FALTER Bücherherbst 2009

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FALTER

Bücher-Herbst 09 99 Bücher auf 56 Seiten

Nr. 42b/09

Crash-Kurs China: Was ist dort überhaupt los? Crash & Cash: Wohin mit dem Geld, das wir nicht haben? Literatur aus Österreich: satte 7 Seiten. Kochbücher: stattliche 17 Stück. Jubiläum: vor 20 Jahren fiel die Mauer Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2220/2009

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Literatur im Konzerthaus Daniel Kehlmann & Georg Kreisler «Liebste und vorletzte Lieder» Fr, . .  Helmut Berger, Bernd Rauschenbach, Joachim Kersten Arno Schmidt «Zettels Traum» Mo, . .  Michael Köhlmeier erzählt aus der griechischen Mythologie Di, . .  Markus Hering Gert Jonke «Geblendeter Augenblick. Anton Weberns Tod» Di, . .  Sophie Rois E.T.A. Hoffmann «Das Fräulein von Scuderi» Fr, . . 

  www.konzerthaus.at

Medienpartner


IN HALT

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Editorial

Liebe Leserin, lieber Leser Es ist angerichtet! Und wer keinen Reis mag, wird schon auch was finden (zum Beispiel in den 17 Kochbüchern, durch die sich Armin Thurnher durchgefressen hat), verpasst aber einiges: China ist Gastland der Frankfurter Buchmesse und unumstrittener Schwerpunktkaiser dieser Ausgabe. In der Belletristik hat Jörg Magenau tausende Seiten verschlungen, im Sachbuch hat die in Peking lebende Filmerin und Journalistin Katharina Schneider-Roos dasselbe getan und nachgelesen, was der Westen über China so denkt. Auch das Thema Geld & Krise wird ressortübergreifend behandelt; wobei neben diversen Rezensionen auch ein Essay von Stephan Settele (einst u.a. auch Filmkritiker beim Falter) über Ezra Pounds Verhältnis zur Bank- und Zinswirtschaft einlangte, von dem wir hier nur die Reader’s-Digest-Kurzfassung abdrucken können. Wohl bekomm’s! K IR STIN BR EITENFELLNER , K L AUS NÜCHTERN

Inhalt

Belletristik: In acht Büchern durchs 20. Jahrhundert Chinas Seite 4—6 Hier spielt die Musik Seite 8—9, Österreich Seite 19—24 Nobelpreisliteratur Seite 26 Romane über Cash & Krise Seite 28—29 Essay: Der Dichter und das Geld Seite 30—31, Sachbuch: Was der Westen von China hält Seite 32—34, 20 Jahre Mauerfall Seite 38 Kaufkraft & Lifestyle Seite 40—42 Index

COVERFOTOS: JULIA FUCHS

Besprochene Autoren Annping, Chin 32 Apple, Sam 44 Archer, Val 54 Beatt y, Paul 8 Bondy, Luc 15 Breuer, Richard K. 20 Brinker, Helmut 32 Burger, Kathrin 53 DelConte, Anna 54 de Winter, Leon 16 des Isnards, Alexandre 42 Devlin, Keith 50 Döring, Sabine A. 51 Ducasse, Alain 54 Elger, Christian 41 Elsaesser, Thomas 45 Er, Li 4 Frankfurt, Harry G. 51 Frisch, Max 14 Fritz, Peter 38 Forster, Sandra 54 Geiges, Adrian 34 Gillies, Judith-Maria 42 Girard, René 35 Goldhagen, Daniel J. 40 Gouffé, Jules 54 Gray, John 34 Großbölting, Thomas 38 Haderer, Georg 20 Haider, Willi 54 Hartmann, Kathrin 42 Hartmann, Martin 51 Heng, Liu 4 Henisch, Peter 22 Hessler, Peter 34 Hillenkamp, Sven 51 Holenstein, Elmar 34 Hornby, Nick 9 Hölter, Achim 45 Hua, Yu 5 Illouz, Eva 51 Ishiguro, Kazuo 8 Jian, Ma 6 Johnson, Philip 54 Kaddour, Hédi 12

Kahawatte, Saliya 52 Kaiser-Mühlecker, Reinhard 24 Knabe, Hubertus 38 Kohl, Walter 52 Kreisler, Georg 48 Laher, Ludwig 24 Langbein, Annabel 54 Langot, Domitillie u. Michel 54 Lianke, Yan 10 Lindstrom, Martin 41 Loibelsberger, Gerhard 20 Lottmann, Joachim 28 Martin, Clancy 28 Meyer, Hans-Werner 44 Mirow, Jürgen 46 Mitt al, Vidhu 54 Mora, Terézia 29 Müller, Herta 26 Pernkopf, Ingrid 54 Petterson, Per 13 Plachutt a, Ewald 54 Pollan, Michael 53 Pound, Ezra 30 Powers, Richard 7 Raab, Thomas 21 Rabitsch, Wolfgang 49 Ross, Alex 48 Sabrow, Martin 38 Schaad, Martin 38 Scheuer, Norbert 25 Schmidt, Christian Y. 34 Schmidt, Kathrin 27 Schwarz, Friedhelm 41 Seiler, Christian 54 Shiller, Robert J. 40 Smith, Janet 54 Spence, Jonathan D. 32 Sutzkever, Abraham 17 Taylor, Charles 18 Unterweger, Andreas 23 Vassallo, Jody 54 Vertlib, Vladimir 19 Vierich, Thomas Askan 20 Vicenzino, Cettina 54 Voithofer, Christian 54 Vospernik, Cornelia 34 Voss, Julia 49 Wagner, Christoph 54 Wen, Zhu 6 Whitman, Walt 10 Willmann, Martina 54 Winkler, Heinrich August 46 Wolfrum, Edgar 38 Xun, Lu 4 Yiwu, Liao 32 Zillner, Christian 18 Zoche, Georg 40

Besprochene Titel Am Fenster 15 Am Morgen des zwölften Tages

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Antwort aus der Stille 14 Atemschaukel 26 Bei Anbruch der Nacht 8 Bekenntnisse eines Hundertjährigen 4 Bliefe von dlüben 34 Blutgasse 20 Brüder 5 Buy-ology 41 China ist nicht ganz anders 34 „Dann geh doch rüber“ 38 Darwins Jim Knopf 49 Das Ende der Gewalt 35 Das Ende der Liebe 51 Das größere Glück 7 Das Recht auf Rückkehr 16 Das trunkene Land 4 Der einzige Mann auf dem Kontinent 29 Der Geldkomplex 28 Der Metzger geht fremd 21 Der ratlose Riese 38 Der Traum meines Großvaters 6 Der verirrte Messias 22 Die chinesische Kunst 32 Die Errettung der modernen Seele 51 Die Mauer 38 Die merkwürdige, aber wahren Abenteuer des Sam Apple nach der Paarung 44 Die Naschmarkt-Morde 20 Die Rückkehr zum Drachenberg 32 Die Subprime-Lösung 40 Die Vollkornlüge und andere Ernährungsmärchen 53 Durchs wilde Kindistan 44 Du stirbst nicht 27 Einleben 24 Ein säkulares Zeitalter 37 Ende der Märchenstunde 42 Endemiten 49 Erinnerungsorte der DDR 38 Fräulein Hallo und der Bauernkaiser 32 Friedensstaat, Leseland, Sportnation? 38 Gebrauchsanweisung für Peking und Gefühle 51 Gründe der Liebe 51 Shanghai 34 Geschichte des Westens 46 Grasblätter 10 Hollywood heute 45 Honeckers Erben 38 Ich verfluche den Fluss der Zeit 13 I love Dollars und andere Geschichten aus China 6 In China. Reportagen abseits der Schlagzeilen 34

Juliet, Naked 9 Koloratur 4 Konfuzius – Geschichte seines Lebens 32 Lebensmittel 53 Letzte Lieder 48 Magdalenaberg 24 Mein Blind Date mit dem Leben 52 Metropolen im Maßstab 45 Neurofinance 41 Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks 50 Peking Koma 6 Philosophie der Gefühle 51 Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt 34 Red Dust. 3 Jahre unterwegs durch China 6 Schäfers Qualen 20 Schlimmer als Krieg 40 Schwarzkopf. Eine absurde Wiener Krimi-Comedy 20 Slumberland 8 Spiegelfeld 18 The Rest Is Noise 48 Unsere Nullerjahre 42 Über dem Rauschen 25 Über Land. Begegnungen im neuen China 34 Verkaufen 28 Waltenberg 12 Weltgeschichte 46 Welt Macht Geld 40 Wie im Siebenten 23 Wie riecht Leben 52 Willkommen im Funky Business 42 Wilner Gett o 1941–1944. Gesänge vom Meer des Todes 17 Mediterrane Küche 54 Currys & Currys 54 Süße Lust 54 Muffins & Cupcakes 54 Indien – Die neue vegetarische Küche 54 Das Vegane Kochbuch 54 Wohlfühl-Rezepte 54 Plachutt a Kochschule 54 Ganz einfach Kochen lernen mit Martina Willmann 54 Die feine Küche 54 Weltweit genießen 54 Esterházy Kochbuch 54 Die österreichische Vorratskammer 54 Das Erdäpfel-Kochbuch 54 Eat Fresh 54 Mamma Maria! 54 La Cucina Italiana 54

China in Wien Den Schwerpunkten in Belletristik und Sachbuch entsprechend kommt die Fotoreportage von Julia Fuchs aus dem chinesischen Wien, das man hauptsächlich, aber nicht nur am und um den Naschmarkt fi ndet.

Impressum Falter, Zeitschrift für Kultur und Politik. 32. Jahrgang. 1011 Wien, Marc-Aurel-Str. 9, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at Herausgeber: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Medieninhaber: Falter Zeitschrift en Ges.m.b.H. Redaktion: Kirstin Breitenfellner, Klaus Nüchtern Layout: Barbara Blaha, Reinhard Hackl Korrektur: Hildegard Atzinger, Helmut Gutbrunner, Gerhard Unterthurner, Marie Yazdanpanah Druck: Goldmann Druck AG, 3430 Tulln, DVR-Nr. 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten.

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Die Erkundung eines s

China ist Gastland der Frankfurter Buchmesse, seine Literatur hierzulande weitgehend unbekannt. KUR SLEITER:JÖRG MAGENAU

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hina ist groß. Zu groß jedenfalls, um überschaubar zu sein. Was in abgelegenen Winkeln des Landes passiert, ist Jahrzehnte entfernt von Ereignissen in den Großstädten. Mittelalter und Moderne, Staatssozialismus und entfesselter Kapitalismus, Zensur und freier Markt passen bequem nebeneinander. China ist mongolische Steppe und tropische Dschungellandschaft, das tibetische Hochgebirge des Himalaya und die Großstadtwüste Shanghais, die ethnische Unruhe in Urumqi und die westlich orientierte Leuchtturmhaftigkeit Hongkongs. China ist Taiwan, ist Exil, ist Dissidenz und Staatstreue. All das spiegelt sich in der chinesischen Literatur – jedenfalls in den Ausschnitten, die nun zur Frankfurter Buchmesse in deutscher Übersetzung vorliegen. In den Feuilletons schlägt während der alljährlichen Gastlandauftritte die Stunde der Experten, die dann vorzugsweise die „literarische Topografie“ des jeweiligen Landes abschreiten. Im Falle Chinas steht ihnen da eine weite Wanderung bevor. Und doch ergibt das, was der Zufall der Publikationslogik ausbreitet, ein interessantes Bild: Auch wenn sich keine „Topografie“ daraus ableiten lässt, so doch eine literarische Chronik des 20. Jahrhunderts. Die Vergangenheitsbezogenheit der chinesischen Literatur ist auffallend. Schwer zu sagen, ob das eine Flucht vor den heiklen Themen der Gegenwart ist oder aber ein Beharren auf Erinnerung und Geschichte. Vielleicht braucht ein Land, das sich in einem radikalen Umbruch befindet und dabei ausschließlich auf die Zukunft ausgerichtet ist, eine Literatur, die sich als Gedächtnis der Gesellschaft versteht. Nach der Geschichtszertrümmerung der MaoÄra muss die eigene Herkunft erst wieder entdeckt werden. Doch es ist eine blutige Geschichte, die da zum Vorschein kommt.

1908: Gespießt auf spitze Stangen Liu Hengs Roman „Bekenntnisse eines Hundertjährigen“ spielt in der Endphase der Qing-Dynastie, als das Kaiserreich in Armut, Hunger und Aufständen zugrunde ging. Er spielt am Hof der reichen Familie Cao, Großgrundbesitzer und Unternehmer. Der alte Cao hat Angst vor dem Tod und ernährt sich von allerhand seltsamen Tinkturen aus Krötenhaut, Spinnenbeinen und Zwillingsurin, bis es ihn schließlich nach der Plazenta von der Geburt seines Enkels gelüstet. Seine Gattin zieht sich zu Fastenkuren zurück, die sie an den Rand des Todes bringen. Der älteste Sohn hat zwar mehrere Frauen, doch die gebären nichts als Töchter. So ruht die Hoffnung auf dem jüngeren Sohn, mit dessen Verheiratung das Geschehen einsetzt. Erzählt wird aus der Perspektive des damals 16-jährigen Dieners „Ohrwaschel“. Der klettert nachts über die Hausdächer und späht durch die Luken hinab. Er verliebt sich in die „junge Herrin“ und muss

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beobachten, wie der „junge Herr“ auf Abwege gerät und sich als Sprengstoffproduzent und Bombenleger den Aufständischen anschließt. Anstatt auf Zeugung zu sinnen, will er gewürgt und gepeitscht werden. Da ist es nicht verwunderlich, dass ein französischer Gast, gekommen, um Maschinen für eine Streichholzfabrik zu installieren, eine Affäre mit der „jungen Herrin“ beginnt. Das tragische Ende ist absehbar: Die Geburt des ersehnten Stammhalters wird zum Debakel, als sich herausstellt, dass der Säugling blaue Augen hat. Das politische Geschehen bleibt im Hintergrund. Worum es den Aufständischen geht, deren Köpfe auf Stangen gespießt zur Abschreckung in den Dörfern aufgestellt werden, wird nicht erklärt. Doch in der Tragödie des Cao-Clans spiegelt sich der Untergang des Kaiserreiches wider. Liu Heng, der zur „verlorenen Generation“ der in der Mao-Ära Aufgewachsenen gehört, erzählt plastisch, sinnenfroh und mitreißend. Seine Erfahrungen als Drehbuchautor – unter anderem für Zhang Yimou – sind auch diesem Roman zugutegekommen. In China wurde aus den „Bekenntnissen eines Hundertjährigen“ eine 42-teilige TV-Serie. Liu Heng: Bekenntnisse eines Hundertjährigen. Roman. Aus dem Chinesischen von Ingrid Müller und Zhang Rui. Hanser, 382 S., € 22,10

1918: Menschenfresser Es gibt zu denken, dass am Beginn der modernen chinesischen Literatur ein Text steht, der von Menschenfressern handelt. „Das Tagebuch eines Verrückten“ von Lu Xun ist ein Dokument des Wahnsinns. Der Tagebuchschreiber wittert überall eine Verschwörung. Wenn die Kinder auf der Straße tuscheln, dann ist er gemeint, denn alle wissen schon, dass er bald gefressen werden soll. Wenn der Arzt ihn untersucht, handelt es sich bestimmt um einen verkleideten Henker, der schon einmal seinen Nährwert prüft. Auch der Bruder, der sich um ihn sorgt, paktiert mit den Kannibalen. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf: Wer die Gesellschaft nach dieser Maxime beurteilt, sollte das eigene Zimmer am besten nicht mehr verlassen. Lu Xun, geboren 1881 in Shaoxing, war ein Intellektueller von Welt. Er studierte Eisenbahn- und Bergbauwesen, Medizin und schließlich Literatur. Er beherrschte Englisch, Deutsch und Japanisch, übersetzte europäische Literatur, gab Zeitschriften heraus und gehörte zur Bewegung des 4. Mai, die ab 1919 die kulturelle und soziale Erneuerung Chinas und die Unabhängigkeit von den Kolonialmächten anstrebte. 1936 gestorben, wurde er nach Gründung der Volksrepublik zum Nationaldichter erhoben. In Shanghai, seinem letzten Wohnort, befindet sich in einem nach ihm benannten Park seine Grabstätte nebst Museum: eine marmorne Weihestätte. Wie lebendig seine Erzählungen geblieben sind, lässt sich

in dem Band „Das trunkene Land“ nachlesen – einer Auswahl seiner wichtigsten Texte. Lu Xun: Das trunkene Land. Erzählungen. Unionsverlag, 252 S., € 17,40

1942: Sengen, metzeln, plündern Wenn in China von einem Massaker die Rede ist, dann ist nicht etwa das Geschehen auf dem Tian’anmen-Platz 1989 gemeint, sondern die Verbrechen der Japaner während der Besatzungszeit. Der Film „John Rabe“, der vor kurzem in den Kinos lief, handelte vom Massaker in Nanjing im Dezember 1937, als in wenigen Wochen über 300.000 Menschen ermordet wurden. Der in Beijing lebende Schriftsteller Li Er erzählt in seinem Roman „Koloratur“ eine Geschichte aus dem Jahr 1942: Ge Ren, auserkoren, den Heldentod zu sterben, zieht es vor unterzutauchen und bleibt verschwunden – während die Japaner die Parole der „dreifachen Auslöschung“ ausgeben: alles niederbrennen, niedermetzeln, ausplündern. Ist der Verschwundene ein Held oder ein Deserteur? Lebt er, ist er tot? Drei Zeugen erinnern sich der Ereignisse: Je nach Nähe zu den Kommunisten, Nationalisten oder Japanern ergibt sich eine ganz andere Erzählung. Historische Wahrheit, so die Pointe des 1966 geborenen Autors, gibt es nicht. Es wird verzerrt, beschönigt und umgedeutet, und der Leser muss sich seinen eigenen Reim darauf machen. Im Chinesischen lassen sich Koloraturen übrigens nicht nur singen, sondern auch sprechen und schreiben – das Wort hat nämlich auch die Bedeutung von „etwas schönreden“. Li Er: Koloratur. Roman. Aus dem Chinesischen von Thekla Cabbi. Klett-Cotta, 440 S., € 25,60

1966–1976: Mord und Totschlag Wer auf drastische Weise erfahren will, was in den Jahren der Kulturrevolution geschah, sollte den Roman „Brüder“ von Yu Hua lesen. In China war dieses Buch ein Bestseller mit Millionenauflage und wurde heftig diskutiert. Die schonungslos brutale Darstellung der Gewalt, die Härte und Direktheit der Geschichte schockierten und riefen Widerspruch hervor: So schlimm kann es doch wohl nicht gewesen sein. Ort der Handlung ist das fiktive Städtchen Liuzhen. Der kleine Glatzkopf-Li und sein Stiefbruder Song Gang müssen miterleben, wie ihr großer, starker, bewunderter Vater, der zunächst zu den Revolutionären gehört, verhaftet wird. Mit spitzer Schandmütze auf dem Kopf und einem Schild um den Hals steht er vor dem Gefängnis und muss die Straße fegen. Schließlich wird er vor dem Bahnhof von einer Gruppe junger Kulturrevolutionäre bestialisch zu Tode geprügelt, während die Menschen, die ihn doch kennen, vorbeigehen und so tun, als

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s schwarzen Lochs Ein belletristischer China-Crashkurs in sieben Stationen und 4000 Buchseiten

würden sie nichts bemerken. Rohheit äußert sich nicht nur in Gewalttätigkeit, sondern ebenso in Unbeteiligtheit, Feigheit und Anpasserei. Yu Hua schildert die Feigheit und das Duckmäusertum der Menschen, kennt für seine Landsleuten keine Gnade. Das gilt auch für den zweiten, weit schwächeren Teil des Romans, der im ungezügelt kapitalistischen China der Gegenwart spielt. Die beiden einst unzertrennlichen Brüder entzweien sich aus Liebe zu einer Frau. Der eigentlich eher tumbe Glatzkopf Li macht eine erstaunliche Karriere als Müllsammler und Altkleiderverkäufer und wird zum reichsten und wichtigsten Mann der Stadt. Sein Bruder aber, moralisch skrupulös und zögerlich, geht zugrunde. Das ist als Groteske sehr derb und grob gezeichnet, fast ein bisschen wie im Kasperltheater: ein Gleichnis auf das heutige China, in dem nach der Katastrophe der Kulturrevolution keine Werte mehr übriggeblieben sind, sondern nur noch der Imperativ: Du sollst dich bereichern! Verständlich, dass auch diese Botschaft in China eher zwiespältig aufgenommen wurde. Yu Hua: Brüder. Roman. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer, 766 S., € 25,70

1983: Frische Plazenta Roter Staub – das ist der Staub der Landstraßen, der „Staub der Illusionen“, vielleicht auch der Staub, der von der kommunistischen Ideologie übrigbleibt. Ma Jian, Schriftsteller, Maler und Fotograf aus Beijing, lebt heute in London. In seinem Heimatland ist er eine Persona non grata, dabei kennt er das Reich der Mitte wie nur wenige sonst. Von 1983 bis 1986 begab er sich dort auf eine große Reise, mit Zug oder Bus, per Anhalter, meistens aber zu Fuß. „China ist ein schwarzes Loch, in das ich eintauchen möchte“, notierte er unterwegs. „Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich weiß nur, dass ich wegmusste. Alles, was ich war, trage ich bei mir, alles, was ich sein werde, wartet auf der Straße vor mir. Ich will im Gehen denken, auf der Flucht leben. Nie wieder kann ich mein Leben in einem einzigen Raum verbringen, das halte ich nicht aus.“ Das Leben war im Beijing der 80er-Jahre von beklemmender Enge. Sechs Jahre nach Maos Tod begann die sogenannte „Kampagne gegen geistige Verschmutzung“, gegen „Rowdytum“ und sexuelle Libertinage. Das gesellschaftliche Klima erinnerte an die DDR unter Ulbricht, in der es ähnlich spießbürgerlich zuging. Wer sich auf der Straße küsste, konnte verhaftet werden. Bei nächtlichen Partys musste man jederzeit fürchten, dass die Polizei die Wohnung stürmte. Ma Jian war schon deshalb verdächtig, weil er Aktfotos machte. Sein Reisebericht zeichnet sich dadurch Sieht aus wie eine Mischung aus Mao und Breschnew und wurde von der Fotografin im Honkonghaus in Wien entdeckt

