangels Wirtshaus treffen sich die Trinker in Ullis Garage. Und doch verfügt das Dorf über eine reiche Fauna von Käuzen und seltsamen Vögeln, manche zugeflogen wie Frau Kranz, die Malerin aus Schlesien, manche arbeitslose Grünschnäbel wie die kleinen Gauner Lada und Suzi, manche aus DDR-Altbestand, wie etwa Herr Schramm, ehemaliger Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee, dann Förster, jetzt Rentner und, weil es nicht reicht, schwarz arbeitender Traktorfahrer bei Von Blankenburg Landmaschinen. Der Stadtherr Poppo von Blankenburg figuriert hier als durch die Jahrhunderte flatternder Wappenvogel des Dorfes. Der greise Glöckner weiß nicht, wie er die Glocken Bonifatius und Bruno läuten soll, denn jemand muss diese gestohlen haben. Und der Fährmann, der über alles Bescheid wusste, was das Dorf betraf – der ist leider tot. Nach ihm kommt keiner mehr. Mit 36 Jahren hat sich Saša Stanišić immer noch den Charme eines jünglingshaften Pubertätsflaums bewahrt. Das gilt auch für seinen neuen Roman, dessen Erzählstil alle Spuren kindlich verspielter Märchen- und Fabulierlust trägt. So ist „Vor dem Fest“ ein Wenderoman der etwas anderen Art geworden – einer, der in die Geschichtstiefen hinuntertaucht und ganz andere Vergangenheiten zutage fördert als die paar mickrigen DDR-Jahrzehnte. SIGRID LÖFFLER

Falter s Stadtbuch Ballhausen | Grill | Millesi

aspern. Reise in eine mögliche Stadt Drei wichtige literarische Stimmen ihrer Generation haben sich – ausgehend vom Vorhaben „Seestadt“ – unter anderem mit dem Entstehen von urbanen Zentren, den Modellen für das Zusammenleben von Menschen, aber auch mit Aspern und seinem historischen Hintergrund auseinander gesetzt.

Saša Stanišić: Vor dem Fest. Luchterhand, 320 S., € 20,60 Lesung: 13.4., Krems, Literaturhaus (Literatur & Wien)

152 Seiten, € 16,50

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Sex ist eine enttäuschende Erfahrung Angelika Klüssendorf erzählt in ihrem neuen Roman „April“ vom Prozess einer Emanzipation und Selbstfindung as Erwachsenenleben beginnt mit 100 Mark Taschengeld und der ZuD weisung eines Zimmers in der Wohnung

einer schrecklichen alten Schachtel. Auch die Arbeit beim VEB Starkstromanlagenbau Leipzig wird ihr zugeteilt. Doch von da an muss sie alleine sehen, wo sie bleibt. Ihren Namen, April, hat sie sich selbst gegeben, nach dem Song von Deep Purple. Er passt aber auch deshalb ganz gut, weil der April bekanntlich macht, was er will. Einfügen lässt sie sich nicht. Im vorigen Roman von Angelika Klüssendorf hieß sie nur „das Mädchen“, da hatte sie es zu einem Namen und damit zu unverwechselbarer Individualität noch nicht gebracht. Sie entkam ihrer gewalttätigen, unberechenbaren und alkoholkranken Mutter nur deshalb, weil sie jahrelang in Kinderheime gesteckt wurde und sich von dort aus in ihre kaputte Familie zurücksehnte. Überhaupt ist es mit der Sehnsucht in Klüssen-

dorfs Büchern eine merkwürdige Sache. Aprils Sehnsucht richtet sich nicht nach dem, was andere Menschen Glück nennen würden. Sie hat gelernt, sich vor Glück und Hoffnung zu hüten, weil jede Hoffnung zuverlässig in Enttäuschung mündet. „Anfall von Glück“ hieß eine frühe Erzählung Klüssendorfs, als ob es sich dabei um eine fiebrige Erkrankung handeln würde. April hat gelernt, allem zu misstrauen, was ihr an Zuneigung, Nähe, Freundlichkeit entgegengebracht wird. Und weil sie misstraut, muss sie zerstören. Doch wie

kann man so leben und lieben? Man kann es eben nicht; und davon handelt dieser ziemlich ungemütliche, unheimliche Roman. Er setzt ein in den späten 70er-Jahren in Leipzig und endet Mitte der 80er-Jahre in West-Berlin. Der Prozess der Emanzipation und Selbstfindung ist dann keineswegs abgeschlossen, kann er ja auch nie sein, er führt aber konsequenterweise über die DDR hinaus. Das liegt gar nicht so sehr daran, dass April etwas gegen den sozialistischen Staat einzuwenden hätte. Aber sie will selbst entscheiden, was sie darf und was nicht, und das heißt eben auch, sich an der Ausreise nicht hindern zu lassen. Vielleicht ist der Grenzübertritt deshalb der Moment, an dem sie lernt, sich selbst anzunehmen. Doch kaum ist sie im Westen, sehnt sie sich in die DDR zurück. Die Leipziger Jahre sind heftig und selbstzerstörerisch. April trinkt, als wolle sie sich schon damit vernichten. Ein Selbstmordversuch am Gasofen endet kläglich, sie hat es auch nur versucht, weil sie es „satt hat zu atmen“, und ebenso emotionslos kommt sie wieder zurück: „Wenn sterben genauso anstrengend wie leben ist, kann sie durchaus noch eine Weile leben.“ Sie freundet sich mit einem jungen Mann an, der aus dem Knast kommt, sich dann aber als schwul entpuppt, hat andere, unglücklich verlaufende Liebschaften. Sex ist eine enttäuschende Erfahrung und eher Kapitulation auf einem Kampfplatz als lusterfüllte Begegnung; es kann

„So trostlos die Verhältnisse sein mögen, April geht die Lebendigkeit nie ganz verloren“

nicht anders sein, solange sie ihren Körper als etwas begreift, das ihr „zustößt“, als „notwendiges Übel“. Dass es Männer gibt, die sie schön finden, muss folglich auf einem Irrtum oder auf Dummheit beruhen. Klüssendorf erzählt in unmittelbarem Präsens, immer mittendrin im Geschehen, und doch zugleich unterkühlt und mit der Distanz der dritten Person. Sie schreibt sich diese Geschichten – vieles davon ist autobiografisch – gewissermaßen vom Leib und betrachtet Gefühle wie ein Insektenforscher seine Sammlung. So trostlos die geschilderten Verhältnisse sein mögen, April geht die Lebendigkeit nie ganz verloren. Was ihr Halt und eine Richtung gibt, ist die Li-

Angelika Klüssendorf: April. Kiepenheuer & Witsch, 220 S., € 19,60

teratur: das Lesen und bald auch das Schreiben. Mit einer Freundin gibt sie in Leipzig eine Zeitschrift heraus, selbst abgetippt, zusammengenietet und in Kleinstauflage von Hand zu Hand weitergereicht (auch das ist autobiografisch). Sie bewirbt sich am Literaturinstitut, doch weil sie auf die Prüfungsfrage (Welche zehn Sätze sollte sich ein sozialistischer Schriftsteller über den Schreibtisch hängen?) ein leeres Blatt abgibt, wird sie nicht genommen. Zur Schriftstellerin wird sie erst im Westen. Dieser Entwicklungsweg ist aber erst angedeutet und bleibt rätselhaft. Woher kommen diese Kraft und dieser Wille, woher die Sprache und die Ausdruckskraft? Darüber wird wohl erst ein dritter Band dieser beeindruckenden Erzählung Aufschluss geben können. JÖRG MAGENAU

Ein ganz normaler Vampir Joann Sfar erweitert mit Vampir Ferdinand seinen Kosmos trauriger Monster um eine bittersüße Facette erdinand scheint ein durchschnittlicher F Glückloser zu sein. Er hat seine Geliebte Liou beim Seitensprung ertappt, ist einsam, mutlos, jede noch so vielversprechende neue Begegnung endet in einem Desaster. Er hat zu viele von seinen Büchern ohne Aussicht auf Rückgabe verborgt, muss sich um eine eigenwillige Katze kümmern, er schwimmt, um seine chronischen Rückenprobleme in den Griff zu kriegen. Er versteht seine Mitmenschen nicht, die Frauen nicht – und die Liebe schon gar nicht. Doch Ferdinand ist kein durchschnittlicher Pechvogel – er ist ein Vampir. Wie die meisten Figuren der Serie „Grand Vampir“ aus der Feder des mehrfach ausgezeichneten Comiczeichners ­Joann Sfar ist er ein scheues Monster, Teil eines unheimlich-übernatürlichen Ensembles mit sehr menschlich anmutenden Problemen. Ferdinand nimmt dabei gezwungenermaßen die Perspektive eines Toten ein, er fühlt sich „wie in einem Schwarz-Weiß-Film“, und konsequenterweise ist er auch entsprechend blass gehalten. Ferdinand hat nichts von anderen Vampir-

darstellungen im Comic: Er trinkt Blut, doch er gleicht nicht den rasenden Bestien aus „30 Days of Night“; er sinniert über Sex und Intimität, mit den erotischen Projektionen à la „Vampirella“ oder „Sandra Bodyshelly“ ist er aber nicht vergleichbar. In der schillernden Welt Sfars, in der Mons-

ter und Menschen so etwas wie einen annähernd normalen Umgang miteinander pflegen, ist Ferdinand auch formal ein Einzelgänger – der verlassene Sehnsüchtige und nicht der abziehbildgleiche, aristokratische Solitär. Wenig zufällig erinnert er deutlicher an Graf Orlock aus Murnaus Stummfilm „Nosferatu“ denn an die bürgerlich-gezähmte Variante sinnlicher Gefälligkeit oder gar die höchst problematische „Twilight“Variante. Kahlköpfig, langohrig und hoffnungslos romantisch hält er an seinem Diktum „Ich kann aus keinem Hals trinken, der mich kalt lässt“ fest. Mit der vorliegenden Sammlung werden die

„Ich sollte mich damit abfinden, ein echter Vampir zu sein und kein Verführer“

ersten vier der bislang sechs vorliegenden tragikomischen Abenteuer ­Ferdinands zugänglich. In „Amor pfeift drauf “ erleben wir nicht nur die untreue Liou, die als Mischwesen aus Mensch und Pflanze auch emotional eine hölzerne Härte beweist; anhand der Verbindung von Ferdinand und Aspirine, einer Vampirin, die seit Jahrhunderten ein Teenager ist, wird das Paradox untoter Zeit verdeutlicht. Hier geht es nicht um eine schlichte Verkehrung von Lebensrhythmen – es ist vielmehr der alles durchdringende Stillstand der Immortalität, der alles durchzieht. „(Un)Sterblich verliebt“ erlaubt dem in Litauen beheimateten Ferdinand einen Abste- Joann Sfar: Vampir. cher nach Paris. Ein nächtlicher Museums- Avant-Verlag, 216 besuch im Louvre führt zu einer Begegnung S., € 30,80

mit einer japanischen Touristin. Man küsst sich unter Bildern, auf denen die Sonne zu sehen ist. Doch die widrigen Zufälligkeiten des Lebens lassen die Flirtenden sich verlieren, verpassen. Die Aussage „Ich sollte mich damit abfinden, ein echter Vampir zu sein und kein Verführer“ kann auch als Motto für die dritte Episode, die „Kreuzfahrt der einsamen Herzen“, stehen. Erneut wird Ferdinand hier von Liou versetzt und tritt folglich alleine eine Kreuzfahrt an. Auf die zumindest im ersten Moment reizvoll wirkenden Bekanntschaften mit kurvigen Klagegeistern und ansehnlichen Gespenstern folgen weniger erfreuliche Szenen mit einem „Chauviwolf “, kriminellen Mumien mit ­piratenhaften Ambitionen und einem Geisterjäger. Die Register des Melodramatischen werden

auch im abschließenden „Der Vampir sucht einen Mörder“ gezogen. Hier soll Ferdinand der Polizei bei der Aufklärung einer Mordserie helfen, aus dem Verdächtigen wird ein unwilliger Ermittler. Konsequenterweise gipfelt auch diese Episode in einer Verweigerung erzählerischer Konventionen. Die detektivische Auflösung ist wenig mehr als eine Nebensache, wiegt doch das eigene Existenzunglück für Ferdinand eindeutig schwerer. Vampire haben es also – zumindest bei Joann Sfar – auch nicht leichter. THOMAS BALLHAUSEN


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„Da ging nichts, gar nichts“ Berliner Journale, Aufzeichnungen und Briefe von Max Frisch, Alfred Andersch und Witold Gombrowicz

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chon seit 1981 wusste man aus Interviews von Max Frisch, dass es ein Berliner Tagebuch gibt, das seine Berliner Jahre in den 1970er-Jahren und das Scheitern seiner Ehe mit Marianne Oellers in einer Weise behandle, die zum Schutz der betroffenen Personen eine Sperrfrist bis 2011 notwendig mache. Thomas Strässle, der neue Präsident der Max-Frisch-Stiftung und mit Margit Unser Herausgeber der in fünf Heften geführten Aufzeichnungen (1973–1980), hat aus plausiblen Gründen, die das Persönlichkeitsrecht und den Bearbeitungsgrad der Notate (zum Teil handelt es sich dabei um Zettel, Briefe und handschriftliche Notizen) betreffen, nur die ersten beiden Hefte, und die nicht vollständig, ediert. Es handelt sich um den Zeitraum vom 6. Februar 1973 (Übernahme der Wohnung in Berlin-Friedenau) bis zum 26. März 1974 (Frischs Reise in die USA). Der letzte Eintrag kommentiert den Protest gegen die Schweizer Asylpolitik, wofür sich Frisch ein weiteres Mal engagiert hatte. Sein Fazit zum Umgang der Mächtigen ist von lakonischer Bitterkeit: „Ich habe es nicht anders erwartet. Sie sind an der Macht; sie müssen nicht fair sein, nicht einmal intelligent-redlich.“ Das Tagebuch erlaubt Einsichten in die Obszönität der Macht, befriedigt aber nicht den Voyeurismus in privaten Dingen, die man sich von einem Tagebuch erhofft. Mit einem solchen Verständnis bleibt man allerdings weit hinter der Reflektiertheit zurück, die Frisch wie wenige andere Autoren nach 1945 gerade dieser Textsorte gegenüber aufgewendet hat. Ein früher Eintrag lautet: „Seit ich die Notizen, die anfallen, in ein Ringheft einlege, merke ich schon meine Scham; ein Zeichen, dass ich beim Schreiben schon an den öffentlichen Leser denke, gleichviel wann es dazu kommen könnte. Und mit der Scham gleichzeitig auch die Rücksicht auf andere, die auch tückisch sein kann, verhohlen, vorallem doch wieder ein Selbstschutz; ich schreibe nicht: Paul ist ein Arschloch. Punkt. Damit wäre ich ja ungerecht.“ Dergestalt tendiert also noch die radikalste Selbstbezichtigung zum narzisstischen Selbstgenuss. Die ausgestellten Selbstpeinigungen und Niederlagen kreisen bei Frisch vor allem um das Alter, wie die Leser seiner früheren Tagebücher auch schon erfahren haben, und um seine scheiternden Selbsterziehungsversuche in Sachen Alkohol. „Betreffend Alkohol: ich besitze nicht einmal mehr den Willen, ehrlich zu sein, nicht einmal mir selbst gegenüber.“ Nicht nur das auf den Leser schielende Tagebuch ist vor Selbststilisierung nicht sicher; auch der streng private Charakter des Tagebuches, wie ihn Virginia Woolf angestrebt hat („ich will einen einzigen Beichtstuhl haben, wo ich nicht zu prahlen brauche“), ist vor der Verlockung nicht gefeit, sich besser darzustellen, als man ist. Man will sich schließlich auch als späterer Leser seiner selbst nicht ganz unerträglich finden. Wie seine früheren Tagebücher ist auch dieses fragmentarische Journal von einem deutlichen Kompositionswillen geprägt,

der verhindern will, Formulierungen einfach ohne Kontext zu lesen und als „Beweis“ zu zitieren. Zu diesem dezenten Verweissystem gehören etwa wiederkehrende Vorsätze wie „Ohne Vorsatz leben“ oder, angesichts der Erfahrung der Berliner Mauer, „Zürich als geteilte Stadt beschreiben“, was dann in einer aufregenden Sequenz auch eingelöst wird. Das Berliner Tagebuch von Max Frisch ist vor allem anderen ein Versuch über die Schriftstellerei als Lebensform. Die Aussicht, in der Nähe schreibender Zeitgenossen wie Grass, Johnson oder Enzensberger zu leben, war ein wesentliches Argument für den Umzug nach Berlin. Die Erwartungen werden gründlich enttäuscht: Tratsch statt Debatte oder wechselseitiges Lektorat, Unbehagen an der eigenen Autorenrolle, die ihm in der eitlen Zurschaustellung beim befreundeten Günter Grass monströs erscheint. Das Tagebuch brilliert mit geschliffenen Porträts der Paradeintellektuellen der damaligen Bundesrepublik und mit Frischs intellektueller Energie, das Funktionieren der DDR-Gesellschaft und der Rolle der Autoren dort zu begreifen. Biermanns Wirkung auf Frisch ist heute kaum noch nachvollziehbar, aber gerade deshalb eine Einladung, diese historische Wahrnehmungsdifferenz zu reflektieren. Das gilt auch für Brecht, dessen damals eben erschienenes „Arbeitsjournal“ von Frisch gelesen wird. Durch diese Lektüre „sind wieder die Massstäbe da, eben so erhellend wie lähmend, Massstäbe für eine schriftstellerische Existenz“: „Dabei geht es nicht in erster Linie ums Gelingen, auch nicht um die Wirkung einzelner Werke zu ihrer Zeit. Der Grundriss einer Produktion, sein Format; ein Format des Anspruchs, der über den persönlichen Anspruch (z. B. Anspruch auf Ruhm) hinaus reicht.“ Solche Passagen funkelnden Interesses sind

selten in diesem Journal, das auch von einem Überdruss an Lesen und Schreiben Zeugnis gibt. Neben der Lektüre der DDRAutoren (Christa Wolf, Jurek Becker) ist auch die Lektüre Handkes Anlass für Bewunderung: „Das Buch, das mir unter den neuen Büchern in letzter Zeit den grössten Eindruck gemacht hat: WUNSCHLOSES UNGLÜCK von Peter Handke. Ein Virtuose, das wusste man sehr früh, aber plötzlich hat er was zu melden (so dass ich mich nicht mehr frage, warum ich lese) und auch das sehr früh; Handke ist dreissig.“ Nicht minder ernst hat Frisch die Frage genommen, warum er schreibt. Ein Bild der hellsten Melancholie vom Ende des Schreibens gibt den Grundton an: „Der Wärter in einem Leuchtturm, der nicht mehr in Betrieb ist; er notiert sich die durchfahrenden Schiffe, da er nicht weiss, was sonst er tun soll.“ Anders als in den früheren Tagebüchern spielen Werkentwürfe, Werkkeime und Kommentare zu neu entstehenden Werken jedoch eine ungleich bescheidenere Rolle. Die Kunst des Porträts ist ein hervorstechendes Merkmal des Tagebuchschreibers Max Frisch, der sich damit natürlich auch exponiert, wie er schon bei seinem zweiten Tagebuch (1966–1971) durch einen Betroffenen, Alfred Andersch, erfahren

„Man will sich schließlich auch als späterer Leser seiner selbst nicht ganz unerträglich finden“

musste. Das „Berliner Journal“ hält die Folgen fest: „Seither haben wir uns nicht mehr gesprochen.“ Der von Jan Bürger bei Diogenes herausgegebene und ausführlich kommentierte schmale Briefwechsel zwischen Anders und Frisch gibt einen Einblick in die Beziehung dieser beiden Autoren, die seit den 1960er-Jahren auch Nachbarn in Berzona im Tessiner Onsernone-Tal geworden sind (mit Andersch als Einfädler). Das Porträt, das im zweiten Tagebuch stehen sollte, hat Frisch dann nicht publiziert (es ist in diesem Briefband enthalten mit diversen Kommentaren von Frisch). Entgegen dem letzten Satz im „Berliner Jour-

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal. Suhrkamp, 235 S., € 20,60

Alfred Andersch, Max Frisch: Briefwechsel. Diogenes, 192 S., € 20,50

nal“ zeigt die sich ausdünnende Korrespondenz schlussendlich doch noch ein versöhnliches Ende. Der Band enthält mit der Laudatio auf Andersch aus dem Jahr 1979 nicht nur das politische Lob des Deserteurs, sondern auch das persönliche Bekenntnis Frischs: „Ich bin froh, und nicht nur wenn ich in Berzona bin, froh um unsere Zweite Freundschaft.“ Die Briefe, die Andersch 1964 aus Berlin an Max Frisch schreibt, klagen über den „widerwärtigen Literaturzirkus“, der dort herrsche. Aber die Alternative, die Arbeitsfreundschaft im Tessiner Dorf, war nur von begrenzter Dauer. Den Befund über den Berliner Literaturbetrieb in jenen Jahre hat der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz geteilt, der auf Einladung der Ford Foundation 1963 aus dem argentinischen Exil nach Europa zurückkehrte und ein Jahr in Berlin lebte. Ein aus seinem berühmten Tagebuch gezogenes Extrakt mit dem Titel „Berliner Notizen“ zeigt den exzentrischen Autor in dieser für einen Polen durch die Vergangenheit belasteten Stadt; es zeigt auch seine „Anspannung angesichts dieses unheimlichen Ortes“. Aus nicht ersichtlichem Grund hat der Übersetzer und Herausgeber Olaf Kühl leider auf die Wiedergabe des Vorworts von Gombrowicz verzichtet, in dem er zum Beispiel eine von Frisch abweichende Methode skizziert, ein Tagebuch zu schreiben: „so weit wie möglich locker und frei schreiben wie ein privater Mensch. Und vor allem über sich schreiben. (…) Wer bin ich denn, dass ich Urteile über die Welt, über Städte und Nationen fällen sollte? Spreche ich aber von mir, so bin ich bei mir zu Hause.“ Es überrascht nicht, dass Gombrowicz bald mit Grass und Johnson und Peter Weiss zusammentrifft, die, mit der Ausnahme von Weiss, auch bei Frisch und Andersch figurieren. Gombrowicz beschreibt ihre scheiternden Begegnungen: „Wir waren hermetisch, sie für mich, ich für sie, da ging nichts, das war von vornherein klar, gar nichts“. Ein satirisches Kabinettstück ist die Beschrei-

Witold Gombrowicz: Berliner Notizen. Deutsch von Olaf Kühl. Edition Fototapeta, 128 S., € 17,30

bung des „Erfinders des Literaturbetriebs“, Walter Höllerer, und die Rituale in dem von ihm geleiteten Literarischen Colloquium. Naturgemäß kritisiert Gombrowicz das dort gelehrte und praktizierte Creative Writing und die zugehörige Technik- und Szientismusgläubigkeit, die er als symptomatisch für die Entwicklung Europas insgesamt betrachtet. K ARL WAGNER


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Sachbuch

illustr ation: Daniel Matzenbacher

Matthes & Seitz Berlin verlegt die derzeit nicht nur interessantesten, sondern auch schönsten (Sach-)Bücher. Verlagsporträt: S. 29 Rezension: S. 30 Reihenporträt: S. 31


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Erkenntnisinteresse und Ästhetik Verlagsporträt: Vor 10 Jahren übersiedelte Verlagsleiter Andreas Rötzer Matthes & Seitz nach Berlin

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iese Bücher kommen so unauffällig daher, dass man eine Weile braucht, sich das Konzept dahinter vor Augen zu führen. Sie überzeugen nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch Aufmachung, Haptik und Format. Als derzeit vielleicht bester Sachbuchverlag muss Matthes & Seitz sich nicht verstecken – er schreit seine Stärken aber auch nicht heraus. Er führt auf exemplarische Weise vor, wie man gute Bücher macht, die auch schön sind, wie man eine große Bandbreite an Textarten publizieren kann – von Gedichten über Romane bis zu Sachbüchern –, ohne dabei zum Bauchladen zu mutieren. Und nicht zuletzt, wie man die Grenzen zwischen Literatur und Sachbuch zum Fließen bringen kann, ohne dabei auf Ästhetik und Erkenntnisinteresse zu verzichten, sondern vielmehr zu erreichen, dass sich diese gegenseitig verstärken. Matthes & Seitz wurde 1977 von Axel Matthes

und Claus Seitz in München gegründet. „Individualität“, „Freiheit“ und „Revolte“ lauteten die Schlagworte eines stark frankreichbezogenen Programms mit Editionen von Antonin Artaud, Georges Bataille, Miche Leiris, de Sade oder Otto Weininger. Als Andreas Rötzer den Verlag 2004 übernahm, führte er die Reihe „Batterien“ fort und ergänzte sie um die schmalen Bände der neuen Reihe „Fröhliche Wissenschaft“, die in jede Jackentasche passen und beweisen, dass man anspruchsvolle Themen auch auf weit weniger als 500 Seiten abhandeln kann. Das Buch des koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han „Müdigkeitsgesellschaft“ (2010) traf mit nur 68 Seiten einen Nerv und wurde zum Bestseller. Im Frühjahr 2013 konnte die Autorin Judith Schalansky, bekannt geworden mit „Atlas der abgelegenen Inseln“ (2009) und „Der Hals der Giraffe“ (2011), als Herausgeberin für die neue Reihe „­Naturkunden“ gewonnen werden (siehe Porträt auf S. 31). Einen weiteren Schwerpunkt des Programms mit immerhin etwa 50 Büchern pro Jahr bildet die Herausgabe unbekannter oder vergessener Autoren, die prägend für zeitgenössische Themen waren oder im deutschsprachigen Raum kaum rezipiert wurden, wie etwa Judith N. Shklars „Liberalismus der Furcht“ (2013) oder Ludwig Klages’ „Mensch und Erde“ (siehe Rezension auf S. 30). Im aktuellen Programm befinden sich Bücher über den Erfinder der Kalaschnikow, über die Philosophie des „Tatort“, eine Naturkunde über Heringe oder ein neuer Roman von Emmanuel Carrère, der mit „Limonow“ letztes Jahr einen Überraschungserfolg landete. Die Neuübersetzung von Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ wurde übrigens für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 nominiert. 2012 erhielt Andreas Rötzer, der als Buchhalter bei Matthes & Seitz begann und nach seiner Promotion die Chance ergriff, den Verlag zu übernehmen, den KarlHeinz-Zillmer-Verlegerpreis. Er stellt eines der raren Beispiele von Verlegern dar, die inhaltliche vor finanzielle Entscheidungen stellen und damit trotzdem oder gerade deswegen ein erfolgreiches Programm fahren.