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1989: Mit Kopfschuss im Koma

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aus, dass er nie die Fassung verliert. „Gefahr ist nicht aufregend“, sagt er, „sie beweist nur die eigene Unfähigkeit.“ Ob er Urin trinkt, um in der Wüste zu überleben, Brot stiehlt, weil er kein Geld mehr hat, oder bei einem Bauern an der Grenze zu Vietnam eine Decke bekommt, die noch aus dem Koreakrieg stammt und an der „Körpergerüche aus 30 Jahren haften“ – Ma Jian nimmt die Dinge und die Situationen stoisch zur Kenntnis. Ma Jian berichtet von einer „Himmelsbestattung“ in Tibet, wo die Toten zerlegt und den Geiern zum Fraß vorgeworfen werden. Er besucht eine Leprastation und eine trostlose Klinik, in der jeweils zwei Frauen in einem Bett liegen, weil es an Platz mangelt. Auf archaische Weise werden Abtreibungen vorgenommen, während im selben Bett geboren wird. Ma Jian beschließt die Szenerie mit dem Hinweis darauf, dass der Arzt „seine Klöße heute Abend mit frischer Plazenta füllen wird“. Das würde auch dem alten Cao schmecken. Ma Jian: Red Dust. 3 Jahre unterwegs durch China. Aus dem Englischen von Barbara Heller. SchirmerGraf, 422 S., € 25,50

Nach seiner dreijährigen Wanderschaft wurde Ma Jian in Beijing nicht wieder heimisch. Er ging ins freiwillige Exil nach Hongkong, kehrte aber im April 1989 noch einmal zurück, angezogen von den demonstrierenden Studenten, die sich auf dem Platz des Himmlischen Friedens versammelten. Ma Jian war zehn Jahre älter und gehörte deshalb nicht dazu. Doch er verfolgte das Geschehen mit Anteilnahme und Sympathie. In dem Roman „Peking Koma“ erfindet er sich mit Dai Wei einen Helden, der zur Bewegung gehört. Doch der liegt zehn Jahre danach im Koma; er wurde bei der Erstürmung des Platzes von einer Kugel in den Kopf getroffen. Die Mutter, einst treue Kommunistin, nun skeptische Bürgerin, pflegt aufopferungsvoll den verdorrenden Leib des Sohns, ohne zu ahnen, dass dessen Geist wachgeblieben ist. Dai Wei registriert, was um ihn herum geschieht, und reflektiert unentwegt seine eigene Geschichte. Symbolisch verstanden ist sein Koma ein überdeutliches Bild für den Zustand der Demokratie. Ma Jian hat sich vorgenommen, „den Menschen ihr Recht auf ihre Erinnerungen zurückzugeben“, ist es doch in China nach wie vor tabu, über die Ereignisse des Jahres 1989 zu sprechen. Deshalb tut er es breiter und ausführlicher, als es dem Roman guttut. Das Freiheitsstreben war für die Studenten auch ein Kampf um sexuelle Libertinage, und Sexualität spielt auch in den Erinnerungen Dai Weis eine große Rolle. Was auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah, war eben auch ein nachgeholtes Woodstock: Sex & Drugs & Rock ’n’ Roll.

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© Alicja Gola

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Als Zhu Wens Geschichten, „I Love Dollars“, Mitte der 90er-Jahre in verschiedenen Zeitschriften erschienen, wurden sie als „schamlose HooliganLiteratur“ beschimpft. Doch die radikale Individualisierung in einer Gesellschaft voller Glückssucher, die Wen in seinen Geschichten beschreibt, geht auch auf die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 zurück Jörg Magenau

Spannender aber als die breit ausgemalte Geschichte der Studentenbewegung ist jene Erzählebene des Romans, die sich dem gegenwärtigen China widmet. In ihr schildert der Autor, wie die ehemaligen Freunde hilflos vor dem lebenden Leichnam sitzen oder wie die Mutter, die erfolglos verschiedene Therapien erprobt hat, aus der Not heraus gezwungen ist, Organe des komatösen Sohns zu verkaufen. Dai Weis Vater, ein „Rechtsabweichler“, der unter Mao in einem Straflager arbeiten musste, berichtete einst davon, dass zum Tode verurteilten Gefangenen bei der Hinrichtung Organe entnommen wurden. So schließt sich der Kreis. Die Studenten sind die Erben der „verlorenen Generation“. Und die Menschenfresser Lu Xuns, die gibt es wirklich. Ma Jian: Peking Koma. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Höbel. Rowohlt, 924 S., € 25,60

China heute: Blut und Sex zu kaufen „Der Traum meines Großvaters“ ist das, was man eine „wahre“ Geschichte nennt. In den 90er-Jahren folgten die Bewohner eines Dorfs in der Provinz Henan dem Aufruf der Regierung, Blut zu spenden, um damit ihren Teil zum Wohl des Landes und einer glücklicheren Zukunft beizutragen. Dabei wurden sie mit dem Aids-Virus infiziert, einer Krankheit, von der sie nichts wussten und die sie bloß „das Fieber“ nannten. Tausende von Menschen starben. Der Fall wurde offiziell vertuscht; Aids sollte es in China nicht geben. Yan Lianke, der 1958 in der Provinz Henan geboren wurde, hat den Vorfall in einem Roman verarbeitet, der kurz nach der Veröffentlichung im Jahr 2007 verboten wurde. Ein zwölfjähriger toter Junge erscheint seinem Großvater im Traum und erzählt ihm vom sterbenden Dorf, vom Zusammenhalt der Menschen, aber auch davon, wie in der rückständigen Welt der Bauern jeder versucht, sich auf Kosten der anderen einen Vorteil zu verschaffen. Am Ende sind die Sargverkäufer die letzten Profiteure. Dass alles zu Geld wird, dass auch Sex und Liebe käuflich sind, davon erzählt Zhu Wen in seinen Geschichten aus dem modernen China, die endlich einmal nicht in einem Dorf, sondern in der Großstadt spielen. In der Titelgeschichte geht es um einen glücklosen Schriftsteller, der am Älterwerden leidet. Er bekommt Besuch von seinem Vater und möchte dem alten Herrn zu ein paar schönen Erlebnissen verhelfen – käuflicher Sex inklusive. Eine halbe Stunde kostet – wie er lakonisch feststellt – so viel, wie er als Schreiber in einem Monat verdient. Da ist es günstiger, wenn er dem Vater die eigene Freundin anbietet. Als Zhu Wens Geschichten Mitte der 90er-Jahre in verschiedenen Zeitschriften erschienen, wurden sie als „schamlose Hooligan-Literatur“ beschimpft. Doch die radikale Individualisierung in einer Gesellschaft voller Glückssucher, wie Zhu Wen sie beschreibt, geht auch auf die Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 zurück. Für die jungen Leute, die danach erwachsen wurden, gab es keinen poF litischen Horizont mehr. Yan Lianke: Der Traum meines Großvaters. Roman. Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. Ullstein, 352 S., € 23,60 Zhu Wen: I love Dollars und andere Geschichten aus China. Aus dem Chinesischen und mit einem Nachwort von Frank Meinshausen. A1, 360 S., € 20,40

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Das Glück in der DNA eines Engels Richard Powers stellt sich in seinem jüngsten Roman den uralten Fragen der modernen Biowissenschaften

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en US-amerikanischen Romancier Richard Powers treibt die Frage um, wie die Biowissenschaften in gar nicht so ferner Zukunft unser Selbstverständnis verändern könnten. Damit ist er natürlich nicht allein. Schon lange streiten Neurowissenschaftler und Philosophen über die vermeintliche oder reale Freiheit des Willens. Auch die von der Aufklärung inspirierte Überzeugung, der Mensch werde in seiner Entwicklung wesentlich von seiner Umwelt geprägt, gerät durch kühne Theorien über die genetische Determiniertheit unserer Begabungen und Charaktereigenschaften unter Druck. Das hat irgendwann auch Folgen für die Kunst: Literaturwissenschaftler zum Beispiel, die neurowissenschaftliche Erkenntnisse für die Erklärung des ästhetischen Wohlgefallens bemühen, müssen heute nicht mehr befürchten, von ihren Kollegen als Sektierer geschnitten zu werden.

Einen Romancier, der sich als Zeitgenosse versteht, müssen diese Verschiebungen tief

beunruhigen. Was bedeutet es, wenn die leidenschaftliche Liebe, der einsame Entschluss oder andere Muster des Erzählens, die zur 200-jährigen Erfolgsgeschichte des Romans beigetragen haben, am Ende nicht mehr sind als die äußeren Folgen austauschbarer molekularer Prozesse? Was bleibt vom Roman, wenn dem Individuum alle Geheimnisse genommen werden? Gibt es überhaupt noch ein Bedürfnis nach Erzählungen, wenn alles erklärt werden kann? Russell Stone plagen tagtäglich solche Zweifel. Man stellt ihn sich wohl Ende 40 vor. In seinem Leben musste er schon einige Umwege machen, was auch daran liegt, dass er an bestimmten Gewohnheiten festhält: an Büchern zum Beispiel oder am Schreiben. In Chicago muss so einer heutzutage ganz schön kämpfen. Immerhin hat er einen Job gefunden bei einer Zeitschrift, für die er die Lebensbeichten unbegabter Möchtegernautoren in eine lesbare Form

auch an der moralischen Perspektive des Romans. Dessen Handlung muss gar nicht bis zum Ende erzählt werden, nur eines sei noch hinzugefügt: Er geht gut aus.

bringt – und er darf an einem College Studenten die Grundlagen des Schreibens vermitteln. Eine undankbare Aufgabe, wenn man bedenkt, dass diese jungen Leute keinen Kontakt mehr haben zu jener Praxis des Schreibens, die vor der Ausbreitung des Internets Allgemeingut war. Wer mit Blogs, Hypertexten und Mashups aufgewachsen ist, tut sich schwer, eine einfache Geschichte von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende zu erzählen. Nur eine kann das: Thassadit Amzwar. Sie ist einer jener Engel, wie man sie aus Po-

wers Romanen kennt: weiblich, ätherisch, geheimnisvoll. Sie musste aus Algerien fliehen, als dort zu Beginn dieses Jahrhunderts islamistische Fundamentalisten die Berber verfolgten und das Land an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Wenn sie ihre Texte vorliest, herrscht atemlose Stille im Raum. Ihr eigentliches Geheimnis aber liegt in ihrer Ausstrahlung: Sie verkörpert das vollkommene Glück. Wie kann eine Frau glücklich sein, die durch Verfolgung und Flucht traumatisiert sein müsste? Die Geschichte von der rätselhaften Schönen aus der Kabylei macht bald auch außerhalb des College die Runde. Russell Stone, schüchtern und auch ein bisschen verliebt, versucht vergeblich, seine Studentin vor der Öffentlichkeit zu schützen. Bald spekulieren Psychologen, Journalisten und Mediziner darüber, woher es kommt, dass diese Frau einfach glücklich ist. Und tatsächlich entdeckt eine Biotechfirma in Thassadits DNA eine signifikante Abweichung, die sie sofort patentieren lässt: Hier könnte das vollkommene Glück seinen Sitz haben. Als sich Thassadit auf das Angebot einlässt, ihre Eizellen für eine Menge Geld zu verkaufen, um zahlungskräftigen Eltern die Chance auf ein glückliches Kind zu verschaffen (und ihrer eigenen Familie finanziell unter die Arme zu greifen), verblasst ihre Aura. Das liegt nicht nur an den Hormonen, die sie schlucken muss, sondern

Richard Powers: Das größere Glück. Roman. Aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. S. Fischer, 415 S., € 23,60

Ist das alles nicht schrecklich plakativ? Reduziert man Powers’ Roman auf seine Handlung und stellt man außerdem seine didaktischen Züge heraus, die an einem Teil des europäischen Publikums vorbeigehen ­werden, dann bleibt tatsächlich nicht viel mehr übrig als eine gekonnte Satire auf die Wissenschaftsgläubigkeit der US-amerikanischen Gesellschaft. Aber wie schon in den früheren Romanen des Autors, so bedeuten vielleicht auch in diesem Buch die Präzision des analytischen Blicks und die Originalität der Reflexion mehr als der Plot. Wenn Stone in seinem Seminar über den Unterschied von Fiction und Non-Fiction doziert, dann stellen sich plötzlich noch ganz andere Fragen: Was zählt dieser Unterschied überhaupt noch in der Anonymität des Internets, wo man auf die Verantwortlichkeit eines Autors keinen gesteigerten Wert legt? Und bereitet das Internet nicht schon jetzt das Ende jener Privatheit vor, die mit einer zentralen Dokumentation ­u nserer DNA vollständig verschwunden sein wird? Das klingt wie Science-Fiction. Aber man sollte auch einmal anders herum genau hinhören, wie so manches Biotechunternehmen Klischees der ScienceFiction als genuine Wissenschaft verkauft – womit wir wieder bei der fragilen Unterscheidung zwischen Fiction und Non-Fiction wären. Ein argumentatives Durcheinander? Vielleicht liegt die Chance des Romans in den Zeiten von Life-Sciences, Biotech und Internet gerade darin, Raum zu schaffen für ein solch wildes Denken, irgendwo im Niemandsland zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Richard Powers macht darauf auch mit seinem neuen Roman die Probe aufs Exempel. TOBIAS HE YL

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Boris Chersonskij

Josef Haslinger

Anton Hykisch Peter Waterhouse

Jáchym Topol

Peter Herbert Sigitas Parulskis

Timothy D. Snyder

Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki

Olga Tokarczuk Daniela Dahn Ottó Tolnai

Dragan Velikic´

Franz Koglmann Kurt Drawert Richard Wagner

Alfred Gusenbauer

Daniela Danz Herta Müller

Dilemma 89 B_07_42_09 7

Eva Horn

6.–8. November 2009 Theater Odeon Taborstraße 10, 1020 Wien Eröffnung: Freitag, 6. November 19.00 Uhr Eintritt frei www.alte-schmiede.at

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Satte Geigenklänge und ein bluesiges Horn Da ist keine Musik drin: Kazuo Ishiguros Erzählband „Bei Anbruch der Nacht“ bietet Kitsch und Peinlichkeiten

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usic is the best“, sagt Frank Zappa und hat damit vermutlich Recht. Keine Kunst berührt uns so unmittelbar wie die Musik, und alle anderen Künste sind neidisch wie die Sau: Seit circa 1982 will jeder, der einen Pinsel halten kann, eigentlich in einer Synthiepopband spielen, bei den Literaten sieht’s ähnlich aus, und am allerärgsten sind die Metallplastiker, die ihre Daumen drum geben würden, wenn sie Hackbrett oder Fagott spielen könnten.

Kazuo Ishiguro, der für seinen Roman „Was vom Tage übrig blieb“ 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde, hat nun unter dem Titel „Bei Anbruch der Nacht“ („Nocturnes. Five Stories of Music and Nightfall“, 2009) einen Band mit fünf Erzählungen veröffentlicht, in dem die Gitarristen zart im Vorteil sind, aber das ist nicht so wichtig. Wir treffen auf Musiker und Musikliebhaber unterschiedlichen Alters, Geschlechts und Geschmacks, wobei sie vom Autor gerne in eigenartigen Paarund Dreiecksbeziehungen arrangiert werden. So soll der Ich-Erzähler aus dem Opener „Crooner“, der sein Geld als EinspringGitarrist in den diversen Kaffeehausbands von Venedig verdient, dem von seiner Mutter verehrten Sänger Tony Gardner bei einem Ständchen für dessen Frau assistieren – wobei die Trennung des Ehepaars längst ausgemachte Sache ist.

von Tony Gardner aus „Crooner“ ein Begriff), und obwohl er sie als Musiker eigentlich verachtet, freunden sich die beiden miteinander an. Am, nun ja, „komischen Höhepunkt“ der Erzählung versenkt Lindy eine entwendete Trophäe im Arsch eines Truthahns (gebraten) und entwindet sich so der unangenehmen Entlarvung als Diebin. Über eine Schlusspointe verfügt die umständliche, aber dennoch unergiebige und mit herzlich peinlichen Dialogen („Hol sie in dein Team, krieg dein neues Gesicht, es werden sich alle möglichen Türen für dich öffnen. In null Komma nix bist du Oberliga“) gesegnete Story nicht.

Die Ehe von Charlie und Emily ist ebenfalls am Zerbröseln, nur dass Charlie diese dadurch kitten möchte, dass er Ray, einen gemeinsamen Freund aus Studientagen, als Gast in der gemeinsamen Wohnung einquartiert, während er für ein paar Tage auf eine erfundene Geschäftsreise verschwindet. Ray, 47 Jahre alt, mit einer Alkoholikerin als Frau und einem wenig aufregenden Job ausgestattet, soll quasi als abschreckendes Beispiel das Image von Charlie wieder aufbessern: Emily findet ihren Gatten nämlich etwas unterambitioniert. Wer diese Idee absurd findet, sollte erst einmal die ganze Geschichte lesen. Sie kulminiert in einer Szene, in der Ray auf allen Vieren das Wohnzimmer seiner beiden Freunde verwüstet, während in der Küche ein alter Stiefel gesotten wird. Das ist leider entschieden weniger lustig, als es klingt – wie Humor überhaupt nicht zu Ishiguros Stärken zählt: Immer dort, wo er offenbar Slapstick und Allotria im Sinn hat, wird es noch dämlicher, als es ohnedies schon ist.

Es gehört zu den Klischees der Kritik, die

Die Titelgeschichte etwa beruht auf dem ver-

queren Einfall, dass ein begnadeter Saxofonist sich einer Schönheitsoperation unterziehen soll, um endlich die Karriere zu machen, die er eigentlich verdienen würde (also ob ein Lester Young oder Ben Webster ihrer tollen Erscheinung wegen berühmt gewesen wären). In der Luxusklinik lernt Steve die Sängerin Lindy Gardner kennen (dem Leser schon als zukünftige Exgattin

Kazuo Ishiguro: Bei Anbruch der Nacht. Aus dem Englischen von Barbara Schaden. Blessing, 240 S., € 20,60

Musikalität eines Autors insbesondere dann zu preisen, wenn dieser über Musik schreibt. Dazu herrscht hier freilich wenig Anlass. Ishiguro, so wie ihn Barbara Schaden übersetzt hat, klingt mitunter wie ein mediokrer Musikjournalist (ein Raum füllt sich „mit satten Geigenklängen, einem bluesigen Horn und Sarah Vaughns Stimme“) oder nach Coelho-Kitsch: „Und irgendetwas (…) ließ ihn Töne erzeugen, die ganz neue Tiefen, ganz neue Anklänge enthielten.“ „Cellisten“, aus der das Zitat stammt, ist die letzte Geschichte des Bandes und schafft es souverän, das Niveau der vorangegangenen zu unterschreiten – was fast schon als sportliche Leistung gelten darf. K L AUS NÜCHTERN

Wie man mit Jazz die Berliner Mauer wieder aufbaut Paul Beattys satirischer Roman „Slumberland“ schickt einen Schwarzen durch das Berlin von 1989 er Neger ist jetzt offiziell Mensch. D Alle sagen das, sogar die Briten. Ob es wirklich einer glaubt, ist einerlei; wir

sind so mittelmäßig und gewöhnlich wie der Rest der Gattung.“ Am Beginn von ­„Slumberland“ ruft DJ Darky noch das Ende der Blackness aus. Doch natürlich wird genau die Frage der Hautfarbe den Platten drehenden Ich-Erzähler und Autor Paul Beatty den ganzen Roman über beschäftigen. Darky, der mit einem phonografischen Gedächtnis ausgestattet ist und sich an jedes Geräusch erinnert („als wäre mein ganzes Leben ein Song, den ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme“), verschlägt es 1989 von Los Angeles nach Berlin. Gerade hat er aus unzähligen obskuren Soundquellen den perfekten Beat geschaffen, jetzt braucht er dafür einen musikalischen Partner. Die abgetakelte Rapperin Bitch Please ist es definitiv nicht. Vor kurzem hat ihn aus Deutschland ein ano-

nymes Paket erreicht. Darin befindet sich eine Videokassette mit einem Sodomitenporno, dessen grausliche Handlung von himmlischer Jazzmusik verfremdet wird. Diese Töne, schließt Darky, können nur von Charles Stone stammen, einem auch „der Schwa“ genannten genialen FreeJazz-Unsichtbaren, der hier als eine Art Salinger oder Pynchon der Musikszene auftritt.

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Er macht sich also auf, seinen untergetauchten spirituellen Doppelgänger in Berlin zu suchen. Als Hauptquartier eignet sich die Kneipe Slumberland, in der Darky als „Juke­box-Sommelier“ anheuert und den Besuchern erlesenste Singles kredenzt. Die Musik ist hier zwar lediglich der ­Soundtrack erotischer Anbahnungen, nachdem es sich um ein Lokal handelt, in dem weiße Frauen schwarze Männer abschleppen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Schwa irgendwann auftaucht, aber ziemlich hoch. Weil die Legende sich mit ihrem Auftritt Zeit lässt, hat Autor Paul Beatty ausreichend Gelegenheit, seinen Helden über Schwarz und Weiß, die USA und Deutschland, Musik und Frauen philosophieren zu lassen. Sein Darky mag zwar emotional verkorkst und ein einsamer Typ sein, aber er ist nie um einen Spruch verlegen. Als er in Berlin seine ersten Gedenktafeln sieht, denkt er an einen Supermarkt: „[Sie] rufen die Katastrophen aus wie müde Kassierer in der letzten Nachschicht: Achtung, ein Holocaust in Gang zwei.“ Als die Mauer fällt und er seinen ersten Ossi sieht, sinniert er: „Ostdeutsch zu sein, das war, wie ich vermutete, ganz ähnlich wie schwarz zu sein – das dauernde Parolenbrüllen, die Protestlieder, kein Strom, keine Ferngespräche.“ Und vor Journalisten, die ihn aufgrund seines makellosen Ge-

schmacks interviewen wollen, flieht er: „Nichts macht eine gute Sache so schnell kaputt wie ihre Entdeckung durch alternde Rockkritiker.“ Schön ist, dass in diesem bunten Reigen an ko-

Paul Beatty: Slumberland. Roman. Aus dem Amerikanischen von Robin Detje. Blumenbar, 317 S., € 20,50

mischen Ereignissen, der nicht immer direkt von einem Plot geleitet ist, Weiße wie Schwarze gleichermaßen ihr Fett abbekommen. Hier stehen die Willis und KarlLudwigs, die Darky in Jazzkneipen pflichtschuldig über Rassismus ausfragen; dort steht ein Protagonist, der seine Hautfarbe mit viel Selbstironie zur Schau trägt und im Slumberland auch gern einmal den einen oder anderen „Neger“ (Weißbier mit Cola) zischt. Die Begegnung von Darky und Schwa gerät dann leider als Antiklimax des Romans. Die beiden haben sich in Wahrheit recht wenig zu sagen. Und obwohl die Idee, den Jazzer die Berliner Mauer aus Klängen wiedererrichten zu lassen, hübsch ist, gehört die finale Jamsession, die das Duo über dem perfekten Beat spielt, zu den schwächeren Szenen. Paul Beatty, der zuvor vor allem als Lyriker sowie als Herausgeber einer humoristischen Anthologie hervorgetreten ist, versteht eine Menge von Musik, er verfügt über eine scharfe Beobachtungsgabe und bösen Witz. Großer Erzähler ist er indes noch keiner. SEBASTIAN FASTHUBER

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Den Sex bringen wir auch noch hinter uns Ganz der Alte, aber wieder etwas besser als zuletzt: Nick Hornby schreibt über die Welt der Rockmusik

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iemand könnte Nick Hornby vorwerfen, dass er über Dinge schriebe, die er selbst nicht kennt. Die Welt, in der seine Bücher spielen, ist ihm so vertraut wie seinem Publikum, egal, ob es sich um London oder – wie in seinem jüngsten Roman „Juliet, Naked“ – um das fiktive nordenglische Seestädtchen Gooleness und die Kleinstadt Tyrone, Pennsylvania, handelt. Bevölkert wird sie vor allem von Männern mitt-

leren Alters – in diesem Fall vom abgehalfterten US-amerikanischen Songwriter Tucker Crowe, von dessen verblendetem Fan und selbsternanntem Internetbiograf Duncan Thomson, vom in den Jugendtagen der Mittsechziger steckengebliebenen Kleinstadtmagistrat Terry Jackson und von den beiden fanatischen Clubtänzern Gav und Barnesy –, allesamt unzulänglich bis erbärmlich, aber irgendwie auch wieder liebenswert. Je nach Geschlecht ist die Zielgruppe eingeladen, sich mit diesen Gestalten zu identifizieren oder ihren Mutterinstinkt in sie zu investieren. Als ebenso geläufiges Bezugssystem fungiert eine schon in Hornbys zweitem Roman, „High Fidelity“, spezifizierte Popkultur, die von Bob Dylan und Leonard Cohen via Bruce Springsteen bis zum Sixties-Soul und keinen Schritt weiter in Richtung Gegenwart reicht. Nicht zufällig gründet der legendäre Status des Tucker Crowe darauf, dass er seit 1986 keine Musik mehr veröffentlicht hat. Aus Hornbys drittem Buch, „About a Boy“, ist uns die weise/naive Kinderstimme von Crowes sechsjährigem Sohn Jackson bekannt. Und die in einer hoffnungslosen Beziehung mit dem erbärmlichen Duncan gefangene Frauenfigur Annie weist wiederum Ähnlichkeiten mit Kate, der Heldin aus Hornbys viertem Wurf, „How To Be Good“, auf. In ihrem Gerangel mit der eigenen Gutherzigkeit erscheint sie bloß umso anständiger. Ja, wenn es darum geht, dem kranken Mann, in den sie verschossen ist,

Erfinders. Mitunter ergibt sich gar der Eindruck, dem Autor selbst wäre es noch unangenehmer als seinen von Selbstzweifeln zermürbten Figuren, die Handlung voranzutreiben, anstatt sie von allen denkbaren Seiten her zu betrachten. Andererseits liegt gerade in diesen Einwürfen und Erläuterungen – wo sie ihm gelingen – der dezidiert diskrete Charme von Hornbys Schreibe. Zum Beispiel, wenn Annie befürchtet, dass die Teetasse mit der an die Anti-IrakKriegs-Demos erinnernden Aufschrift „bLIAR“ ihren auf einen platonisch versöhnlichen Hausbesuch vorbeigekommenen Verflossenen zu nostalgischen Tränen rühren könnte.

Bücher zu kaufen, vergisst sie sogar auf ihr Make-up. Sein Mitgefühl für diese weibliche Protagonistin macht dem Autor den Rücken frei für ein paar locker eingestreute, merklich misogyne Spitzen gegen durchgedrehte Frauen mit hennagefärbtem Haar, arrogante Middle-Class-Töchter und noch arrogantere Middle-Class-Mütter. Das Abrufen humorvoll dargebotener und wieder erkennbarer Alltagssituationen ist einerseits die Ursache von Hornbys andauernder Popularität und birgt andererseits die Gefahr, sich in Klischees zu ergehen: dumpfbackige, konversationsunfähige Teenager, die den iPod nicht einmal abdrehen, wenn ihr Vater zu ihnen spricht; ein unfähiger Psychotherapeut, der die weltfremde, prüde Spießigkeit seiner kleinstädtischen Herkunft nicht überwinden kann; oder die Kunstlehrerin, die dem erbärmlichen Duncan ihren sexuellen Enthusiasmus aufdrängt. Sex kommt bei Hornby überhaupt bloß als Wort für etwas Unbeschriebenes vor, das man hinter sich bringt, um a) eine neue Beziehung zu etablieren oder b) sich zu beweisen, dass man noch zu den sich Paarenden zählt – gelegentliches Intermezzo in der Litanei der Miseren des Lebens zwischen Mitte 30 und Mitte 50.

Immerhin wirken diese Figuren wesentlich

Rundum scheitern die Beziehungen, postpu-

bertäre Obsessionen bleiben unüberwunden, Kinderwünsche unerfüllt, und die Trauer um verbummelte Jahre hängt wie eine Wolke Betäubungsgas über den Köpfen der Beteiligten. Natürlich kommen Duncan, Annie und Tucker auch nicht darum herum, in inneren Monologen Besten- bzw. Schlechtestenlisten zu verfassen, das Gelingen ihrer Vaterschaft in Prozenten zu messen, ihre Beziehungsdynamik in algebraischen Gleichungen darzustellen oder sich vor ihren Wortmeldungen erst einmal alle Wendungen vorzusagen, die sie nun gerade nicht anbringen wollen. Dabei sprechen sie allesamt die gleiche Sprache, nämlich die ­ihres

Nick Hornby: Juliet, Naked. Roman. Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann. Kiepenheuer & Witsch, 359 S., € 20,60

glaubhafter als die flachen Stereotypen in seinem – sieht man vom zwischenzeitlich erschienenen Jugendbuch „Slam“ ab – letzten Roman „A Long Way Down“. Und die überraschende Verwirklichung einer Fanfantasie durchbricht den Trott ironisierter Gewöhnlichkeit auf durchaus spannende Weise, selbst wenn der von früheren Ausschweifungen beschädigte Charakter des Exrockstars schließlich nur in der ernüchternden Normalität Läuterung findet. Was „Juliet, Naked“ aber abgesehen von seiner Lesbarkeit legitimiert, ist die sanfte Dekonstruktion des gerade in der Rockwelt immer noch tradierten Mythos von der Kunst als Ausdruck authentischen Seelenleids. „Juliet“ ist nämlich der Titel von ­Tucker Crowes großem Werk, einem Album über eine verlorene Liebe, in deren metaphorischer Entkleidung schließlich die pragmatischen Realitäten und moralischen Widersprüche künstlerischer Arbeit zum Vorschein kommen. Dass die ganze Handlung transatlantisch angelegt ist, dürfte der bei Hornby obligaten Verfilmung übrigens auch nicht schaden. Ein Castingvorschlag: Colin Firth ist Duncan, Kate Winslet ist Annie und Lyle Lovett ist Tucker Crowe. ROBERT ROTIFER

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Gott lässt ein Telefonkabel verlegen Die berühmteste Wortaufschüttung der Weltliteratur ist vollständig übersetzt: Walt Whitmans „Grasblätter“

„Den modernen Menschen sing ich“ Die erste Ausgabe von 1855 enthält zwölf Gedichte, die vierte wächst bis 1892 mit 400 Gedichten zur „neuen Bibel“ Amerikas an. Diese Ausgabe ist auch Grundlage für Jürgen Brocans erste vollständige deutsche Übersetzung: 860 Seiten Gedichte samt Erläuterungen, befreit von allem hohen und auf die Dauer lähmenden Pathos. Dahingestellt sei, ob der neue Titel, „Grasblätter“, besser ist als der bisherige – „Grashalme“. Der Legende nach stand der Philosoph Ralph Waldo Emerson mit seiner Forderung nach einem Sänger von Amerikas Größe am Ursprung des Unternehmens. Der Großteil der heutigen Interpreten neigt zur Auffassung, erst Whitmans homosexuelles Coming-out habe den mittelmäßigen Zeitungsschreiber in einen „ekstatischen Chansonier“ verwandelt. In der „Zueignung“ kündigt er an: „Das Selbst sing ich, die schlichte Einzelperson: / Den modernen Menschen sing ich. / Doch spreche das Wort demokratisch, das Wort en masse.“ Im Zentrum der ausufernden, von Quäkertum, Esoterik, Natur, Technik und Kapitalismus beseelten Lobgesänge steht die „athletische Demokratie“ der Vereinigten Staaten. Tatsächlich spektakulär ist die formale Entscheidung, das Ganze in freien Versen zu gestalten: „Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, die formalen Grenzen zwischen Prosa und Lyrik im Wesentlichen niederzureißen.“ Der Gegenpol zu den säkularen Heiligenbildern mit ihren endlosen Aufzählungen und Listen ist der Dichter selbst: „Walt Whitman, ein Kosmos, der Sohn Manhattans, / Ungestüm, fleischlich, sinnlich, essend, trinkend und zeugend.“ Und weiter: „Ich, siebenunddreißig Jahre alt jetzt, bei voller Gesundheit (…) Ich bin beim Gedärm ebenso feinfühlig wie bei Kopf und Herz, / Kopulation ist für mich nicht geiler

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schuss durchsuche ich, / Schwer rasselt der Atem, ruhig glänzt schon das Auge, doch das Leben kämpft schwer (… ) Vom Armstumpf, von der amputierten Hand / Löse ich die verklebte Scharpie, entferne den Schorf, wasche Eiter und Blut ab / Auf sein Kissen lehnt sich der Soldat zurück mit krummem Hals und seitwärts fallendem Kopf (…) Ich verbinde die durchbohrte Schulter, den Fuß mit der Schusswunde, / Reinige einen mit nagendem fauligem Brand.“

als der Tod, / Ich glaube an das Fleisch und die Begierden, / Sehen, Hören und Fühlen sind Wunder / Göttlich bin ich innen und außen.“

„Manneseier und Manneswurzel“ Im Vergleich zu Baudelaire und seinen ­dekadent subtilen „Blumen des Bösen“, die zur selben Zeit in Frankreich erscheinen, nimmt sich Whitman wie ein geschwätziger Rüpel aus, dessen ewige Beschwörung der „zeugenden Triebe der Welt“ und der „kraftvollen Lenden“ eigentümlich unsinnlich anmutet. Es folgt die berühmteste Wortaufschüttung der Weltliteratur: „Den elektrischen Leib sing ich.“ Ein Körper wird von oben –„Kopf, Hals, Haar, Ohren“ – nach unten durcherzählt und aufgezählt – „Zehen, Zehengelenk, Ferse“. In der Mitte: „Manneseier und Manneswurzel“. D.H. Lawrence nannte das Gedicht denn auch „a horrible pottage of human parts fatally lacking emotion“. Und „Mein impulsives Ich“ von 1856/57 ist in der Tat eine Anhäufung von Peinlichkeiten: „Aus schmerzend angestauten Flüssen / Aus meiner tönenden Stimme sing ich den Phallus.“ Große Lyrik schreibt Whitman, der das Land von Nord nach Süd und in sämtlichen Jahreszeiten, Geografie und Geschichte und bisweilen auch den ganzen Kosmos durchschreitet, wenn er konkrete Bilder hervorbringt – in „Überquerung der Brooklyn-Fähre“, „Gesang vom Breitbeil“ oder „Ein Gesang der Freuden“ (1860/61): „Ich ziehe schräg die Weidenkörbe hinauf, die dunkelgrünen / Hummer schlagen verzweifelt mit den Klauen, wenn / ich sie heraushole, ich stecke Holzpflöcke in die Gelenke ihrer Scheren, / Ich fahre die Plätze der Reihe nach ab und rudere dann zurück ans Ufer, / Dort sollen die Hummer in einem riesigen Kessel mit siedendem Wasser gesotten werden, bis sie eine scharlachrote Farbe bekommen.“

„O Käpt’n! Mein Käpt’n“ Zur Person Walt Withman wurde am 31.5.1819 als zweites von neun Kindern in West Hills, Long Island geboren. Er betätigte sich als Zeitungsherausgeber, arbeitete als Lehrer und Wohnungsmakler und war während des Sezessionskriegs freiwilliger Sanitätshelfer in einem Lazarett. 1873 erlitt er einen Schlaganfall, war danach arbeitsunfähig und lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen. Er starb am 26.3.1892 in Camden, New Jersey

„Schlagt! schlagt! Trommeln!“ Ab 1860 steht Whitman im Dienst des Innenministeriums, Abteilung für India­ nerfragen. Als die „Morallosigkeit“ seiner Gedichte bekannt wird, verliert er den Posten wieder. Die Arbeit als freiwilliger Krankenpfleger während des amerikanischen Bürgerkriegs (1861–65), an dessen Ende eine halbe Million Toter zu beklagen ist, wird zur wichtigsten Erfahrung seines Lebens. Es sei „die Radnabe, um die sich das ganze Buch dreht“. Martialisch hebt der Zyklus „Trommelschläge“(1865/66) an: „Schlagt! schlagt! Trommeln! – blast! Hörner! blast! / Durch Fenster – durch Türen – brecht mit unbarmherziger Gewalt (…)“. Wie in einem Drehbuch lässt der ­Fotografie-Bewunderer Whitman die ­Männer Manhattans zu den Waffen ­g reifen; Kavallerie durchquert eine Furt, biwakiert an einer Bergflanke; ein Brief an die Eltern über den gefallenen Sohn, schließlich die siegreiche Heimkehr. ­Zwischen düsteren Bildern vom Schlachtfeld und Visionen der Toten beschreibt der Dichter seine Tätigkeit als Sanitäter: „Den zerschmetterten Kopf verbinde ich, (arme irre Hand, reiß den Verband nicht weg!) / Den Hals des Kavalleristen mit dem Durch-

Anders als sein Zeitgenosse Herman Melville sieht Whitman im Bürgerkrieg nicht das Ende einer Epoche, sondern den Beginn einer neuen Ära: Die Union hat gesiegt, deren Held, Abraham Lincoln, wird kurz vor dem Sieg erschossen. Ihm widmet ­W hitman mit „O Käpt’n! Mein Käpt’n“ sein bekanntestes Gedicht. Die Elegie auf den Präsidenten ist auch sein schönstes: „Als jüngst der Flieder blühte im ­Garten vorm Haus / Und der große Stern früh am westlichen Himmel in die Nacht sank, / Trauerte ich und werde noch trauern bei jeder Wiederkehr des Frühlings (…).“ Die deutsche Rezeption der „Leaves of Grass“ setzt mit Ferdinand Freiligraths Übersetzung von 1868 sehr früh ein – Whitmans Auseinandersetzung mit Amerikas Materialismus und Korruption in der Nachbürgerkriegszeit erscheint 1871 unter dem Titel „Democratic Vistas“. In „Am Ufer des blauen Ontario“ schreibt er dem amerikanischen Dichter, also sich selbst, noch einmal Macht und Wirkung zu, die größer seien als jene von Präsident und Kongress. Im gleichermaßen mystischen wie realistischen Poem „Durchfahrt durch Indien“ erklärt er die Eröffnung von Suezkanal, von Union Pacific –Eisenbahn und die Verlegung des transatlantischen Telefonkabels zu „Gottes Absicht von Anbeginn“: Die Erde „soll umspannt werden, umflochten werden von einem Netzwerk“. Ansonsten wird der Ton von Whitmans Gedichten balladesker, ruhiger: Auftritt einer Sängerin in einem Gefängnis; Besuch bei einer Prostituierten; ein Gauner vor Gericht. Das Poem „Schläfer“ enthält eine freimütig geschilderte Masturbationsszene.

„Das Unsterbliche und Gute zu feiern“

Walt Whitman: Grasblätter. Nach der Ausgabe von 1891/92 erstmals vollständig übertragen und herausgegeben von Jürgen Brocan. Hanser, 860 S., € 41,10

Die Gedichte nach dem ersten Schlaganfall im Jänner 1873 (die Mutter stirbt im selben Jahr) sind still: ein Anblick des Meeres, Montauk, Potomac, ein Sonnenuntergang in der Prärie … Das Resümee der „Grasblätter“ lautet: „Das Unsterbliche und Gute zu feiern“. Seine späte Auseinandersetzung mit Voltaire, ein letztes Lob Amerikas und des Fortschritts fallen auf betörende Weise zeitgenössisch aus: „Etwa drei Tage nachdem sie auf ihrem eigenen Boden ins Leben sprossen, / Und jetzt entfalten sie hier ihre Süßigkeit in meinem Zimmer, / ein Bündel Orangenblüten mit der Post aus Florida.“ Am 26. März 1892 stirbt der Homer der Neuen Welt in seiner langjährigen Heimat Camden/New Jersey. Auf der Grabplatte steht nur: Walt Whitman.

Foto: archiv

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ie Liste der Bewunderer von Walt Whitman (1819–1892) ist lang: Franz Kafka und Thomas Mann gehören ebenso dazu wie Wladimir ­Majakowskij, Antonin Artaud oder Pablo Neruda. Expressionismus und Futurismus sind ohne Whitman ebenso undenkbar wie die Beat-Lyrik von Allen Ginsberg und Lawrence Ferlinghetti. „Whitman wäre begeistert gewesen von Rock and Roll, den Drogen, den beiläufigen, freundlichen sexuellen Beziehungen, für die das Geschlecht des Partners nicht wesentlich ist“, meinte der amerikanische Philosoph Richard Rorty, und der Kritiker Harold Bloom nannte „Leaves of Grass“ schlicht „the essential American book“. Mit elf verlässt Walt Whitman seinen Geburtsort West Hills/Long Island und die Schule – der zwölfjährige Setzerlehrling in Brooklyn liest als Autodidakt Homer, Dante und Shakespeare. Er arbeitet als Drucker und Lehrer, 1838 gründet er seine erste Zeitung, den Long Islander, 1842 folgt ein Roman, in den späten 1840er-Jahren weitere Zeitungsprojekte. Bis 1850 zieht er durchs Land – sein dichterisches Work in Progress „Leaves of Grass“ finanziert er aus seinen Einkünften als Wohnungsmakler.

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Traum vom Sozialismus ohne Schurken In seinem ambitionierten Romandebüt „Waltenberg“ erzählt sich Hédi Kaddour quer durchs 20. Jahrhundert

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édi Kaddours Romandebüt ist mit seinen über 700 Seiten nicht nur vom Umfang her beachtlich. Der bislang als Lyriker in Erscheinung getretene Autor hat mit „Waltenberg“ ein ambitioniertes Epos über das 20. Jahrhundert geschrieben, für das er in Frankreich 2005 mit dem Prix Goncourt für den Erstlingsroman ausgezeichnet wurde. Die weit ausgreifende Geschichte beginnt im Jahre 1914 mit dem Ersten Weltkrieg und endet 1991 mit dem Niedergang der Sowjetunion. Über den genannten Zeitraum folgt der Leser den Lebenswegen der Protagonisten: Hans Kappler, dem berühmten Schriftsteller; Max Goffard, einem Journalisten; dem kommunistischen Meisterspion Michael Lilstein und der Femme fatale Lena Hotspur, einer amerikanischen Sängerin, die aufgrund ihrer besten Kontakte zur High Society der verschiedensten politischen Lager ebenfalls als Spitzel tätig ist. Über Strecken erzählt Kaddour von diesen Einzelschicksalen, verliert sie wieder in der verzweigten Handlung, um sie dann in unterschiedlichen Konstellationen erneut zusammentreffen zu lassen.