Der Falter sprach am Telefon mit dem zum Understatement tendierenden Büchermenschen.

ginn des 20. Jahrhunderts darstellt. Diesen Epochenbruch gedanklich zu begleiten ist eines unserer Anliegen.

Falter: Wie macht man gute Sachbücher,

Wie finden Sie die unbekannten Klassiker? Rötzer: Ideen und Anregungen ergeben sich aus den Gesprächen mit den Autoren oder aus den Fußnoten ihrer Bücher – auf Ludwig Klages bin ich zum Beispiel durch das Buch von Per Leo „Der Wille zum Wesen“ (2013) über die Charakterologie gestoßen.

wie findet man Themen? Andreas Rötzer: Bücher zu machen ist eine in sich heterogene, vielfältige Angelegenheit und so zeitaufwendig, dass man, wenn man noch eigene Interessen hat, beides unter einen Hut bringen muss. Unsere Autoren fächern durch ihre eigenen Interessen das Programm zusätzlich auf und überraschen mich dabei oft. Etwa wenn Christian Lindner, der mit einer großartigen Carl-Schmitt-Biografie zu uns kam, plötzlich eine über Heinrich Böll anbietet. Böll interessierte mich in diesem Moment gar nicht, aber nach der Lektüre des Manuskripts empfand ich größte Hochachtung und freute mich auf das Buch. Als Nächstes kam Lindner dann mit einem FranzLiszt-Capriccio ...

Zur Person Andreas Rötzer, geboren 1971 in München, studierte Kulturwirtschaft und Philosophie und übernahm 2004 den Verlag Matthes & Seitz, den er nach Berlin übersiedelte

Früher war es üblich, dass ein Verlag das Lebenswerk eines Autors begleitete, heute gibt es immer mehr Verleger, die sagen, dass sie Texte und keine Autoren „kaufen“ ... Rötzer: Vielleicht ist diese Autorentreue bei uns eine altmodische Tugend, betriebswirtschaftlich ist sie vermutlich sogar eine Untugend – aber sie liegt in der Logik des Verlegens: Autor und Verlag gehen ja ein Stück des Weges gemeinsam. Wenn man ein Buch aus Überzeugung macht, ist es so sehr ein Stück des Autors, dass man sich natürlich auch für das sein nächstes interessiert. Und wenn das nächste Buch des Autors so ist, dass man es überhaupt nicht machen will, dann hat man sich vielleicht vergriffen und muss sich wieder scheiden lassen. An Ihrem Programm fällt die Bandbreite auf, mit einem deutlichen Schwerpunkt auf Frankreich. Rötzer: Während wir uns bei Ungarn oder Norwegen eher auf ein, zwei Leuchttürme konzentrieren, wollen wir die französische Literatur in ihrer Breite abbilden, von Klassikern wie Denis Diderot bis in die jüngste Gegenwart zu Emmanuel Carrère, Édouard Levé oder Éric Vuillard. Ich glaube, wir sind der deutsche Verlag, der die meisten Übersetzungen macht; mit ein Grund, warum ich vor 15 Jahren überhaupt zu Matthes & Seitz kam. Die Programmarbeit im Hinblick auf Sachbücher verstehe ich als Think-Tank. Eines unserer Schwerpunktthemen ist Natur und Ökologie. Mit Ludwig Klages’ „Mensch und Erde“ legen wir ein Gründungsmanifest einer Denkrichtung neu auf, die das 20. Jahrhundert prägte und deren Tradition wir klären wollen. Über Gary Snyders „Lektionen der Wildnis“ kommen wir dann zur „Insektopädie“ des amerikanischen ­Anthropologen Hugh Raffles. Die Reihe „Naturkunden“ stellt eine stark ästhetisierte und am Gegenstand Buch orientierte, ganz eigene Variante dieser Denklandschaft dar, die das Verhältnis zwischen Tier, Natur und Mensch auslotet. Es ist eine Idealkombination von Form und Inhalt. Wir tragen den Naturgedanken aber auch in die virtuelle Welt der Neuen Medien, die vielleicht den zweiten Naturverlust nach dem ersten im späten 18. und zu Be-

Ihre Bücher sind schmal, sowohl vom Korpus als auch vom Umfang her, wodurch man eher gewillt ist, ein Buch über ein schwieriges Thema zu lesen ... Rötzer: Das Leseverhalten verändert sich – und Zeit wird dabei zum vorherrschenden Faktor. Man hat keine Zeit mehr für die „Kritik der reinen Vernunft“. Man braucht kleine, dichte Bücher, die man in die Tasche stecken kann – eine analoge Antwort auf das E-Book. Die Grenze zwischen Literatur und Sachbuch verschwimmt bei Matthes & Seitz oft. Rötzer: De facto machen wir etwa 50 Prozent Sachbücher und 50 Prozent Belletristik, wobei die Grenzen fließend sind. Oliver Rohes „Meine jüngste Erfindung ist eine Mausefalle“ über den Erfinder der meistproduzierten Waffe der Welt, Michail Kalaschnikow, kann man als Biografie, Essay oder Literatur lesen. Éric Vuillards „Ballade vom Abendland“ ist Literatur, aber gleichzeitig auch ein Essay über den Ersten Weltkrieg. Ihr Literaturprogramm erscheint antizyklisch zum verlegerischen Mainstream, der dem amerikanischen puren Erzählen nacheifert ... Rötzer: Spannungsliteratur machen wir gar nicht, auch den satten Erzählton gibt es eher selten. Wir lieben Bücher, die das Erzählte gleichzeitig mitreflektieren oder einen kritischen Bezug zur Realität haben, wie „Limonow“ von Emmanuel Carrère, das auch eine Biografie ist, oder Jean-Henry Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“, von denen gerade Band 6 erschienen ist – eigentlich Wissenschaft, aber in einer Sprache geschrieben, die das Werk zu großer Literatur macht. Oder den jungen Autor Philipp Schönthaler, der mit seinem Buch „Nach oben ist das Leben offen“ letztes Jahr den Clemens-Brentano-Preis gewann: hochpräzise, hochintelligente Literatur, die gleichzeitig den Umschlag in schöne Literatur schafft und die „schöne neue“ Arbeitswelt beschreibt.

Matthes & Seitz Berlin macht vor, dass schöne Bücher ihre Reize nicht herausschreien müssen:

Ihre Bücher sind ja auch sehr schön ... Rötzer: Prägend für das Büchermachen für mich war dabei meine siebenjährige Arbeit in einem Antiquariat in Passau. Das Aussortieren von Ankäufen hat sehr viel mit Verlegen zu tun, im Sinne einer Bestimmung des Werts. Da bleibt dann oft wenig oder nichts übrig. Ich nenne das „Antiquariatswert“. Wir haben den Anspruch, Bücher zu machen, die diesen Antiquariatswert haben, die also auch in diesem Sinne in 50 Jahren immer noch einen Wert haben.

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Sachbuch

Öko-Apokalyptiker avant la lettre Ökologie: Mit „Mensch und Erde“ verfasste Ludwig Klages 1913 eines der Gründungsmanifeste der grünen Bewegung ie Mehrzahl der Zeitgenossen, in GroßD städten zusammengesperrt und von Jugend auf gewöhnt an rauchende Schlo-

te, Getöse des Straßenlärms und taghelle Nächte, hat keinen Maßstab mehr für die Schönheit der Landschaft, glaubt schon Natur zu sehen beim Anblick eines Kartoffelfeldes und findet auch höhere Ansprüche befriedigt, wenn in den mageren Chausseebäumen einzig Stare und Spatzen zwitschern.“ Während die alten Völker von einem verlorenen goldenen Zeitalter oder Paradies geträumt hätten, sehe der „Fortschrittsmensch“ überall nur den Kampf ums Dasein und zerstöre dabei seine eigenen Lebensgrundlagen. Robbenbänke an der Nordsee, Biber in Mit-

teldeutschland und 300 Storchennester alleine in München – sie seien Vergangenheit. Jedes Jahr würden nicht weniger als 300 Millionen Vögel „für die Frauenmode geopfert“. Starkstromleitungen, Telegrafendrähte und Touristen, statt heiligen Festen „mürrischer Arbeitsalltag, mit dem falschen Flitter lärmender Vergnügungen“ – so sähen die Früchte dieses „Fortschritts“ aus. „Eine Verwüstungsorgie ohnegleichen hat die Menschheit ergriffen, die ,Zivilisation‘ trägt Züge entfesselter Mordsucht, und die Fülle der Erde verdorrt vor ihrem giftigen Anhauch.“ Diese mit allen rhetorischen Mitteln gewaschene Analyse, die mit wenigen Veränderungen auch heute in der Zeitung stehen könnte, stammt von Ludwig

Klages (1872–1856) und wurde vor 100 Jahren geschrieben. Sie konstatiert nichts weniger als ein „Zeitalter des Untergangs der Seele“, in dem die meisten nicht mehr leben, sondern nur noch existieren, freudlos und unzufrieden. Weniger als ein Jahr nachdem Klages seine Rede „Mensch und Erde“ auf dem „Ersten Freideutschen Jugendtag“ vor rund 3000 Begeisterten gehalten hatte, brach der Erste Weltkrieg aus.

Ludwig Klages: Mensch und Erde der der Grafologie, der Lehre von der Hand- – ein Denkanstoß. schrift als Ausdruck des Charakters, zählte Matthes & Seitz, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts 61 S., € 10,30 Ludwig Klages, Charakterkundler und Begrün-

zu den vor allem bei der Jugend populärsten deutschen Philosophen. Dass seine Lebensphilosophie heute nahezu vergessen sei, bedürfe allerdings „keiner Klage und keiner Korrektur“, gibt Jan Robert Weber in seinem kenntnisreichen Nachwort unumwunden zu. Das liege unter anderem an der Nähe vieler seiner Ideen zum Nationalsozialismus und seinem bedingungslosen Antisemitismus (Klages war übrigens auch ein entschiedener Feind des Christentums), seiner Ästhetisierung von Politik. Als Teil der Münchner Boheme stand Klages in der Tradition von Nietzsche, Bachofen und Carl Gustav Carus, war mit Stefan George befreundet und pflegte eine (platonische) Beziehung zu Franziska von Reventlow. Seine Lehre: ein synkretistisches

„Konglomerat kulturpessimistischer Zivilisationskritik“ und „radikale Aufkündigung der abendländischen Geschichte im Gewande aggressiver Lebensmetaphorik“. Zu den Stärken des Verlags Matthes & Seitz (siehe Verlagsporträt S. 29) zählen Wiederentdeckungen unbekannter oder vergessener Autoren. Im Falle des im Herbst 2013 veröffentlichten „Liberalismus der Furcht“ von Judith N. Shklar aus dem Jahr 1989 stand dahinter klar eine Zukunftsperspektive – denn wo alle nach Verboten rufen, kann eine Rückbesinnung auf die Tugenden der freien Gesellschaft nicht schaden. Klages’ so poetischen wie aggressiven, ein-

drücklichen wie unheimlichen Essay in der schmalen, jackentaschentauglichen Reihe „Fröhliche Wissenschaft“ wieder zugänglich zu machen zielt hingegen auf eine Klärung der Vergangenheit ab. Denn hier liegt, wenn man Weber glauben darf, nichts weniger als das „erste ökologische Manifest in deutscher Sprache“ vor, das „nach der lange vorherrschenden sozialen Frage nun die ökologische Frage erstmals in einer vollständigen These an das sich alsbald gewaltsam öffnende Tor des 20. Jahrhunderts anschlägt“. Dieses gelte es „nicht zu verherrlichen, sondern ,kritisch‘ als Gründungsdokument der grünen Bewegung zu kanonisieren“ – um sie damit vor der „verblüffenden Vergessenheit ihrer eigenen Vergangenheit“ zu bewahren.

K i rs t i n B re i t en f ellner

Freudenausbrüche über die Schönheit der Natur Gärtnern: Der Garten als Graphic Novel und konventionelles Lexikon: zwei hinreißende neue Bücher as ist einmal wirklich etwas ganz und D gar bestrickend Neues: ein Gartenbuch als Graphic Novel bzw. als gezeichnete Ach-

terbahnfahrt durch die Höhen und Tiefen eines ganzen Gartenjahres. Der deutschen Illustratorin Kat Menschik gelingt mit ihrem Buch „Der goldene Grubber“ ein vollständig eigenständiger Code, um über Gartenerfahrungen Auskunft zu geben: gezeichnete und gemalte Gartenkolumnen sozusagen, jedes Bild ein eigenes kleines Kapitel, jedes Wort von Hand dazugeschrieben und mit Illustrationen und Malereien kombiniert, die in ihrer formalen Vielfalt ebenso erstaunen wie in ihrer Prägnanz. Blättert man dieses herrliche Buch durch, will

einem plötzlich scheinen, dass diese cartoonhafte Auseinandersetzung mit dem Thema Garten die angemessenste ist. Teils handelt es sich um Anleitungstafeln zum Hantieren im Garten, teils um gezeichnete Erfahrungsberichte vom Scheitern und Triumphieren im Umgang mit Pflanzen, teils um laute, farbige Freudenausbrüche über die Schönheiten der Natur oder besondere Momente mit ihr. Da geht es darum, wie man dem eigenen, in der Stadt aufgewachsenen Kind, das mit allerlei Insekten auf den Armen dargestellt wird, die Natur näherbringt. Da zeigen ein paar schlapp über den Topfrand hängende Keimlinge das Elend pilzbefallener Jungpflanzen oder ein gutes Dutzend ganzsei-

tiger Pflanzenporträts die Vielgestalt der im Frühjahr blühenden Blumen. Es gibt die wiederkehrende Rubrik „Meine Freundin Henni sagt“ mit Gartenratschlägen von erfahrener Seite, es gibt Kräuterporträts, die an alte botanische Tafeln erinnern, und humoristische Cartoons, die klassische Erfahrungen aufs Korn nehmen, die alle Gartenlehrlinge machen. Das Gros der quadratischen Bildtafeln ist folgerichtig statt in Schwarz-Weiß in Grün-Weiß gehalten und hat einen (gemessen am üblichen romantisch-verspielten Dekor der meisten Gartenbücher) besonders reizvollen, reduzierten druckgrafischen Charakter. Einige wenige Tafeln glänzen zwischendurch auch in voller, üppiger Farbigkeit. Das zweite Highlight der Frühlingssaison auf dem Gartenbuchsektor ist ebenfalls üppig illustriert. Wobei wir hier von historischen Beispielen der klassischen botanischen Illustration sprechen, wissenschaftlich präzise gezeichnet und nach der Natur von Hand koloriert. Die Darstellungen stammen alle aus der Sammlung der berühmten Lindley Library der britischen Royal Horticultural Society, bei der es sich wahrscheinlich um die weltweit beste Bibliothek mit Druckwerken rund ums Thema Garten handelt. Das Buch, das diese Pflanzenporträts ziert, heißt „Latein für Gärtner“. Über 3000 lateinische Begriffe aus der Botanik werden darin erklärt. Das klingt nach einer Spezial-

Kat Menschik: Der goldene Grubber. Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr. Galiani. 304 S., € 17,50

Lorraine Harrison: Latein für Gärtner. DuMont, 224 S., € 30,90

lektüre für Gartenfreaks, ist aber in Wahrheit ein höchst lehrreich und amüsant zu lesendes Lexikon über die vielen kulturhistorischen Bezüge, Bedeutungsnuancen und manchmal auch Irrtümer, die sich aus den botanischen Namen von Pflanzen herauslesen lassen. Wer in diesem Buch herumblättert – und das ist wie bei jedem Lexikon gewiss die beste Art, sich ihm zu nähern –, wird reich belohnt. Zusätzlich erfährt man einiges über die Gärtner, Botaniker oder Pflanzenjäger, deren Namen sich hinter den lateinischen Bezeichnungen der von ihnen gefundenen oder zu ihren Ehren benannten Pflanzen verbergen. Die lateinisch-griechische Nomenklatur der Pflanzennamen erweist sich insgesamt als eine wahre Fundgrube: zur Gestalt, zur Verwendung, zur Mythologie, zu den Jahreszeiten oder der Verwendung von Pflanzen. Wer sie zu lesen lernt, kann allein daraus schon sehr viel Wissenswertes über eine Pflanze ziehen – auch wenn er die Pflanze selbst noch nie vorher gesehen hat. Außerdem ist „Latein für Gärtner“ ein Wunder an eleganter Buchgestaltung – sehr konventionell, aber über die Maßen qualitäts- und liebevoll gemacht. Man merkt, dass es sich um eine Übersetzung aus dem Englischen handelt. Die Briten verstehen einfach etwas von Gartenbüchern. Die berühmte Shakespeare-Frage „What’s in a name?“ wird hier tausendfach erschöpfend beantwortet. J u l i a K o s p a ch


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Das Tier und wir: von Eseln bis zu Insekten Reihenporträt: Seit Frühjahr 2013 erscheint bei Matthes & Seitz Berlin die wunderbare Reihe „Naturkunden“

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ücher müssen gut riechen“, meinte einmal der Verleger Klaus Wagenbach und schlussfolgerte, „dass die DDR deswegen untergegangen ist, weil die Bücher so gestunken haben“. Die Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz Berlin lässt hingegen bibliophile Menschen wieder auf eine bessere Zukunft hoffen. Denn diese riechen nicht nur wunderbar nach Druckerschwärze und Leinenbatist, sondern sind ein editorisches Manifest einer neuen Zuwendung zur belebten Natur. „Brehms Thierleben“ beschrieb den Lesern das Leben wilder Tiere ab 1864 moralinsauer und anthropomorphisierend. Bernhard Grzimeks 13-bändige Enzyklopädie sah Tiere ab 1971 vor allem durch die Brille der Naturwissenschaften, ­reduzierte sie auf messbare Dimensionen und beraubte sie damit ihrer Seele und kulturgeschichtlicher Facetten. Die „Naturkunden“, herausgegeben von der jungen Autorin Judith Schalansky, hingegen bemühen sich mit spürbarer Leidenschaft um eine gesamtheitliche Durchdringung der belebten Welt. Als Leser folgt man den Autoren gerne auf den verschlungenen Pfaden einer Naturgeschichte, die sowohl Geschichte als auch Geschichten bietet. Jutta Persons Porträt der Esel etwa lässt einen

von der ersten Zeile an die Faszination spüren, die Tiere auf uns Menschen ausüben können. Als Haustiere sind bzw. waren Esel vertraute, aber dennoch auch immer rätselhafte Wesen. Berüchtigt für ihre Sturheit und ihre Huftritte dienen sie uns auch als animistische Identifikationsobjekte. Der nur scheinbar passiv alle Demütigungen seines Herren ertragende Esel schüttelt sein Joch im Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“ mit einem für eine globalisierte Gesellschaft geradezu paradigmatischen Satz ab: „Etwas Besseres als den Tod finden wir überall.“ Oder wir finden uns im Esel als ­jenem „Hippietier“ wieder, dessen Ohren der Welt mit ihrer V-Stellung stets ein Victory-­

Zeichen zeigen. Sehr angenehm auch die kompakte Dimension dieses Leseritts durch die Welt der Grautiere: Auf 150 Seiten findet man feine Illustrationen, Essays zu Charakterkunde und Philosophie des Eseltums sowie Porträts von Eselrassen. Nach der letzten Seite bleibt nur mehr der Wunsch nach der Begegnung mit einem echten Esel offen. Tiere, die ein behaartes Gesicht mit Nase,

Mund und Ohren haben, also Säugetiere, können sich eher unserer Sympathie sicher sein als etwa Tiere, die unter Wasser leben und die die meisten nur geräuchert, gebraten oder mariniert kennen. Obwohl solche Behandlungen bekanntlich jede natürliche Schönheit ruinieren, ist der Hering ein schönes Tier. Holger Teschke erzählt vom Heringsblick, dem „blitzenden Glanz, den die Heringe von sich werfen, wenn sie in Scharen schwimmen“, und beschreibt den Hering als Kosmopoliten und Überlebenskünstler. Heringe leben als Vagabunden zwischen ihren Fress-, Laich- und Überwinterungsplätzen. Auf ihren Wanderungen legen sie bis zu 4000 Seemeilen zurück und durchqueren dabei Süß- und Salzwasser. Neben historischen Fakten erfährt man auch Kurioses: Wie Wale können Heringe Töne produzieren, die auch für Menschen hörbar sind und „Heringsfurzen“ genannt werden. Das war der schwedischen Marine offenbar nicht bekannt, die in den 1970erJahren sowjetischen Atom-U-Booten nachspürte, die sie für die Urheber verdächtiger Unterwassergeräusche hielt. Nach Untersuchungen von Meeresbiologen wurden die Erkenntnisse als „geheim“ klassifiziert, um eine Blamage zu verhindern. Auch in dieser würdigen Apologie einer von Überfischung bedrohten Tierart begleiten ausgezeichnete Bilder und Illustrationen den Text.