Der Erste Weltkrieg dient nicht nur als Schau-

platz blutiger Kämpfe, sondern ist auch der Beginn der Freundschaft zwischen dem Deutschen Kappler und dem Franzosen Goffard. Das Interesse Kaddours an der deutschen Kultur – er hat auch Literatur aus dem Deutschen übersetzt – ist offenkundig: Mit der Figur des Hans Kappler greift er die Geschichte von Thomas Manns Hans Castorp auf: Kapplers Geschichte beginnt just dort, wo Mann seinen Protagonisten aus den Augen verliert. Unübersehbare Gemeinsamkeiten – die beiden teilen etwa den Beruf des Schiffbauingenieurs –, aber auch der intertextuelle Widerhall berühmter Motive, wie das des „Donnerschlags“ aus dem letzten Kapitel des „Zauberbergs“, spielen auf den Sanatoriumsroman an. Auch Kappler ist ein Suchender, der die Welt betrachtet, als ob er „ihr jeden Augenblick einen Lebenssinn entreißen“ wolle, aber letztendlich von den politischen Systemen des Ostens wie des Westens zermalmt wird. Max, der die Kriegswirren des 20. Jahrhunderts als Berichterstatter hautnah erlebt und über dessen Spitzeltätigkeit für verschiedene Geheimdienste immer wieder Mutmaßungen angestellt werden, verbindet zwar eine tiefe Freundschaft mit Hans, er steht aber als verhinderter Schriftsteller auch in dessen Schatten: „Die beiden Männer verstehen einander, Hans ist ein Zweifler, immer von Ängsten geplagt, während Max sich in zunehmendem Maße als Versager fühlt, vor allem, wenn er mit Hans zusammen ist, sie sind Freunde.“ Dieser Umstand wird mit fortschreiten-

dem Alter ein immer größeres Problem für Max – etwa anlässlich einer hochkarätigen Zusammenkunft 1965 in Singapur, bei der auch der berühmte französische Autor André Malraux zugegen ist. Der hat nämlich Max’ Artikel über die gescheiterte kommunistische Revolution in Schanghai von 1927 für seinen Roman „La Condition humaine“ verwendet und Max auch eine Rolle in seinem Buch verpasst; ein Umstand, der so manche böse Zunge verleitet zu behaupten, dass Max ohne Malraux eben nur ein Journalist wäre, von dessen Arbeit nichts überdauern werde. Neben der offensichtlichen Freude am Spiel mit den großen Werken der Weltliteratur beschreibt Kaddour eingehend die zentrale Figur des Romans: Michael Lilstein, Spion, der sowohl die nationalsozialistischen als auch Stalins Konzentrationslager überlebt hat, zeigt sich trotz seiner sibirischen Erfahrung so sehr von der kommunistischen Ideologie vereinnahmt, dass er nicht einmal dann an Stalins Verbrechen glauben will, als er von Chruschtschows Geheimrede erfährt. Lilstein beginnt im Laufe der sich verändernden Zeit von einem Sozialismus ohne Schurken zu träumen, denn noch weiß er nicht, „welches der beiden Lager den Sieg erringen wird, unsere Träume oder das Kapital“. Widersprüche scheinen das Wesen des Spions zu prägen, der seinen geradezu zur künstlerischen Tätigkeit hochstilisiert. Mit anderen Worten: Lilstein ist genau das geworden, was – wie er weiß – den Untergang jedes Agenten bedeutet: ein hoffnungsloser Träumer. In Waltenberg mit seinem berühmten „Europäischen Seminar“, einem Zentrum für die geistige Elite und ergo eine Art Maria Gugging der Schweiz, treffen die Hauptfiguren 1929 zusammen. Dies gibt Kaddour Gelegenheit, über sein geschichtliches Fresko hinaus eine intellektuelle Bestandsaufnahme dieser Zeit vorzunehmen: „Eine Woche voller Ideen, Ideenschlachten, Monokel, Prunk und Galanterie, die Männer machen die Gesetze, die Frauen bestimmen die Umgangsformen, es gibt Paneuropäer, Nationalisten und Internationalisten, Konservative, Verfechter des großen Zeppelin, Sozialisten, Liberale, Wirtschaftsliberale mit politisch konservativer Gesinnung oder umgekehrt, Fürsprecher der Panzerschiffe mit vier Türmen, die gekommen sind, um die nächste Flottenkonferenz vorzubereiten, Antikolonialisten und Ökonomisten, Philosophen der Regelhaftigkeit und des Gleichgewichts, Juristen, Imperialisten mit Stolz auf ihr Sein (…).“ Das Spektrum der hier vonstatten gehenden Diskussionen reicht von politischen über physikalische bis hin zu ökonomischen und philosophischen Themen und Thesen. Was die männlichen Haupt-

„Es gibt Paneuropäer, Nationalisten und Internationalisten, Konservative und Verfechter des großen Zeppelin, Sozialisten, Liberale, Wirtschaftsliberale mit politisch konservativer Gesinnung oder umgekehrt, Fürsprecher der Panzerschiffe mit vier Türmen, die gekommen sind, um die nächste Flottenkonferenz vorzubereiten, Antikolonialisten und Ökonomisten …“ Hédi Kaddour

Hédi Kaddour: Waltenberg. Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. Eichborn, 741 S., € 30,80

figuren Hans, Max und Lilstein jedoch über ihre Teilnahme am Waltenberg-Seminar hinaus miteinander verbindet, ist ihre Liebe zur gleichen Frau: der Diva Lena. So stellt Max eines Tages fest: „(…) Hans war ein ganzes Jahr lang Lenas Geliebter, Lilstein ist es nie geworden, keiner der beiden hat sich je davon erholt.“ Das Prinzip der Geschichtsdokumentation wird das ganze Buch hindurch durchgehalten, das mit historischen Personen des 20. Jahrhunderts gespickt ist: AlainFournier, Mc Carthy, Beria, Stalin oder De Gaulle. Aber auch hinter der einen oder anderen literarischen Figur lassen sich historische Persönlichkeiten vermuten. So verbirgt sich beispielsweise hinter dem Ökonomen Maynes natürlich niemand anderer als John Maynard Keynes. Der gebürtige Tunesier Kaddour, der seit seiner Kindheit in Frankreich lebt, erinnert mit „Waltenberg“ an die Tradition der großen epischen Romane zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nicht nur an Manns „Zauberberg“, sondern auch an Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“. Insofern ist der Roman weniger ein Spionagethriller (wie die Vermarktung durch den Verlag glauben machen will), sondern vielmehr ein europäischer Roman, der den Geist einer verflossenen Zeit sucht. Wobei auffällt, dass in Kaddours weltpolitischen Beschreibungen der Zweite Weltkrieg in den Hintergrund tritt und sich der Autor intensiv mit den gescheiterten Utopien des Kommunismus beschäftigt. Die Erzählung verläuft dabei alles andere als linear: Kaddour verwendet Flashbacks und Vorgriffe, um die Informationen über seine zahlreichen Protagonisten unterzubringen. In den 14 Kapiteln, die jeweils mit einer Inhaltsvorschau eingeleitet werden, entsteht durch schnell wechselnde Perspektiven und Parallelhandlungen ein vielschichtiges Stimmengewirr, das in langen, rhythmischen, doch stets phrasenhaft bleibenden Satzgefügen Ausdruck findet. Berichte, Dokumente und Anekdoten werden in den Text montiert, der auf diese Weise sowohl an Kapplers Romantheorie, die deutlich machen will, „was in der Welt abläuft“ („den Rhythmus finden, um den Strom des Denkens anzuzeigen, eine neue Art Monolog“), „ein Wahnsinnsprojekt“, als auch an Max’ klaren journalistischen Stil ohne literarische Abschweifungen erinnert. Solche gehen „Waltenberg“ freilich auch ab. Was Kaddours Figuren fehlt, ist der Tiefgang, die Psychologie des Privaten, die neben den kühlen Beschreibungen von Politik und beruflichen Werdegängen keinen Platz mehr findet – was die Lektüre der langatmigen weltanschaulichen Passagen mitunter nicht eben leichter macht. JULIA ZAR BACH

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Verfehltes Leben, vergebliche Liebe Mit „Ich verfluche den Fluss der Zeit“ setzt der Norweger Per Petterson seine Arbeiter- und Familiensaga fort

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n den Büchern Per Pettersons scheint alles vorhanden zu sein, was man über Norwegen zu wissen glaubt: naturtrübe Melancholie wie bei Edvard Munch und waldschrathafte Eigenbrötelei wie bei Knut Hamsun, schroffe Seelendüsternis wie bei Henrik Ibsen und wortkarge Verschlossenheit wie bei Jan Fosse. Zwischen Mittsommerlicht und Winterdunkel herrscht in Pettersons Romanen ein leuchtendes Grau in vielerlei Schattierungen und Stimmungen, in seinen nordischen Landschaften ebenso wie im Gemüt seiner nordischen Menschen. Man trifft da auf kaltgraue Meeresküsten, düstere Hafenstädte und schwarze Kiefernwälder, und begegnet schwermütigen, schweigsamen Menschen, die Träumen nachhängen, deren Erfüllung das Leben ihnen verweigert. Hinter ihren einsilbigen Wortwechseln tun sich riesige Hallräume des Ungesagten auf. Doch Pettersons Romane haben noch mehr zu bieten. Sie packen die ganze Welt in den Familienkreis, oder vielmehr: Sie weiten die Familie – die der eigenen Familie des Autors zum Verwechseln ähnelt – zum Kosmos. Indem Petterson von glückenden und misslingenden Vater-Sohn- und Mutter-Sohn-Beziehungen und von der fehlgehenden Ehe der eigenen Eltern und seiner eigenen Scheidung erzählt, fixiert er ein Inbild des verhaltenen, schmerzhaft introvertierten Lebensgefühls unter bleigrauen norwegischen Himmeln.

Eine private Familientragödie hat in Petter-

son, dem ehemaligen Fabrikarbeiter und späteren Bibliothekar und Buchhändler, den Familienerzähler freigesetzt und aus ihm einen der eigenwilligsten und suggestivsten norwegischen Prosaautoren der Gegenwart gemacht. 1990 verlor er Vater, Mutter und Bruder bei einem verheerenden Fährunglück im Skagerrak. Erst seit die Eltern tot sind, fühlt Petterson sich frei und ermächtigt, sie zu seinen Romanhelden zu machen und ihnen ein Romanleben anzudichten, das sie größer und tragischer erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit waren. In seinen Büchern führen die Eltern ein leidenschaftliches Leben voll ungestillter Sehnsüchte, verheimlichter Gefühle und verschwiegener Verzweiflung. In bisher vier Romanen seit der Schiffsbrandkatastrophe hat Petterson seiner Familie und sich selbst eine Geschichte zugeschrieben, hat vor allem das Vorleben seiner Eltern vor deren Hochzeit neu erfunden. Die Romane „Sehnsucht nach Sibirien“ (1996) und „Im Kielwasser“ (2000) sind imaginäre, alternative Elterngeschichten, fiktive Rekonstruktionen des Lebens der Mutter und des Vaters, wie es hätte gewesen sein können, ehe der Sohn geboren wurde, und wie er es sich nun aus Erinnerungssplittern, flüchtigen Beobachtungen und zufällig aufgeschnappten Nebensätzen im Familienkreis literarisch zusammenreimt. Was Petterson sich am intensivsten ausmalt, sind die frühen Liebesverstrickungen, aus denen heraus Vater und Mutter später zufällig aneinandergerieten und dann aneinander hängen geblieben sind – nicht unbedingt zu ihrem Glück. Im Zusammenhang gelesen bilden diese Romane so etwas wie eine panskandina-

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vische Arbeiterfamiliensaga des 20. Jahrhunderts, denn Pettersons Vater, Arbeiter in e­ iner Schuhfabrik in Oslo, war ein Zuwandererkind, der Sohn von Arbeitsmigranten aus Schweden; und seine Mutter stammte aus Dänemark, war eine Schreinerstochter aus Jütland, die Fischer und Bauern zu ihren Vorfahren zählte und zeitlebens ­u nter dem Gefühl litt, als Fabrikarbeiterin in Oslo im falschen Leben gelandet zu sein. Vater und Mutter passten einfach nicht zusammen, nach Ansicht des Sohnes hätten sie nie heiraten dürfen. Und so kennt der Leser dieses unverträgliche Paar, gefangen in einer verfehlten Ehe: der Vater, ein altmodischer und wortarmer Proletarier, Waldläufer, Chorsänger und Sportsmann, unbelesen, schüchtern, spröde und starr, nur auflebend in der freien Natur oder im Kreise seiner Kumpel und seiner Großfamilie; die Mutter, eine eigenbrötlerische und bildungshungrige Frau voller Weltneugier, eine autodidaktische Intellektuelle, die nicht aufs Gymnasium durfte und stattdessen ganze Leihbibliotheken ausliest, Grass und Maugham sogar im Original, und die in Oslo nie heimisch wurde, sondern immer eine Außenseiterin blieb, trotz Ehemann und vier Söhnen, gekettet ans Haus- und Putzfrauendasein und ans Fließband einer Schokoladenfabrik, während sie sich fortsehnt, nach London, nach Sibirien, in ein anderes Leben. In „Sehnsucht nach Sibirien“ entwarf Per Petterson das Bildnis seiner Mutter als junge Frau, für die es nur einen Mann in ihrem Leben gab, den bewunderten und glühend geliebten Bruder Jesper. Der neue Roman „Ich verfluche den Fluss der Zeit“ zeichnet nun das Bildnis der Mutter als alte Frau. Es ist das Jahr 1989, die Konflikte mit dem Ehemann sind längst erloschen. Die Mutter erfährt, dass sie Magenkrebs hat, mit ungewisser Prognose. Sie beschließt spontan, die Fähre nach Dänemark zu nehmen und ein paar Tage allein im Ferienhaus der Familie in Jütland zu verbringen. Arvid, ihr zweitältester Sohn, fährt ihr nach, uneingeladen. Wir kennen Arvid Jansen, den Ich-Erzähler und das literarische Alter Ego Per Pettersons, bereits aus den früheren Romanen. Mit seinem Double Arvid teilt der Autor alle biografischen Eckdaten: das Geburtsjahr 1952, die Wohnorte, den Bildungsgang, die Arbeitsplätze, die gescheiterte Ehe und die Töchter, die maoistischen Überzeugungen seiner Jugend sowie den Berufswechsel mit Mitte 30 vom Buchhändler zum Schriftsteller. Arvid ist ein Misfit und Einzelgänger, ein ungeschickter Mensch, ein Gefühlstollpatsch, ein Bücherwurm wie seine Mutter und trotzdem ihrem Herzen nicht nahe. Gebeutelt von seiner eigenen Lebenskrise – seine Frau will die Scheidung – sucht Arvid nun linkisch die Nähe zur Mutter, um … um was? Um ihr seine Liebe nachzutragen? Um ihre Liebe doch noch zu gewinnen? Um Frieden mit ihr zu machen? Um sich mit den Versäumnissen der Vergangenheit auszusöhnen? Um Trost und Absolution bei ihr zu finden für alle falschen Abbiegungen in ihrem und seinem Lebensweg?

„1990 verlor Per Petterson Vater, Mutter und Bruder bei einem Fährunglück im Skagerrak. Erst seit die Eltern tot sind, fühlt Petterson sich frei und ermächtigt, sie zu seinen Romanhelden zu machen und ihnen ein Romanleben anzudichten, das sie größer und tragischer erscheinen lässt, als sie in Wirklichkeit waren“ Sigrid Löffler

Per Petterson: Ich verfluche den Fluss der Zeit. Roman. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Hanser, 239 S., € 18,40

Arvid ist der Mutter in Jütland nicht willkommen. Barsch, fast feindselig empfängt sie ihn. „,Ich bin’s‘, sagte ich. ,Ich weiß, wer es ist‘, sagte sie. ,Ich konnte deine Gedanken schon auf der Straße klappern hören. Bist du blank?‘“ Der Sohn kommt ungelegen. Die Mutter wollte allein, allenfalls begleitet von ihrem Nachbarn und alten Jugendfreund Hansen, Abschied nehmen von den bedeutsamen Erinnerungsorten ihrer dänischen Jugend – der Zeit, die ihr allein gehörte, ehe der Rest ihres Lebens begann. Die Mutter will allein trauern um ihr verpasstes Leben, das eine falsche Wendung nahm, als sie schwanger wurde, und in die falsche Richtung lief, als sie dachte, deshalb nach Norwegen heiraten zu müssen. Weinend erkennt sie nun: „Es kam alles anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich dachte, ich hätte keine Wahl. Aber ich hatte sie.“ Auch Arvid kennt dieses trostlose Gefühl, in die falsche Richtung zu treiben, weil man die neue Tendenz, „die unter der Oberfläche angeflossen kam“, nicht rechtzeitig erkannte. „Ich habe die großen Veränderungen niemals kommen sehen, und wenn du nicht aufpasst, wenn sich alles umkehrt, bleibst du allein zurück.“ „Ich verfluche den Fluss der Zeit“, heißt die entsprechende Gedichtzeile bei Mao, die dem Roman den Titel gibt. Nun, da es zu spät und die Mutter bereits vom Tode gezeichnet ist, sucht sich Arvid in den anderthalb Tagen im Ferienhaus an die Krisenpunkte zu erinnern, an denen diese Mutter-Sohn-Beziehung falsch lief. In raffinierten Rückblenden werden die Missverständnisse rekapituliert, die zwischen ihnen die Kluft immer tiefer aufrissen. Die Ohrfeige, die sich Arvid von seiner bitter enttäuschten Mutter einfing, als er die Schule schmiss, um aus lauter MaoHörigkeit Fabrikarbeiter zu werden. Die Geburtstagsrede zu Mutters 50., die der betrunkene Arvid verpatzte. Mutter und Sohn verfehlen und enttäuschen einander auch jetzt wieder. Für die nachgetragene Sohnesliebe bleibt die Mutter unerreichbar. In seinem unbeholfenen Liebeswerben wird der Sohn von der Mutter abermals schroff zurückgewiesen: In ihren Augen bleibt er das Kind ihres Mannes; aus ihm kann kein Muttersohn werden – zu sehr ähnelt er dem Vater, zu gut passen ihm Vaters Klamotten, „wie angegossen“. Die Kluft zwischen den Eltern geht als schmerzhafter Riss durch den Sohn hindurch und reißt ihn entzwei: „Ganz gegen meinen Willen war ich auf dieser Seite der großen Trennlinie, des Abgrunds, abgesetzt worden, wo sich der Vater befand, an einer Stelle, an der meine Mutter nicht war, weil sie anders war, weil sie hierher entführt worden war und damit auf merkwürdige Weise frei.“ Gewiss, „Ich verfluche den Fluss der Zeit“ ist ein Buch der Trauer, der Enttäuschung, des versäumten Lebens. Es erzählt von verfehlter Liebe, abgründig und verschwiegen, voller Kindheitsechos und Geheimnisse. Aber es ist kein hoffnungsloses Buch. Am Ende sitzt Arvid in den Dünen und wartet unverdrossen darauf, „dass meine Mutter aufstand und herüberkam“. SIGR ID LÖFFLER

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Liter atur

Über allen Gipfeln herrscht Vorkrieg Max Frischs Jugendsünde von 1937 zeigt den Autor als Womanizer und nicht ganz so einsamen Sinnsucher

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ax Frischs „Antwort aus der Stille“, eine „Erzählung aus den Bergen“, die 1937 in der Deutschen Verlagsanstalt Stuttgart/Berlin, dann aber, auf Wunsch des Autors, nie wieder erschien, war – zumindest für den Autor selbst –, was man eine Jugendsünde nennt. Frisch jedenfalls hat sich später von seinem zweiten Buch distanziert und darauf bestanden, dass es in spätere Werkausgaben nicht aufgenommen wurde. In der Jubiläumsausgabe von 1986, die die „Gesammelten Werke in zeitlicher Folge“ enthält, taucht das Büchlein nicht einmal in der biografischen Zeittafel auf. Folgt man ihr, dann hat Frisch bald nach seinem Debütroman „Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt“ von 1934 ein Architekturstudium an der ETH Zürich aufgenommen und dem Schreiben bis zu den „Blättern aus dem Brotsack“, dem Tagebuch seines Militärdienstes von 1940, komplett entsagt. Und wahrscheinlich hätte man dank der Verbannung des illegitimen Frisch-Werks die „Antwort aus der Stille“ auch ein für alle Mal vergessen, träte nun nicht der Suhrkamp Verlag mit einer Neuausgabe ans Licht, die uns nicht nur den Text an die Hand gibt, sondern den Schlüssel zur – so der Klappentext – „Erklärung der Entscheidung für den Beruf des Schriftstellers“.

Die Entscheidung fällt am Berg Interessant an dieser These ist dann allerdings, dass Frischs Erzählung ziemlich ­genau das Gegenteil liefert, nämlich die ­Erklärung der Entscheidung gegen den Beruf des Schriftstellers. Bald nach dem Erscheinen dieses Buchs gab Frisch das Schreiben auf, widmete sich der Architektur, gründete eine Familie, um dann, Anfang der 40er-Jahre und so richtig nach dem Ende des Krieges als Autor zurückzukehren, diesmal als der „richtige“ Frisch, als „Frisch 2“ sozusagen, der Schweizer Weltmann, der sich auch dank seines Architektenberufs einen bauhausartig kühlen, knappen „internationalen Stil“ zugelegt hatte, mit dem er schnell sehr berühmt wurde. Von alledem ist in der „Antwort aus der Stille“ noch gar nichts zu sehen. Aber es gibt, wie Peter von Matt in seinem Nachwort bemerkt, ein Motiv oder „Movens“,

Wer, wenn nicht Max Frisch, hat in späteren Jahren demonstriert, wie sich ein mondäner Lebensstil mit literarischem Prestige vereinen lässt? Damals, 1937, ist er noch nicht so weit, da steht sein anderes Ich am Fuß des „Nordgrats“ und sucht mit Macht den Tod.

das immer da ist, wenn Frisch spricht. Es ist der Zweifel an oder die Suche nach dem Sinn der eigenen „Biografie“ („Biografie: Ein Spiel“ war dann 1967 eines von Frischs Erfolgsstücken). In der „Erzählung aus den Bergen“ ist dieses Motiv zeittypisch in eine Alpinistengeschichte hineingelegt. Ein junger Mann sucht am Berg, allein auf schwierigsten Wegen, den Ausweg aus einer Lebenskrise. Am liebsten würde er wahrscheinlich zugrunde gehen, dann hätte er sich nicht zu entscheiden zwischen einer bürgerlichen Lebensform (er ist verlobt und soll in Kürze heiraten) und jener anderen, unsteten und erotisch unzuverlässigen Daseinsweise, die ihm am Berg und überhaupt vorschwebt.