Besprochene Bücher aus der Reihe „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz: Jutta Person: Esel. Ein Portrait. 148 S., € 18,50 (Bd. 5) Holger Teschke: Heringe. Ein Portrait. 120 S., € 18,50 (Bd. 9) Hugh Raffles: Insektopädie. 384 S., € 39,10 (Bd. 7) Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur – Etappen einer Erfahrungsgeschichte. 310 S., € 39,10 (Bd. 3)

Das Wort Pädagogik leitet sich aus pais (gr.,

Knabe) und ágein (gr., führen, leiten) ab. Im antiken Griechenland hatte der Pädagoge als Knabenführer die Aufgabe, diese

zur Philosophie zu führen und so zu erziehen. In ebendiesem Sinn führt uns der Anthropologe Hugh Raffles mit seiner „Insektopädie“ an eine Tiergruppe heran, die voll erstaunlich vollendeter Wesen ist. Sein Streifzug, in spielerischer Weise alphabetisch ­geordnet, erzählt zu jedem Buchstaben eine Geschichte, die genauso schillert und changiert wie der an Insektenflügel erinnernde Buchdeckel. Wie ein Schmetterling flattert Raffles dabei durch Wissenschaft und Philosophie, Anthropologie und Zoologie, Wirtschaft und Populärkultur, wobei immer auch Menschen im Fokus seiner Betrachtungen stehen. Seine Erkundungen sind meist persönlich, oft sprunghaft und immer sehr belesen. Manchmal bietet er nur eine kurze Impression einer von Insekten geformten Klanglandschaft in einem Park, dann wieder porträtiert er auf 26 exzellenten Seiten den Insektenforscher Jean-Henri Fabre. Bisweilen wird einem als Leser dabei fast schwindlig, aber das entspricht auch dieser Tiergruppe, über die Raffles in der Einleitung schreibt: Sie halten nicht still. Jürgen Goldstein, Professor für Philosophie an

der Universität Koblenz, begleitet sehr unterschiedliche Menschen bei ihrer Auseinandersetzung mit der Natur. Als Basis dienen ihm deren literarische Beschreibungen, die zitiert, kommentiert und zu einer Erfahrungsgeschichte fusioniert werden. Das klingt sperriger, als es sich liest. Mit Reinhold Messner besteigt er so den Mount Everest, mit Charles Darwin erreicht er den Galapagos-Archipel. Stets suchen der Autor und seine Literaten die verlorene Wildnis und blicken durch die Begegnung mit einer stets wilden oder abenteuerlichen Natur auf sich selbst. Wenige historische Illustrationen begleiten die Texte, wobei sich nicht erschließt, wieso gerade diese ausgewählt wurden. Was fehlt, aber stets über den Geschichten schwebt, sind die Bilder Caspar David Friedrichs. P eter I w a niewi c z

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FÜNF JAHRZEHNTE MUSIKGESCHICHTE ERZÄHLT VON 130 PROTAGONISTEN Wienpop erzählt die Geschichte der Wiener Popmusik, von den ersten Vorläufern des Rock ’n’ Roll in den Fünfzigerjahren bis hin zum Ausklingen des Hypes um die lokale Elektronikszene kurz nach der Jahrtausendwende.

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Sachbuch

Freiheit! Freiheit? Freiheit! Philosophie: Freiheit kann man nie genug haben. Oder doch? Zwei Zugänge zu einem Menschheitsthema

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aben wir zu wenig oder zu viel Freiheit? Darüber sind die Meinungen naturgemäß geteilt. Das liegt unter anderem daran, auf welche Freiheit man sich bezieht: auf die Freiheit zu oder auf die Freiheit von etwas – etwas tun und lassen zu können, nicht von jemand anderem oder dem Staat unnötig eingeschränkt zu werden, auf die Freiheit von Sorgen, Geldnöten oder auch von Pflichten. Die Ökonomin und Philosophin Lisa Herzog sagt, wir hätten zu wenig Freiheit, und meint damit die Verteilung der Verantwortung zwischen Individuum und Staat, eine klassische Klage des Liberalismus. Die Philosophin und Soziologin Renata Salecl konzentriert sich auf den Alltag und konstatiert ein klares Zuviel an Freiheit, das zur sprichwörtlichen Qual der Wahl an der Käsetheke oder dem Weinregal mit je 300 verschiedenen Sorten führt.

Freiheit und Politik Wenn die Rede von Freiheit ist, kommt immer auch das Politische ins Spiel. Denn in seinem Tun und Lassen ist der Einzelne notwendigerweise von anderen beschränkt, die er nicht beeinträchtigen oder schädigen darf. Dieses Zusammenspiel von Freiheiten kann nur durch Übereinkunft bzw. Gesetze geregelt werden, die bestimmen, in welche Lebensbereiche das Allgemeinwesen eingreifen soll und in welche nicht. Rauchverbot, Kindergartenpflicht oder Religionsfreiheit gehören in dieses Feld, aber auch Steuerpflichten und Versorgungsrechte. Traditionell wird dabei der Staat als Reich von Zwang und Unterwerfung, aber auch von Gerechtigkeit angesehen, und der Markt als Reich der Freiheit.

Dieser Simplifizierung widerspricht Lisa Herzog in ihrem klugen und umsichtigen Buch „Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus“. Sie rollt zentrale Themen der Ideengeschichte, Wirtschaftstheorie und Sozialphilosophie auf, von Thomas Hobbes über Bernard de Mandeville bis zu Adam Smith, um sie auf ihren Wahrheitsgehalt abzuklopfen – und hier besonders die Rede vom „Homo oeconomicus“, jener blutleeren Gestalt, die ihr Handeln ausschließlich an rationalen und selbstsüchtigen Zielen ausrichtet und damit blendend in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen.

„Soll ich mich umbringen oder einen Kaffee trinken?“ Albert Camus

Survival of the fittest? Das Individuum sei anders, als der klassische Liberalismus es sich vorstelle, betont Herzog, und weist darauf hin, dass ein Gesellschaftsmodell, dem es nur um die größtmögliche Freiheit für alle Individuen gehe, zu einem gnadenlosen survival of the fittest verkommen könne. Sind alle Menschen zu einem selbstbestimmten Leben aufgrund von vernünftigen Entscheidungen in der Lage? Natürlich nicht. Schon die „Befähigung“ dazu sei unterschiedlich verteilt, konstatiert Herzog und fordert für einen zeitgemäßen Liberalismus ein Menschenbild, das sich daran orientiert, was ist, und nicht daran, was sein soll. Das heißt konkret: allzu menschliche Eigenschaften wie Neid, Missgunst, Gefallsucht, mangelnde Willensstärke, aber auch Empathiefähigkeit und Altruismus einzubeziehen. Märkte waren noch nie eine Zone, in der man sich um Moral keine Gedanken machen musste und auf Teufel komm raus

seine eigenen Interessen verfolgen konnte, meint Herzog. Vielmehr sei ihre ­Kernidee, Menschen Win-win-Situationen zu eröffnen, und nicht, Machtungleichgewichte möglichst gewieft auszunutzen. Freiheit beinhaltet für Herzog sowohl Handlungsfreiräume als auch materielle Ressourcen sowie die Möglichkeit, an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen teilzuhaben. Ihr Ziel: „mit dem Liberalismus gegen ein verkürztes Bild des Kapitalismus zu arbeiten und das Versprechen auf Selbstbestimmung auch in Bezug auf die Wirtschaft einzulösen“. Daraus entspringt die Hoffnung, eines Tages die globalen Märkte von „anonymen Monstern“ womöglich doch noch „in menschenfreundliche Orte des Austauschs transformieren“ zu können.

Die Qual der Wahl

Renata Salecl: Die Tyrannei der Freiheit. Warum es eine Zumutung ist, sich anhaltend entscheiden zu müssen. Blessing, 240 S., € 17,50 (erscheint am 31.3.)

Renata Salecl hingegen sieht den freien Markt und sein Überangebot an Waren als den größten Quälgeist der Menschen an. Freiheit bedeutet für sie die Vorstellung, „jedes Detail seines Lebens selbst zu bestimmen“, und das ist, wie der Titel des Buches unmissverständlich herausposaunt, eine „Tyrannei“. Vorherrschend findet sie diese im „postindustriellen Kapitalismus“, der uns auffordert, „unser ganzes Leben als eine Aneinanderreihung von möglichen und getroffenen Wahlen“ zu betrachten: vom Autokauf bis zu Partner und Nachwuchs, der Wahl des Körperbilds, der Gesundheit und schließlich der eigenen Identität. Mit der Entscheidung, diesen Überschuss an Freiheit eine Ideologie zu nennen und das ihn propagierende System Kapita-

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen 448.indd 1


S a c h b u c h    lismus (und nicht Demokratie), gibt die im kommunistischen Jugoslawien aufgewachsene Salecl die politische Stoßrichtung zu erkennen. Die Tyrannei der freien Wahl zwinge Menschen dazu, sich selbst Verbote und Regeln aufzuerlegen, und mache sie beklommen, habsüchtig und unfrei. Zu viel Verantwortung gehe mit Versagensängsten einher, betont Salecl und stößt damit in dasselbe Horn wie Alain Ehrenberg („Das erschöpfte Selbst“, dt. 2004), den sie allerdings nirgends erwähnt. Wie Herzog kritisiert auch sie die Vorstellung, dass Menschen ihre Wahl zumeist oder zuallererst nach rationalen Gesichtspunkten oder zu ihrem eigenen Vorteil treffen. Leider liefert sie keine Lösungen für ihre Fundamentalkritik. Weder, wie wir konkret mit diesem Zuviel an Freiheit besser umzugehen lernen können, noch, welche Staatsbzw. Wirtschaftsform besser dazu geeignet wäre, dieses Dilemma zu lösen. Aber sie beschreibt es auf vortreffliche Weise.

Verzicht und Nachahmung Menschen sind zufriedener, wenn sie weniger Wahlmöglichkeiten haben, die sie deswegen gerne delegieren. Eine riesige Beratungs- und Selbsthilfeindustrie kann vorzüglich davon leben, dass sie uns anbietet, „unter anderen Autoritäten freiwillig diejenigen zu wählen, an die wir das Recht delegieren wollen, unsere Wahlmöglichkeiten zu begrenzen“. Diese Form der „Selbsthilfe“,

die man eigentlich „Hilfe“ nennen müsste, tendiert nach Salecl dazu, das Gefühl von Unzulänglichkeit und Paranoia zu bestärken, das es eigentlich beheben will. Eine andere Strategie zur Reduktion von Wahlmöglichkeiten besteht im freiwilligen Verzicht auf Konsumgüter oder die Einschränkung der Auswahl in Nobelrestaurants oder -boutiquen. Oder man sucht sich Vorbilder, deren Wahl man imitiert. Der Mensch begebe sich auf die Suche nach dem „großen Anderen“, wie Salecl es mit der Psychoanalyse von Jacques Lacan nennt. Da es dieses „große Andere“ nicht gibt, kann die Nachahmung von Stars nie befriedigen, sie schlägt in Neid und Eifersucht um. Hier beginnen ihre Ausführungen an Tiefe zu gewinnen und von der (politischen) Anklage in eine erhellende soziologische Analyse umzuschlagen. Ihre Beispiele bezieht Salecl vornehmlich aus den USA. Sie beschreibt die DatingKultur des „hooking up“, die sich in Liebesdingen nicht festlegen und dadurch alle Optionen offen halten will, oder den Fall Nadya Suleman, die dank In-vitro-Fertilisation in zwei Schwangerschaften 14 Kinder austrug und die sich durch Schönheitsoperationen immer mehr ihrem offenbaren Vorbild Angelina Jolie anglich.

Individualität und Abwehr „Das ultimative Dilemma einer Wahl liegt in der Tatsache begründet, dass jedes

Lisa Herzog: Freiheit gehört nicht nur den Reichen. Plädoyer für einen zeitgemäßen Liberalismus. C.H. Beck, 207 S., € 15,40

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menschliche Leben auf grundlegendste Weise optional ist.“ Mit Lacan versteht Salecl das Heranbilden von Subjektivität als Ergebnis der Möglichkeit des Wählens – und sei es nur, auf welche Weise man das in Familie und Umgebung Vorgefundene in eigene Neurosen umwandelt. Um zu spüren und zu wissen, wer er ist, braucht der Mensch den Umweg über die Anerkennung seiner Mitmenschen. Wenn Freiheit aber nur darin besteht, um diese stets verweigerte Wertschätzung zu ringen und sich seine je eigenen Abwehrmechanismen heranzubilden, stellt sich jedoch die Frage, ob wir überhaupt eine Wahl haben. Salecl definiert den zeitgenössischen Menschen folgerichtig als Zwangsneurotiker, der nicht nur jeden einzelnen Aspekt seines Lebens, sondern mittels Sterbehilfe auch noch den Tod kontrollieren will. „Das äußerst kontrollierte, permanent wachsame Individuum, dem es vor dem Chaos graut und das beim Gedanken an das Sterben versteinert, kann kaum Genuss aus seinen angeblich grenzenlosen Wahlmöglichkeiten beziehen. (…) Ergo erfindet es immer neue Mittel und Wege, um seine Wahlmöglichkeiten selbst zu begrenzen.“ Dabei würde die Freiheit der Wahl „jede Menge Möglichkeiten zu einem Wandel auf gesellschaftlicher Ebene“ eröffnen, wenn man sie weniger als rein individuelles Vorrecht, sondern eher politisch sehen würde.

K i r s t in B r ei t en f ellne r

Die kürzeste Verbindung zwischen Afrika und Europa Geografie: Ulrich Ladurner erzählt die Geschichte der kleinen Insel, die näher bei Afrika liegt als bei Europa ampedusa liegt 210 Kilometer von der L sizilianischen Küste, aber weniger als 120 Kilometer von der Küste Afrikas ent-

fernt und gehört trotzdem zu Italien und damit zur Europäischen Union. Die kleine Insel anzusteuern heißt deswegen schlicht und ergreifend, die kürzeste Verbindung über das Mittelmeer nach Europa zu wählen. Das birgt Gefahren, wie inzwischen allgemein bekannt ist. Immer wieder ertrinken Flüchtlinge unweit der Insel. Dass Strandungen bei und auf Lampedusa nicht erst seit dem späten 20. Jahrhundert vorkommen, zeigt die Tatsache, dass Lampedusa als Vorbild für die Insel in Shakespeares letztem Drama „Der Sturm“ diente, auf die der Zauberer Prospero und seine Tochter Miranda sich aus einem kaum seetüchtigen Boot retten. Ulrich Ladurner erzählt von einem nördlich

der Alpen weitgehend unbekannten Teil der europäischen Geschichte, der die Mittelmeerländer Jahrhunderte lang prägte und bis heute nachwirkt: Bis ins 18. Jahrhundert hinein plünderten muslimische Piraten aus dem heutigen Algerien und Tunesien die Küsten, überfielen Schiffe, verschleppten Christen als Sklaven. Auch Geiseln wurden genommen, oft lange gefangen gehalten und erst gegen Lösegeld wieder freigelassen.

In dieser „Tradition“ sieht Ladurner auch den zeitgenössischen „Piraten“ und langjährigen Diktator Libyens, Muammar alGaddafi. Manche Leser mögen sich noch an Schlagzeilen rund um die bulgarischen Krankenschwestern erinnern, denen Gaddafi 2000 bis 2007 unter fadenscheinigen Begründungen den Prozess machte und die er erst gegen Zahlung eines hohen Lösegeldes wieder freiließ. Aufgrund dieser historischen Erfahrungen und seit die Bilder überladener albanischer Flüchtlingsschiffe Anfang der 1990erJahre über die Bildschirme flimmerten, bestimmt diffuse Angst vor dem Überranntwerden die Haltung vieler Einwohner der nördlichen Mittelmeerstaaten gegenüber ihren südlichen Nachbarn. Ladurner zeigt, wie diese Angst gerade in Italien unter Berlusconi und der Lega Nord auch immer wieder politisch geschürt wurde. Er betont, dass Italien selbst Jahrhunderte lang von Armut, Auswanderung und Binnenmigration von Süd nach Nord bestimmt war und somit die verzweifelte Suche nach einem besseren Leben, die die afrikanischen Flüchtlinge oft antreibt, gerade in Italien verstanden werden sollte. Wie der Zeit-Redakteur, der Anfang der 1990er-Jahre zum ersten Mal auf Lampedusa war, bezeugen kann, wurden die Flücht-

linge aus dem Maghreb und den südlicheren Ländern Afrikas anfangs von den italienischen und EU-Behörden noch nicht versteckt und bewegten sich inmitten der rund 6000 permanenten Einwohner Lampedusas relativ frei. Der vorherrschenden Meinung, die Migranten

Ulrich Ladurner: Lampedusa. Große Geschichte einer kleinen Insel. Residenz, 144 S., € 19,90

seien „eh alles Wirtschaftsflüchtlinge“, widerspricht er: Die große Mehrheit der rund 360 Menschen, die im Oktober 2013 vor Lampedusa ertranken, kam aus den Bürgerkriegsländern Syrien, Somalia und Eritrea. „Diese Menschen hatten sich aufgemacht in Richtung eines Kontinents, der seit 1945 in weiten Teilen keinen Krieg mehr kennen gelernt und darüber offenbar vergessen hatte, was Krieg für die Menschen bedeutet.“ Mithilfe solcher Assoziationen, aber vor allem durch die sachliche Beschreibung von Ereignissen wie im Jänner 2009, als tausende Flüchtlinge gemeinsam mit vielen Einwohnern Lampedusas gegen die mangelnde Solidarität Festlanditaliens und Europas protestierten, wendet sich Ladurner gegen billigen Populismus. So erinnert er daran, dass es zwar oft heiße, das Boot sei voll, dass aber einer anderen Metapher in diesem Kontext viel zu wenig entsprochen wird: Wir sitzen alle in einem Boot. K a r in C h ladek

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Sachbuch

Die Gotschee war für den Großvater das Glück Osteuropa: Martin Pollack begibt sich auf die Reise zu osteuropäischen Orten von Naziverbrechen und eigenen Erinnerungen er Ausblick auf seinen Obstgarten im D Südburgenland und schöne Kindheitserinnerungen an einen Bauernhof im Enns­

tal stehen am Anfang. Es wäre nicht Martin Pollack, nähme sein Essay „Kontaminierte Landschaften“ nicht sogleich eine rasante Wendung hin zur Zeit des Nationalsozialismus. Als Sohn des SS-Sturmbannführers Gerhard Bast, dessen Biografie er in „Der Tote im Bunker“ (2004) rekonstruierte, wurde Pollack zu Kriegsende an einen abgelegenen Ort in der Steiermark evakuiert. Die damalige Idylle erweist sich im Rückblick als trügerisch und als Ort „sinistrer Vieldeutigkeit“. Über allem liegt der Schatten der verbrecherischen Vergangenheit, die Martin Pollack in bewusst subjektiven Assoziationssträngen zu erforschen beginnt. Er hält sich dabei nicht lange bei theoretischen

Ausführungen zum modischen ökologisch Landschaftsbegriff auf, sondern sucht jene Orte auf, an denen sich vorwiegend nationalsozialistische Verbrechen ereigneten. Als da sind: Kuropaty bei Minsk, wo, wie im Wald von Biķernieki in der Nähe von Riga, österreichische Juden von den Nazis massenhaft ermordet wurden. Und er fährt auch an Orte sowjetischer Verbrechen, etwa ins russische Katyn, wo die Sowjets 1940 tausende polnische Offiziere liquidierten. Traurige Gemeinsamkeit dieser Plätze – die Verbrechen wurden geheim gehalten und

alsbald vergessen. In den meisten Fällen gilt für sie, was der französische Forscher Patrick Dubois in Bezug auf den Holocaust in Lissnitschni/Lemberg konstatierte: „Der Wald ist jetzt ein öffentlicher Park. Kein Schild, kein Stein, nichts, was darauf hinwiese, dass hier ein vieltausendfacher Mord geschah.“ Nicht anders verhielt es sich lange Zeit in Österreich – etwa in Rechnitz.

chen, die Deutsche und Österreicher zwischen 1939 und 1945 auch im heutigen Slowenien begangen haben, werden um nichts weniger monströs, wenn wir auch die von kommunistischen Partisanen angerichteten Massaker zur Sprache bringen.“

Martin Pollacks Essay wird besonders eindring-

lich, wenn er persönlichen Beziehungen zu diesen kontaminierten Landschaften nachspürt – etwa während einer Reise in die Gotschee, die ehemals deutsche Sprachinsel südlich von Ljubljana, von wo der Großvater herstammte. „Gotschee war für den Großvater das Glück“, erinnert sich der Autor und scheut sich auch nicht, den „überzeugten Nazi“ als „wunderbaren Großvater, der mich mit unendlich viel Liebe umgab“, zu beschreiben. Dessen Erzählungen von der Wolfsjagd begeisterten den Enkel, dass dort aber, in der Nähe der Jagdhütte des Großvaters in Krenbichl/Kren, ein Massenmord erfolgte, wurde nie erwähnt. Kämpfer der Slowenischen Domobranzen, ehemalige Verbündete Hitlers, wurden auf Geheiß Titos im Juni 1945 kurzer Hand in eine Schlucht geworfen. Der Großvater schwieg lieber über die ganze Geschichte. Ohne sich zu verheddern, verstrickt sich Martin Pollack in die Verwicklungen des 20. Jahrhunderts und macht sie gleichsam zur eigenen Sache. Sein Befund: „Die Verbre-

Martin Pollack: Kontaminierte Landschaften. Unruhe bewahren. Residenz, 120 S., € 17,90

Im dritten Teil des Essays erzählt Martin Pollack von der gemeinsam mit einem polnischen Fotografen unternommenen Suche nach den „letzten Juden der Ukraine“. In der Ukraine wurden im Holocaust 1,6 Millionen Juden (bisweilen unter tätiger Mithilfe der örtlichen Bevölkerung) ermordet. „Das ganze Land ist vergiftet von all den Leichen, die nie ein ordentliches Begräbnis bekommen haben, weil keiner mehr da war, um sie zu bestatten und den Kaddisch für sie zu sprechen.“ Pollack hört von den makabren Goldsucher, die sich sofort einfinden, sobald bekannt wird, wo seinerzeit Opfer verscharrt wurden, er erinnert sich aber auch an die österreichische Redewendung: „Da liegt ein Jud begraben.“ Die skrupulöse Introspektion – handelt es sich bei dieser „Landkarte kontaminierter Orte“ nicht um eine „morbide“ Sache? – wird schließlich mit einer Frage beantwortet: „Sehen wir die Landschaft nach der Entdeckung eines Massengrabes mit denselben Augen wie vorher? Oder bewirken solche Erfahrungen eine Veränderung in den Menschen?“ Eine brisante Frage, die jeder für sich selbst beantworten muss! E r ich K l e in

„Aus dem Gulag kam man wenigstens zurück“ Osteuropa: Momentaufnahmen einer über 20-jährigen Forschungsreise durch osteuropäische Seelenlandschaften arum waren viele der hellsten Köpfe einer Generation in ihrer Jugend W überzeugte Kommunisten? Was ist übrig

geblieben vom Totalitarismus? Und wo sind all die Hoffnungen, Ängste und Visionen der Menschen hingekommen? Jahrzehnte unter kommunistischer Herrschaft und sow­jetrussischem Diktat haben ganze Länder und Gesellschaften in nachhaltige Identitätskrisen gestürzt und traumatisiert. Die Forschungslaufbahn der Yale-Professorin Marci Shore beginnt mit vielen Fragen, die die amerikanische Historikerin nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, Anfang der 1990er-Jahre, als junge Studentin ins postkommunistische Osteuropa ziehen lassen und den Grundstein für ihr Buch „Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa“ bilden. Shores Forschungsreise startet in der ehema-

ligen Tschechoslowakei, führt sie u.a. nach Rumänien, in die Ukraine und immer wieder nach Polen. Sie hält sich in Emigrantenenklaven auf und wird dabei unterstützt von Forschungszentren und Ost-WestDrehscheiben wie dem 1982 von Krzysztof Michalski gegründeten Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM). Shore ist Zeitzeugin und Chronistin zugleich. Die Schicksale der Menschen, mit denen sie in Kontakt tritt oder denen sie historisch nachspürt, begleiten sie auf Schritt und Tritt. Shore lernt Tschechisch, Polnisch und Jiddisch.

Krieg in Polen blieben, setzten voller Hoffnung auf die kommunistische Utopie vom neuen, besseren Menschen. Mit ernüchterndem Erwachen. Einige wurden wie die Frauenrechtlerin Milada Horákova Opfer des stalinistischen Terrors, andere zogen sich in die innere Emigration zurück. Im postkommunistischen Polen ringen jüdische Gemeinden nach wie vor um Akzeptanz.