Die Welt ist ganz weit weg

„Man kann Frischs Gründe, das Buch zu verleugnen, nachvollziehen, wenn man Passagen liest wie die folgende: ,Sie ist ja eine Frau, Die Frau lebt in Zuständen sie lebt nicht in Schon 1937 ist Max Frisch in seinen litera- Gedanken, sondern in rischen Verkörperungen ein großer Woma- Zuständen …‘“ nizer. Obwohl unten seine Verlobte wartet, nimmt er eine junge Dänin (schon damals Christoph Bartmann das Inbild sexueller Freizügigkeit) mit auf den Berg, und oben kommt es dann auch zum Äußersten, nicht weil der junge Mann so ein Draufgänger, sondern weil die Dänin so freizügig ist. Überhaupt das Weib. Man kann Frischs Gründe, das Buch zu verleugnen, nachvollziehen, wenn man Passagen liest wie die folgende: „Sie ist ja eine Frau, sie lebt nicht in Gedanken, sondern in Zuständen, und was kümmert es sie in diesem Zustand munteren Spielens, dass sich der Sonderling“ ... und so fort. In diesem Buch ist nicht nur geschlechtermäßig noch alles Vorkrieg. Die Probleme, um die es geht, teilt Frisch mit dem Fin de Siècle, die Sprache kommt wohl irgendwie von Gottfried Keller her, das heißt, sie ist, manchmal und immer wieder, sehr schön. Nicht so sehr wegen der schweizerisch diminutivierten Dinge, der „Werklein“ und der „Schifflein“ auf den „Bächlein“, sondern wegen der manchmal taufrischen Bilder, mit denen Frisch eine Landschaft oder Situation erfasst. „Aus dem Tale kochen die Nebel, als würden Kartoffeln gesotten“, heißt es einmal, und solche Wendungen verraten dann den großen Schriftsteller, der sich bald der selbstgestellten und obendrein falschen Alternative zwischen Poesie und Bürgerlichkeit entziehen wird.

Paul Schulmeister liest aus

„Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick“ Der Zeitzeuge präsentiert eine faszinierende Bilanz

Montag, 19. Oktober 2009, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

Die frühe Frisch fragt wie der alte

Frischs Kehre Mitte der 30er-Jahre ging einher mit dem Vorsatz, „bürgerlich“ zu werden, also nicht mehr zu schreiben, ­einen praktischen und nützlichen Beruf zu erlernen und Familie zu haben – die Ehe mit Trudy von Meyenburg verschaffte ihm überdies den Eintritt in Zürichs beste ­K reise. Man kann die „Antwort aus der Stille“ als Absage an den poetischen Radikalismus und „Nihilismus“ der frühen Jahre begreifen; interessant ist daran vor allem, dass Frisch wenig später auch dieser Absage eine Absage erteilt und als Schriftsteller wiederkehrt. Nun aber nicht mehr in der Figur des juvenil verzweifelten Sinnsuchers, sondern in der souveräneren Haltung des gelernten Architekten, den auch beim Schreiben die „Liebe zur Geometrie“ leitet. Die Fragen, die Frischs Schreiben antreiben, die berühmt gewordenen Fragen nach der Identität unserer Identität von „Stiller“ zu „Gantenbein“ und bis zu dem herrlichen Alterswerk „Der Mensch erscheint im Holozän“, sind in der kleinen, liest aus unglücklichen „Antwort aus der Stille“ allesamt schon präfiguriert. Ist das Grund geMax Frisch: Antwort nug, um einen Text, den sein Autor verworaus der Stille. Eine fen hatte, noch einmal auszugraben? Fand Eine romantische Vampirgeschichte Erzählung aus den Frisch selbst ihn schlecht geschrieben oder aus dem Wien des 19. Jahrhunderts Bergen. Mit einem „zu persönlich“ oder beides? Wie auch imNachwort von man bekommt Lust, wieder einmal Mittwoch, 4. November 2009,mer, 19 Uhr Peter von Matt. Frisch zu lesen, wenn auch nicht unbe3., Landstraßer 2a-2b, Suhrkamp, Hauptstraße dingt den01/718 frühen. 93 53, Eintritt frei

Ulrike Schweikert „Herz der Nacht“ 172 S., € 19,40

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Peter von Matt weist darauf hin, dass um 1937 die Schlacht um den Eiger voll entbrannt war. 1938 gelang dann die Erstbegehung der Nordwand mit der entsprechenden propagandistischen Auswertung der Großtat im Deutschen Reich. In denselben Bergen, irgendwo zwischen Matterhorn und Eiger, und zur selben Zeit spielt Frischs Erzählung, aber in ihr findet sich von Ideologie, Mobilmachung und Heroentum keine Spur. Von Matt will darin eine Kritik Frischs am Heldenkult dieser Zeit sehen. Richtiger ist wohl, dass Frisch diesen Heldenkult teilt, ihn aber ausschließlich auf seine eigenen Existenznöte bezieht. Die Welt ist weit weg, hier gibt es nur den Wanderer, der weiter und höher hinauf will, aber nicht, weil er als Alpinist und gar für sein Vaterland der Erste sein will, sondern weil er schlicht eine Entscheidung sucht. Kommt er um, ist alles entschieden. Überlebt er, wird er die Richtung ändern. Er wird dann das von ihm verfluchte bürgerliche „Dasein“ nicht länger als „kein Leben“ schmähen, sondern der Einsicht folgen, dass es gar kein „gewöhnliches Leben“ gibt und das „wohl alles genug ist, was wir wirklich erfüllen“. Ist das die Entscheidung? Und ist es nun die Entscheidung für oder gegen den Beruf des Schriftstellers?

CHR ISTOPH BARTMANN

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„Eine auf Wucher gegründete Ökonomie, heißt es in Ezra Pounds Usura-Canto, zerstöre das Beste in den Menschen, ihre Schaffensund Lebenskraft, ihre Liebesfähigkeit und auch die Beschaffenheit ihrer Behausungen “ S t e p ha n S e tt e l e i n S EINE M E S S A Y Ü B E R E Z R A PO U N D SEITE 30

Die Glückskatze winkt in jedem Asia-Shop

Theatergebäude zu Schwimmbädern und Parkplätzen Der Theaterregisseur Luc Bondy hat seinen ersten, ziemlich autobiografischen Roman geschrieben or dem Fenster, aus dem der Held dieV ses Romans schaut, gibt es nicht viel zu sehen. Sein Blick fällt auf der einen Seite auf eine ruhige Straße in Zürich (in der wenig los ist), auf der anderen Seite auf einen Kinderspielplatz (auf dem selten jemand spielt). Mit „Am Fenster“ legt der Festwochen-Intendant Luc Bondy nach zwei Bänden mit Erzählungen seinen ersten Roman vor – wobei die Gattungsbezeichnung Roman etwas übertrieben ist. Wer sich von einem Roman eine komplexe Struktur oder auch nur etwas Handlung erwartet, wird enttäuscht: Es passiert herzlich wenig in dem schmalen Buch. Herr Donatey, der Ich-Erzähler, sitzt vor dem Fenster seiner Züricher Altbauwohnung. Er trinkt Kaffee, macht sich Sorgen, dass ihn seine Freundin betrügen könnte, und erinnert sich an Episoden aus seinem Leben. „Wo das Leben aufhört und man nur noch vegetiert, da beginnt vielleicht das Leben“, schreibt er. „Nur die Erinnerungen (auch die falschen) sind das Leben, der Rest ist ein Tun, ein Treiben, ein Sichvergessen und Dämmern.“

Fotos: julia Fuchs

Man tritt Luc Bondy nicht zu nahe, wenn man

Donatey (auch) als Selbstporträt des Autors betrachtet. Beide sind Juden, Schweizer und über 60; beide haben eine um einiges jüngere Freundin und ein Rückenleiden. Und beide haben ihr Leben dem Theater gewidmet. Im Unterschied zu Bondy hat Do-

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natey sein Theaterleben allerdings nicht als berühmter Regisseur, sondern als ergebener Assistent eines berühmten Regisseurs verbracht. Nach dessen Tod hat er sich ins Privatleben, ans Fenster zurückgezogen. Gaspard Nock heißt der Regisseur, berühmt wurde er unter anderem durch eine blutige „Macbeth“-Inszenierung mit nackten Hexen und einer schwangeren Lady Macduff. Dass Donatey die Aufführung nicht mochte, ist ein selbstironischer Insiderwitz: Die Beschreibung passt ziemlich genau auf eine frühe Bondy-Inszenierung (Köln 1982). In der Figur des Gaspard Nock bannt Bondy die Angst des Theaterkünstlers auf Papier, er könnte eines Tages nicht mehr gefragt sein. Gegen Ende seiner Karriere ist Nock in der entwürdigenden Situation, sich um Inszenierungen bewerben zu müssen; und in Kritiken muss er lesen, seine Arbeit sei „altmodisch“ und „passé“. Wenn Bondy mit Nock auch den Beruf des Regisseurs sterben lässt, ist Ironie von Kulturpessimismus kaum noch zu unterscheiden. „Der Beruf war seltener geworden, etwa wie eine Handwerksarbeit aus dem Mittelalter, von der man heute nichts mehr weiß“, notiert Donatey. Und: „Einige große Theatergebäude wurden zu Schwimmbädern oder Parkplätzen umgebaut.“ Bondy hat den Roman seiner Mutter gewidmet. Denkbar also, dass er ihr in Donateys Mutter Mathild ein Denkmal setzen wollte. Als deutsche Jüdin musste diese

mit ihren Eltern aus Offenbach nach Marseille fliehen; sie hat sich zeitlebens geweigert, mit ihrem Sohn über diese Zeit zu reden. Nach ihrem Tod aber fand er zwischen ihren Sachen Briefe, die sie ihm geschrieben hatte. „Du bist unzufrieden, dass ich dir über mich so wenig erzählt habe“, heißt es da etwa. „Ich bin doch nicht die Heldin eines Dokumentarfilms, die vor der Kamera weint und erzählt, wie man ihre Tante in Bergen-Belsen rasiert hat. Erwarte das nicht.“

Luc Bondy: Am Fenster. Roman. Zsolnay, 160 S., € 18,40 Buchpräsentation: 9.11., 20 Uhr, Akademietheater

Mathild ist die heimliche Heldin des Buchs, dennoch bleibt sie ziemlich unnahbar. Die eigentliche Hauptfigur heißt Luc Bondy. „Wo war ich?“ hieß sein vor elf Jahren erschienener Debütband. „Wer bin ich?“ heißt es im neuen Buch. „Bin ich überhaupt? Und wie kann ich es mir beweisen?“ Schreibend versucht der Autor sich seiner selbst bewusst zu werden. Er tut das durchaus mit Grandezza. Donatey vergleicht sein Schreiben mit dem Klaviergeklimper von Kindern, die darauf hoffen, „es entstehe plötzlich eine Melodie, eine kleine Komposition“. Der Autor Luc Bondy hat eine eigenwillige, leise, eingängige Melodie gefunden. Den Schriftstellerblick hat er sowieso. Jetzt müsste er nur noch ein Thema finden, bei dem er sich besser auskennt als bei sich selbst. W o lf g a n g K ral i c e k

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Versöhnung, Vergeltung & Verschwörung Spannend und einseitig: Leon de Winter malt die Zukunft Palästinas in düsteren Farben

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el Aviv im Jahre 2024. Die einst blühende Stadt ist verödet: Die Bars sind heruntergekommen, die Strände menschenleer. Wer konnte, hatte das Land nach der zweiten Intifada 2000 verlassen und lebt nun in Australien oder Russland, in Europa oder Amerika. Zurückgeblieben ist eine überalterte Gesellschaft, die mittels umfassender Militär- und Sicherheitskontrollen – und der neuesten Errungenschaften der geriatrischen Medizin – am Leben erhalten wird. Der gläserne Mensch ist Wirklichkeit geworden, selbst DNA-Scans an Grenzübergängen sind alltäglich geworden.

Es ist ein nicht eben optimistisches Bild der Zu-

kunft, das der niederländisch-jüdische Erfolgsautor Leon de Winter in seinem neuen Roman „Das Recht auf Rückkehr“ von einem Israel zeichnet, das auf die Größe eines Stadtstaats geschrumpft ist. Hauptfigur des Buchs ist der 53-jährige Bram, eigentlich Abraham Mannheim, ehemaliger Professor für Geschichte an den Universitäten Tel Aviv und Princeton, der gemeinsam mit einem kungen Kompagnon „Die Bank“ unterhält, ein Nachforschungsinstitut, das mit privaten Geldern und mäßigem Erfolg verschwundene Kinder ausfindig macht. Erworben hat Bram seine detektivischen Fähigkeiten, nachdem 2008 sein damals vierjähriger Sohn Bennie aus seinem Privathaus in der Nähe von Prince-

ton verschwunden war. Zwei Jahre lang durchforschte er auf der Suche nach ihm die meisten größeren Städte der USA, lebte auf der Straße und verlor dabei alles, was seine bisherige Existenz ausgemacht hatte: eine glückliche Familie, seine geliebte Frau Rachel, seinen beachtlichen Besitz in Princeton, seine Professur und beinahe auch seinen Verstand. Durch Zufall wurde er jedoch von seinem Vater Hartog ausfindig gemacht, einem aus den Niederlanden stammenden, angesehenen Biochemiker, Nobelpreisträger und schwierigen Perfektionisten, und nach Tel Aviv zurückgebracht. In psychisch labilem Zustand lebt Bram seither wieder in seinem alten Zimmer in der väterlichen Wohnung. Insgeheim verfolgt er den „Fall“ seines verschwundenen Sohns weiter, und als er nach vier Jahren auf die Lösung gestoßen zu sein meint, übt er Vergeltung. 2024 scheint die israelische Welt in Resignati-

„Die Palästinenser werden nicht weiter vom fundamentalistischen Islamismus unterschieden und bleiben das böse Kollektiv im Hintergrund, das durch keinerlei Individuen vertreten wird, schon gar keine mit menschlichen Zügen. Der Vorwurf der Einseitigkeit wird also weiterhin an Leon de Winter haften bleiben“

on erstarrt zu sein, die Lösung des politi- Alexandra Millner schen Konflikts ist nicht mehr das Thema: „Wir sind in die falsche Gegend mit rachsüchtigen Menschen gekommen“, meint der Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes, ein alter Freund von Bram. Bram selbst, der sich früher aktiv für eine friedliche Konfliktlösung engagiert hat, ist nur noch mit Schadensbegrenzung beschäftigt: Er engagiert sich als freiwilliger Helfer

Leon de Winter: Das Recht auf Rückkehr. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes, 550 S., € 23,60

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beim israelischen Rettungsdienst, pflegt seinen an Alzheimer erkrankten Vater und ist vermissten Kindern auf der Spur. Eine dieser Fährten führt zu einem internationalen fundamentalistisch-islamistischen Netzwerk, das jüdische Kinder entführen und zu Selbstmordattentätern ausbilden lässt. Damit bricht zum einen das vermeintlich sichere Überwachungssystem der DNA-Kontrolle zusammen, zum anderen aber darf Bram noch einmal auf das Überleben seines Sohns hoffen und begibt sich unter dem Schutz des Inlandsgeheimdienstes nach Kasachstan. Auch sein erotischer Jagdinstinkt ist mittlerweile wieder erwacht und führt ihn aus der Rückwärtsgewandtheit seiner Trauer in eine freudvollere Gegenwart. In seinem Roman bietet de Winter einen spannenden Einblick in den von Angst dominierten Alltag Israels – ein Aspekt dieses nicht enden wollenden Krieges, der via Medien schwer zu vermitteln ist. Und mit Hartog und Bram entwickelt er nicht nur eine komplexe Vater-Sohn-Beziehung, die zwischen unausgesprochener Liebe und unüberbrückbaren Meinungsverschiedenheiten changiert, er stellt damit auch zwei entgegengesetzte jüdische Standpunkte in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt dar: Hartog, der ehemalige KZ-Insasse, wird von den palästinensischen Terroristen an den Holocaust erinnert; der „Logik des Nahen Ostens“ sei nicht mit Pazifismus beizukommen, verteidigt er das Vergeltungsprinzip. Bram hingegen hat als postzionistischer Historiker und Spezialist für Nahostgeschichte eine differenziertere Sichtweise. In seiner Dissertation weist er nach, dass die Vertreibung der Araber schon in den 30er-Jahren das dezidierte Ziel der Zionisten war, und entlarvt den jüdischen Verteidigungskrieg als Geschichtslüge. Bis zuletzt ist er von der Möglichkeit einer friedlichen Lösung überzeugt – obwohl er selbst durchaus mit Gegengewalt reagiert. Am Ende des Romans scheinen beide ein wenig Recht zu behalten: Weder ist mit dem Feind zu verhandeln, noch vermögen Gegenschläge das Problem zu lösen. Diese Differenziertheit in Bezug auf die israelischen Standpunkte fehlt allerdings in der Gegenüberstellung: Die Palästinenser werden nicht weiter vom fundamentalistischen Islamismus unterschieden und bleiben das böse Kollektiv im Hintergrund, das durch keinerlei Individuen vertreten wird, schon gar keine mit menschlichen Zügen. Der Vorwurf der Einseitigkeit wird also weiterhin an de Winter haften bleiben, zumal die Verknüpfung der Handlungsstränge und Details Züge einer Verschwörungstheorie tragen. Angesichts der gelungenen Gesamtkomposition nimmt man dies – wie auch die in den Dialogen sehr konventionell geratene Liebesgeschichte – allerdings gerne in Kauf, denn Leon de Winter erweist sich einmal mehr als spannender Erzähler und meisterhafter Arrangeur komplexer Materialien. Die intensive Bildhaftigkeit und perfekte Schnitttechnik des Buchs lassen zudem den gelernten Filmemacher erkennen. A le x andra M i llner

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Kunde von Tod und Leben Abraham Sutzkever ist als Chronist des Wilner Ghettos ebenso bedeutend wie als jiddischer Lyriker

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as Ghetto von Wilna, das von 1941 bis 1943 existierte, war – auch schon vor dem Beschluss der „End­ lösung“ – eine Versuchsstation des Terrors und der Menschenvernichtung. Beim Ein­ marsch der Deutschen lebten 75.000 Juden in der Stadt, nur etwa 2500 von ihnen ha­ ben überlebt. Der Alltag der Ghettobewohner war ge­ prägt von Gewaltexzessen und Massenexe­ kutionen, für die der Österreicher Franz Murer an vorderster Stelle verantwortlich war. Zwar in einem Nachkriegsprozess ver­ urteilt und an die Sowjetunion ausgeliefert, gelang es Murer auf verschlungenen We­ gen, sich der Strafe zu entziehen und un­ behelligt auf einem Bauernhof in der Stei­ ermark zu leben. 1963 wurde erneut gegen ihn verhandelt, ein Verfahren, das schließ­ lich mit einem der skandalösesten Fehlur­ teile der Zweiten Republik endete: einem Freispruch, der noch im Gerichtssaal von Sympathisanten heftig akklamiert und vor dem Gebäude mit Blumenspenden gefeiert wurde.

Trotz des engen Österreich-Bezugs ist die Ge­

schichte des Wilner Ghettos hierzulande – sieht man von dem 1992 bei Picus erschie­ nenen Band „Ess firt kejn weg zurik ...“ ab – weitgehend unbeachtet geblieben. Und das, obwohl das Ghetto einige autobiogra­ fische Texte hervorgebracht hat, die tie­ fe Einblicke gestatten: von Mascha Rolni­ kaites Tagebuch über Schoschana Rabino­ vicis Bericht bis hin zu Benjamin Anoliks Erinnerungen. Auch Abraham Sutzkever, der hoch­ betagt in Israel lebt, gehört zu denjenigen Überlebenden, die literarisches Zeugnis abgelegt haben. Mit seinem noch im Krieg verfassten und bereits 1946 sowohl in ei­ ner Moskauer als auch einer Pariser Fas­ sung erschienenen Buch „Wilner Getto 1941–1944“ wurde er dessen wohl frühes­ ter Chronist. Trotz der unmittelbaren Nähe zu den Ereignissen ist sein Bericht aber er­ staunlich nüchtern, oft geradezu lakonisch.

kreis der „Introspektivisten“. Sutzkevers Schreibfluss riss im Ghetto nicht ab, er selbst sagt, dass diese Jahre sowohl quan­ titativ als auch qualitativ seine produktivs­ ten gewesen seien, ein „Understatement“, entstanden doch bis in die späten 80er-Jah­ re hinein noch viele weitere bedeutende Gedichte.

Sutzkever berichtet von den unzähligen To­ den, die oft so grausam gestorben wurden, dass dem Leser der Atem stockt und der Mut zum Weiterlesen sinkt. Zweifellos ist der Text ein Epitaph für die unzähligen Ermordeten, ein Versuch, ein paar Namen und Taten aus der Todeszo­ ne hinüberzuretten in eine bessere Welt, aber noch stärker als das verspürt man den anderen, ebenso starken Wunsch des Au­ tors, das Ghetto in seiner durch und durch erstaunlichen Vitalität zu schildern. Zu den Untiefen der Schoah gehört es ja, dass zwischen all den Leichenbergen immer auch gelebt werden musste, dass eine Ver­ mischung der Sphären stattfand, die nor­ malerweise säuberlich und aus gutem Grund getrennt gehalten und nur durch Übergangsriten bewältigbar gemacht wer­ den. Dafür war im Wilner Ghetto jedoch keinerlei Raum, wohl aber für Sozialstruk­ turen, die sich nach einem ersten Schre­ cken auf geradezu wundersame Weise wie­ der einstellten. Schulen, Zeitungen, Thea­ ter, Konzerte, Ausstellungen, Lesungen, Künstlervereine, eine Akademie der Wis­ senschaften – all das gab es im Ghetto. Selbst Solidarität und altruistisches Han­ deln hielten der rohen Gewalt stand, wenn auch nur in engen Grenzen. Dieses Aufrechterhalten der Alltagstu­ genden war allein schon Widerstand, aber zu seinem äußersten Punkt gelangte dieser in der Formierung einer Untergrundarmee und deren bewaffneten Aktionen gegen die Deutschen und ihre Helfeshelfer. Sutz­ kever war ein Teil von ihr und gedenkt ih­ rer ganz, ohne vom eigenen mutigen Han­ deln großes Aufheben zu machen. Sutzkever ist aber nicht bloß ein getreu­ er Chronist jenes „Warteraums des Todes“, wie das Ghetto einmal von Jean Améry ge­ nannt wurde, sondern auch einer der be­ deutendsten Schriftsteller in jiddischer Sprache. Bereits vor dem Krieg veröffent­ lichte er Gedichte und erfuhr einige Aner­ kennung über den New Yorker Avantgarde­

Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941–1944. Gesänge vom Meer des Todes. Übertragen von Hubert Witt. Zwei Bände. 272 bzw. 192 S., € 41,95

Sutzkevers Versbehandlung reicht von eher traditionsgebundenen bis zu vollkommen freien Formen, seine poetischen Bilder os­ zillieren zwischen karger Aussparung und treffsicherer Expression. Der Sprachduk­ tus dieser gleichzeitig hochartifiziell und seltsam verwurzelt wirkenden Gebilde ist (auch in deutscher Übersetzung) unver­ kennbar jiddisch, ihre Kraft macht sie dar­ über hinaus aber auch zu Bausteinen einer Weltliteratur. So lange wird die Schoah in ihnen benannt, verschleiert und umkreist, bis sich daraus ein vollkommen eigenstän­ diger Kosmos zu bilden vermag. Dem schon in DDR-Zeiten um die jid­ dischsprachige Literatur so verdienten Übersetzer Hubert Witt ist es auch dies­ mal gelungen, aus einer dem Deutschen einerseits nahe verwandten, andererseits aber auch durch Sonderentwicklungen zu­ tiefst von diesem getrennten Sprache treff­ sicher zu übersetzen. Der eine oder ande­ re Klang des Originals musste dabei unab­ wendbarerweise verlorengehen, wichtig ist aber bloß, dass das Werk Sutzkevers in seiner ganzen Bedeutung nun auch für das deutschsprachige Lesepublikum deutlich erkennbar wird. Dass der Verlag vom ursprünglichen Plan, dem Ghettobericht bloß einige kor­ respondierende Gedichte beizugeben, ab­ gegangen ist und nun das lyrische Werk in gleicher Gewichtung vorgelegt hat, macht diese Doppelpublikation umso verdienst­ voller. Ihre parallele Lektüre öffnet voll­ kommen neue Perspektiven auf ein Werk, das allergrößte Beachtung und eine zahl­ reiche Leserschaft verdient. STEPHAN STEINER

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Österreich im Elferpack „Spiegelfeld“ von Christian Zillner macht eine Familiengeschichte zum Nationalepos in Versen

Etwas im Stil der „Buddenbrooks“ von Tho-

mas Mann hatte Zillner zunächst im Sinn gehabt, ehe es ihm unversehens anders wurde: ein Versepos, angelegt auf elf Bände. Nicht nur die Geschichte der Familie Spiegelfeld, die Geschichte eines gesamten Landes sollte daraus werden. Das fehlende österreichische Epos, nicht mehr und nicht weniger. Zillners These: Ein kleines reiches Land unter Babenbergerherrschaft wurde unter den Habsburgern zu einem Reich und ist erst jetzt, in der Zweiten Republik, zu sich gekommen. Hitler war gewissermaßen der letzte Habsburger, und Zillner schenkt dem aufs Neue klein und reich gewordenen Ländchen sein versifiziertes Selbstbewusstsein.