Sie unterrichtet als Lehrerin in einem tschechischen Dorf, nimmt Anteil an den Lebensgeschichten ihrer Kolleginnen, Schüler oder Vermieter, trifft einstige Dissidenten, spricht mit Holocaustüberlebenden genauso wie mit den Nachfahren der kommunistischen Elite, durchforstet frisch geöffnete Archive und steht im regen Austausch mit der osteuropäischen Intellektuellenszene. Marci Shore tut in „Der Geschmack von Asche“ etwas, was vielerorts im Wissenschaftsdiskurs immer noch verpönt ist: Sie bringt sich ein. Die von ihr präferierte Methodik: das Gespräch. Autobiografisches, verwoben mit zeitgeschichtlichen Fakten, tritt an die Stelle von klassischer Geschichtsschreibung und Oral History – ein Zugang, wie er auch von Timothy Garton Ash oder Tony Judt bekannt ist. Allerdings bleiben diese Stars ihres Fachs näher an ihren Themen und geben einen stringenteren historischen Überblick. Shores Zeit-, Orts- und Gedankensprüngen, ihrem ganz persönlichen Erinnerungsmuster zu folgen ist nicht immer leicht. „Aus dem Gulag kam man wenigstens zurück.“

Nicht nur einmal hört Shore dieses Argument von jüdischen Gesprächspartnern. Die Recherchen zur polnisch-jüdischen Geschichte gehören zu den aufwühlendsten in ihrem Buch. Zahlreiche polnische Juden waren vor dem Krieg Verfechter des Kommunismus. Jene, die Konzentrationslagern und Faschismus entkamen und nach dem

Marci Shore: Der Geschmack von Asche. Das Nachleben des Totalitarismus in Osteuropa. C.H. Beck, 376 S., € 27,80

Vorwiegend enttäuschte Hoffnungen sind es, die Marci Shore in ihren Momentaufnahmen festhält. Die Hoffnung auf einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz wurde 1968 mit sowjetischen Panzern überrollt. Für die meisten Dissidenten, darunter auch der spätere Präsident Václav Havel, bedeutete das Leben nach 1989 eine weitere Enttäuschung. „Die Lüge“ war gebannt, aber „die Wahrheit“, ein Leben auf der Grundlage von Werten, stellte sich auch nach der Samtenen Revolution vom Dezember 1989 nicht ein. Vieles, wie etwa Milan Kunderas stalinistische Jugendaktivitäten, wurde aus dem nationalen Gedächtnis verdrängt, Geheimdienstakten nur zögerlich geöffnet, die Aufarbeitung der Vergangenheit aus Angst vor weiterer Zerrüttung auf Unbekannt verschoben. Shore liefert keine lückenlose Dokumentation des postkommunistischen Europa, lässt uns aber dessen Gefühlswelten und Problematiken besser verstehen. Pe tr a Stur m


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Fürchtet euch vor dem Richtigen! Weltrettung I: Ortwin Renn analysiert die gefühlten und tatsächlichen Risiken und wartet mit umständlichen Lösungen auf er Untertitel ist redundant: Jeder weiß D oder sollte wissen, dass sich die Menschen hierzulande meistens „vor dem Fal-

schen fürchten“: eher vor Schweinepest und Pestiziden im Essen, Terrorismus, Triebtätern oder Flugreisen und weniger davor, was die meisten tatsächlich umbringt: Rauchen, Alkohol, falsche Ernährung und Bewegungsarmut. Letztere sind für zwei Drittel bis drei Viertel der vorzeitigen Todesfälle verantwortlich, während der Infektionstod in entwickelten Staaten trotz Aids und Krankenhausinfektionen nachrangig wurde und Umweltschäden nur in Schwellenländern eine ernste Gefahr darstellen. Dass diese dennoch in der Volksseele so prä-

sent sind, liegt am Erfolgskalkül der Medien. Der mit entsprechenden Ängsten oft einhergehende Glaube an „Natürlichkeit“ erscheint paradox: Die allermeisten Todesfälle durch Lebensmittelgenuss beispielsweise werden durch natürliche Erreger ausgelöst. Wenngleich nichts prinzipiell Neues, hat man diese Fakten selten so klar und ausgewogen dargestellt gelesen wie bei dem Umweltsoziologen Ortwin Renn, der nebenher auch in die Tücken der Statistik und der Kausalzuschreibung einführt. Wir leben nicht in einer „Risikogesellschaft“ (U. Beck), sondern in einer „Risikowahrnehmungsgesellschaft“, daher muss über Psychologie reden, wer über Risiko spricht.

Renn entfaltet eine umfassende Psychologie der Informationsgewinnung und Bewertung von Risiken mit dem Ziel größerer „Risikomündigkeit“. „Framing“-Effekte, Mechanismen unserer Sinnprojektion, sozialen Konformitätsdruck, Selektions- und Aufbereitungsmechanismen von Suchmaschinen, die wachsende Schwierigkeit, die Glaubwürdigkeit von Informationsquellen zu bestimmen, die Beziehung von Risikoabschätzung, Wertbesetzung und dem Gefühl, Gefahren handelnd beeinflussen zu können – alles möchte Renn abdecken. Auch das gelingt ihm, bei gewissen Redundanzen, didaktisch vorbildlich. Ob, wie Renn glaubt, das Fortwirken archaischer Verhaltensmuster oder einfach Faulheit als Ursache dafür geltend gemacht werden kann, dass die meisten Menschen auf Einzelereignisse und medial dramatisch aufbereitete Sensationen und Schicksalsschläge fixiert sind und immer einen Schuldigen brauchen, sei allerdings dahingestellt. Renn jedenfalls diagnostiziert eine prinzipielle Wahrnehmungsschwäche für gesamtsystemische Risiken. Die Moderne bringt komplexe, sich zunehmend autonomisierende und daher schwer steuerbare Systeme hervor, die mit anderen Systemen vernetzt sind. Die Finanz- und Eurokrise gab hierfür Anschauungsunterricht. Als Paradebeispiel eines systemischen Risikos kann das Ökosystem gelten: Es betrifft den Einzelnen nicht direkt, die Veränderungen geschehen nahe-

zu unsichtbar und schleichend, und dafür fehlen uns die Sensorien. Auf den zweiten 300 Seiten seines Buches ver-

Ortwin Renn: Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten. Fischer, 604 S., € 15,50

sucht Renn alles zu präsentieren, was er sich über die moderne Welt denkt, was ihre Gefahren sind und mit welchen Theoriemodellen und Kriterien sie zu retten sein könnte. Resilienz sei wichtiger als Effizienz; soziale Gerechtigkeit müsse Vorrang vor Ressourceneffizienz haben, Lebensqualität vor Wohnstandard. Dieser Teil hat mit dem Buchtitel kaum noch etwas zu tun und mutiert eher zu einem weiteren „Soziologenbuch“ mit Diagnosen und Rezepten zum Steuern und Verbessern der krisengeschüttelten Welt. Renn wirft seine zuvor gelehrte Skepsis gegenüber Expertenmeinungen, Statistiken und Prognoseszenarien über Bord: So illusionär der Gemeinverstand, so gesichert ist für ihn der Common Sense der Wissenschaftler, der Klimaforscher zuvörderst. Doch so sicher wie Renn sind sich heute nicht einmal die meisten Klimaforscher, und über die Möglichkeit einer „Green Economy“ lässt sich trefflich streiten. Am Ende steht ein aus vielen Tabellen, Schemata und Theoremen zusammengesetztes Rettungskonzept, das hoffentlich niemand in die Praxis umzusetzen versucht: Es würden vor allem Berge von Protokollpapier unzähliger Konferenzen und Gremien von „Experten“ dabei herauskommen. S e b a s t i a n K iefer

Schreiben statt schrubben, teilen statt Theologie Weltrettung II: Renée Schroeder liefert Vorschläge zu Ökologie, Frauenbildung und Entwicklung ie renommierte Biochemikerin Renée D Schroeder, vom Club der österreichischen Wissenschaftsjournalisten zur Wis-

senschaftlerin des Jahres 2002 gekürt, hat sich nach „Die Henne und das Ei“ (2011), das 2012 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gekürt wurde, wieder mit der Journalistin Ursel Nendzig zusammengetan, um von so Diversem wie „Menschen, Zellen und Waschmaschinen“ zu erzählen. Entstanden ist ein lesenswertes, streitbares Buch, das nichts weniger als eine „Anleitung zur Rettung der Welt“ darstellt. Es ist ein Plädoyer gegen die einseitige Fixierung auf Wirtschaftswachstum, dogmatische Religionen und die andauernde Benachteiligung von Frauen. Für Schroeder lautet das Gebot der Stunde

Bildung. Daher auch ihre Forderung nach Waschmaschinen für alle: 1,2 Milliarden Menschen weltweit – hauptsächlich Frauen – müssen ihre kostbare Lebenszeit nach wie vor mit aufwendigen, stupiden Tätigkeiten wie Handwäsche vergeuden. Diese Zeit könnten sie viel besser in Bildung investieren, meint Schroeder. In der zunehmenden Bildung von Frauen läge auch der Schlüssel gegen das menschliche Bevölkerungswachstum. Das belegt bekanntlich die geringe Kinderzahl in entwickelten Ländern – wobei allerdings gerade die Gier, die nach Schroeder den Lebensstil der Industrienationen prägt, den Planeten zunehmend erschöpfe.

Besonders interessant machen das Buch die Fragen, die Schroeder sich und anderen laufend stellt: Liegt es etwa wirklich „nur“ an der zunehmenden Bildung von Frauen, dass die Geburtenrate weltweit sinkt, und zwar in allen Ländern? Oder sind angesichts der in vielen Regionen der Welt zunehmenden Bevölkerungsdichte auch noch unerforschte biologische Mechanismen im Gang? Schroeder weiß es nicht, wie sie betont, aber die Biochemikerin teilt dankenswerterweise ihre innovativen Gedankengänge mit der Leserschaft. Wissenschaft und neue Erkenntnis beginnt bekanntlich mit guten Fragen. Das Buch ist in zwölf Kapitel gegliedert, die auch unabhängig voneinander und durcheinander gelesen werden können. Schroeder und Nendzig wollen weg von der analogen, linearen Struktur von Büchern; sie setzen regelmäßig Querverweise und nähern sich so auch zwischen zwei Buchdeckeln der digitalen Gestaltungsform. Die Universitätsprofessorin Schroeder hält viel von Sharing-Projekten wie Wikipedia, wie sie mehrfach betont. Das emanzipatorische Potenzial von Technik scheint für sie als Naturwissenschaftlerin real und intakt – von Waschmaschinen bis zum Internet. Auf die konkrete Verwendung dieser Techniken käme es eben an. Denn diese könnten das eine Leben, das wir haben, eindeutig besser machen. Schroeder warnt davor, sich von religiösen Institutionen auf

ein Leben nach dem Tod vertrösten zu lassen. Denn das gibt es für sie nicht. Viele gebildete Menschen teilen diese Weltsicht. Und natürlich stellte das Beharren auf Dogmen und Denkverboten durch staatliche und kirchliche Institutionen jahrhundertelang eine große Hürde gerade für Frauen, aber auch die große Mehrheit der Menschheit insgesamt dar. Es stellt sich aber die Frage, ob man mit einem angriffslustigen Atheismus à la Richard Dawkins nicht unnötig Gräben aufreißt zwischen Menschen, die gleichermaßen besorgt über den Zustand der Welt sind. Das sind eben nicht nur wissenschaftlich orientierte Freidenker, sondern auch Menschen, denen Spiritualität wichtig ist, die bei Religionskritik – auch pointierter, wohlüberlegter – aber sofort abblocken.

Renée Schroeder mit Ursel Nendzig: Von Menschen, Zellen und Waschmaschinen. Anleitung zur Rettung der Welt. Residenz, 197 S., € 21,90

In der globalisierungskritischen Bewegung war Religion aus gutem Grund von Anfang an kein Thema. So kamen und kommen Gespräche und auf den ersten Blick ungewöhnliche Allianzen zustande. Andererseits kann das tendenziell ebenso harmoniesüchtige wie konservative Österreich ein wenig atheistische und feministische Streitlust durchaus vertragen. So hat Renée Schroeder bekanntlich in den beliebten Protagonisten des Wissenschaftskabaretts der „Science Busters“ Brüder im Geiste, die in dieser Hinsicht ebenfalls einen klaren Standpunkt beziehen. K a ri n C h l a d ek


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Sachbuch

Auf Tuchfühlung mit der Wirklichkeit Ikonografie: Helmut Lethen denkt in autobiografisch gefärbten Studien über die Wirksamkeit von Bildern nach

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n der Ikonografie des 20. Jahrhunderts hat dieses Bild einen prominenten Platz. Dorothea Langes „Migrant Mother“ entstand 1936 in einem Lager von US-amerikanischen Wanderarbeitern und zeigt eine nachdenkliche Frau, an deren hageren Körper sich zwei Kinder klammern. Das von zahlreichen Zeitungen abgedruckte Foto wurde zum Symbol der Weltwirtschaftskrise – und für die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe. Präsident Franklin Roosevelt wollte mit seiner Politik des New Deal die Folgen eines zügellosen Kapitalismus bekämpfen. Der besorgte Staat war gewissermaßen die unsichtbare Hand in Langes Madonnenbild: der abwesende Vater.

grafien des Holocaust, mit sowjetischer Unterwäsche und den Performances der jugo­ slawischen Künstlerin Marina Abramović. Stets geht es dabei um die reale Wirkung von Bildern, die eine „Tuchfühlung mit der Wirklichkeit“ ermöglichen, auch wenn die Theorie des Simulakrums das Gegenteil behaupten. Nie sei öfter über Körper gesprochen worden als in jener Zeit, in der man glaubte, er werde in den Medien gänzlich seiner Wirklichkeit beraubt, vermerkt Lethen, der diesem Widerspruch aus dem eigenen Erleben heraus nachspürt. Warum lösten die Fotografien von einer Massenerschießung im Zweiten Weltkrieg bei ihm rasendes Herzklopfen aus?

„Migrant Mother“ ist eine von mehreren Iko-

In Lethens Buch geht es um Bilder und um prä-

nen, die der in Wien lebende Literaturwissenschaftler Helmut Lethen in seinem Buch „Der Schatten der Fotografen“ behandelt, das für den diesjährige Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Er wählte für das „Nachdenken über die Wirklichkeit der Bilder“ nicht die Form des wissenschaftlichen Essays, sondern jene der räsonierenden Erzählung. Es ist eine unentschiedene, zwischen autobiografischer Anekdote und Analyse mäandernde Textform, die den Leser nicht immer zu berühren vermag. Die in Ich-Form gehaltenen Betrachtungen beschäftigen sich mit einem Mordfall in der Heimatstadt des Autors und den Foto-

gende Lektüren. So schildert der Autor den Eindruck, den Siegfried Kracauers „Theorie der Fotografie“ auf ihn hinterlassen hat. Er las das Buch erst 1989, Jahrzehnte nach dessen Erscheinen. In den 60er-Jahren hatte Lethen ein Denken abgelehnt, das nicht in das Raster marxistischer Analyse passte. Er schildert, wie nach einer langen Phase ideologisch formatierter Wirklichkeit die Sehnsucht nach Evidenz erwacht sei. In Siegfried Kracauers unorthodoxer Interpretation etwa des neorealistischen italienischen Films entdeckte Lethen seinen eigenen Hang zum Abweichlertum wieder. Ein Beispiel: Kracauer beschreibt den

Schrei eines Kindes in dem Partisanenfilm „Paisà“ als etwas hypnotisierend Tiefes, die intellektuellen Abwehrmechanismen Durchdringendes. Siegfried Kracauers Lob der Unmittelbarkeit

Helmut Lethen: Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit. Rowohlt Berlin. 272 S., € 20,60

lief den gängigen Vorstellungen einer symbolisch präformierten Wahrnehmung zuwider. Lethen fand die Interpretation seines berühmten Kollegen dennoch überzeugend; der Schrei in „Paisà“ wurde für ihn zur Momentaufnahme existenzieller Verlassenheit. Und auch den französischen Theoretiker Roland Barthes schätzt Lethen, gerade weil er sich von den Dogmen des Strukturalismus verabschiedete. Dessen bis heute wirkmächtiges Buch „Helle Kammer“ (1980, dt. 1989) räumt die zeichentheoretischen Methoden der Decodierung zur Seite und spricht vom „Erwachen der unbeugsamen Realität“. Roland Barthes argumentiert nicht als sezierender Wissenschaftler, sondern als ein um seine verstorbene Mutter trauernder Sohn, der in den Fotografien den Schatten des Verlustes nachspürt. Er habe tief durchgeatmet, schreibt Helmutz Lethen, als er die Schrift 1986 zum ersten Mal in die Hand genommen habe. Wieder hatte er eine Anleitung gefunden, die über die Lesbarkeit der Wirklichkeit hinaus zu einer Berührung führte. MAT THIAS DUSINI


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NSA, Google, die Daten und die Fragen

Liebeserklärung an Alfred Einstein

Mathematik: Ist Big Data gut oder böse? Und welche Rolle spielt die Mathematik dabei?

Physik: Pedro G. Ferreira erklärt die Relativitätstheorie, ihre Geschichte und prophezeit ihr eine große Zukunft

ie Datensammelwut bestimmter D Unternehmen und Behörden ist bekannt und hat vergangenes Jahr mit

eltberühmt wurde Albert EinW stein in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts, als astronomi-

dem Aufdecken diesbezüglicher Aktivitäten der NSA einen weiteren und sicher nicht den letzten unangenehmen Bewusstseinsschub erlangt. Doch nicht alle Anwendungsmöglichkeiten von Big Data hinterlassen ein ähnlich flaues Gefühl im Magen wie ausgeklügelte Überwachungsprogramme oder der durchschaute Konsument, dessen Kaufverhalten Unternehmen besser kennen als er selbst.

So wäre die Entdeckung des Higgs-Teilchens am CERN ohne Big Data nicht möglich gewesen. Und auch Google beeindruckte schon 2009 mit einer Publikation im Wissenschaftsmagazin Nature, die aufzeigte, dass über das Suchverhalten von Nutzern im Internet Grippeepidemien besser, weil früher vorhersagt werden können als mit den üblichen Methoden staatlicher Gesundheitsbehörden. Die Idee hinter Big Data ist einfach: Man sammelt so viel Daten wie möglich und sucht nach Korrelationen, also nach mehr oder weniger starken Zusammenhängen. Die Verheißungen von Big Data sind so groß, dass bereits 2008 der damalige Wired-Chefredakteur Chris Anderson in einem viel diskutierten Artikel das „Ende der Theorie“ prognostiziert hat. Damit schlug er in dieselbe Kerbe wie der britische Physiker und Erfolgsunternehmer Stephen Wolfram, der ein paar Jahre zuvor „A New Kind of Science“ einläuten wollte, in der Computerexperimente die klassische, deduktive Mathematik ersetzen sollten. Finden wir künftig also alle Antworten auf unsere Fragen, indem wir möglichst viele Daten durchforsten? Hat die Frage nach dem Warum ausgedient und zählt nur mehr das Was? Eindeutig nicht, sagt der deutsche Wissenschaftstheoretiker und Philosoph Klaus Mainzer in seinem neuen Buch „Die Berechnung der Welt: Von der Weltformel zu Big Data“. Er erinnert daran, dass beide Zugän-

ge die Wissenschaftsentwicklung seit ihren Anfängen begleiten. Wobei die Warum-Frage für Mainzer sogar eine Überlebensfrage war und ist: Bereits unser Gehirn muss unsere Sinneseindrücke filtern, damit wir in den täglich auf uns einprasselnden Signalmengen nicht restlos untergehen. Durch die Suche nach Mustern, die sich zu Gesetzen und Theorien verdichten, können wir die Komplexität dieser trotz Filterung immer noch ausreichend verwirrenden Signale auf ein erträgliches Maß reduzieren. Für Mainzer gibt es in dieser Frage kein Entweder-oder. „Datenmassen ohne theoretische Grundlagen bleiben

blind. Theorien und Formeln ohne Daten sind aber leer“, schreibt er in guter philosophischer Tradition. Ob in Physik und Technik, Biologie und Medizin, Industrie und Wirtschaft oder einfach nur im täglichen Leben – überall werden heute gewaltige Mengen an Daten produziert. Ohne Komplexitätsreduktion durch Mustererkennung stünden wir diesen Datenmassen ähnlich hilflos gegenüber wie unreduzierten Sinneseindrücken. Um Aussagen über künftige Entwicklungen oder gar neue Entdeckungen machen zu können, muss man verstehen, nach welchen Regeln diese Muster entstehen. Korrelationen alleine können das nach Mainzer nicht leisten, auch wenn Big Data, gerade wenn es um Prognosen zu menschlichem Verhalten geht, erstaunliche Treffsicherheit erreichen kann. Ein besonderer Stellenwert kommt in Mainzers Zugang der (klassischen) Mathematik zu. Da Daten mit Zahlen dargestellt werden und die Mathematik auf dem Gebiet der Komplexitätsreduktion durch Mustererkennung eine lange Tradition hat, bietet sich diese Wolframs Unkenrufen zum Trotz als Erkenntniswerkzeug der Wahl an, wobei gilt: je größer der Einfluss des Faktors Mensch (wie zum Beispiel in der Finanzwirtschaft), desto größer die (mathematisch) zu berücksichtigende Unsicherheit. Mainzers Buch ist ein Plädoyer für Theorie und Reflexion. Dabei bleibt er jedoch keineswegs theoretisch. Er begründet das Warum des Warums anhand zahlreicher Beispiele. Und liefert – wie man es bereits von ihm kennt – trotz seines Praxisbezugs keine leichte Kost. Seine „Berechnung der Welt“ ist kompakt und dicht; eine Tour de Force durch die Geschichte inklusive möglicher Zukünfte mit großem Facetten- und Detailreichtum sowie zuweilen hinterfragbarer Liebe zum Fachjargon. Das vorausgesetzte, insbesondere mathematische Niveau ist hoch – auf diesem erklärt er jedoch paradoxerweise einfach. Die Zusammenhänge, die er aufzeigt, sind tief. Ob sich eingefleischte Big-Data-Verfechter durch Mainzers Argumentation überzeugen lassen, bleibt aber fraglich. Denn das Warum interessiert diese ja nicht. Martina Gröschl

sche Messungen erstmals experimentell seine 1915 publizierte Allgemeine Relativitätstheorie bestätigten. Mehr als zehn Jahre lang hatte er mit seinen Vorstellungen von einer neuen Gravitationstheorie hart gerungen, insbesondere mit der mathematischen Formulierung der sogenannten „Feldgleichungen“, die heute zum Kanon jeder höheren Physikausbildung gehören.

Die Eleganz der Feldgleichungen hat in den vergangenen hundert Jahren manchen später berühmt gewordenen Wissenschaftler überhaupt dazu gebracht, sich dem Fach Physik zu verschreiben, und sie stehen darüber hinaus noch immer im Zentrum der Forschung. Ein jüngeres Beispiel für die anhaltende Faszinationskraft von Einsteins bedeutendstem Geniestreich ist der 45-jährige Portugiese Pedro G. Ferreira, der heute an der Universität Oxford Astrophysik lehrt. Ferreira begeisterte sich als Jugendlicher für die merkwürdige Gitterstruktur der vierdimensionalen Raumzeit, schloss zuerst ein Studium der Ingenieurswissenschaften in Lissabon ab und wechselte dann als PHD am Imperial College in London zur Theoretischen Physik, um sich vollends der Relativitätstheorie zu widmen, die er sich aus Büchern angeeignet hatte. Nun ist von ihm selbst ein Buch erschienen. Es widmet sich seiner großen wissenschaftlichen Liebe und erzählt die Geschichte der Allgemeinen Relativitätstheorie in 14 Kapiteln. In dieser Geschichte spiegeln sich die bedeutendsten intellektuellen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts, denn die mittels der Relativitätstheorie untersuchten kosmologischen Phänomene förderten ständig neue und befremdliche Erkenntnisse über die Natur zutage, die auch Einstein nur schwerlich akzeptieren konnte. So entwickelte man beispielsweise früh das Konzept der Schwarzen Löcher, postulierte die Expansion des Universums oder entdeckte merkwürdige astronomische Objekte wie Neutronensterne. Selbst politische Ideologen mischten sich ein. In Nazideutschland wie in der stalinistischen Sowjetunion wurden Relativisten verfolgt, und auch in den USA der 1950er-Jahre mochte man die Anhänger Einsteins nicht. Seit Beginn des neuen Jahrtausends steht

Klaus Mainzer: Die Berechnung der Welt. Von der Weltformel zu Big Data. C. H. Beck, 253 S., € 25,70

die Allgemeine Relativitätstheorie erneut auf dem Prüfstand, weil klar wurde, dass das Universum nur zu vier Prozent aus dem besteht, was uns vertraut ist: den Atomen. Der Rest ist insofern dunkel, als er dunkle Materie beinhaltet, die weder Licht aussendet

noch reflektiert oder absorbiert, sowie dunkle Energie, die den Raum auseinandertreibt. Allerdings gilt das alles nur, wie Ferreira betont, wenn Einsteins Theorie stimmt. Eine solche Relativierung mag überraschen, wenn man das Wort „stimmen“ im Alltagssinn versteht. In der Physik jedoch hat eine „richtige“ Theorie einen Gültigkeitsbereich. Newtons Gravitationsgesetz beispielsweise ist aufgrund von Einsteins Arbeiten nicht „falsch“ geworden, sondern musste zurückgestuft werden: zu einem Grenzfall der Allgemeinen Relativitätstheorie, der dereinst dasselbe blühen könnte. Schon Einstein hatte das letzte Drittel seines Lebens darauf verwandt, eine „vereinheitlichte“ Theorie zu finden, die seine Feldgleichungen mit der älteren Theorie des Elektromagnetismus in Einklang bringt. Inzwischen haben sich auf dem Ideenmarkt verschiedene Ansätze etabliert, die alle vier Grundkräfte unter ein Theoriedach bringen sollen. Medial am bekanntesten wurde dabei die Stringtheorie. Sie postuliert als elementare Grundbausteine saitenähnliche Strukturen, die um viele Größenordnungen winziger sind als bekannte Elementarteilchen, und beeindruckt vor allem mit ihrer faszinierenden Mathematik. Ziel jedes dieser Ansätze ist es, die Quantentheorie mit Einstein zu versöhnen, doch fehlen zurzeit jegliche experimentelle Tests. Ferreira geht davon aus, dass sich be-

züglich dieser Grundsatzfrage in den kommen Jahren „Bedeutsames ereignen wird“. „War das 20. Jahrhundert vor allem von der Quantenphysik bestimmt“, prophezeit er, „so hege ich die Vermutung, dass das 21. Jahrhundert ganz im Zeichen von Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie stehen wird.“ Einstein würde es zweifellos freuen, doch auf welche Fakten Ferreiras Zuversicht gründet, lässt sich bei der Lektüre höchstens erahnen. Trotz solcher Inkonsistenzen und einigen Re­ dundanzen, wie sie oft auftreten, wenn Wissenschaftler fürs allgemeine Publikum schreiben, bietet seine Liebeserklärung viel Stoff, von dem man bestens lernen kann, wenn man das Nachdenken nicht scheut. A n dr é B e h r

Pedro Ferreira: Die perfekte Theorie. Das Jahrhundert der Genies und der Kampf um die Relativitätstheorie. C.H. Beck, 320 S., € 25,70


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Sachbuch

Schinken in Burgunder Ökonomie und Macht, und die Wirtschaftsethik Bürokratie und Musik 150. Geburtstag von Max Weber: Jürgen Kaube gleicht Leben und Schaffen des herausragenden Soziologen ab

150. Geburtstag von Max Weber: Dirk Kaesler widmet sich den familiären Hintergründen des produktiven Theoretikers

eim Professorendiner herrscht B Konversationspflicht, und der Verzehr des achtgängigen Menus dauert

ine tausend Seiten umfassende Biografie eines Mannes auf den E Markt zu bringen, der kurz nach Ende

drei Stunden. Die Fensterläden bleiben geschlossen, auch wenn draußen die Sonne scheint. Nach dem Essen treffen sich die Ordinarien im Raucherzimmer zum akademischen Plausch. Das war Heidelberg um 1900, eine Kleinstadt mit 30.000 Einwohnern, gut sortierten Delikatessenläden und mehr Zigarrengeschäften als Kohlenhändlern. Und mitten drin thront der Gelehrte Max Weber (1864–1920), dem die Soziologie einige klassische Texte und knackige Thesen verdankt. Sein Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904/05) erklärt die Entstehung des modernen Wirtschaftssystems aus dem Zusammenhang einer asketischen Lebensführung, die Bürokratisierung der Welt beschreibt er als den Gang in ein „stählernes Gehäuse der Hörigkeit“. Die Beweggründe für soziales Handeln ortet Weber, methodologisch wegweisend, zwischen Eigennutz und kollektiven Sinnvorgaben. Der deutsche Publizist Jürgen Kaube hat

es nun gewagt, das in viele Wissensgebiete auskragende Schaffen Webers mit dessen Lebensweg abzugleichen – und das gelingt aufgrund eines prägnanten Stils, ironischer Zwischentöne und eines selten ermüdenden Detailwissens. So schildert der Autor Heidelberg, in dem Weber zwanzig Jahre lebte, als produktives und gelehrtes „Weltdorf “. Staatsrechtler, Historiker und Nationalökonomen trafen sich etwa im ­Eranos-Kreis und diskutierten über das Christentum der Germanen, die Anfänge der chinesischen Religion und das altjapanische Kaisertum. Zu Max Webers eigenem Vortrag über protestantische Askese gab es „Schinken in Burgunder“. Die Biografie zeichnet nach, wie sehr Webers Denken von den eigenen Lebensverhältnissen geprägt war. Wäre seine romantische Bewunderung für die frühen Städte ohne den prägenden Aufenthalt in Heidelberg erklärbar? Für Weber war tatsächliche Freiheit nur in relativ kleinen Siedlungen möglich. Im Wachstum von Organisationen lauert seiner Meinung nach die Gefahr, dass die befreiende Rationalität in „Versteinerung“ umschlägt. „Es ist wie immer bei Weber“, schreibt Kaube: „Das Gute ist zugleich das Schlechte.“ Der nationalliberale Professor war stets auch der schärfste Kritiker seines bürgerlichen Standes. Mit bewusster Diskretion destilliert der Biograf aus Webers Begrifflichkeit die Wirkstoffe des Biografischen heraus. So wird seine Idee einer „charismatischen Herrschaft“ verständlich, wenn man von seiner Bekanntschaft mit dem Dichter Stefan George

weiß. Um 1900 war George der Mittelpunkt eines Kreises von Anhängern, die seine Gedichte verehrten und dem Meister ihr Leben unterordneten. Dieser Typus von Gehorsam muss Weber gerade deshalb fasziniert haben, weil er der eigenen rationalen und unpersönlichen Vorstellung von politischer Ordnung zuwiderlief. Kaube verzichtet weitgehend auf psychologische Deutungen des zu Unbeherrschtheit und extremer Streitbarkeit neigenden Charakters, dessen Karriere durch eine jahrelange „Überreiztheit der Nerven“ unterbrochen wurde. Er arbeitet sich aber dennoch so weit zu diesem intellektuellen Koloss vor, dass Webers alles andere als leserfreundlicher Stil aus dem Ringen mit sich selbst verständlich wird. Es entgeht dem Autor auch nicht, dass Weber seine strikte Ablehnung von „Werturteilen“ aufgab, als er eine junge Pianistin kennenlernte. Der sonst so unerbittliche Forscher sprach plötzlich von einer „Pluralität der Wertsphären“ und entdeckte in der Musik die Logik des Irrationalen. Wer heute über Arbeitsüberlastung klagt, wird angesichts von Webers Inund Output verstummen. Er kämpfte sich durch riesige Datenmengen über die ostelbische Landarbeiterfrage oder den internationalen Börsenhandel durch, publizierte zahllose Aufsätze, eilte von Vortrag zu Vortrag, dazu kamen abertausende Briefe. „Denk Dir, der Max ist eine Stunde mit mir spazieren gegangen, das war ihm ein wirkliches Opfer“, berichtet die Gattin Marianne Weber in einem Brief. Ständig schwankte Webers Gefühlsleben zwischen Resignation und Aufgebrachtheit, wofür heute wohl das Adjektiv „bipolar“ verwendet würde. Auch Marianne Weber verhielt sich para-

dox. Die Frauenrechtlerin lebte für ihren Mann. Die beiden hatten eine Ehe ohne Sex, und die Gattin akzeptierte sogar außereheliche Affären. Nach seinem relativ frühen Tod im Jahr 1920 kümmerte sie sich um die Edition seiner Schriften, gab auch das Hauptwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ heraus und verfasste eine Biografie. Diese von Selbstaufopferung geprägte Arbeitsethik hatte offensichtlich eine durchaus produktive Seite. MAT THIAS DUSINI

des Ersten Weltkrieges gestorben ist und politisch nicht in der ersten Reihe stand, muss wohl auf zwei Aspekte hinweisen: die herausragende gesellschaftliche Bedeutung der Persönlichkeit, gekoppelt an ein Jubiläum. Max Webers Geburtstag jährt sich am 21. April zum 150. Mal. Soziologie, Sozialdemokratie, Bürokratie, Herrschaft, Religion und Wirtschaft – unter diesen breitgestreuten Schlagworten ist Max Weber wohl auch jenen bekannt, die aus ganz anderen Wissensgebieten kommen. In insgesamt 13 Kapiteln widmet sich der zuletzt an der Philipps-Universität Marburg lehrende, nunmehr emeritierte Soziologe Dirk ­Kaesler dem Leben und Wirken des in Erfurt geborenen preußischen Universalgelehrten, der an der Schwelle des 20. Jahrhunderts stand, wo er sich mit sozial- und wirtschaftspolitischen Umbrüchen ebenso beschäftigte wie mit religiösen Aspekten, während des Krieges jedoch für dessen Fortsetzung plädierte. Kaesler schreibt nicht das erste Mal über

Max Weber. Er hat einen Teil seiner Forschung explizit diesem Mann gewidmet. Man könnte es fast selbst als ein Monumentalwerk bezeichnen, zumindest stellt es einen umfassenden Versuch dar, die sozial- und gesellschaftsgeschichtlichen Hintergründe zu rekonstruieren, auf denen Max Webers Ideen beruhen. Mit der Absetzung der Disziplin Soziologie als Hauptfach an der Marburg’schen Universität im Jahr 2007, die Dirk Kaesler vehement bekämpfte, hat er sich aus dem akademischen Betrieb zurückgezogen, um einem der wichtigsten deutschen Vertreter der Soziologie seine Reverenz zu erweisen. Die Themen von Webers kanonbildenden Werken, die in Soziologie und Politikwissenschaften heute noch als Basistexte herangezogen werden, erstrecken sich von der Ökonomie bis zur Macht, von der Wertfreiheit bis zur Musik. Die Beschreibung des Verwaltungssystems (Bürokratie) für die Entwicklung moderner Gesellschaften ist zum Beispiel ein solch klassisches Theoriegebäude, ebenso die Charakterisierung der verschiedenen (historischen) Herrschaftsformen. Der Aufbau des Buchs orientiert sich –

Jürgen Kaube: Max Weber. Ein Leben zwischen den Epochen. Rowohlt Berlin, 494 S., € 27,80

mit Ausnahmen – an der Chronologie: Aufgrund seines umfassenden Anspruchs mäandert Kaesler jedoch immer wieder zwischen den Zeiten. Dabei überfällt einen an manchen Stellen das Gefühl, etwas bereits vernommen zu haben.

Das Buch beginnt mit Webers tragischem Tod am 14. Juni 1920 in München, wo er, bereits seit seiner Kindheit durch eine Hirnhautentzündung gesundheitlich gezeichnet, der Spanischen Grippe erliegt. Seine Frau und Weggefährtin, die Juristin und Frauenrechtsaktivistin Marianne Weber, übernimmt die Grabrede, was für eine Frau in der damaligen Gesellschaft als unschicklich galt. Die ihr gewidmeten biografische Notizen stellen wichtige und kritisch beleuchtete Koordinaten in Kaeslers Text dar. Webers Tod bildet den Startschuss für eine Rückblende, in der detailliert auf die Geschichte und soziale Herkunft von Webers Eltern eingegangen wird. Der Weg zu Max Weber junior ist von hier an weit, was jene Leser freuen wird, die sich der Geschichte gerne biografisch nähern – und das heißt hier, mit einer Familie der gehobenen preußischen Bildungsbürgerschicht die deutsche Geschichte Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1920 zu beleuchten. Man erfährt, dass es die familiären Kon-

takte der zutiefst religiösen Mutter Helene Weber sind, die dem Vater Max Weber senior als Motor für seine spätere Karriere als nationalliberaler Reichstagsabgeordneter dienen. Die aus einer wohlhabenden Frankfurter Familie kommende Helene entsprach ganz dem damaligen Frauenbild – aufopfernd und überfürsorglich. Der aus Bielefeld stammende Zweig der Familie Weber, einst reich durch den Handel mit Leinen, kann als der wirtschaftsliberale Kontext angesehen werden, der den Anstoß für Max Weber juniors ökonomische Interessen gab. Bonmots, wonach Max Weber junior von einer Amme aus dem Arbeitermilieu genährt wurde und daher seine politischen Anschauungen mit der Muttermilch aufsog, streut Kaesler dezent und gekonnt dann zur Auflockerung ein, wenn aufgrund des fast enzyklopädischen Anspruchs der lange Atem nottut. So verhält es sich auch mit den überschaubaren historischen Abbildungen: Sie geben einem kurz und anziehend Einblick in den Kosmos Weber, ausgiebig visuell illustriert wird sie dadurch nicht.

M a r iann e S c h r e c k

Dirk Kaesler: Max Weber. Preuße, Denker, Muttersohn. Eine Biographie. C.H. Beck, 1008 S., € 39,10


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Hypotheken des Krieges und das Zeitalter der Extreme Geschichte: Noch ein Buch über den Ersten Weltkrieg? Diese beeindruckende Totalgeschichte muss man lesen och ein Buch über den Ersten WeltN krieg. Welche Vorzüge hat es gegenüber den bisher erschienenen? Viele! Jörn

Leonhard, Historiker an der Universität Freiburg, bietet so etwas wie eine Generalansicht des Ersten Weltkriegs, über die feindlichen Bündnisse und Länder hinweg, von der Vorgeschichte bis zu den Friedensverträgen von Versailles und St. Germain. Leonard ist kein Militärhistoriker, den Kriegsverlauf an den Fronten zeigt er zwar im Überblick, konzentriert sich aber mehr auf eine resümierende Betrachtung. Ausführlich setzt er sich dafür mit der Lebenskultur im Schützengraben, den Körper- und Gewalterfahrungen an der Front oder den Kriegsverletzungen und -leiden auseinander. Er legt seine Deutung breit an, die technischen

Innovationen sind ihm genauso ein Kapitel wert wie die Medienwelt samt der Zensur. Das sogenannte „Hinterland“ spielt eine Hauptrolle, so geht es ihm etwa um die Darstellung der intellektuellen Verarbeitungen des Krieges, eine Analyse der Kriegswirtschaft steht einem Kapitel über soziale Polarisierung gegenüber. Ziel war es sichtlich, eine Totalgeschichte zu schreiben. Das scheint kühn – und kann danebengehen oder ziemlich trocken ausfallen. Ist es aber nicht. Die Umsetzung des hohen Anspruchs funktioniert erstaunlich gut. Das Buch überzeugt in seinem rhetorischen Geschick und übersichtlichen Aufbau. Leonhard stellt sich nicht nur sehr souverän über die Forschungsergebnisse, hebt einzelne Momente und Ereignisse heraus und schaltet dann wieder auf den theoretischen Diskurs um, ohne dass dies aufgesetzt wirkt. Er kann gut kompilieren, gut erzählen, er bezieht auch belletristische Literatur oder Tagebücher ein, vor allem aber weiß er in seiner Problemorientierung Fragen zu stellen und diese ausführlich zu erörtern. Der Autor nimmt die Leser mit in den Diskurs hinein und erzeugt dadurch in der

Linearität des Textes fast so etwas wie eine Diskussionskultur.

Der Kriegswirtschaft wurden Innovationen abgefordert. Weil sich keine Entscheidungsschlachten einstellen wollten und die militärische Situation bis zuletzt offen blieb, wurden die Gewalt- und Zerstörungspotenziale nach oben getrieben, um inmitten der zunehmenden Erschöpfung doch noch eine Entscheidung zu erzwingen. Leonhard ist im Vergleich zu den Autoren vieler jetzt erscheinender Weltkriegsbücher immerhin bemüht, die spezifische Lage Österreich-Ungarns und seinen Zusammenbruch adäquat (nach meinem Geschmack allerdings nicht ausreichend) zu berücksichtigen.

Die enorme thematische Breite hilft, in der ge-

danklichen Auseinandersetzung mit dem, was da zwischen dem August 1914 und dem September 1918 passiert ist, Übersicht zu schaffen. Das Konzept, nicht im nationalen Rahmen zu bleiben, sondern Länder und Kontinente übergreifend darzustellen, macht Sinn, weil es so mit der Komplexität des Geschehens und den miteinander verknüpften Handlungsfeldern besser zurecht kommt und im Ländervergleich auch die Spezifika besser konturieren kann. Viele historische Bücher sind fixiert auf einzelne Länder und Völker. Und vergessen dabei, dass die Erfahrungen ähnlich waren – und dann doch wieder anders, mit erheblichen, auch kriegsbestimmenden Folgen. Die Versorgungslage etwa war in London und Paris anders als in Berlin und erst recht in Wien. Die totale Aufrüstung des sogenannten „Hindenburg-Programms“ produzierte bei den Mittelmächten Kohlemangel und Verkehrsinfarkt, aufgeschwemmte Bürokratie und vor allem Lebensmittelknappheit. In der Beschreibung der Entstehungsgeschichte geht Leonhard andere Wege als der jetzt überall hoch gerühmte Christopher Clark, der in „Die Schlafwandler“ (2013) den kräftigen deutschen Anteil an der Verursachung des Kriegs verwischt und dafür die Serben zum Schurkenvolk stilisiert. „Besser jetzt als später“ war das von den Regierungen übernommene Argument der deutschen und österreichischen Militärs, die von Einkreisungsfantasien geplagt waren und auf Krieg setzten. Leonhard gibt der Chronologie einen zentralen

Stellenwert. Der Krieg, der nicht und nicht enden wollte, veränderte sich in vielfacher Hinsicht. Der Autor arbeitet sich an den verschiedenen Jahren und Phasen des Krieges ab, schreibt über Waffen und Kriegstechnologie (Flugzeuge, Panzer, Artillerie), die immer wieder verbessert wurden.

Immerhin fasst er die österreichischen Prob-

Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs. C.H. Beck, 1157 S., € 39,10

lemlagen bestens zusammen. Er würdigt Freuds Essay „Die Enttäuschung des Krieges“ (1915); schildert die prekäre Lebensmittelversorgung; widmet sich dem Drama der österreichischen Juden nach dem Einfall der russischen Armeen in Galizien. Er erörtert die zuerst langsame, dann beschleunigte Secession der Tschechen und führt vor, wie Kaiser Karl mit der SixtusAffäre vollends in ein Glaubwürdigkeitsdesaster stolperte. Als Kronzeugen der Entwicklung lässt er den Juristen und Politiker Josef Redlich auftreten; das ist keine schlechte, wenn auch keine originelle Wahl. Und immer wieder stellt Leonhard einfache Fragen, die seine Untersuchung auf den Punkt bringen sollen, so in den beiden letzten Kapiteln: „Was also war der Krieg gewesen?“, „Was hinterließ er dem 20. Jahrhundert?“. Die Antwort: Hypotheken, nichts als Hypotheken, vor allem hat er dem „Zeitalter der Extreme“ die Tür geöffnet. Auf den Titel des Buchs kam Leonhard übrigens bei der Recherche des Familienlebens im Hause Thomas Manns. Dessen Kinder mussten im August 1914 ihre Aufführung von Frank Wedekinds „Büchse der Pandora“ abbrechen, weil der Krieg ausgebrochen war.

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Der wienerische Kultur- und Sprachbazillus Geschichte: Endlich liegt die langjährige Beschäftigung von Egon Schwarz mit dem Wiener Fin de Siècle als Buch vor gon Schwarz (Jg. 1922), der amerikaniE sche Germanist Wiener Herkunft, hat viel publiziert. Er gehörte zu den regelmä-

ßigen Mitarbeitern von Marcel Reich-Ranickis FAZ-Feuilleton. Sein kritisches Buch über Rilke („Das verschluckte Schluchzen“, 1972) hat großes Aufsehen erregt. Etliche Sammelbände sind von ihm herausgekommen. Seine lesenswerte Autobiografie hat mehrere Auflagen erlebt, nicht zuletzt ist er immer wieder auch zu Vorträgen in Wien gekommen, denn die österreichische Literatur war ihm immer ein Anliegen. Er hat sich intensiv mit der Literatur des Wiener Fin de Siècle und der Zwischenkriegszeit beschäftigt. Und doch gab es kein Buch, das seine verstreuten publizistischen Beiträge zur Literatur seiner Heimatstadt einigermaßen zusammenfasste und sie als Ganzes präsentierte. „Wien und die Juden“ holt dies nach und gibt Egon Schwarz den Platz in der österreichischen Kultur-

geschichtsschreibung, der ihm gebührt. In luzider, zupackender, lesbarer Weise setzt er sich mit dem Spezifikum der Wiener Literatur der Jahrhundertwende, ihrem starken Anteil an jüdischen Autoren (und Autorinnen) auseinander. Eingebunden sind dabei zwei Essays über die eigenen Erfahrungen, die vom Schrecken der Vertreibung berichten, aber auch von der Erfahrung der Welterweiterung durch die Emigration. Seine Odyssee durch etliche lateinamerikanische Länder, die ihn schließlich in die USA geführt hat, hat einen geistigen Abstand zum antisemitischen, provinziellen Wien ermöglicht und seinen Blick geschärft. Gleichzeitig hat Schwarz den wienerischen „Kultur- und Sprachbazillus“ dorthin im Gepäck mitgenommen, er hat ihm geholfen hat, sein Schicksal zu überstehen und eine gewisse Distanz als Stil zu entwickeln. Sein (wohl auch liebster) Kronzeuge

Egon Schwarz: Wien und die Juden. Essays zum Fin de Siècle. München, 173 S., € 23,60

in diesem Buch ist Arthur Schnitzler, der mit verzweifelter Skepsis wie mit liebevoller Ironie Wien gespiegelt hat. Mit dem Roman „Der Weg ins Freie“ (1908) und dem Drama „Professor Bernhardi“ (1912) hat er spannende, bis heute gültige Stadtporträts geschaffen, die das Drama der Multiethnizität einfingen. Das Wien der Jahrhundertwende vergleicht Schwarz mit dem der Zwischenkriegszeit. Eine Generation von jüdischen Autoren wie Joseph Roth oder Franz Werfel ist durch die Extremerfahrung des Ersten Weltkrieges gegangen, hat die Katastrophen des Ostjudentums beobachtet und ihre Schlüsse daraus gezogen. Wie weit war ihre literarische Welt von der eines Karl Emil Franzos entfernt, der 20 Jahre zuvor („Der Pojaz“, 1893/1905) noch ganz auf einen deutschnationalen Emanzipationskurs der Juden gesetzt hatte ...