Sieben Jahre lang war Zillner Redakteur, später Chef vom Dienst beim Falter und leitet seit neun Jahren die Abteilung Corporate Publishing im Falter Verlag. Job ist Job, sagt er. In seinem Zimmer steht in 16 Bänden der Neue Pauly, die berühmte Realencyclopädie der Antike neben Arno Schmidts „Zettels Traum“ und Matthias Claudius’ „Wandsbecker Boten“. Auch zartfarbige Gemälde aus eigener Produktion hängen da. Und über dem Eingang prangt unsichtbar das Motto: „Ich arbeite für ein Unternehmen, in dem es auf der einen Seite die Sonnenwesen, die Schmetterlinge, gibt und auf der anderen Seite die Raupen der Nacht, ohne die es keine Schmetterlinge gäbe … Ich bin der Prince of Darkness. Mein Job ist es, Kohle heranzuschaffen.“ Auch hier also ist Adel mit im Spiel, der des

Verzichts. Der zitierte Satz Zillners fiel auf einer Tagung zur Magazinkultur in Österreich. Aber Zillner ist nicht wehleidig. Er hält von Autorschaft wenig und nennt sich nicht etwa Schriftsteller, sondern lapidar „Maler, Schreiber, Magazineur“. Versemachen scheint ihm zu Recht ein hartes Brot. Breitenerfolg wird man damit gewiss nicht haben. Zillner sagt Sachen wie: „Wer sich wohlfühlen will, soll Romane lesen.“ In seinen Gedichtbänden opfert er der Furie der Erfolgsvermeidung. Warum um alles in der Welt studiert so einer Theologie? Weil er sich im heimatlichen Dornbirn mit dem Zeichenprofessor zerstritt und ihm die Religionslehrerin besser gefiel. Solche Antworten gibt Zillner gern. Theologie als Verweigerung, damit konnte man schon wieder etwas vermeiden: die Gefahr einer Kunstkarriere. Er hat dann seinen Doktor gemacht, über ein anderes Epos, die Odyssee. Odysseus bei den Kirchenvätern, damit landete er doch auf der Philosophie. Er hätte gleich ein Langgedicht daraus machen sollen, sagt er heute, da mehr als die Hälfte seines elfbändigen Unterfangens bereits vorliegt. Im ersten Band schildert er eine neuntägige Fahrt im zehnten Jahrhundert. Im nächsten Jahrhundert, im nächsten Band, sind es neun dramatische Stunden auf der Insel Reichenau. Der dritte Band nimmt uns auf den ersten Kreuzzug von 1099 und beschreibt davon neun Minuten, der vierte handelt in neun Stationen nach dem Tod des letzten Babenbergers 1247, der fünfte beschreibt mit einem Sprung ins 20. Jahrhundert die neun Bundesländer und der sechste neun Monate aus der Pestzeit im Wien des Jahres 1349. Zahlenmystik? Keine Details, sagt Zillner, Neun sei halt seine Glückszahl. Er verweise auf sein Geburtsdatum, den 19.9.1959. Und dass er das Epos auf elf und

nicht auf zwölf Bände angelegt habe, sei auch kein Zufall. Was ist seine Absicht? Jedem Band stellt Zillner ein Vorwort voran, in

Zur Person Christian Zillner, 1959 in Dornbirn geboren. Studium der Theologie und Philosophie. Bis 1995 Redakteur des Falter, seit 2000 Chefredakteur von Falter Corporate Publishing. Weiteres: www.zillner.org

Christian Zillner: Spiegelfeld. 5. Band. Dorn­ röschen Verlag, 112 S., € 23,– www. dornroeschen-verlag Präsentation von „Spiegelfeld, Band 6“ am 29. Oktober um 19.30 Uhr im Neruda, 4., Margaretenstraße 38

dem er nicht nur den Inhalt des jeweiligen Bands erläutert. Im zweiten Band zitiert er etwa den Patriarchen von Jerusalem, Arnulf von Choque und Rohes, der die Grabhüter, seine orthodoxen Glaubensbrüder foltern ließ, „um zu erfahren, wo sie Reliquien und Schätze vor den Muslimen verbargen“. Und Zillner fragt: „Aber wie soll ich einen Patriarchen von schok und roh von der Taktik einer Großmacht trennen, die sich ‚shock and awe‘ nennt?“ Die Gegenwart bricht immer wieder ein in Zillners Geschichte, er erfindet die Geschichte neu, wenn es sein muss, mithilfe von Episoden, die ihm in der UBahn ein- oder auffallen. Der Zugang zu Spiegelfeld’schen Familienarchiven lässt, trotz Privataufzeichnungen und einer – wenn auch unvollständigen – Genealogie, viel zu viele Lücken offen. Mit Material aller Art, mit historischer Privatgelehrsamkeit und mit eigenen Erlebnissen werden sie geschlossen. Ohne Internet wäre so ein Unterfangen undenkbar. Quellenmaterial vor allem auf US-amerikanischen Universitätswebsites erleichtert die Recherche durch die Jahrhunderte. Und wenn Zillner in Vorstadtzügen reist, schreibt er. Schnellbahn ins nationale Selbstbewusstsein. Zillner kombiniert seine oft gewaltigen, nicht selten gewalttätigen Bilder (es geht um Geschichte, also um Blut und Qual) mit einer dem jeweiligen Anlass und dem betreffenden Jahrhundert angemessenen Sprache. Eher kindlich zuerst, mitunter mittelhochdeutsch-alemannisch gemischt, im 20. Jahrhundert gern auch englisch, nimmt er uns auf Reisen in entlegene Zeiten, an merkwürdige Orte, wo dieses merkwürdige Etwas entstand, das wir trotz allem „Wir“ nennen. Dieses „Wir“ entsteht aus Liebe und Mitgefühl, aber auch aus Betrug und List, Dreck und Gewalt. Über die Sanierung des Falter steht da zum Beispiel der harte Satz: „To rescue the idol / they killed the idea.“ Klar, dass der Autor Ezra Pound bewundert. Wir bewundern ihn für das Wagnis dieser Dichtung, die Kraft seiner Imagination und die ästhetische Anstrengung der Gleichgültigkeit gegen sich selbst. Weniger bequem als ein Roman, gewiss, aufregende Lektüre allemal. Und ein optisches Vergnügen ist „Spiegelfeld“ auf jeden Fall: Die Farben der typografisch schön gestalteten Bändchen erfreuen alle, die das ganze Paket in Händen halten. Beeile sich, eines zu bekommen, wer kann. Es gibt insgesamt nur 500 davon. Man wird sie demnächst sammeln.

Foto: heribert corn

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hristian Zillner hält es behutsam in seinen großen Händen. Es ist 13 mal 19 Zentimeter groß, 112 Seiten stark und das sechste einer Reihe. Der sechste Band in Österreichs Nationalepos, wie seine fünf Vorgänger gedichtet von ihm, Zillner. Jeder Band trägt eine Nummer, das ganze Epos heißt „Spiegelfeld“ und ist benannt nach einem Adelsgeschlecht, dessen Geschichte erzählt wird. Soweit sie sich rekonstruieren lässt, sagt Zillner. Wo kein historisches Material da ist, erfindet oder erdichtet er es. Spiegelfeld ist auch ein schöner, sprechender Name für das Feld von Geschichten und Geschichte. Bilder in Bildern, Brechung in Brechung. Im ersten Band treffen die Matse, Vorfahren der Spiegelfeld, im Jahr 907 auf der Burg des Grafen Montfort ein und sehen zum ersten Mal Glas. „Was ist das? / Glas aus der heiligen Stadt Rom. / Dort gibt es alles und alles ist glanzvoll. / Ich schau hindurch, als ob nichts wäre, / Und doch spür ich es. / Manchmal spiegelt es auch. Vor allem nachts / Wenn draußen die Finsternis herrscht und wir / Bei Kerzenschein sitzen. Glas / Lässt uns die Welt sehen, dann wiederum / Wirft es ein Bild unseres Inneren zurück (…) / Schon ist die Kerze im Glas! Bald / Könnt ihr euch selbst erkennen.“ Ein durchaus anständiges Geschlecht, die Spiegelfelds, erzählt der Autor. Er lernte einen von ihnen bei der Produktion eines Buchs kennen. Als dieser Spiegelfeld einen unsäglichen Sager des FPÖ-Rechtsaußen John Gudenus im Parlament hörte, forderte er dessen Ausschluss aus einem Adelsklub, in dem sie beide verkehrten – andernfalls würde er selbst austreten. Offenbar einer, dem man vertrauen kann. Ursprünglich trugen die Spiegelfelds das Projekt „ihrer“ Familiengeschichte dem mittlerweile verstorbenen profil-Her­ ausgeber und Verleger Hubertus Czernin an. „Ihr Wurschtel!“, lachte der, von höherem Geblüt, und lehnte ab.

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„Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er? Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja! Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker“ K ATHRIN SCHMIDT: „ D u stirbst nicht “ SEITE 27

Takeaway-Stand am Naschmarkt

Das Pupperl aus Zipf trifft auf Adolf von Arabien Vladimir Vertlib tobt sich als Karl May in einem nazifreundlichen Bagdad aus und kommt dabei nicht ohne Klischees aus

Foto: Julia fuchs

ewalttätige muslimische Ehemänner G in Deutschland, islamistischer Terror und eine dem breiten Publikum wohl nicht

geläufige Nazi-Expedition in den Irak, die dort eine panarabische faschistische Massenbewegung ins Leben rufen sollte: Es sind ziemlich heiße Eisen, die Vladimir Vertlib in seinem neuen Roman „Am Morgen des zwölften Tages“ aufgreift. Die Ich-Erzählerin Astrid ist Buchhändlerin in der fiktiven deutschen Provinzstadt Gigricht, die Vertlib-Lesern schon bekannt ist. Ihre Tochter wird langsam erwachsen, Astrid könnte also eine relativ beschauliche Existenz führen – wäre da nicht die unwiderstehliche erotische Anziehungskraft, die orientalische Männer auf sie ausüben und die ihr Leben immer wieder durcheinanderbringt. Als sich eine der flüchtigen Männerbekanntschaften im Bett dann auch noch als brutaler Schläger entpuppt, gerät sie seelisch aus dem Gleichgewicht und sucht bei einer Selbsthilfegruppe misshandelter Frauen Halt. In ihrer Freizeit transkribiert Astrid die Aufzeichnungen ihres verstorbenen Großvaters, des Orientalisten Sebastian Heisenberg. Lange Passagen aus diesen Notizen, die vor allem während des Zweiten Weltkriegs entstanden sind, ziehen eine zweite Erzählebene ein. 1941 wird der (erfundene) Orientalist mit der Mission beauftragt, das mit Nazi-Deutschland sympathisierende irakische Regime im Kampf gegen die Briten zu unterstützen und eine Militär-

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um das Unverständnis zwischen der einst ach so freiheitsliebenden Elterngeneration und der spießigen Jugend von heute geht. So zählt im Leben des langweiligen Gustav, der Astrids Schwiegersohn zu werden droht, die Auswahl der richtigen Schuhe fürs Bewerbungsgespräch zu den aufregenderen Momenten, während sie in seinem Alter noch mit geschultertem Rucksack ins Unbekannte aufbrach.

kooperation vorzubereiten. Der gefährliche Einsatz endet in einem Debakel. Heisenberg, der dem NS-Regime zwar distanziert, aber auch nicht übertrieben kritisch gegenübersteht, verbringt den restlichen Krieg in britischer Gefangenschaft. Seine nationalsozialistische Vergangenheit wird ihn erst am Ende einer glänzenden akademischen Laufbahn einholen. Die Wirrnisse des 20. Jahrhunderts hat der 1966 in Leningrad geborene Vladimir Vertlib zum Teil am eigenen Leib erlebt. In seinen Romanen arbeitet er sich immer wieder am „Zeitalter der Extreme“ ab und verknüpft dabei häufig historische Fakten mit Erfundenem. So auch in seinem jüngsten Roman, wo ihm vor allem das Arsenal orientalistischer Klischees als Inspirationsquelle dient. Er flicht Exkursionen in die blühende Gelehrtenmetropole Bagdad vor ihrer Zerstörung durch die Mongolen ein, schildert Luftkämpfe auf Leben und Tod, lässt deutsche Gelehrte, irakische Straßenräuber, finstere SS-Doppelagenten, orientalische Generäle in Fantasieuniformen aufeinandertreffen. Das klingt mitunter stark nach Karl May – etwa wenn sich Sekretärin „Pupperl“, ein blondes Busenwunder aus Zipf, durch lautes Beten vor einer Horde lüsterner arabischer Banditen retten kann –, liest sich aber äußerst unterhaltsam. Auch Astrids Geschichte kommt nicht ohne Klischees aus, vor allem dort, wo es

Vladimir Vertlib: Am Morgen des zwölften Tages. Roman. Zsolnay, 560 S., € 25,60

Angesichts der flachen Charaktere geht allerdings viel an erzählerischer Tiefenschärfe verloren, die vor allem dem Bild des Islam abgeht, das der Roman zeichnet: Die Nazis schwärmen von der „Wesensähnlichkeit von Islam und Nationalsozialismus“ und vom fanatischen Judenhass der Muslime, Heisenberg beschreibt ausführlich die Nazidevotionalien im Bagdader Straßenbild. Abwechselnd dazu berichten dann Astrids Leidensgenossinnen in der ­Selbsthilfegruppe, wie sie von ihren muslimischen Ehemännern misshandelt wurden. Dass am Schluss dann auch noch Al-Kaida in Gigrichtspotschn Einzug hält, ist irgendwie konsequent, auch wenn am Ende dieses nicht nur dicken, sondern auch prallen Buches der Eindruck bleibt, dass der Autor mit viel erzählerischem Schwung in eine Kerbe schlägt, die derzeit ohnehin eifrig von verschiedenen Seiten behackt wird. GEORG R ENOECK L

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Wien, wie es isst und mordet Als Krimi-Kulisse steht die Bundeshauptstadt so hoch im Kurs wie seit dem „Dritten Mann“ nicht mehr

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egulierung und Überbauung des Wienflusses waren 1902 beendet worden, die Errichtung von festen Ständen für den ganzjährigen Betrieb des Naschmarktes stand vor dem Abschluss. Der im floralen Schmuck gehaltene Pavillon der Marktaufsicht bei der einstigen Stadtbahnstation Kettenbrückengasse zeugt noch heute von dieser baulichen Maßnahme.

sympathische, schnauzbärtige Inspektor überraschend souverän. Von dem würde man durchaus gerne einen Nachschlag serviert bekommen – vielleicht mit etwas weniger kulinarischen Abschweifungen. Obwohl Alfred Brinkmann in Berlin als Gourmetkritiker gearbeitet hat, halten sich die essenstechnischen Bemerkungen in vertretbaren Grenzen. Nun ist Brinkmann in Thomas Askan Vierichs zweitem Krimi nach Wien gezogen und kommentiert sowie konsumiert lieber Weine und Spirituosen, oft auch in beiläufig genannten Lokalitäten, die nicht gerade für ihre Weinkarte bekannt sind – wie das Flex oder das Fluc. Schon in der deutschen Hauptstadt bzw. im Vorgänger „Tödliche Delicatessen“ (2006) hat sich Brinkmann als Freizeitdetektiv versucht, nun wird er in seiner neuen Heimatstadt in einen Fall um suspekte Todesfälle in der Baubranche verstrickt – zuerst als Hobbyleibwächter, dann als Tatverdächtiger. Möglicherweise haben aktuelle städtebauliche Großprojekte (Zentralbahnhof, Aspern et al.) mit dazu beigetragen, dass Immobilien und Korruption beliebte Themen aktueller Krimis darstellen: Nach Stefan Slupetzkys Lemming wird nun auch der naive Brinkmann hineingezogen – und wirkt ein bisschen unglaubwür-

Wer Naschmarkt liest, wird unweiger-

lich auch ans Kochen denken. Dass ein Krimi, der den Namen dieser Wiener Institution im Titel führt, lukullische Anspielungen enthält, verwundert also wenig. Dass Gerhard Loibelsberger zuvor auch schon das eine oder andere Kochbuch ­verfasst hat, wird spätestens beim zweiten ausführlichen Rezept (Fricandeau mit gedünstetem Reis) klar. Sein k.k. Polizeiagenteninspektor Joseph Maria Nechyba ist ­außerdem Feinschmecker und Hobbykoch. Wie realistisch diese Kombination in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts gewesen sein mag, bleibe dahingestellt. Auch mit Gastauftritten (unter anderen Gustav Klimt, Peter Altenberg und das Café Sperl) erinnert das Buch streckenweise arg an gefällige Wien-um-1900-Lektüre für Kakanientouristen. Dennoch stimmt die Atmosphäre, und angesichts zweier brutaler Frauenmorde agiert der

Gerhard Loibelsberger: Die NaschmarktMorde. Ein Roman aus dem alten Wien. Gmeiner, 274 S., € 13,30

dig, wenn er nicht sofort begreift, worum es beim Widerstand eines jüdischen Mieters gegen seine Delogierung eigentlich geht, und sich (und damit die Leserschaft) erst einmal über das Thema „Arisierung“ informieren muss. Immerhin: Sobald er es kapiert hat, reagiert er beherzt. Eine Rentnergang von Emigranten wird

auch in dem grotesken Wien mit Ambitionen zur Filmstadt, das Richard K. Breuer in „Schwarzkopf“ entwirft, mit Statistenrollen bedacht. An zwei von fünf Tagen retten sie sogar – mehr oder minder zufällig – dem Titelhelden, einem weltberühmten Regisseur, das Leben. Es geht überhaupt sehr turbulent zu in dieser Kriminalfilmdrehbuchparodie. Unfähige Polizisten, ein unfähiger Bundeskanzler und ein überkandidelter deutscher Kulturattaché sind weitere Komparsen, die im Gedächtnis bleiben. Vage an den Plot von „Der dritte Mann“ angelehnt, wird alles verwurstet, was auch nur irgendwie mit goldenem Wienerherz und kriminellen Machenschaften zu tun hat, „Kottan ermittelt“ eingeschlossen. Die absurde und trotzdem schlüssige Handlung erinnert aber auch an den wenig bekannten Jurek-BeckerFilm „Der Passagier – Welcome to Germany“ (1988). Der nicht immer geschmackvolle Humor und die Blödeleien zerren manchmal zwar arg

Thomas Askan Vierich: Blutgasse. Krimi. Haymon, 269 S., € 9,95

an den Nerven, aber eine Satire in Dialogform, in der ­jeder Tag für die Hauptdarsteller mit der Entlassung aus der Prominentenzelle des Polizeigefangenenhauses beginnt, entbehrt nicht eines gewissen Charmes. Für Blödeleien hat Kriminalmajor Schä-

fer nur wenig übrig. Aus Wien wird er nach einem auf Ritualmord hindeutenden Verbrechen in seine alte Heimatgemeinde Kitzbühel beordert. Bereits während der Bahnfahrt findet man eine zweite Leiche – es wird nicht die letzte bleiben. Für einen Polizisten (und Tiroler) wälzt Schäfer, der sich den Dämonen der eigenen Vergangenheit stellen muss, ungewöhnlich anarchistische Gedanken und hängt unorthodoxen Methoden an. Ein Panscherl mit einer deutschen Reporterin wirkt da ebenso wenig deplatziert wie die Schübe von Rührseligkeit, die den Major heimsuchen. Schön gemächlich führt Georg Haderer durch die seltsame Welt der Ostalpen, aus der er selbst stammt – ein bisschen mehr Tempo würde da nicht schaden. Die Figuren werden augenzwinkernd mit Namen wie Krassnitzer oder Gasser bedacht. Das Erstaunliche an diesem Debüt ist, dass man das Gefühl hat, den Major schon lange zu kennen. So unaufdringlich und gleichzeitig spannend kann SoKo Kitz eben auch sein.