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Sachbuch

Im Reich der prekären Prinzen und Prinzessinnen Generation Maybe: Zwei neue Bücher erkunden das Lebensgefühl der nach 1980 Geborenen – mit unterschiedlichen Ansätzen enerationenbücher sind im deutschen G Sprachraum ein eigenes Genre, seit der Journalist und Buchautor Florian Illies im

Jahr 2000 seinen Bestseller „Generation Golf “ veröffentlichte. Er beschrieb damit seine eigene behütete Jugend in Deutschland in den 1980er-Jahren. Zum Sinnbild für eine marken- und statusbewusste Jugend wurde damals der VW Golf, der, meist als Zweitauto der Mutter, in der Garage des besseren Mittelstands parkte. Sorg-, aber auch orientierungslos waren die Heranwachsenden damals, meinte Illies. Man genoss den Wohlstand, den die Eltern angespart hatten. Für viel mehr, ein politisches Programm oder Weltverbessertum, reichte es meist nicht, meinte Illies. Viele markige Generationenzuschreibungen wurden seit damals erfunden und als Buch auf den Markt geworfen. „Generation Ally“ (2002), „Generation Umhängetasche“ (2008), „Generation Wickeltasche“ (2010), „Generation Geil“ (2010), „Generation Porno“ (2010) und „Generation Laminat“ (2012) zählte der Spiegel unlängst auf. Dabei sind jene Werke, die das G-Wort nicht im Titel tragen, erst gar nicht eingerechnet. Das Bedürfnis nach Einordnung ist offenbar groß. Auch diesen Frühling sind zwei Generationen-

bücher erschienen, beide von Journalisten geschrieben. Oliver Jeges, in Wien geborener und in Berlin lebender Autor, kommt mit „Generation Maybe“ ganz klassisch als G-Buch daher. Kerstin Bund, Wirtschaftsredakteurin der Hamburger Zeit, nennt ihr Werk „Generation Y. Glück schlägt Geld“. Beide basieren auf Essays oder Reportagen, die von den Autoren zuerst veröffentlicht wurden. Jeges schrieb einen gleichnamigen Text in der Welt, Bund im Dossier der Zeit. Auch das ist kein Zufall. Der Sachbuchmarkt funktioniert oftmals so, dass Verlage auf der Suche nach dem neuen Programmknüller die Feuilletons und Dossiers deutschsprachiger Medien nach ausbaufähigen Großthemen durchstöbern. Junge Journalisten in ihren Endzwanzigern oder Anfangdreißigern wie Jeges und Bund, ge-

schmeichelt vom Angebot, ein Buch zu schreiben, greifen dann gerne zu – auch wenn ihr Ursprungstext vielleicht gar nicht einen 200-Seiten-Wälzer trägt. Das ist bei Jeges und auch ein wenig bei Bund der Fall, wenngleich die Zeit-Redakteurin ihr Ausgangsthema erfolgreicher weiterentwickelt. Bund spricht übrigens von der Generation Y, weil ihre Angehörigen nach der vom US-Autor Douglas Coupland ausgerufenen Generation X zur Welt kamen, also nach jenen zwischen den frühen 1960ern und frühen 1980ern Geborenen.

einhellig. „Ichlinge“ nennt Jeges sie, Bund tauft sie – sehr hübsch – „prekäre Prinzen“. Prinzen, weil sie so behütet und mit allen pädagogischen Wohltaten ausgestattet von Helikopter-Eltern großgezogen wurden. Prekär, weil ihnen schwant, dass sie den Wohlstand derselben nicht halten werden können. Beide sprechen natürlich vor allem von Ver-

Ein wenig verwirrend? Das ist wohl das Grund-

problem bei Generationsbüchern. Wenn Sie so gut geschrieben sind wie jenes Illies oder Couplands, können sie das Lebensgefühl einer Alterskohorte einfangen, zumindest eines speziellen soziologischen Ausschnitts derselben. In allen anderen Fällen wirken sie schnell beliebig, anmaßend – oder beides. Oder mag jemand ernsthaft behaupten, dass es für die Generation Maybe oder Y tatsächlich ein verbindendes Erlebnis gibt? Mit Sicherheit haben zwei Journalistinnen in ihren Dreißigern, die für ein Frauenmagazin arbeitet, egal ob sie in New York oder Wien lebt, mehr gemeinsam als zwei Gleichaltrige, von der die eine besagte Journalistin ist und die andere beispielsweise Bankangestellte in einer mittelgroßen niederösterreichischen Landgemeinde. Jeges wie Bund deklarieren gleich zu Beginn ihrer Bücher, dass sie natürlich weder als Stimme einer einzigen Generation sprechen wollen noch können – und dennoch verfallen beide im Laufe ihres Buches in diesen seltsamen Pluralis Majestatis, den generationsübergreifenden „Wir“-Duktus. Aber das werden die Verlage wohl auch so gewollt haben, den schließlich vermarkten sich solche Bücher besser, wenn sie den Anspruch stellen, stellvertretend für die Jugend von heute zu sprechen. Wofür also stehen das Y und das ­Maybe? Für eine verhätschelte, selbstbezogene und gleichzeitig ungemein weltoffene und jedenfalls ganz und gar mit der Online-Welt vernetzte Generation, schreiben die Autoren

Oliver Jeges: Generation Maybe. Die Signatur einer Epoche. Haffmans & Tolkemitt, 192 S., € 18,50

Kerstin Bund: Glück schlägt Geld. Generation Y: Was wir wirklich wollen. Murmann, 200 S., € 20,60

tretern ihrer eigenen Klasse: Im Wohlstand aufgewachsen, aus gutbürgerlichem Haus, in der Bewusstseins- oder Wissensarbeiterindustrie tätig, kurzum das, was man gemeinhin „bourgeoise Bohemiens“, Bobos, nennt. Das ist noch so eine gern gebrauchte Generationszuschreibung, die eher für die Charakterisierung einer städtischen, intellektuellen Elite zu gebrauchen ist – so wie ihr Urheber, der New York Times-Journalist David Brooks, es ursprünglich gemeint hatte. Deshalb lautet der Untertitel seines 2000 erschienenen Buches auch: „The New Upper Class and How They Got There“. Während sich Jeges vor allem in mal witzigen, mal ziemlich belanglosen Klagen darüber ergeht, dass die vielen Möglichkeiten die Vertreter der Generation Maybe lähmen, entwickelt Bund eine Art arbeitspolitisches Manifest für dieselbe. Das ist auch der wesentlich spannendere Ansatz. Gibt es so etwas wie einen gesellschaftlichen Auftrag für die Generation Y? Ja, meint Bund. Und zwar den „Work-LifeBlend“, also die Ausbalancierung zwischen Privat- und Arbeitsleben. Schließlich seien sie die erste gleichberechtigte Generation, Frauen verzichteten nicht mehr auf Kinder für die Karriere, und auch Männer zögen immer öfter das gemeinsame Familien­ abendessen dem Meeting spätabends vor. Oder zumindest getrauen sie sich es eher einzufordern, nachdem Frauen langsam die ungeschriebenen Regeln des Arbeitslebens zu ändern beginnen. Männer wie Frauen in dieser Generation leben nach der Maxime „Sinn wird wichtiger als Status. Glück schlägt Geld. Herr seiner Zeit zu sein ist das neue Statussymbol unserer Gesellschaft.“ Der Golf hat erst einmal ausgedient ... ba r ba r a t ó t h


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Elvis hat ausnahmsweise Der geile Sound einmal Sendepause des Unverständlichen Pop: Karl Bruckmaier trägt seine Popgeschichte(n) so vor, als würde man einem Radionachtprogramm lauschen

Pop: Ein Fall für die Analyse im privaten Lesekreis: Diedrich Diederichsens Opus Magnum „Über Pop-Musik“

lles begann in Córdoba. Nicht bei A den ersten Aufnahmesessions von Elvis Presley, nicht bei den Gesängen

iedrich Diederichsen, wir lieben D dich, aber deine Bücher verstehen wir nicht“, singt die Elektropop-

der nach Amerika verschleppten afrikanischen Sklaven und auch nicht in Afrika selbst lässt Karl Bruckmaier (Jg. 1956) seine Version der Popgeschichte einsetzen, sondern im Jahr 822 in Spanien. Damals brachte Ziryab, ein schwarzer

Sänger aus Bagdad, mit seiner persisch-indischen Musik den Kalifen von Córdoba so sehr um den Verstand, dass ihm dieser einen eigenen Zugang zu seinem königlichen Gemächern errichten ließ. Ziryab soll über zehntausend Lieder beherrscht haben, seine „Vorstellung von Musik wird Grundlage sowohl für die Musik Nordafrikas wie auch für die klagenden Gesänge Spaniens und Portugals“. Kann man das so machen? Man kann. Denn hier geht es nicht um eine verbindliche, auf Daten und Fakten ausgerichtete Popgeschichtsschreibung und schon gar nicht darum, sich in den universitären Popdiskurs einzugliedern. Der Mann, der seit 35 Jahren für den Bayerischen Rundfunk Sendungen gestaltet und auch schon fast so lang die Süddeutsche Zeitung mit Texten beliefert (und auch als Hörspielregisseur aufhorchen hat lassen), singt die Geschichte des Pop lieber in seinem ganz eigenen Ton. Im Konzert der Popschreiber hat er schon öfter bewiesen, über eine unverkennbare Stimme zu verfügen. Sein erstes Buch trug den schönen Titel „I’m only in it for the Zeilenhonorar“ (1993), in seinem zweiten – „Soundcheck: die 101 wichtigsten Platten der Popgeschichte“ (1999) – überraschte er mit einem streitbaren („Country Life“, das beste Roxy-Music-Album?), aber auch erfrischend anderen Kanon. Das neue Buch eröffnet er mit einer star-

ken Ab- wie Ansage: Die Geschichte der Popmusik setze sich nicht zusammen aus dem Wissen, „wer 1972 bei Jethro Tull Bass gespielt und wer wann die erste House-Maxi veröffentlicht hat. Die Geschichte der Popmusik stellt für mich ein seit Jahrhunderten aufgeführtes Drama dar, das uns von einem bestimmten Typus Mensch erzählt, von seinen Lebensumständen, von seinen Träumen, von seinen politischen Ansichten und von seinen Unzulänglichkeiten.“ Pop ist immer auch das, was man nicht ist, aber gerne wäre: Zwei korrespondierende Zitate sind dem Buch vorangestellt. „I wanna be black“, sang einst Lou Reed. „I wanna be white“, wird Miles Davis zugeschrieben. Einem vergleichbaren Impuls mag der Glamrock entsprungen sein, als sich gestandene Rockmusiker plötz-

lich schminkten oder mit Federboa auftraten. Oder man denke an die Minstrel-Shows, als sich Weiße zu „Blackfaces“ schminkten und die Afroamerikaner nachäfften: „Deren breiter Fake-Plantagen-Akzent wird ähnlich schnell zum Signum für die Realität des schwarzen Südens, wie bei uns vielleicht der Türkensprech von Erkan & Stefan als Kommunikationsstandard türkischstämmiger Jugendlicher angesehen und imitiert wird. Schon nach kurzer Zeit weiß keiner mehr, was echt und was Parodie ist (…), übrigens eines der Kennzeichen von Pop.“ „The Story of Pop“ erzählt nicht eine, son-

dern viele Geschichten. Bruckmaier trägt sie so vor, als würde man einem Radionachtprogramm lauschen. Man erfährt dabei von Louis Moreau Gottschalk (1829–1869), der als Pianist und Orchesterleader der Popstar seiner Zeit war, oder von Bert Williams (1874–1922), dem ersten schwarzen Popstar. Man staunt darüber, dass in New Orleans bereits 1819 von Rock die Rede war. „Am heiligen Sabbath“, zitiert Bruckmaier einen Brief, „treffen sich die afrikanischen Sklaven auf einer Lichtung unten am Sumpf und rocken die Stadt mit ihrem KongoGetanze!“ Man lernt, dass sich Funk ableitet von lo-fuki aus einer Bantu-Sprache, das starker Körpergeruch, aber auch spirituelle Stärke bedeutet. „Die Sklaven, die noch in der Neuen Welt ankamen, waren notgedrungen alle ziemlich funky.“ Dazwischen wird die Schallplatte erfunden und die musikalische Sozialisation des Autors gestreift. Dieser schüttet ein Füllhorn an Informationen und Geschichten aus, verwoben in eine Art verschriftlichten Talking Blues. Der Großteil des Reigens, der dann doch irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ankommt, spielt natürlich in Amerika, „gerade weil sich Amerika zum wiederholten Male selbst verliert, verirrt, weil es vergessen zu haben scheint, dass es am meisten bei sich ist, wenn es außer sich gerät“. Außer sich geraten: Das wäre auch eine angemessene Rezeptionshaltung gegenüber „The Story of Pop“. SEBASTIAN FASTHUBER

Karl Bruckmaier: The Story of Pop. Murmann, 352 S., € 30,90

band Saalschutz über den 56-jährigen deutschen Autor, Kunstprofessor und Theoretiker. Langjährige Leser seiner Texte dürften beides nachvollziehen können: die Zuneigung, aber auch das Hadern. Als Redakteur der Magazine Sounds und Spex war Diederichsen in den 1980er-Jahren entscheidend daran beteiligt, auch im deutschsprachigen Raum eine über die ästhetische Bewertung hinausgehende Beschäftigung mit Popmusik zu etablieren. Der gebürtige Hamburger wurde zum bedeutendsten Vertreter des sogenannten Popdiskurses, einer außerakademischen Disziplin, die Musik in Kombination mit einem interdisziplinären Wissen – gespeist aus Soziologie, Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Cultural Studies – dafür nutzt, die Welt aus linker Perspektive zu verstehen, zu erklären und zu hinterfragen.

Diederichsens Qualität ist eine Mischung aus Originalität und apodiktischen Urteilen, überbordendem Wissen und analytischer Schärfe bei gleichzeitigem Spaß an der Abschweifung, aus Positionsstärke, Leidenschaft für die Musik, Lust an der Kritik und der Verknüpfung loser Fäden, die Popsongs mit sozialen Bewegungen ebenso verbinden wie mit Entwicklungen der bildenden Kunst. Der Haken ist die Verständlichkeit. Speziell in seinen Büchern pflegt Diederichsen, der seit 2006 an der Akademie der bildenden Künste in Wien unterrichtet, einen Stil, den „komplex“ zu nennen noch euphemistisch wäre. Das ist durchaus reizvoll. Man kann sich als Leser aber auch ziemlich blöd vorkommen. Oder den Autor zu klug finden. Zu klug für diese Welt, wie die österreichische Punkband Chuzpe einst sang. Jetzt legt Diederichsen sein bislang gewichtigstes Werk vor. Es fasst die Entstehung und Entwicklung von Popmusik analytisch – also: Rock’n’Roll der 1950er-Jahre und alles, was über Punk und Hip-Hop bis zu Techno und dem Nischenkulturallerlei der Gegenwart folgte. Er stellt Bezüge zur Jazzgeschichte, zu Kino und Literatur her und liefert eine komplexe Theorie der Kunstform Popmusik. Einer Kunstform, die, so eine zentrale These des großformatigen 500-Seiten-Ziegels, gar nicht als Musik, sondern nur als komplexes Zusammenwirken von Musik mit Bildern, Sehnsüchten, Posen, Wünschen, Rezeptionsverhalten und derlei mehr zu verstehen ist: „Pop-Musik ist kein Spezialfall aus dem größeren Gegenstandsbereich Musik. Und Pop-Musik ist nicht nur sehr viel mehr als Mu-

sik. Pop-Musik ist eine andere Sorte Gegenstand.“ Die gute Nachricht: „Über PopMusik“ ist spannend, vielschichtig, erhellend, klug, bisweilen sehr amüsant und bei allem inhaltlichen Gewicht auch unterhaltsam, speziell in den persönlichen Passagen – das erste Konzerterlebnis (der Bluesrocker Johnny Winter, ausgerechnet!) oder der alte Song der Incredible String Band, der sich über die innere Stimme unvermittelt meldet und so Diederichsens Reflexionsmaschine anwirft. Die schlechte Nachricht: Streckenweise

ist „Über Pop-Musik“, das über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren entstand, noch schwerer zu fassen als frühere Musikbücher des Autors. Polemisch formuliert legt sich vor allem in der ersten Hälfte häufig der dichte Nebel des Theorieschwurbels über seine Ausführungen; weniger polemisch formuliert muss sich Diederichsen die Frage gefallen lassen, ob „Über PopMusik“ einen Adressaten hat oder ob es einfach darum ging, den gelegentlich ausgelassenen, zumeist aber hochkomplexen Tanz seiner Synapsen zu Papier zu bringen. Während er Detailaspekte (das Leben und Wirken des britischen Produzenten Joe Meeks etwa) detailliert referiert, setzt er für das Buch zentrale theoretische Überlegungen in Halbsätzen als gegeben voraus. Referenzen werden nur durch das Zufallsprinzip erklärt, und der Aufbau wirkt zwar logisch, laboriert aber daran, dass letztlich alles mit allem zu tun hat, was sich in Doppelungen sowie dutzendfachen Verweisen auf später zu Erklärendes oder bereits an anderer Stelle Gesagtes niederschlägt. Lässt man sich darauf ein, entwickelt des Buch aber auch in den unverständlichen Passagen einen geilen Sound, der im einen Moment einer verwirrend-verstörenden und gleichzeitig ungemein anziehenden späten John-Coltrane-Platte wie „Ascension“ gleicht und im nächsten der verwegenen Rotzigkeit einer deutschen Spät1970er-Punkband wie Mittagspause. Um die Frustration gering zu halten, empfiehlt sich allerdings eine Lektüre im privaten Lesekreis. „Das Kapital“ hat man einst ja auch nicht alleine studiert ... G erhard S t ö ger

Diedrich Diederichsen: Über Pop-Musik. Kiepenheuer & Witsch, ca. 500 S., € 41,20


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Für einen stabilen Umgang mit der eigenen Störung Psychologie: Hans-Joachim Maaz hat in 40 Jahren tausende Klienten therapiert – und erklärt, was Psychotherapie leisten kann ies ist nicht der erste Leitfaden zur Psychotherapie. Ungewöhnlich ist die D Idee, gleich beide möglichen Zielgruppen

mitzunehmen auf die Rundfahrt durchs Reich seelischer Leiden und ihrer Heilung: Sowohl potenziellen Patienten als auch Fachkollegen will Hans-Joachim Maaz einen Überblick bieten. Bestens vertraut ist der in der DDR ausgebildete Psychiater mit ihnen allen. Tausende Klienten hat er in über 40 Jahren therapiert, als Chefarzt einer psychotherapeutischen Klinik in Halle etwa 500 Kollegen ausgebildet und seine eigene Methode entwickelt, die „Psychodynamische Einzeltherapie“. Ganz klar positioniert der geübte Autor mehrerer Bücher (zuletzt erschien „Die narzisstische Gesellschaft“, 2012) sein neues Werk als subjektiven Bericht. Dessen Grundlage sieht er im „Reichtum an praktischer Erfahrung, den ich immer mehr geschätzt habe als alle Theorie und Wissenschaft“. Und ab ins Wunderland der Seelenarbeit. Die-

se beginnt mit dem Zusammenfinden von Patient und Therapeut. Nebst praktischen Tipps bringt Maaz eine bemerkenswerte Faustregel: „Jeder Psychotherapeut ist für etwa ein Drittel aller Patienten sehr gut, für ein weiteres Drittel akzeptabel und für ein Drittel nicht wirklich hilfreich.“ Hilfe! Ratgeber? An manchen Stellen sieht es kurz so aus, als wolle der Autor

dem Leser sagen, was er zu tun habe. Meist weitet sich der Blick rasch wieder und man erkennt, dass hier die Landkarte einer kleinen Welt erschlossen, nicht ein bestimmter Weg darin vorgezeichnet werden soll. Einfühlsam und leicht verständlich erklärt Maaz die Arbeit, die Patient und Therapeut gemeinsam leisten, zeigt den Vertrag, den die beiden miteinander schließen, die Beziehung, die sie aufbauen, die Ziele, die sie erreichen können. Fachlich interessant wird es bei seinem Entwicklungsmodell, das zwischen Mütterlichkeits- und Väterlichkeitsstörungen unterscheidet. Hierzu schildert er zahlreiche Fälle: Lehrbeispiele für die einen, hautnahe Geschichten von Menschen, die einen Weg aus ihrer Not finden, für die anderen. Hier sieht man, was Tag für Tag in der Psychotherapie geschieht: emotionale Entladung, Wiederentdeckung von verdrängten Erlebnissen und Gefühlen aus der Kindheit, Bearbeitung der Modellbeziehung zwischen Therapeut und Klient. Hier geht’s ans Eingemachte, denn Psychotherapie ist kein Wellnessangebot. Wie schon in früheren Werken unterstreicht der Psychoanalytiker frei nach Urvater Freud die auf immerdar prägende Bedeutung der frühen Kindheit. Riskant erscheint das hieraus resultierende Idealbild einer stets versorgenden Mutter. Auch andere Dinge könnte man anders sehen. Verliebtheit beispielsweise als „eine spezifische psychische Störung“ zu werten findet si-

cherlich nicht ungeteilte Zustimmung aller Kollegen.