Richard K. Breuer: Schwarzkopf. Eine absurde Wiener Krimi-Comedy. www.1668.cc, 288 S., € 14,90

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Georg Haderer: Schäfers Qualen. Kriminalroman. Haymon, 269 S., € 17,90

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„Jetzt wär’s wieder Zeit für eine Leiche“ Wie aus dem Lehrer und Liedermacher Thomas Raab über Nacht ein erfolgreicher Krimischriftsteller wurde

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homas Raabs erste Lesung als Autor war auch die erste Lesung, die er in seinem Leben überhaupt besucht hat. „Ich habe mit Literatur nie etwas zu tun gehabt und war in der Schule sogar Legastheniker“, erzählt er. „Dass ich noch nicht diese Übung habe, merke ich daran, wenn ich beim Lesen schneller und lauter werde, sobald ich abgelenkt bin, weil gleichzeitig ausgeschenkt wird oder der Kellner kassiert.“ Ansonsten könnte es für den 39-Jährigen, der sich auch beim Interview als Schnellsprecher erweist, zurzeit nicht besser laufen. Als er im Frühjahr 2007 mit dem Kriminalroman „Der Metzger muss nachsitzen“ debütierte, traf er mit seinem skurril-behäbigen Restaurator Willibald Adrian Metzger gleich einen Nerv und stieg umgehend in die oberste Liga der heimischen Krimiautoren auf. „Ich hatte das Glück, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen“, erklärt der Autor sich selbst den Durchbruch. „In dem Moment gab es sonst nicht viel. Es herrschte nur so eine Haas-Traurigkeit, weil der gerade mit dem Brenner aufgehört hatte.“

Mit „Der Metzger geht fremd“ ist nun der bereits dritte Roman um den trinkfreudigen Ermittler wider Willen erschienen. Und dass erwähnter Haas inzwischen ein Comeback gefeiert hat, muss Raab nicht stören, denn er und sein Metzger sind inzwischen ebenfalls als Marke etabliert. Nach zwei Büchern im Grazer Leykam Verlag ist das Duo ins große deutsche Verlagshaus Piper gewechselt. „Ein Traum“, so der Autor. „Mir ist klar, dass mich Leykam aufgebaut hat. Aber es ist sehr schwierig, in Österreich allein verkaufsmäßig reüssieren zu können. Mit 10.000 verkauften Büchern im Hardcover bist du schon Kaiser. Wenn ich die Sache ernsthaft betreiben will, brauche ich einen deutschen Verlag.“ Ehrgeizige Worte für einen, der eher zufällig zum Schreiben gekommen ist. Raab war zunächst jahrelang doppelgleisig als Musik- und Mathematiklehrer (Beruf) und Liedermacher (Berufung) tätig, ehe er auf die Schriftstellerei umsattelte. Der Lehrberuf, erzählt er, ist ihm als Sohn eines Religionslehrers mehr passiert, als dass er ihn je angestrebt hätte. Seine gefühlvollen bis kitschigen Lieder wiederum fanden nie den Anklang, dass er von ihnen auch hätte leben können. Irgendwann war beides, Schule und Musik, nur mehr ein Krampf: „Die Schule ist ein Biotop, in dem man sich nicht zu lang aufhalten sollte. Man wird dort einfach zur Trägheit eingeladen. Und das Musikbusiness in Österreich kotzt mich an. Du musst dir eine Maske überziehen, um Beachtung zu finden. Da will ich nichts mehr hineinbuttern. Als Autor kann ich in der Sekunde das umsetzen, was mir gerade einfällt. Ich muss auf keine Probe mehr gehen und mich vor niemandem rechtfertigen. Ich bin froh, dass ich das jetzt als Beruf ausüben darf.“ Diese Erleichterung und seine Freude an der Sache merkt man Raabs Schreibe auch an. Er verfügt über eine kaum zu bändigende Formulierlust und legt dabei gern den einen oder anderen Umweg zurück. Wenn etwa in seinem neuen Metzger-Roman die Freundin des Restaurators auf Kur geht, dann steht da nicht einfach „Kur“, sondern

Ironischerweise könnte gerade im mangelnden Feinschliff oder eine gewisse Saloppheit beim Skizzieren des Plots das Erfolgsgeheimnis der charmanten Metzger-Bücher ausmachen. Der mit der Schauspielerin Simone Heher verheiratete Vater einer zweijährigen Tochter, der vor allem nachts zum Arbeiten kommt, ist am Schreibtisch ein Spontantäter. Er vergleicht seine Arbeit mit dem Verfassen von E-Mails: „Das Briefeschreiben früher war so beladen, heute knallt man schnell ein paar Zeilen hin. Ich bin ein Freund dieses Hinknallens und ertappe mich oft dabei, wie meine Finger schneller arbeiten als mein Hirn.“ Manchmal, erzählt Raab, verliere er bei seiner Lieblingsbeschäftigung („Schreiben ist für mich wie ein Gespräch mit mir selbst“) auch aus den Augen, was er da schreibt – nämlich Krimis: „Ich muss aufpassen, dass ich mich nicht in Betrachtungen über die österreichische Seele verliere. Dann denk ich mir, jetzt wär’s wieder mal Zeit für eine Leiche. Spannung auf­ bauen! Aber eigentlich sind die Ver­ brechen in meinen Büchern komplett nebensächlich.“

Zur Person Thomas Raab, 1970 in Wien geboren, begann seine Karriere als Schriftsteller mit den Kriminalromanen „Der Metzger muss nachsitzen“ (2007) und „Der Metzger sieht rot“ (2008), die beide bei Leykam erschienen. Rein phonetisch ist er leicht mit dem 1968 in Graz geborenen Schriftsteller und Kognitionswissenschaftler gleichen Namens zu verwechseln, der aber größer ist und keine Krimis schreibt

„Was gibt es Schöneres als den geregelten Müßiggang, als die servierte Befriedigung aller Grundbedürfnisse inklusive professioneller medizinischer Betreuung?“ Durch diese Weitschweifigkeit droht die Erzählung manchmal ein wenig ins Behäbige zu kippen. Doch dass er von der Perfektion noch weit entfernt ist, gesteht der Autor selbst unumwunden zu: „Früher habe ich drei Seiten Exkurs geschrieben, heute ist es eh nur mehr eine. Generell habe ich aber noch viel Feinschliff nötig.“

Georg Kreisler liest aus

„Letzte Lieder“ Thomas Raab: Der Metzger geht fremd. Kriminalroman. Piper, 359 S., € 19,50

Mittwoch, 21. Oktober 2009, 19 Uhr 6., Mariahilfer Straße 99, 01/595 45 50, Eintritt frei

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Von branchentypischer Ermüdung ist bei dem in Oberösterreich aufgewachsenen Wiener noch nichts zu spüren. Während im Herbst ein Lesemarathon auf ihn wartet, hat er den vierten Fall für Metzger schon fast fertig auf der Festplatte. Allenfalls könnte er sich vorstellen, zur Auflockerung zwischen den Krimis auch noch etwas anderes zu schreiben. Eine Frauenfigur spukt ihm seit einiger Zeit durch den Kopf, auch ein harter Thriller wäre denkbar. Der Metzger aber wird ihm länger erhalten bleiben, da ist er sicher. „Mir ist der Typ einfach durchwegs sympathisch.“ Und das, obwohl der übergewichtige Genussmensch oberflächlich betrachtet so ziemlich das Gegenteil des Sportlers und leidenschaftlichen Nichtrauchers Raab ist. „Es gibt schon auch Parallelen“, widerspricht er. „Vielleicht ist die Figur ja eine Wiedergutmachung meiner Biografie. In der Unterstufe war ich ein ordentliches Pummerl. Mein Vater hat einmal gesagt: ,Thomas, wenn du so weitermachst, wachsen dir Brüste.‘ Das hat gewirkt.“ SEBASTIAN FASTHUBER

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Ein Messias in der Möglichkeitsform In „Der verirrte Messias“ lässt Peter Henisch einen emigrierten Russen auf den Spuren von Jesus wandeln

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schen Anspielungen auf Autoren wie Jean Paul, Fjodor Dostojewski oder José Saramago und die unaufdringlich durchschimmernde profunde theologische Fachkenntnis lassen das Buch zu einem schillernden, leichtfüßigen und sogar spannenden Stück Literatur werden. Ein geschminkter Donald-RumsfeldLookalike, der Mischa für die Christian Coalition gewinnen will; Olga, die unter„Religion ist ziemlich out , das Interesse an beschäftigte Gattin des umtriebigen Olireligiösen Themen ist total in“, schrieb er garchen Adamov, die beabsichtigt, das kürzlich selbst in einer Rezension in der „Outing“ Mischas mit einer MedienkamPresse über zwei Jesus-Bücher und traf daZur Person pagne zu unterstützen; der Wiener Jude mit den Nagel auf den Kopf. Obwohl oder Edelmann, der als Kind nach GroßbritanniPeter Henisch gerade weil er selbst nicht religiös erzogen en flüchten konnte, später nach Israel emigwurde 1943 in Wien wurde, hat Henisch das Thema nicht losgerierte und nun als Reiseführer Mischas fungeboren. 1975 lassen, seit sein Religionslehrer – kein Gegiert – sie alle tragen das ihre zum GelinMitbegründer, Liedtexter ringerer als Kirchenrebell Adolf Holl – ihm gen des ambitionierten Unternehmens bei. und Sänger der Gruppe die Tore zur Welt ihrer existenziellen FraEbenso wie die Tatsache, dass Henisch die Wiener Fleisch und Blut gen geöffnet hat. Während in seinem letzdogmatische Lesart von Religion, die alle und Mitbegründer der ten Roman, dem Roadmovie „Die schwanFragen immer schon endgültig beantworZeitschrift Wespennest. gere Madonna“ (2005), religiöse Motive tet hat, für mehr als fragwürdig hält. Seine Auseinanderseteher den heiteren Hintergrund abgeben, Deswegen gibt es für ihn auch keinen zung mit der Biografie geht es in seinem neuen Buch, „Der verirrWiderspruch zwischen Literatur und Reliseines Vaters, „Die kleine te Messias“, ans Eingemachte – um das Legion. „Die Literatur spielt mit MöglichkeiFigur meines Vaters“, aus ben von Jesus Christus oder vielmehr Rabten und gibt ganz bewusst keine endgüldemselben Jahr wurde bi Jeschua aus Nazareth. tigen Antworten. Und die Fragen, auf die zum Kultbuch. Zahlreiche Dass sich dieses nicht gerade leichtgebeide abzielen, sind einander doch sehr Romane, Theaterstücke, wichtige Thema in einen zeitgemäßen ähnlich: die nach der Endgültigkeit des ToHörspiele und MusikaufRoman verwandeln lässt, dafür sorgt Hedes, nach Gerechtigkeit und nach Erlösung, nahmen. Sein Werk wurde nischs Methode, es – wie er sich selbst die, wenn man der landläufigen Interpretavielfach ausgezeichnet, ausdrückt – „doppelt über die Bande“ antion des Christentums folgt, bereits stattgezuletzt 2009 mit dem zuspielen. Denn sein Protagonist Mischa funden hat ...“ Literaturpreis der Stadt Myschkin, der etwa 30-jährige, emigrierMan ahnt schon: In einigen Punkten Wien te Russe mit dem Schafsprofil und dem beweicht der „Verirrte Messias“ von der Aufharrlichen Blick, hält sich nicht nur für fassung der Amtskirche ab. Etwa in denjeeine Reinkarnation von Jesus (eine der am ren seiner selbst –, lange Briefe, eine „spirinigen über Jesu Beziehung zu Maria Magweitesten verbreiteten Wahnvorstellun- tuelle Belästigung“, die Barbara allerdings dalena (nicht platonisch), über dessen Gegen), sondern entpuppt sich gegen Ende zunehmend fasziniert. burt (nicht von einer Jungfrau) oder die des Romans auch noch als Junkie. Die zweiKreuzigung. „Nicht am Kreuz gestorben, te Hauptperson, die 39-jährige Barbara, „Ich hatte nicht vor, einen Jesus-Roman im bienicht wirklich begraben, nicht abgestiedie auf dem Flug nach Tel Aviv neben Mi- deren Sinn zu schreiben“, sagt Henisch, gen zu den Toten, folglich auch nicht auferscha sitzt und ihm nach einer unfreiwilli- „denn mein Mischa ist ja wohlgemerkt standen! Wenn das die Wahrheit ist, dann gen Zwischenlandung in Rom auch näher- nicht Jesus. Er ist vielleicht der wiedergebin ich ein Versager!“, sagt Mischa und liest aus kommt, verdient ihren Lebensunterhalt kehrte Jesus, aber da hat er ein Problem, schreibt einem gewissen Herrn Ratzinger liest aus denn dann könnte es sein, dass er die Apomit Literaturkritik. aus Rom, wohin er sich – wie seinerzeit woObwohl Barbara angesichts von Mi- kalypse auslöst. Es ist ein Messias in der möglich auch Jesus – am Ende des Romans schas blutenden Wunden fluchtartig das Möglichkeitsform, und er bleibt auch in der aus ungeklärten Gründen verirrt hat, dass römische Hotelzimmer verlässt, soll sie in Möglichkeitsform.“ die Erlösung in der von der Kirche verkünEine romantische Vampirgeschichte Peter Henisch gelingt es mühelos, dieder Folge nicht mehr von ihm loskommen. deten Form gar nicht stattgefunden habe. Der Zeitzeuge präsentiert eine faszinierende Bilanz aus dem Wien des 19. Jahrhunderts Denn Mischa schickt ihr von seiner Reise se unwahrscheinliche, um nicht zu sagen durch das Israel des Jahres 2008, das zu- unglaubwürdige Geschichte glaubwür„Das Christentum hat ein ganz anderes PotenMontag, 19. Oktober 19 Uhr Mittwoch, 4. November 2009,zial, 19als Uhr es von der katholischen Kirche, begleich dasjenige unter der 2009, Herrschaft des dig zu erzählen. Die ausgeklügelten Pers3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93derzeitigen 53, EintrittPapst frei Ratsonders unter dem Pontius Pilatus ist – sozusagen auf den Spu- pektivenwechsel, die zahlreichen literarizinger, dargestellt wird; ein anarchisches Potenzial, von dem man in den Evangelien lesen kann“, sagt Henisch. „Dass die Pharisäer eine Untersuchungskommission einberufen und nach Jerusalem melden, dass dieser Jeschua nicht unproblematisch ist, kommt ja nicht von ungefähr.“ Dessen Lebensgeschichte erzählt Henisch in Mischas Briefen und gespiegelt durch Barbaras Bewusstsein ausführlich nach. Die Kenntnis seiner heute noch revolutionär anmutenden, sich konsequent aufliest aus liest aus seiten der Schwachen und Benachteiligten stellenden Reden und Lehren wird dabei allerdings stillschweigend vorausgesetzt. „Weil man die eigentlich kennen könnte“, Der geniale Satiriker tanzt über den Abgründen. Ein fulminanter Auftritt des Ermittlers Polt vor der vertrauten wie Henisch auf Nachfrage vorsichtig anScharfsinnig und unterhaltsam Kulisse der Weinviertler Kellergassen merkt – was allerdings angesichts von jünPeter Henisch: Der geren die ohne Kirchgang Mittwoch, 18. November 2009, 19 Generationen, Uhr Donnerstag, 29. Oktober 2009, 19 Uhr verirrte Messias. und zunehmend auch ohne Religionsun3., Landstraßer Hauptstraße terricht 2a-2b, aufwachsen, 01/718 93 53, Eintritt frei 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei Roman. Zsolnay, eher fraglich scheint.

Paul Schulmeister

Ulrike Schweikert

„Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick“

„Herz der Nacht“

Alfred Komarek

Alek Popov

„Polt!“

„Für Fortgeschrittene“ 400 S., € 25,60

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Foto: heribert corn

ch bin ein Sympathisant, aber ich sympathisiere nicht mit der angepassten Schale, sondern mit dem widerborstigen Kern der jüdisch-christlichen Religion“, gibt Peter Henisch im Gespräch mit einem schelmischen Lächeln zu. Denn er hat es wieder getan: einen Roman geschrieben, der um ein gleichzeitig populäres und unpopuläres Thema kreist.

K IR STIN BR EITENFELLNER

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„Er ist ein korpulenter Mann, 106 Kilo bei 178 cm Körpergröße, zum Glück ist das meiste davon Knochen, der Rest konzentriert sich in der kompakten Halbkugel eines Bauches“ T E R É Z I A M O R A : „ D er einzige M ann auf dem K ontinent “ SEITE 29

Im Lili-Markt auf der Rechten Wienzeile

Schabernack im Sprachkostüm des Understatement In seinem Debüt zieht Andreas Unterweger Klischees der Liebesgeschichte durchs Nutellaglas inen Roman zu schreiben sei die einE fachste Sache der Welt, behauptet Andreas, der Ich-Erzähler aus „Wie im Sieben-

ten“ im Rückblick auf seinen Erstling, der „ein ganz einfaches Buch werden“ sollte, „das von ganz einfachen Dingen handelte“. Keine Störgeräusche in Form von Radio, TV oder Internet drangen in sein „Schreibnest“ am Fensterbrett mit Blick in einen Innenhof im siebenten Wiener Bezirk, wo er mit honiggesüßtem Kaffee und Nutellabrot gestärkt darüber schrieb, wie die Liebesgeschichte mit Judith und wie das Schreiben darüber gewesen war: „einfach nur schön“. Nicht ganz so wie in der ersten stellt sich die Erinnerung in der revidierten Fassung dar: Judith verbringt lediglich die Hälfte ihrer Zeit in Wien bei Andreas, die andere bei ihrem dreijährigen Sohn Moritz in Stein, um den sich sonst der „Exfranz“ genannte Kindsvater kümmert. Eine Küretage entsorgt den Traum vom gemeinsamen Kind und was auf die kurz erwähnte Verlobung folgt, bleibt offen.

Foto: julia fuchs

Unbestimmtheit spielt in diesem Debüt

a­ ll­enthalben eine wichtige Rolle. In Form exzessiver Richtigstellungen wird der ­Leser darüber informiert, was denn alles ganz anders gewesen sei als ursprünglich erzählt: „Natürlich hat Judith in ­Wirklichkeit, nie, niemals, mit der Kaffeekanne nach mir geworfen. – Aber es

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niederlässt wie ein ­Kanarienvogel auf einem Piratenkapitän, wiegt den Verdruss über die bisweilen schale Bildersprache auf: „Wir hatten ein Loch in der Brust“, heißt es da beispielsweise über die zweite Nachkriegsgeneration. Aber womöglich zählen auch solche „Preziosen“ zum Sprachkostüm eines Schelms, der seinen Schabernack bevorzugt mit vermeintlichem Tiefsinn treibt. So betrachtet stellt sich Unterwegers Text als angriffiger dar, als der Klappentext („ungeheuer liebenswertes und charmantes Buch“) uns suggerieren möchte.

hat trotzdem sehr wehgetan, und die Narbe kann man ­heute noch ganz deutlich sehen.“ Über ­Judith selbst gibt der Erzähler nur karge Auskunft, das meiste bleibt ausgespart. Da plappert Andreas schon lieber über Nachtfalter im Möwenpark, die von Spatzen gefressen werden, oder über seinen „Freund“, den Geschirrspüler, oder darüber, wie Muscheln aus dem Nutellaglas ins Blumenkisterl gelangen. Über weite Passagen wirkt diese Erzählweise aufreizend betulich. Wenn Andreas als Erklärung zu jedem „wir“ „Andreas und Judith“ hinzufügt, wird aber klar: Hinter solch scheinbarer Unbeholfenheit steckt das Kalkül stilsicheren Understatements.