Hans-Joachim Maaz: Hilfe! Psychotherapie. Wie sie funktioniert und was sie leistet. C.H. Beck, 286 S., € 18,50

Die Seelenheilkunst hat ihre Grenzen. Keine Heilung, sondern nur den stabilen Umgang mit einer Störung zu erreichen, sei nicht leicht zu akzeptieren in einer Welt, „die den Irrtum kultiviert, man könne alles erlangen, wenn man nur wolle“. Maaz geht dabei so weit, unseren Begriff von Gesundheit zu relativieren: „Ich habe nach medizinischen und psychologischen Befunden sehr kranke Menschen kennengelernt, die sich subjektiv wohlfühlen, und Menschen, die erheblich leiden, ohne dass dafür objektivierbare Befunde vorliegen.“ Der Spagat zwischen den Bedürfnissen von Kollegen und Patienten gelingt. Hilfesuchende erhalten klare Orientierungspunkte im weiten Land der Seelenheilung. Fachkollegen finden ehrliche Einblicke in die Arbeit eines erfahrenen Kollegen, der auch sehr eigenständige Ansätze verfolgt – beinahe wie bei einem Erfahrungsaustausch in einem medizinischen Arbeitskreis. Für den Patienten bedeute Psychotherapie „anstrengende, belastende Arbeit“, die zu „Erkenntnissen, Gefühlen und zur Verhaltensänderung“ führe. Sein Buch darüber zu lesen fällt hingegen ganz leicht. Manchmal entsteht das Gefühl, Therapie könnte auch anders ablaufen. Doch zu sehen, wie ein alter Routinier an die Sache herangeht, hat hohen Erkenntniswert. A nd r eas K r emla

Sprüche, Ansprüche, Macht und Ohnmacht Pädagogik: Wie können wir uns dumme Erziehungssprüche abgewöhnen? Ein Autoren- und Elternpaar liefert schlaffe Lösungen er trotzige kleine Kinder hat, der kennt die Versuchung nur zu gut: W In der elterlichen Ohnmacht gehen einem

doofe Sprüchen wie „Wenn du dir jetzt nicht die Stiefel anziehst, bringt dir das Christkind keine Geschenke“ schnell von den Lippen. Es ist also prinzipiell eine gute Idee, sich mit dem Gerede zu beschäftigen, mit dem schon Generationen von Erziehungsberechtigten heiße Luft verströmt haben. Das Autoren- und Elternpaar Julia Heilmann und Thomas Lindemann behandelt in „Alle Eltern können schlafen lernen“ in 26 Kapiteln solche Sager. Viel Echo ernteten die deutschen Autoren mit ihrem Erstling „Kinderkacke. Das ehrliche Elternbuch“, das das auslaugende Leben von Mamapapa aus eigenem Leid und dennoch voll Witz schilderte. Mit Nachwuchs büßt man Schlaf, Sex, Geld, Sozialleben und Zeit für sich ein, und wer glaubt, durch richtiges Zeitmanagement alles unter einen Hut bringen zu können, macht sich etwas vor. Viel Fantasie und (Galgen-)Hu-

mor lautete schon damals der Rat des Duos, um nicht in Verzweiflung über den Identitäts- und Freiheitsverlust zu versinken. Nun setzen sich die Eltern von mittlerweile drei Kindern damit auseinander, was Quinn, Leo und Maja von Sätzen wie „Ich zähl bis drei ...“ oder „Wenn du jetzt nicht kommst, geh ich allein“ lernen sollen. Dazwischen werden erzieherische Maximen wie „Kinder brauchen Grenzen“ oder „Ein Kind braucht seine Mutter“ aufs Korn genommen. Zur Veranschaulichung dienen Anekdoten aus dem Alltag, pädagogische Bestseller werden gestreift und eine Menge Gemeinplätze über Eltern von heute strapaziert. In 50/50-Manier schreiben Mama Julia und Papa Thomas brav abwechselnd. Bald wird klar, dass hier eine Umgangsweise zu Recht bekämpft, aber im Gegenzug nur sehr wenig angeboten wird. Wenn das Kapitel „Wer nicht hören will, muss fühlen“ die elterliche Drohung auf infantilen Ungehorsam behandelt, so lautet die Lösung: „Das Zauberwort heißt Empathie.“

Julia Heilmann, Thomas Lindemann: Alle Eltern können schlafen lernen. Erziehungsweisheiten auf den Kopf gestellt. Atlantik, 239 S., € 17,50

No na, es dürfte jedem Leser von alternativen Erziehungsbüchern klar sein, dass man besser den Motiven des bockigen Kindes nachgeht, als ihm Schmerzen anzudrohen. Aber überanstrengte und unter Zeitdruck stehende Eltern haben traurigerweise oft nicht mehr die emotionalen Ressourcen, um sich in die auf Eskalationskurs befindlichen Kleinpsychen hineinzuversetzen. Dabei leugnen Heilmann und Lindemann ihr Scheitern an eigenen Ansprüchen nicht. Sie geben offen zu, sich vergeblich Kinder ohne Wutanfälle, mit guten Manieren und aufgeräumten Zimmern zu wünschen. Als Antwort auf Konflikte schlagen sie aber vor allem Zurückstecken der Eltern vor, also endlose Geduld und lustige Einfälle, um die Kinder spielerisch zu dem zu bewegen, was sie partout nicht wollen. Die zentrale Frage bleibt offen: Wie können wir die Wiederholung der eingelernten Dummsprüche überwinden, ohne uns für das kindliche Lustprinzip selbst zu verleugnen? N i c o le S c h e y e r e r

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1

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Das Anrecht auf ein größeres Stück vom Kuchen Soziologie: Aaron James entwirft mit seiner Theorie des Arschlochs auch eine moderne Ethik as A-Wort kommt wohl jedem einmal versehentlich über die Lippen. Aaron D James sucht absichtsvoll nach den Arsch-

löchern. Wer sie sind und was sie in der Gesellschaft bewirken, versucht er philosophisch zu ergründen. Der Philosoph, Harvard-Abgänger und Professor an der University of California entwirft eine Theorie des Arschlochs, indem er den Lieblingsbegriff der Umgangssprache einer ernsthaften Untersuchung unterzieht. Die Mischung aus salopp und philosophisch,

derer er sich dabei bedient, kommt durchaus cool rüber. Am originellsten wird Aarons Theorie bei ihren soziologischen Schlussfolgerungen: „Jede Gesellschaft braucht ein verlässliches Arschloch-Eindämmungssystem, also eine Reihe gesellschaftlicher Institutionen wie Familie, Religion, Bildungssystem oder rechtsstaatliche Justiz, die dafür sorgen, dass die Arschloch-Population nicht überhand nimmt.“ Zunächst geht James gemäß den Regeln seiner Kunst an die Begriffsbestimmung. Hierzu nimmt er handfeste Beispiele aus dem öffentlichen Leben und definiert danach deren Verhaltensantrieb: „Ein Arschloch in unserem Sinne (…) ist er erst dann, wenn er solche Dinge aus einem tief verwurzelten Anspruchsdenken heraus tut.“ In überhöhten Ansprüchen besteht das Wesen des Arschlochs nach James, darin, dass es sich selbst das Anrecht auf ein größeres Stück vom Kuchen zuschreibt als allen anderen.

Weiter geht’s mit einer Typologie, die unter anderem zwischen rüpelhaften, arroganten, Präsidenten- und Manager-Arschlöchern unterscheidet. Nicht immer gelingt es dabei, den Coolnessfaktor hochzuhalten. Stellenweise könnte man „Arschloch“ durch einen trägeren Begriff wie „Egoist“ oder „unkooperativer Mensch“ ersetzen und läse dann wenig revolutionäre Betrachtungen zu Gemeinwohl und Einzelwohl.

dem hat die Idee, einen Kraftausdruck als Thema zu verwenden, ihre Schattenseiten: Am Arschloch-Begriff hängen naturgemäß wenig erfreuliche Assoziationen. Menschen mit ausgeprägt bildhaftem Spracherleben sollten deswegen ihre „Arschloch-Resistenz“ zunächst an Leseproben testen. Abgesehen von diesem ästhetischen Gefahrenpotenzial liest sich das Buch aber durchaus locker. Professor James kann nicht nur Begriffe scharf definieren, sondern auch Anekdoten pointiert erzählen. Der Rekurs auf philosophische Vordenker wie Rousseau, Hegel oder Kant gelingt leichtfüßig. Zentral ist James’ gesellschaftliche Botschaft.

James bietet mehr als das. Er illustriert sein

Gedankengebäude mit lebendigen Bildern real existierender Arschlöcher und Anekdoten abgehobener Anspruchshaltungen. Eindrucksvoll demonstriert diese beispielsweise John Thain, ehemaliger CEO der Merrill Lynch Bank. Als ihm in der Bankenkrise 2008 von Steuerzahlern geborgte Milliarden zur Rettung seines Instituts zugesichert werden, hat er nichts Besseres zu tun, als nach einer Garantie für seinen Bonus zu fragen. Ein weiteres Lieblingsarschloch des Autors heißt Silvio Berlusconi. Mittendrin findet sich auch noch ein Kapitel zum Umgang mit dem Arschloch – inklusive Selbsttest zur Überprüfung des eigenen Arschloch-Faktors. Apropos Selbsttest: Erweckt das Wort „Arschloch“ schon Überdruss bei Ihnen? In der vorliegenden Rezension finden Sie es in geringerer Frequenz als im hier beschriebenen Buch. Den zentralen Begriff seiner Theorie oft zu gebrauchen, kann man einem Autor wohl kaum vorwerfen. Trotz-

Er warnt vor dem „Arschloch-Kapitalismus“,

Aaron James: Arschlöcher. Eine Theorie. Riemann, 288 S., € 18,50

in dem er einen Teufelskreis sieht: „Denn wenn der Anteil der Arschlöcher an der Bevölkerung zu groß wird (…), werden kooperative Menschen zunehmend unfähiger oder unwilliger, die Praktiken und Institutionen aufrechtzuerhalten, die die Gesellschaft braucht, um ihrem Niedergang entgegenzuwirken.“ Nicht alle Ideen hier sind neu. Nicht immer reicht die schnoddrige Diktion für Originalität. Doch einige Gedanken werden zu Ende gedacht, die oft untergehen im Ärger über alltägliche Arschlöcher, über deren gesellschaftlichen oder zumindest wirtschaftlichen Erfolg. Am Ende hat man ohne Mühe eine moderne Ethik gelesen. A n dr e a s K r e m l a

Scham, Schuld, Peinlichkeitsfurcht und Puritanismus Kulturgeschichte: Ulrich Greiner untersucht den Wandel der Gefühlskultur vom biblischen Sündenfall bis zu Lady Gaga on Lady Gagas Selbstinszenierung V über den Dresscode der heutigen Jugend bis hin zu den sexuellen Eskapaden namhafter Politiker, die in aller Öffentlichkeit breitgetreten werden: Was dem einen die Schamesröte ins Gesicht treibt, lässt den anderen kalt; was gestern noch ein Verstoß gegen die Norm war, erregt heute nur mehr das gewohnte Maß medialen Aufsehens. Wir scheinen in einer Zeit des kollektiven Schamverlusts zu leben. In diese Kerbe schlägt auch Ulrich Greiner, der mit seinem neuesten Werk den „Wandel der Gefühlskultur“ rekonstruiert.

An dieser Stelle löst er sich von einer chronologischen Herangehensweise und sucht in Literatur, Philosophie und Sozialwissenschaft nach Beispielen dafür, wie Scham, Schuld und Peinlichkeit entstehen konnten und können bzw. in welchem menschlichen Verhalten sie sich äußern. Dieser Teil macht den eigentlichen Kern des Buches aus. Während Kapitel zwei und drei eher oberflächlich bleiben, geht Greiner nun in die Tiefe und verwebt unterschiedliche Quellen – von Herodot über Thomas Mann bis hin zu Pierre Bourdieu und JeanPaul Sartre – gekonnt miteinander.

Scham, Schuld und Peinlichkeit – auf Basis die-

Die Herleitung der Scham aus dem Sünden-

ser drei Begriffe arrangiert der 1945 geborene Greiner sein Buch. Das Alter des Autors ist in diesem Zusammenhang nicht ohne Bedeutung, denn besonders zu Beginn lässt er auch eigene Erfahrungen einfließen. Den Wandel des Schamverhaltens verortet der bekannte Journalist und Literaturkritiker Ende der 1960er-Jahre, als Nacktheit zunehmend enttabuisiert wurde. Diese Veränderung führte nicht nur dazu, dass der Begriff des Normalen, des Angemessenen dehnbarer wurde. Ebendiese Flexibilität des Verhaltenskodexes erschuf gleichzeitig eine neue „Peinlichkeitsfurcht“, die Angst, nicht zu genügen. Ob Selbstkasteiung durch Diäten oder 70-Stunden-Wochen: Greiner sieht darin eine neue Form des Puritanismus, die die heutige Gesellschaft prägt.

fall in der Bibel und die Verbindung mit dem Freiheitsgedanken gestaltet Greiner ebenso spannend wie die Abschnitte über Selbstreflexion und Fremdbeobachtung als Auslöser des Schamgefühls. Fragen der Macht spielen ebenso hinein wie Lust und Faszination. Diese Mischung aus aktuellen Ereignissen und gesellschaftlichen Phänomenen, persönlichem Erleben, wissenschaftlichen Ansätzen und Beispielen aus der Literatur lässt einen Sog entstehen, der den Leser in die Thematik hineinzieht. Auf dem Weg ins Auge dieses Argumentationswirbels eröffnet Greiner immer wieder neue, spannende Perspektiven. Langatmig sind dabei maximal einige literarische Auszüge und Nacherzählungen, die den Lesefluss bremsen – insgesamt wenige Passagen, die

dem Lesevergnügen insgesamt aber keinen Abbruch tun. Es ist „nur“ ein ambitionierter Versuch, Herkunft und Bedeutung von Scham zu charakterisieren und ihren Wandel im Laufe der Geschichte nachzuzeichnen, an dem Greiner uns teilhaben lässt. Denn dass das Feld der Schamgefühle endlos ist, wie der Autor anfänglich meint, wird mit jedem weiteren Absatz klarer. Die Fülle an Interpretationen, die Greiner auf-

Ulrich Greiner: Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur. Rowohlt, 352 S., € 23,60

zeigt, ist groß; endgültige Begriffsdefinitionen gibt es nicht. Die meisten Darstellungen im Kontext der Scham und des Schamverlusts erscheinen schlüssig, nur manche Formulierung irritiert. Dass die Mutmaßungen und Meinungen des Autors stellenweise durchscheinen, sieht man dem Buch aber nach; auch deshalb, weil Greiner eingangs erwähnt, dass es keinen wissenschaftlichen Zweck erfüllen soll. So wird auch seine offenkundige und subjektive Faszination für das Thema, die man schon bald zu teilen beginnt, auf der Pro-Seite verbucht. Am Ende schließt man ein Buch, das mindestens so viele Fragen aufwirft, wie es beantwortet, den Leser jedoch um zahlreiche Einsichten in menschliche Triebe und menschliches Treiben reicher macht – Medienberichte über die Schweißflecken der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel beim Besuch der Bayreuther Festspiele eingeschlossen. S t e ph a n i e D o m s


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Sachbuch

Strafrecht, Standesehre, Henken und Heilen Geschichte: Joel F. Harrington legt ein brillantes Buch über einen Nürnberger Henker des 16. Jahrhunderts vor on 1573 bis 1618, also 45 Jahre lang, führte der Nürnberger Henker Frantz V Schmidt ein Tagebuch, in dem er sämtliche

Hinrichtungen und alle anderen Strafen – Verstümmelungen, Folterungen und Aus­ peitschungen – verzeichnete, die er zeit sei­ ner ungewöhnlich langen Berufstätigkeit als fest angestellter „Nachrichter“ des Nürnber­ ger Stadtrates vollstreckte. Der „berufsmäßige Mörder“, zu dessen Aufgaben auch Verhöre und die Praxis der „sonderen Befragung“, wie Folter damals hieß, gehörten, tötete in dieser Zeit fast 400 Menschen durch das Schwert oder den Strang, aber auch durch Rädern, Ertränken, Vierteilen oder Verbrennen. Die Lebenszeit von „Meister Frantz“ (1554–

1634), der sein schwieriges, grausiges Handwerk von seinem Vater Heinrich ge­ lernt hatte, fiel mit dem sogenannten „gol­ denen Zeitalter des Scharfrichters“ zusam­ men – einer Periode am Beginn der Neu­ zeit, in der Reformen des Strafrechts die Funktion des Scharfrichters aufwerteten, die fahrenden, auf Honorarbasis arbeiten­ den, übel beleumundeten Henker frühe­ rer Zeiten zunehmend ersetzt wurden und dem Berufsstand als ausführender Arm ei­ ner auf Ordnung und Abschreckung abzie­ lenden Verwaltung große symbolische Be­ deutung zukam. Das Tagebuch von Meister Frantz kur­ sierte im 18. und 19. Jahrhundert als Do­ kument einer dunklen, gruseligen, längst überwunden geglaubten Phase historischer

Grausamkeit, an der sich das aufgeklärte Bürgertum delektieren konnte. Frantz Schmidts Chronik war also be­ kannt, aber es bedurfte eines amerikani­ schen Historikers des 21. Jahrhunderts, um die äußerst ungewöhnliche Lebens­ geschichte und Persönlichkeit des Frantz Schmidt hinter dem Zerrbild des Schläch­ ters freizulegen. „Die Ehre des Scharfrichters“ heißt das fantastische Buch von Joel F. Harrington, der an der Vanderbilt University in Nash­ ville seinen Forschungen über die frühe Neuzeit und die Reformation in Deutsch­ land nachgeht. Aus Harringtons Buch wächst einem in der Figur des Henkers Frantz Schmidt nach und nach eine Gestalt entgegen, die zeit ih­ res Lebens akribisch, fromm, sittenstreng und über die Maßen geschickt an ihrem großen Lebensplan, der Wiederherstellung der verlorenen Familienehre, arbeitete. So entsteht das Bild eines Mannes, der das ihm und seinem Vater durch einen Unglücksfall aufgezwungene Handwerk des Henkers sorgfältig erlernte und aus­ führte, dabei als Zugereister in der herme­ tischen Gesellschaft einer der wichtigsten deutschen Städte eine schwindelerregende Karriere hinlegte, in Wohlstand lebte und gleichzeitig über Jahrzehnte mit der sozia­ len Ausgrenzung seines verachteten Stan­ des zu kämpfen hatte, der nicht zu den „ehrlichen“ Berufen zählte und ihm und den Seinen den Zugang zu Gasthäusern, Festen, Zünften etc. verwehrte.

Harringtons brillantes Buch zeichnet ohne große Geste ein wirklich packendes Port­ rät der frühen Neuzeit als Zeit des Wan­ dels und der Wirren, in der der Nürnber­ ger Henker gleichzeitig ganz ein Kind seiner auf Stand und Ehre fixierten Epoche und doch zugleich ein Revolutionär im Geiste war, dessen Fantasie und Wunschdenken sich die Überschreitung gesellschaftlicher Schranken erträumte. Harrington fand dazu auch im Wiener Staatsar­

Joel F. Harrington: Die Ehre des Scharfrichters. Meister Frantz oder ein Henkersleben im 16. Jahrhundert. Siedler, 381 S., € 25,70

chiv ein Dokument, das das Tagebuch des Henkers aufschlussreich ergänzt: Es ist ein 15-seitiges Petitionsschreiben des pensio­ nierten Frantz Schmidt aus dem Jahr 1624 nach Wien, in dem er Kaiser Ferdinand II. bittet, die Ehre seiner Familie wiederher­ zustellen sowie ihm in Zukunft den Beruf des Arztes zu gewähren. Tatsächlich hatte Schmidt wie die meisten Henker aufgrund ihrer Kenntnis des Körpers stets parallel als Heiler und Arzt gearbeitet und – wie er in seinem Schreiben an den Kaiser anführt – rund 15.000 Patienten behandelt. Ein so kluges und faszinierendes histo­ risches Buch wie dieses stellt einen echten Glücksfall dar. Das vermeintlich weit ent­ fernte 16. und frühe 17. Jahrhundert rücken einem dabei ungeheuer nahe. Aus der „Ehre des Scharfrichters“ lässt sich unendlich viel lernen – vor allem, dass für unsere Verach­ tung und Herablassung gegenüber der Welt von Frantz Schmidt und ihrer Justiz nicht der geringste Anlass besteht. Julia Kospach


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Problemgäste, Nutztiere und die Lust aufs Steak Tierrechte: Hilal Sezgin verteidigt die Rechte von Tieren und analysiert die Gewalt, die der Konsum von Fleisch zur Folge hat s gibt in Deutschland keine Massentierhaltung.“ Aussagen wie diese, die E Joachim Rukwied, der Präsident des Deut-

schen Bauernverbandes, anlässlich der vielbeachteten Fachmesse der Landwirtschaft, der Grünen Woche, im Jänner 2014 tätigte, provozieren. Sie sind symptomatisch für ein Wirtschaftssystem, das auf Ausbeutung von Tieren, Menschen und Böden basiert, dieses aber systematisch leugnet und kaschiert. Nicht nur in Deutschland wenden sich immer mehr Menschen gegen dieses System. Mehr als 30.000 Teilnehmende zählte die große Demonstration in Berlin anlässlich der Grünen Woche. Es werden jedes Jahr mehr. Trotzdem sind vegetarische oder vegane Le-

bensweisen noch immer Minderheitenprogramme. Vegetarier gelten oft als schwierig, als „Problemgäste“. Die große Mehrheit isst möglichst oft und möglichst billig Fleisch und will meist gar nicht so genau wissen, woher dieses kommt und wie es hergestellt wurde. Schließlich sind Menschen Allesfresser und haben immer schon Fleisch gegessen, so eine gängige Meinung. Dabei ist Fleischkonsum nur die Spitze des Eisbergs, was die alltägliche Gewalt gegenüber Tieren anbelangt, folgt man Hilal Sezgin. Hilal Sezgin ist vieles – deutsche Journalistin und Autorin, Besitzerin eines Hofes und einer Schafherde in der Lüneburger Heide, engagierte Tier- und Menschen-

rechtlerin, studierte Philosophin. Diese auf den ersten Blick recht unterschiedlichen Eigenschaften und Erfahrungen bringt Sezgin gern zusammen, zuletzt in ihrem Buch „Landleben“ (2011), in dem sie ihren Start als Neo-Landwirtin humorvoll schildert. „Artgerecht ist nur die Freiheit“, so lautet ein alter Kampfspruch der Tierrechtsbewegung. Sezgin wählte ihn als Titel ihres neuen Buches, das nicht sie selbst, sondern die vielen Millionen Tiere in den Mittelpunkt stellt, die jedes Jahr weltweit als sogenannte „Nutztiere“ sterben. Dass sich Sezgin in ihrer journalistischen Arbeit oft mit Tieren auseinandersetzt, kommt dem Buch zugute. Sie zieht sowohl moralphilosophische Überlegungen als auch eigene Beobachtungen heran und schafft den schwierigen Spagat, sowohl allgemein verständlich und nachvollziehbar über Tiere und deren Leben zu schreiben als auch Kennern der Materie Tierrechte neue Denkanstöße zu liefern. Sie protzt nicht mit ihrem Wissen über den philosophischen Stand der Dinge. Ihr Buch ist keine theoretische Abhandlung.

ber werden ihren Müttern weggenommen; die Milch, die Kühe nach der Geburt „produzieren“, wird verkauft und von Menschen getrunken. Weder den Kälbern noch den Millionen zukünftiger Legehennen ist es vergönnt, bei ihren Müttern aufzuwachsen. Auch nicht in der Bio-Landwirtschaft. Illusionen, dass sich die Behandlung von Tie-

Sezgin macht ihren eigenen Zweifel transpa-

rent. Sie beschreibt auch, wie sie über Jahre durch eigene Erfahrung zu immer konsequenteren Positionen kam, die sie selbst einst als „übertrieben“ oder „radikal“ betrachtete. So wurde sie zur Veganerin, nachdem ihr klar geworden war, wie etwa Milchproduktion in der Praxis funktioniert: Käl-

Hilal Sezgin: Artgerecht ist nur die Freiheit. C.H. Beck, 304 S., € 17,50

ren in der Landwirtschaft, aber auch in Versuchslabors schnell ändern wird, macht sich Sezgin nicht. Sie möchte aber durch ihre publizistische Arbeit mehr Leute dazu anregen, hinzusehen und mitzufühlen. Denn die Mehrheitsgesellschaft weigere sich immer noch, dies zu tun und anzuerkennen, an wie viel Gewalt sie Mitschuld trägt. Meist werde ausgeblendet, dass das Steak oder Würstel einmal lebendig war. Wie mag wohl eine gesellschaftsfähige Einstellung gegenüber Tieren – nichtmenschlichen Tieren, wie Sezgin betont – in 100 Jahren aussehen? Wird Fleischessen dann auch noch okay sein? Auch die Sklaverei wurde jahrtausendelang als selbstverständlich angesehen und ihre Kritiker galten lange Zeit als radikale Minderheit. Allein in den verschiedenen Regionen Amerikas dauerte es bis zum endgültigen Verbot mehr als 100 Jahre. Daran sollte man denken, wenn es um ethische Diskussionen und heute scheinbare Selbstverständlichkeiten wie den massenhaften Konsum von Fleisch geht.

K a r in C h l a d e k

Ozean aus Luft, Gottes Odem und Satans Erbarmen Kulturgeschichte: Keineswegs verblasen, aber ein wenig zerzaust: Stephan Cartiers Studie über den Wind as die menschlichen EmpfindunW gen anbelangt, die Ängste, Erwartungen und Hoffnungen, spielt der Wind

auf der ganz großen Harfe. Er regiert die ganze theologische Topografie, ist als göttlicher Odem, der dem ersten Menschen überhaupt erst Leben einhaucht, und als himmlisches Kind ebenso präsent wie als Ausgeburt der Hölle: „Wer baut auf Wind, baut auf Satans Erbarmen“, singt Daland gleich zu Beginn von Richard Wagners „Fliegendem Holländer“. Im Übrigen ist der Singular ein Produkt der

neuzeitlichen Wissenschaft: Davor gab es bis zu 32 einzelne Winde, über die in der griechischen Mythologie Aiolos (der mit der Harfe) gebot. Der italienische Physiker und Mathematiker Evangelista Torricelli (1608– 1647) sprach zwar noch im Plural von ihm, hatte die physikalischen Ursachen des Windes aber völlig richtig erfasst und auch die bis heute eindrücklichste und schönste Definition der Mensch-Wind-Beziehung geliefert: „Wir leben überschwemmt von einem Ozean aus Luft.“ Der deutsche Historiker und Kunsthistoriker Stephan Cartier hat sich die Aufgabe gestellt, eine Kulturgeschichte des Windes zu erstellen. Dass er auch Radioredakteur ist, merkt man seinem sehr gut geschriebenen Buch „Der Wind“ auch an: Im Zweifelsfalle geht das kuriose Detail oder die Anekdote vor Theorie und Systematik.

Das ist der Kurzweil der Lektüre keineswegs abträglich, wirft aber auch die Frage auf, was denn eine „Kulturgeschichte“ des Windes überhaupt sein soll. Nachdem Nautik und Aeronautik offenbar ebenso selbstverständlich dazugehören wie die Meteorologie, die Geschichte der Windkraft oder die Windmetaphorik der Dichtung, stellt sich die Frage, ob diese Einschränkung sinnvoll, sprich: überhaupt eine ist. Außer der Hybris der Kulturwissenschaften, irgendwie für alles zuständig zu sein, belegt der Satz „Wind bleibt ein kulturelles Konstrukt“ ja nichts.

Flugzeug namens Flyer 1903 „eine angemessene technische Ausdrucksform für den sich anbahnenden aerodynamischen Lebensstil des 20. Jahrhunderts“ gefunden hätten, kann nur einem Kulturwissenschaftler einfallen. Tatsächlich war es wohl genau andersrum: Die Luftfahrt hat den aerodynamischen Lebensstil hervorgebracht. Cartier hat sein Buch nicht chronologisch, son-

Tatsächlich ist es nämlich nicht sonderlich

schwer, zwischen dem Wind an sich (auch Kant beschäftigte sich im Übrigen mit der Theorie des Windes) und dem zu unterscheiden, was wir von ihm zu wissen glauben oder wie wir über ihn sprechen. Der Hurrikan Katrina, auf den Cartier im Zusammenhang mit jener „Globalisierung der Katastrophenerfahrungen“ zu sprechen kommt, die schon 1815 nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora in Gestalt einer furchterregenden Aschenwolke zu spüren war (und Lord Byron zu der Gedichtzeile „Morn came and went – and came, and brought no day“ inspirierte), ist etwas anderes als der Diskurs über ihn oder die sozialen und politischen Symptome, die durch ihn sichtbar wurden. Auch die Ansicht, dass die Gebrüder Wright mit ihrem propellergetriebenen

Stephan Cartier: Der Wind oder Das himmlische Kind. Eine Kulturgeschichte. Transit, 180 S., € 20,40

dern in zwölf nach aufsteigender Windstärke geordnete Kapitel gegliedert. Das ist ein hübscher Einfall, wirkt allerdings ein wenig gewollt. Goethe kommt immer wieder mal vor, der gescheiterten Anstrengung von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716), die Entwässerung von Bergwerken mit horizontalen Windmühlen voranzutreiben, wird etwas gar breiter Raum gewidmet, der Aberglaube des „Windfütterns“ ebenso erwähnt wie die Entdeckung des Windchill-Faktors in den 1940ern oder die Sturm-Metaphorik bei Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und Joseph Goebbels. Ein Glanzstück ist Cartiers Deutung des berühmten Kampfs gegen die Windmühlen, der eben kein Kampf gegen den Wind war; den hatte Don Quijote nämlich im Rücken. Im Unterschied zu Sancho Pansa, diesem „rundlichen Herold der Realität“, war Quijote ein Bewunderer des Windes und der Auffassung, dass es unstatthaft sei, diesen zum Nutzen des Menschen auszubeuten.

K l a u s N üc h t e r n


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Der verwöhnte Mops als Lebensprinzip

Die Welthaltigkeit von Alltagsbegebenheiten

Essays: Der Grazer Philosoph Peter Strasser vermag mit seinem Essay: Der große Salzburger Stilist Karl-Markus Gauß legt Potpourri aus Alltagsminiaturen nicht zu überzeugen versammelte Feuilletons, Glossen und Reden vor u Beginn drei Definitionen, um in Z Peter Strassers schmalem Büchlein nichts durcheinanderzubringen:

Ein Mops ist ein kleiner Hund mit Hängeohren, Glubschaugen und eingedrückter Schnauze. Ein Rollmops ist ein zusammengerollter, marinierter Hering mit Gurke und Zwiebel. Und ein Vollmops ist eine Wortkreation des steirischen Publizisten Strasser, die er vor wenigen Jahren für seinen Hund Paul erfunden hat. Ein Tier, das wegen übermäßigen Stuhlgangs von einem übelmeinenden Hundewiesenbesucher dafür gescholten wird, das ganze Land vollzumachen. Ein langmütiges Wesen mit „philosophischem Naturell“, das die ganze Zeit schlagobersgegupfte Sachertörtchen frisst und von seinem Herrchen äußerln getragen wird. Wenn es eine Klammer in Strassers neuem Buch gibt, dann ist es Vollmops Paul. In einer getriebenen Welt, in der alles

immer schneller gehen muss, Wachstum und Maßlosigkeit zur Maxime geworden sind, erkennt Strasser das Glück im unspektakulären Alltag. Am Beispiel von Vollmops Paul heißt das eben: Törtchen fressen, getragen werden, Streicheleinheiten kassieren und den ganzen Tag über in die Luft schauen. Das „Prinzip Hoffnung“ ist dem „Prinzip Vollmops“ gewichen. „Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues“, lautet das Mantra, das den österreichischen Weg zur Erleuchtung vorgibt – die Weisheit des Austrobuddhismus. Strasser, im Hauptberuf Philosophieprofessor an der Grazer Universität, hat für sein Buch Texte zusammengetragen, die er in den vergangenen Jahren in der Tageszeitung Die Presse veröffentlicht hat. Vom Keksebacken zu Hause über die politische Frage der Studienzugangsbeschränkungen oder die korrekte Schreibweise des heiligen Geistes bis hin zum Scheitern der Society-Lady ­Jeannine Schiller in der ORF-Show „Dancing Stars“ – Strasser hat allerlei zwischen die Buchdeckel gepackt, was ihn in den vergangenen Jahren beschäftigt hat. Entstanden ist ein Potpourri aus Alltagsminiaturen, inspiriert durch Busfahrten, Vorlesungssäle, Büros oder schlicht den Fernseher zu Hause, stets betrachtet durch die Brille des Philosophen. Da trifft die österreichische Hip-Hop-Truppe ­Trackshittaz mit ihrem eher hirnlosen Songcontestlied „Woki mit deim Popo“ auf den griechischen Denker Herakleitos von Ephesos (Panta rhei – alles fließt), da wird der Bogen von der Existenzfrage Gottes bis hin zur Kronen Zeitung und ihren Lesern gespannt. Der „bescheidene pragmatisierte Philosoph“ Strasser geht mit einer prallen Portion Selbstironie ans Werk

und scheut sich gleichzeitig nicht davor, gesellschaftspolitisch ernste Themen anzupacken. Wenn er von der Politik einen besseren Umgang mit Bettlern und Asylwerbern einmahnt, dann blinkt dem Leser zwischen den Zeilen ein großes „Empört euch!“ entgegen. So ehrlich er sich mit den Schwächsten

der Gesellschaft solidarisiert, so leidenschaftlich zieht er über die Unterschicht her. Der trötende Fußballfan, der in Caorle urlaubende Prolet, der Kulturbanause, der mit Haneke-Filmen nichts anfangen kann und sich lieber Komödien anschaut – sie stehen stellvertretend für das einfache Volk, über das sich Strasser lustig macht. Die Einfältigen sind in den Miniaturen leicht zu identifizieren, sie sprechen in Mundart. Strasser hingegen pflegt die Sprache der Intellektuellen selbst bei billigen Pointen. Wenn der Vollmops Paul etwa einen Beamten durch einen Furz irritiert, liest sich das so: „Dass mein Paul, der aufs Ärgste inkommodiert ist, sich augenblicks seiner Flatulenz entledigt – eine aufgrund des üppigen Verzehrs von Sachertörtchen, und zwar denen mit den lustigen Schlagobersöhrchen, leicht zu provozierende Geruchssensation –, stoppt die Amtshandlung des ExPostlers.“ Der Ex-Postler, der zur Polizei verschoben wurde, steht exemplarisch für Strassers Sammlung. Es sind ehemals aktuelle Aufreger und Debatten, die vor Jahren die Medienseiten füllten, aber heute keine Rolle mehr spielen und im Gedächtnis schon fast verblasst sind. Wenn Strasser etwa die Tochter des Volkskanzlers ins Spiel bringt, die das französischsprachige Gymnasium besucht, so handelt es sich dabei noch um die Tochter Alfred Gusenbauers. Im besten Fall ist das eine Auffrischung von Randnotizen der Geschichte. Im schlechtesten lässt sie den Leser ratlos und verwirrt zurück. Was einst humorig gewesen sein mag, ist

es heute nur noch in den seltensten Fällen. Strassers Prinzip Vollmops „Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues“ bewährt sich nicht. Zumindest in seinem Buch hätte man sich mehr Neues erwartet. B e n edik t Nar o d o s l awsk y

Peter Strasser: Immer wieder dasselbe und am besten nichts Neues. Die Weisheit des Austrobuddhismus. Braumüller, 168 S., € 14,90

s ist ein schmales Büchlein und E gehört in eine Kategorie, die zumeist schmählich vernachlässigt wird.

Denn in „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“ sind vermischte Schriften von Karl-Markus Gauß versammelt, die dieser in den letzten 20 Jahren geschrieben hat – Glossen und Feuilletons, Nachrufe und Reden, Beiträge für Sammelbände, Feuilletons und Kurzprosa. Der Buchhandel sieht das Vermischte in

Buchform ungern, weil er es nicht unter einem griffigen Schlagwort anpreisen kann, und der Leser muss schon wirklich Glück haben, damit ihm ein solches Buch rein zufällig unterkommt. Dabei kann es sich gerade bei einem Sammelband dieser Art um eine ganz besonders lohnende Lektüre handeln. Dann nämlich, wenn das Geschriebene aus der Feder eines großen Stilisten und akribischen Alltagsbeobachters wie Karl-Markus Gauß stammt. In seiner Gesamtheit ähnelt „Lob der Sprache, Glück des Schreibens“ den großen, viel gelobten Essayund Journalbänden. Im Detail funktioniert es wie eine Sammelmappe, die man aufschlägt, um darin zu blättern und ein ums andere Mal beim Anblick der nächsten fein gezeichneten Szene hängenzubleiben. Karl-Markus Gauß hat viel Sinn für die Welthaltigkeit von Alltagsbegebenheiten, und er weiß sie aufs Wunderbarste zu beschreiben. Nehmen wir nur die grandiose Miniatur „Mein Kasache“. Da beschreibt Karl-Markus Gauß, wie er sich im Zug angesichts eines tätowierten, kahl rasierten, lederbejackten und biertrinkenden Gegenübers wider Willen selbst bei „rassekundlichen Einschätzungen“ erwischt, sich für seine Ressentiments sofort mit schlechtem Gewissen geißelt und am Ende – nach einem aufschlussreichen Zwischenfall mit der österreichischen Polizei – mit seinen widersprüchlichen Empfindungen doch noch zu einer zufriedenstellenden Gefühlslage findet. Bewundernswert daran ist, wie Gauß’ Text

in einer zufällig beobachteten, winzigen Begebenheit die gesamte Debatte um Ausländerfeindlichkeit, Vorurteile und beamtete Willkür findet, ausbreitet und dabei gleichzeitig im leichten, eleganten Ton der Anekdote hält. Zum selben Themengebiet liefert er nur einige wenige Seiten danach auch den herrlichen Merksatz: „Ausländer ist, wer weniger Geld hat als man selbst und daher im begründeten Verdacht steht, es einem aus der Tasche ziehen zu wollen.“ So viel dazu, dass es in unserer Wahrnehmung immer die guten und die bösen Ausländer gibt. Für Gauß ist es ein Leichtes, diese Gemengelage aus Berechnung, Verlustangst und

zweierlei Maßstäben in einen kurzen, ironischen Satz zu gießen. Es ist immer erhellend, Gauß’ Texte zu le-

sen. Ganz gleich, ob er seine Liebe zur Lektüre von Tagebüchern erklärt, ob er übers Erröten räsoniert oder über den konsumaffinen „Humanismus der Charity-Gesellschaft“, ob er die Folgen der sexuellen Revolution am Beispiel von Sexualberatungsstellen im Internet beschreibt oder sich über „das herrlich Umständliche, grandios Zeitaufwändige“ der japanischen Kultur wundert. Einige der wiederkehrenden großen Themen des Salzburgers spielen auch hier eine wichtige Rolle, vor allem Grenzen – die der Scham und der Peinlichkeit ebenso wie die in den Köpfen, die schmerzlich vorhandenen oder die leider verschwundenen. Gauß’ fast schon sehnsüchtiger Abgesang auf den italienisch-österreichischen Grenzort Tarvisio – der unter den Vorzeichen des europäischen Freihandels heute menschenleer, schäbig und verlassen darniederliegt – wird niemanden kaltlassen, der auch nur einmal dort eine Stange Zigaretten gekauft und klopfenden Herzens am Zoll vorbei nach Österreich geschafft hat. Geradezu berauschend ist Gauß’ leiden-

schaftliches Plädoyer für den Schutz von Minderheitensprachen – kein Wunder bei einem Autor, der, beginnend mit „Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sepharden von Sarajevo, Gottscheer Deutschen, Arbëreshe, Sorben und Aromunen“ (2001), zahlreiche Bände zu bedrohten Völkern und Sprachen in Südosteuropa vorgelegt hat. Warum es dabei nicht um einen „Artenschutz für Völker und Nationalitäten“ geht, sondern darum, welche Lektionen die kleinen Völker den großen zu erteilen haben, weil sie genau jene Fähigkeiten schon längst besitzen, die ein ideales Europa sich von seinen Bewohnern wünscht, ist wohl noch nirgendwo so überzeugend dargestellt worden wie hier. Es geht um „die Fähigkeit, nicht bloß an einer einzigen Kultur teilzuhaben“. Davon versteht Gauß, der große Alltagsflaneur der deutschsprachigen Essayistik, jede Menge.

J u l ia K o spa c h

Karl-Markus Gauß: Lob der Sprache, Glück des Schreibens. Otto Müller, 176 S., € 19,–


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Nockerln mit Gurkensalat im Noma Von edel bis süß – ein geordneter Überblick über die Kochbuch-Neuerscheinungen des Frühjahrs

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ir versuchen wie immer, eine Einteilung der Neuerscheinungen vorzunehmen. Nach den Kategorien: Anspruchsvolle, Regional-Ethnische, Vegetarisch-Gesunde und Süße-Schöne.

Zuerst die Anspruchsvollen. Franz Fujko ist Küchenchef des Restaurants Carpe Diem Finest Fingerfood, einer Hervorbringung des Milliardärs Dietrich Mateschitz, der auf mannigfaltige Weise unser Leben verschönert, indem er seinen Reichtum ein wenig umverteilt (so schnell, wie der wächst, kann er gar nicht umverteilen!). Es ist ein sehr feines Restaurant, und Herrn Fujkos Wirken wird im Buch „Genieße den Tag“ dokumentiert. Das Konzept mit den Tüten (Cones), in denen man das Fingerfood packte, stammt von Jörg Wörther. Psst, nicht weitersagen: Man kann die Cones weglassen oder durch knusprige Beilagen eigener Inspiration ersetzen. Das Buch bietet weit mehr als Cones, bleibt aber immer angenehm machbar. Die Aufmachung mit etwas biederen Aquarellen und Fotos hält das Niveau der Küche nicht. Anders „Eating with the Chefs“. Die Idee der Gesindeküche, von Ferran Adrià bereits vermarktet („Familienessen“, 2011), wird hier auf interessante Weise variiert: Ein paar Dutzend der besten Restaurants der Welt lassen uns auf den Speisezettel ihres Personals blicken. Die Fotos von Per-Anders Jörgensen sind spektakulär, die Auswahl der Restaurants umfasst drei Kontinente, also auch die USA, sodass wir auch bei Bill Keller und im berühmten Chez Panisse (Alices Restaurant von Alice Waters) vorbeischauen, wo, wir hätten es fast vermutet, das Personal das Gleiche vorgesetzt bekommt wie die Gäste, man kocht halt einfach ein bisschen mehr. Ein schöner Blick hinter die Kulissen, interessante Rezepte findet man woanders (außer man findet es interessant, dass sie im Noma Nockerln mit Gurkensalat und Brownies mögen). Die Regional-Ethnischen. Die Fotografin Lu-

zia Ellert, hier oft und zu Recht gelobt, ist Österreichs beste Foodfotografin. Mit ihrem Mann Klaus Dünser bewohnt sie in der Steiermark ein Wochenendlandhaus am Waldrand; die beiden legen gemeinsam mit der Köchin Gabi Halper, ebenfalls langjährige Partnerin Ellerts, in „Wilde Beeren“ eine Art kulinarisches Tagebuch vor: Bilder ihres Gartens, des umgebenden Waldes, der Natur. Die Rezepte sind einfach, auf Kalorientabellen wird verzichtet, nicht aber auf appetitanregende Fotos. Man sollte sich für die coole Schriftstel-

Fink/Lagler: Sprossen. Das Kochbuch. Styria, 176 S., € 22,99

Lacroix/Pringarbe: Genießen mit George Sand. Gerstenberg, 240 S., € 36,–

lerin George Sand interessieren und ihre großartige Beschreibung jenes Winters lesen, den sie, eine emanzipierte Frau des 19. Jahrhunderts, mit ihrem Geliebten Frédéric Chopin auf Mallorca verbrachte. Weder Literatur noch Rezepte (biedere französische Küche, angeblich aus Sands Papieren rekonstruiert) stehen im Mittelpunkt von „Genießen mit George Sand“. Immerhin kann man sich anhand der Fotos ausmalen, was an diesem „großen, etwas bäuerlichen Tisch“ auf Schloss Nohant Honoré de Balzac, Iwan Turgenjew, Gustave Flaubert oder eben Chopin am liebsten aßen. Jean-Pierre Gabriel ist der Autor und Fotograf eines Buchs mit dem schlichten Titel „Thailand. The Cookbook“. Er verbrachte dort drei Jahre, um die Landschaft zu fotografieren und in Restaurants, auf Märkten und in Haushalten Rezepte zu sammeln; heraus kamen eine kompetente, umfassende Darstellung der thailändischen Küche und wunderschöne Fotos. Beeindruckend. Bescheidener kommt „Zeit der Feigen“ daher. „Bilad al-sham“ bedeutet so viel wie „Großsyrien“ oder Levante und umfasst die Länder Syrien, Libanon, Palästina und Jordanien. Die Pädagogin und Theologin Viola Raheb und der Komponist und Musiker Marwan Abado, beide in Wien lebende Palästinenser und ein Paar, präsentieren nicht nur einfache Gerichte aus ihrer Heimat, sondern auch dazupassende Kulturgeschichten. Auf Speisenfotos verzichtet dieses Buch, stattdessen gibt’s die schönen Illustrationen von Linda Wolfsgruber. Auch wenn der Haubenkoch Michael Kolm ein wenig zu oft aus „Mein Waldviertel“ lacht (die Coolness skandinavischer Köche fehlt den Waldviertlern), begrüßen wir jeden Versuch, die kulinarische Einöde in der wunderbar kargen nördlichen Landschaft Österreichs zu beleben. Die Rezepte sind, sagen wir, fortschrittlich bodenständig, Kolm arbeitet mit Produkten der besten heimischen Produzenten, wie Käse von Paget; trotzdem rutscht die unvermeidliche Jakobsmuschel ins Buch. Man zögert kaum, Kim unter „hiesige asiatische Küche“ abzuheften. Die Koreanerin Sohyi Kim, eine Wiener Institution, ist nun auch im Merkur am Hohen Markt präsent und legt in „Kim kocht leicht“ etwas vor, das sie „Energieküche“ nennt. Energie brauchen wir zweifellos zum Kochen, und sei es nur das schnöde Gas. Kim sagt es etwas anders: „Machen Sie sich eine Tasse wirklich guten Tee, setzen Sie sich damit drei Minuten in die Sonne und fühlen Sie die Wärme. Vielleicht bekommen Sie davon Gänsehaut und ein erfülltes Herz – so wie ich.“ Erfreulicherweise beschränkt sich der-

Bernadette Wörndl: Von der Schale bis zum Kern. Brandstätter, 192 S., € 29,90

Michael Paul: Süßes Paris. Gerstenberg, 160 S., € 25,70

lei aufs kurze Vorwort; der Rest ist brauchbare Alltagsfusionküche von LemongrasCrème-brûlée bis zu Veggie-Sushi. Die Gesunden und Veganen/Vegetarischen.

Raheb/Abado: Zeit der Feigen. Mandelbaum, 180 S., € 24,90 Tara Stevens, PerAnders Jorgensen: Eating with the Chefs. Phaidon, 316 S., € 51,40 Jean Pierre Gabriel: Thailand: The Cookbook. Phaidon, 264 S., € 41,10 Ulli Goschler: Hildegards Energie-Küche. Kneipp, 125 S., € 17,99

Dünser/Ellert/Halper: Wilde Beeren. Collection Rolf Heyne, 368 S., € 41,10

Noch mehr Energie: Hildegard von Bingen (1098–1179) gehört zu den starken Frauen unserer Geschichte und ist deshalb in der vegetarischen Küche stark vertreten: Ob ihr, der bedeutenden Frau des Mittelalters, die Darbietung ihrer Rezepte als „Hildegards Energie-Küche“, Power-Salat und Gute-Laune-Suppe recht gewesen wäre? Höchst originell und praktisch ist hingegen „Sprossen. Das Kochbuch“ der Köche Gottfried Lagler und Hans Peter Fink, die mit dem Sprossenkultivator des Schweizers Pierre-Louis Vermot-Petit-Outhenin arbeiten und aus allerlei Samen Sprossen ziehen, von Bockshornklee (in den uns keiner jagt) und Brokkoli bis Weizen und Zwiebel. Das alles ist praktisch und bereichert jede Küche. Sprossen lockern viele Speisen auf, nicht nur Salate! Bernadette Wörndl hat im erwähnten Restaurant Chez Panisse als Praktikantin gewerkt und in Babettes Kochbuchhandlung gekocht. Ihr hübsches Kochbuch „Von der Schale bis zum Kern“ ist etwas ­überdesignt; aber ich freue mich immer über originelle, machbare neue Rezepte: zum Beispiel ein Aprikosenkerneis. Und Wörndls Prinzip, alles zu verwenden, nichts wegzuwerfen, verdient natürlich Lob. Auch die Lauch-Scones mit Brombeeren werde ich probieren. Die Süßen und Schönen. „Süßes Paris“ versteht

sich als eine Einführung in die Welt der Pariser Patisserie. Wer sich an Cupcakes, Millefeuilles, Meringues oder Karamell versuchen möchte, kann ebenso gut dieses Büchlein nehmen wie ein anderes. Zumindest findet er darin die Adressen der bedeutenden Pariser Patissiers. Der „Atlas der erlesenen Chilis und Paprika“ gehört natürlich in die erste Kategorie; aber die süßen Bücher kommen gar schütter daher in diesem Frühjahr. Ich mag Enzyklopädien. Die lexikalische Form wird hier originell gehandhabt. Zwischen ganz normal aufgemachten Stichwörtern sind – ebenfalls in alphabetischer Reihenfolge – wunderschön fotografierte große Farbtafeln einzelner Chilisorten eingeschoben, sodass das alphabetische Prinzip von Arche Noah bis Zhou Pi La Jiao (Runzelhautpfeffer) nicht verletzt wird. Ein kleiner, aber erlesener Rezeptteil von Köchen wie Wini Brugger, Eckart Witzigmann und Jian Zhao (vom Wiener Chinarestaurant „Goldene Zeiten“) runden dieses prächtige Buch ab.

Franz Fujko: Genieße den Tag. Collection Rolf Heyne,336 S., € 49,90

A rm i n th u rnher

Sohyi Kim: Kim kocht leicht. Brandstätter, 160 S., € 29,90

Kolm/Morelli: Mein Waldviertel. Pichler, 228 S., € 24,99


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IDEEN BRAUCHEN RAUM

www.bai.at

Künstler zu „Ideen brauchen Raum” / Birgit Graschopf, shibari, 2014


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