Der Anspruch des Autors reicht freilich über

Noch stärker als an Forrest Gump, der im Buch

einmal genannt wird, erinnert dieses Verfahren an frühe Texte Wolfgang Bauers, über den der 31-jährige Unterweger mehrere germanistische Arbeiten publiziert hat. Wie Bauer kostet der ebenfalls aus Graz stammende Unterweger den Gestus von gekünstelter Naivität gerade dann so richtig aus, wenn von der Dichtkunst die Rede ist: „Das Schreiben kam immer nur dann, wenn ich es am wenigsten erwartete.“ Ähnlich wie Wolfgang Bauer besitzt Unterweger Talent zur skurrilen Komik: Das Lachen über ­Einfälle, wie den von der nachgeworfenen Kaffeekanne, die sich schließlich auf ­A ndreas’ Schulter

Andreas Unterweger: Wie im Siebenten. Roman. Droschl, 144 S., € 18,–

die Satire hinaus, wie aus dem Konzept zu schließen ist, die Liebesgeschichte durch essayistische Exkurse über die „anagogische“ Kraft der Liebe zu erweitern. Analog zu den Brüchen in den Künstlerbiografien von John Lennon, Dante Alighieri und insbesondere von Bob Dylan, den die Liebe zu seiner ersten Frau in mehrerer Hinsicht „elektrisierte“, überschreitet der Grazer Autor in der Thematisierung „seiner“ ­Liebesgeschichte die Formroutine einfachen Erzählens. Mit „Wie im Siebenten“ serviert Andreas Unterweger ein unterhaltsam reflektiertes Debüt, in dem er die picksüß aufgetragene Liebesthematik mit ausreichend Selbstironie zu würzen versteht. PAUL PECHMANN

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In Oberösterreich fällt ein Apfel vom Baum Ein kurzes Buch mit langem Anlauf: Reinhard Kaiser-Mühleckers eindrücklicher Roman „Magdalenaberg“

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ie beste Beschreibung des oberösterreichischen Phlegmas stammt von Robert Musil: „Irgendeine große Schönheit steckt in diesem Land, aber sie kommt nicht weiter und kratzt sich am Schädel. Die Sonne blinkt in der Pflugschar, die Kuh brüllt, die Magd geht, ein Apfel fällt vom Baum. Nebeneinander stehen und geschehen die Dinge, die in ihrer Einfachheit die tiefsten sind.“

Ähnlich unaufgeregt stehen und liegen die

Dinge bei Reinhard Kaiser-Mühlecker. Schon der erste Roman des 1982 in Kirchdorf an der Krems geborenen Autors („Der lange Gang über die Stationen“, 2008) hatte anhand der Beschreibung eines Bauernschicksals aus den 50er-Jahren die Lakonie seiner Erzählkunst gezeigt. Im neuen Buch steckt das oberösterreichische Voralpenland, das man sich als Folie am besten gleich von Beginn an gegenwärtig hält, schon im Titel. Der Magdalenaberg ist ein sanfter Bergrücken südlich von Pettenbach, jenem Ort, aus dem der Ich-Erzähler des Romans stammt, in unmittelbarer Nähe von Eberstalzell, wo Kaiser-Mühlecker aufgewachsen ist. Die Geschichte, die Joseph in „Magdalenaberg“ erzählt, ist zumindest in Teilen die Geschichte des Autors. Und der Ort, an dem er diese Geschichte niederschreibt, ist von den weitläufigen Wellen und den stoischen Rhythmen des Voralpenlandes nicht allzu weit entfernt. Als einen Ort

verschwindet, so wie in Oberösterreich die Äpfel von den Bäumen fallen, nicht weit weg, aber dann doch für immer. Auch das Hauptereignis des Buches, der Anlassfall für Josephs Auseinandersetzung mit sich selbst, ist von derselben lakonischen Unwiderruflichkeit: Der Tod des Bruders, der in Wien unter die Straßenbahn gerät. Auch hier gibt der Erzähler einen genauen und passenden Ort an: die Siebensterngasse im siebten Wiener Gemeindebezirk.

zum Sterben hat der jüngst wiederentdeckte Ungar Antal Szerb in seiner „Reise im Mondlicht“ (1937) Hallstatt bezeichnet. Was wunder, handelt es sich doch hierbei um einen Ort, den – eingeklemmt zwischen See und Berg – zumindest im Winter kaum ein Sonnenstrahl trifft. Vollendet wird die Morbidesse durch das berühmte Knochenhaus: die vielen bemalten Totenschädel – eine Fremdenverkehrsattraktion seit jeher. Bei Kaiser-Mühlecker geht Joseph zum Schreiben nach Hallstatt. Eine Studie über den Musikinstrumentenbau schwebt ihm vor, die jedoch niemals fertig, ja noch nicht einmal so recht begonnen wird. Die Erbschaft eines Onkels, die ihm aus heiterem Himmel zugefallen ist, ermöglicht ihm ein solches Leben. Das klingt ein bisschen nach Thomas Bernhard, ist es aber nicht, denn Kaiser-Mühlecker hält es eher mit Peter Handke. Sanft und behutsam erzählt er, wie zuhause in Pettenbach der Hof von Jo­ sephs Eltern verwaist (und schließlich von einem entfernten Verwandten übernommen wird), denn auch der zweite Sohn ist mit seinem Anteil des Geldes auf und davon.

Obwohl vorderhand nicht viel und oft auch

Behutsam wie die Schilderung eines langsam Reinhard sich bildenden Wassertropfens (ein Bild, Kaiser-Mühlecker: mit dem das Buch – programmatisch – be- Magdalenaberg. ginnt) entwickelt sich auch die Geschichte Roman. Hoffmann mit Katharina. Eine Frau, die plötzlich in und Campe, 192 S., Josephs Leben erscheint und dann wieder € 20,60

gar nichts passiert in „Magdalenaberg“, ist es ein ungeheuer spannendes Buch, denn aufs Abschildern der Ereignisse kommt es hier nicht an. Was zählt, ist die Frage, wie diese (unterstützt von den je spezifischen und stets glücklich gewählten Orten) das innere Erleben bestimmen. Dazu braucht es längere Anläufe, die – wie Kaiser-Mühlecker beweist – nicht unnütz sind, denn erst in langen Intervallen und oft über Umwege gewinnt diese Art des Erzählens ihre Überzeugungskraft. Oberösterreich, die Landschaft und die Mentalität der Leute, wird in „Magdalenaberg“ zu einem überregional wirksamen Beispiel. Am Ende hat es den Anschein, als würde der Ich-Erzähler (wie sein Vater in Pettenbach) selbst „in die Luft reden“ und gerade damit das Entscheidende sagen. Auch über Katharina – wovon hier jedoch nichts verraten wird. K L AUS K ASTBERGER

Steffi gewinnt, und der Hund isst den Keks Ludwig Laher lässt sich in „Einleben“ berührend genau auf ein Mädchen mit Downsyndrom ein die Protagonistin in „Einleben“, J ohanna, hat einen Text von Arno Geiger gelesen,

„Lotta kann fast alles“, die Erzählung über ein „zurückgebliebenes“ Kind. Darin liest Lotta in der Straßenbahn aus einem Schulbuch laut Regenwurmgeschichten vor. Die Auffälligkeit, die sie damit im Waggon erreicht, begründet sie stolz: „Weil ich anders bin.“ „Ein einfühlsamer Text ist das, findet Johanna, voll optimistischer Kraft, Gespür und Reflexionslust.“ Johanna und Mario haben ein Kind mit Downsyndrom (Trisomie 21), und ihr Geiger-Urteil ist wie für Lahers Roman über sie und die kleine Steffi gemacht: einfühlsam, optimistisch, reflexionslustig. Der Oberösterreicher Ludwig Laher, Jahrgang

1955, hat seinen Stoff umstandslos aus der Wirklichkeit genommen und ihn mit einem unprätentiösen Realismus ganz und gar authentisch gemacht. Das Schönste daran: Wenn man einen Menschen sachlich und einlässlich beschreibt, dann gestaltet man seine Unantastbarkeit; Steffi ist ein wunderbar souveränes Wesen, das (weil es) nirgends über seine „Behinderung“ beschrieben oder bestimmt wird, sondern einfach als das, was sie ist: ein emotional ungeheuer kompetentes Kleinkind, das seinen Gefühlen weniger verbal als gestisch Ausdruck und Eindeutigkeit verleiht.

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aber entkommt der Roman nicht dadurch, dass er die Wirklichkeit frisiert, sondern indem er sich auf diese einlässt.

Als Johanna ihr vorsichtig die Trennung von Mario ankündigt, holt Steffi ihren Vater zur Mutter auf die Couch und überbrückt den Raum zwischen den beiden mit ihrem Körper, indem sie ihren Kopf in den Schoß der Mutter legt und mit ihren Füßen den Vater am Oberschenkel hält.

Dabei weist Johannas Leben die erwartbaren

Sehr langsam und behutsam erobert sich Steffi

die Welt. In einem Lokal etwa wird sie auf einen Hund aufmerksam, darf zu ihm. Sie nimmt einen Keks, legt sich in einem Abstand von einem halben Meter parallel zu dem Hund auf den Boden, schaut ihm in die Augen und schiebt ihre Hand mit dem Keks in Zeitlupe in seine Richtung. Der Hund streckt nach einer Weile ebenso langsam eine Pfote nach ihr, übernimmt den Keks und frisst ihn, obwohl er seinem Besitzer zufolge Kekse gar nicht mag. Und im Memoryspielen besiegt Steffi sowieso alle Erwachsenen. Johanna lernt von Steffi. Steffi verstehen zu wollen bedeutet, die Entschleunigung des eigenen Lebens in Kauf zu nehmen oder sogar zu genießen; bedeutet, sich von den standardisierten Haltungen und Zielvorgaben der Gesellschaft zu lösen. Steffi ist anders, aber komplett; von dieser Komplettheit erfährt man erst, wenn man sich auf das Anderssein einlässt. Lahers Roman über ein „Nichtstandardkind“ (eine Formulierung Johannas) ist alles, nur kein Elendsbericht. Dem Elend

Ludwig Laher: Einleben. Roman. Haymon, 165 S., € 17,90

Probleme auf: Bei ihrer Mitwelt stößt sie auf Unverständnis, und ihre Beziehung mit Mario scheitert. Die nachhaltige Berufskarenz und die geistige Unterforderung kommen noch hinzu. Dennoch verzichtet der Autor auf die Heiligsprechung seiner Protagonistin. Johanna hat ihre Ecken und Kanten, und an der Trennung von Mario ist sie selbst wohl nicht schuldlos, legt sie an sein Familienverhalten doch für gewöhnlich einen gnadenlos moralischen Maßstab an. Aber sie hat ein glückliches Kind. Ludwig Lahers Roman besticht durch seine Unaufgeregtheit; er hält sich kaum an literarische Gattungsgrenzen, diskutiert die Probleme auch ethisch oder wissenschaftlich. Die Poetisierung des Gegenstands erfolgt durch Genauigkeit; Steffi wird liebenswert nicht durch Liebeserklärungen des Autors, sondern durch dessen Sachkompetenz. Die Konkretheit und Detailtreue der Beschreibung ist wohl schon eine Form von unsentimentaler Liebe. Der Krankheitsbegriff geht in dieser Sachtreue völlig verloren. Das Buch ist eine überzeugende Einladung zu Vertrauen und Bejahung. H elmut G oll n er

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Kein Fischen im Drüben D

Ein Fluss und eine Kindheitsgeschichte spielen

in Scheuers neuem Roman, real wie symbolisch, die Hauptrolle. Der mehrdeutige Titel „Überm Rauschen“ lässt es ahnen. Wohlgemerkt: nicht nur das Rauschen, sondern auch der Rauschen. Das weiß man hierorts wohl nur dank des Ich-Erzählers Leo, der eine erfreuliche Neigung zum Konkreten an den Tag legt. Die elterliche Gastwirtschaft, direkt am Fluss gelegen, beschreibt er so: „Von der Terrasse aus kann man zum Fluss hinuntersehen, bis zur Stelle vor dem Rauschen, wo das Wasser für die Zehnermühle abzweigt. Der Rauschen, so nennen die Leute auch heute noch das Wehr, weil das Wasser dort tosend in die Tiefe stürzt.“ Mit dieser Ortsangabe scheint man in eine Szenerie der literarischen Idylle versetzt – rauschendes Wasser samt Mühle und eine Gastwirtschaft als Erzähllokal – und zugleich in deren unaufhaltsamen Sturz . Die Idylle hat es hier auch gar nie gegeben: Der Familienroman der Arimond ist ein Schauerroman, geprägt von Gewalt, Grausamkeit und einer Sexualität, die sich davon nicht unterscheidet. Es ist die Kunst des Autors, dass er dieses Familiendrama und den illusionslos gesehenen Strukturwandel einer Provinz(gesellschaft) nicht beschönigt, dass er aber auch keine routinierte, geheimnislose Antiidylle abliefert. Nie läuft er Gefahr, das einfache Leben auf dem Lande ein weiteres Mal als solches zu beschwören. Der Ich-Erzähler sieht in dem Kaff auch nur den einen Sinn: von dort abzuhauen. Vom Glück des Entronnenseins ist freilich kaum eine Spur zu finden.

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Die Erzählgegenwart sind ein paar Tage des Jahres 1996, nicht der Reihe nach erzählt. Der 45-jährige Ich-Erzähler steht jetzt buchstäblich mitten im Fluss und versucht sein Glück in der Kunst des Fliegenfischens – in der er gegenüber seinem Vater und Bruder Hermann nur Niederlagen einzustecken hatte. Für diese beiden war es denn auch eine Obsession, die beim Vater in das alkoholische Delirium und bei Hermann, dem Sohn und älteren Bruder, in den realen Wahnsinn führte. Und auch der Ich-Erzähler, zunehmend vom Alkohol berauscht, erliegt jetzt immer mehr diesem Fischen, das ihm einst so verhasst war: auch er ein gestrandeter Glücksfischer. Leo, der Erzähler, ist nach vielen Jahren nur deshalb wieder in seinen Geburtsort zurückgekehrt, weil Hermann sich in seinem Zimmer verbarrikadiert und lange zuvor schon alle Symptome eines Verrückten an den Tag gelegt hat. Im Kaff und in der Familie kursieren dunkle Gerüchte, dass dies mit dem Tod der mysteriösen Holländerin zu tun habe, die Hermanns große Liebe war. Die naturgemäß bösartigen Gerüchte besagen, dass Hermann schuld an ihrem Tod sei. Ihre Leiche wurde unter der Eisdecke des Flusses entdeckt, zu einem Zeitpunkt, als dieser nicht rauschte. Umso mehr rauschten die Gerüchte. Davor war es umgekehrt: Den ungleichen Brüdern verschwammen im Rauschen die Geräusche der Gastwirtschaft und der elterlichen Gewalt. Dem ununterscheidbaren Rauschen der Gleichgültigkeit widersetzt sich dieser Text mit seiner Artikulation der Verletzungen und des Schmerzes, den Frösten des Ausbruchs. A.S. Byatt hat einmal bemerkt, dass der Roman des 19. Jahrhunderts ausschließlich von der Suche nach dem wirklichen Vater bestimmt sei. Scheuers Familienroman ist ein einziges Drama der Vaterschaft. Jedenfalls ist der, der Vater genannt wird, nicht der leibliche Vater. Ungewiss ist ferner, welcher der vielen Liebschaften ihrer schönen Mutter die zwei Brüder und drei Schwestern entstammen. Von dieser Mutter heißt es – zum Zeitpunkt der Gegenwartshandlung ist sie dement in einem Altersheim –, sie habe nach dem frühen Unfalltod ihres geliebten ersten Mannes Valentin die Liebe verloren. Sie schläft mit (fast) jedem, der in ihrer Gastwirtschaft aufkreuzt: Zum Unglück ihres zweiten Ehemanns, der sich immer mehr aufs Fliegenfischen, Trinken und Zuschlagen verlegt. Der Roman moderiert diese Krassheiten und

die fast ständige Gewalt auf eine sehr zarte und dezente Weise. Das ist große Kunst. Sie hat ihren Preis dort, wo jedes symbolische Potenzial abgerufen wird, das sich anbietet. Von Melville, Hemingway und Hochgatterer abwärts ist alles aufgeboten, was (Fliegen-)Fischen, Fließen, Leben und Erzählen gemeinsam haben (könnten). Die Reihe soll nur zeigen, wie dicht das Gewebe des Bedeutens und des Bedeutsamen schon ist. Scheuers Roman ist aber erzählerisch ungemein klug: Die angeführten Gemeinplätze werden derart an die redenden Figuren delegiert, dass die Fragwürdigkeit des Urteils und der Urteilenden stets sichtbar bleibt, auch die des Erzählers.

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Klug und risikofroh: Norbert Scheuers „Überm Rauschen“ er schlanke Roman von 166 Seiten hat Erfolg: Er wurde in der FAZ vorabgedruckt und für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Vorweg gesagt: völlig zu Recht. Der Roman riskiert einiges und scheut nicht die Grenze zum Selbstmitleid, das nach dem neuesten Wörterbuch der Gemeinplätze männlich und es in diesem Roman auch wirklich ist; er neigt auch zur Kumulation von Schicksal, wie es dem (Familien-)Leben an Flüssen wohl zugestanden werden muss. Der Autor, Jahrgang 1951, knüpft mit Bedacht an Früheres an. „Kall, Eifel“ – so hieß Scheuers 2006 erschienenes Prosabuch – ist erneut der Schauplatz. Dieser real existierende Ort und dieser Landstrich haben das Zeug, zu einer unverwechselbaren Gegend der deutschen Erzählgeografie zu werden. Die Chronistenrolle, die im neuen Roman dem Vater zugewiesen wird, ist vom Autor längst schon besetzt. Das Verhältnis von Erzählen und Beschreiben wird auf eine ungewöhnliche Weise und im Wortsinne ins Bild gesetzt: Der berühmt-berüchtigte Erzähl-Fluss wird immer wieder unterbrochen von Fisch-Zeichnungen des Sohnes des Autors, versehen mit lakonischbedeutsamen Bildunterschriften. Kall, kürzer als Faulkners unaussprechliches Yoknapatawpha („Wasser, das langsam durch die Ebene fließt“, so hat es der Erfinder übersetzt), ist die Eifellandschaft Norbert Scheuers. Im Vergleichsmaßstab angebracht wäre freilich Graham Swifts Roman „Waterland“, der eine Kindheit in den unter dem Meeresspiegel gelegenen Fens im Osten Englands beschreibt.

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„Es ist die Kunst des Autors, dass er dieses Familiendrama und den illusionslos gesehenen Strukturwandel einer Provinz(gesellschaft) nicht beschönigt, dass er aber auch keine routinierte, geheimnislose Antiidylle abliefert Karl Wagner

Norbert Scheuer: Über dem Rauschen. Roman. Beck, 166 S., € 18,40

A. Punkt, Fischerstiege 1–7, 1010 Wien Aichinger Bernhard, Weihburggasse 16, 1010 Wien Berger, Kohlmarkt 3, 1010 Wien Freytag & Berndt, Kohlmarkt 9, 1010 Wien Frick, Kärntner Straße 30, 1010 Wien Herder, Wollzeile 33, 1010 Wien Kuppitsch, Schottengasse 4, 1010 Wien Leo & Co., Lichtensteg 1, 1010 Wien Lia Wolf, Bäckerstraße 2, 1010 Wien Löwelstraße, Löwelstraße 18, 1010 Wien Morawa & Styria, Wollzeile 9, 1010 Wien Morawa & Styria, Rotenturmstraße 16–18, 1010 Wien ÖBV, Schwarzenbergstraße 5, 1010 Wien Schottentor, Schottengasse 9, 1010 Wien tiempo, Johannesgasse 16, 1010 Wien Facultas im NIG, Universitätsstraße 7, 1010 Wien Winter, Landesgerichtsstraße 20, 1010 Wien Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien tiempo nuevo, Taborstraße 17a, 1020 Wien Thalia, Landstraßer Hauptstraße 2a/2b, 1030 Wien Ebbe und Flut, Radetzkystraße 11, 1030 Wien Laaber, Landstraßer Hauptstraße 33, 1030 Wien Jeller, Margaretenstraße 35, 1040 Wien Malota, Wiedner Hauptstraße 22, 1040 Wien Lehrmittelzentrum Technik, Wiedner Hauptstr. 6, 1040 Wien Thalia, Mariahilfer Straße 99, 1060 Wien BVG-Bücherzentrum, Mariahilfer Straße 1c, 1060 Wien Hintermayer, Neubaugasse 27, 1070 Wien Krammer, Kaiserstraße 13, 1070 Wien Posch, Lerchenfelder Straße 91, 1070 Wien Bernhard Riedl, Alser Straße 39, 1080 Wien Eckart, Josefstädter Straße 34, 1080 Wien Lerchenfeld, Lerchenfelder Straße 50, 1080 Wien Buch-Aktuell, Spitalgasse 31, 1090 Wien Leporello, Liechtensteinstraße 17, 1090 Wien Löwenherz, Berggasse 8, 1090 Wien Management Bookservice, Augasse 5–7, 1090 Wien Reisebuchladen, Kolingasse 6, 1090 Wien Yellow, Garnisongasse 7, 1090 Wien BVG-Bücherzentrum, Schönbrunner Straße 261, 1120 Wien Bestseller, Hietzinger Hauptstraße 22, 1130 Wien Hartleben, Hütteldorfer Straße 114, 1140 Wien Morawa V.I.C., Hackinger Straße 52, 1140 Wien Book Point 17, Kalvarienberggasse 30, 1170 Wien Hartliebs Bücher, Währinger Straße 122, 1180 Wien Baumann, Gymnasiumstraße 58, 1190 Wien Fritsch Georg, Döblinger Hauptstraße 61, 1190 Wien Stöger, Obkirchergasse 43, 1190 Wien Thalia, Q19, Kreilplatz 1, 1190 Wien Thalia, SCN, Ignaz-Köck-Straße 1, 1210 Wien Bücher Am Spitz, Am Spitz 1, 1210 Wien LeseZeit, Stockholmer Breitenfurter Straße, 1230 Wien BVG-Bücherzentrum, SCS, Top 155, 2331 Vösendorf Morawa & Styria, SCS, Top 49A, 2331 Vösendorf Berthold, Hauptstraße 51, 2340 Mödling Dietz GmbH, Bahnstraße 1, 2351 Wiener Neudorf Valthe, Wiener Gasse 3, 2380 Perchtoldsdorf Hikade, Schulgasse 2a, 2700 Wiener Neustadt Mitterbauer, Wiener Straße 10, 3002 Purkersdorf Sydy’s, Wiener Straße 19, 3100 St. Pölten Thalia Kremsergasse 12, 3100 St. Pölten Schmidl, Obere Landstraße 5, 3500 Krems/Donau Alex, Hauptplatz 17, 4020 Linz Thalia, Landstraße 41, 4020 Linz Thalia, Schmidtgasse 27, 4600 Wels Thalia, Pfarrgasse 11, 4820 Bad Ischl Michael Neudorfer, Hinterstadt 21, 4840 Vöcklabruck Thalia, Wohlmeyrgasse 4, 4910 Ried/Innkreis Motzko, Rainerstraße 24, 5017 Salzburg Höllrigl, Sigmund-Haffner-Gasse 10, 5020 Salzburg Morawa & Styria – Europark, Europastraße 1, 5020 Salzburg Morawa & Styria SCA, Alpenstraße 107, 5020 Salzburg Rupertusbuchhandlung, Dreifaltigkeitsg. 12, 5020 Salzburg Facultas NAWI-Shop, Hellbrunner Straße 34, 5020 Salzburg Engelhard Brandstätter, Marktplatz 15, 5310 Mondsee Morawa & Styria Sillpark, Museumstraße 38, 6020 Innsbruck Tyrolia, Maria-Theresien-Straße 15, 6020 Innsbruck Wagner!sche, Museumstraße 4, 6020 Innsbruck Jöchler, Malserstraße 16, 6500 Landeck Eulenspiegel, Marktstraße 42, 6845 Hohenems Ananas, Marktplatz 10, 6850 Dornbirn Brunner, Montfortstraße 12, 6900 Bregenz Brunner, Dr.-Schneider-Straße 22, 6973 Höchst Dradiwaberl Uni-Shop, Zinzendorfgasse 25, 8010 Graz Pock, Hauptplatz 1, 8010 Graz Leykam, Europaplatz 4, 8010 Graz Leykam, Stempfergasse 3, 8010 Graz Moser Ulrich, Herrengasse 23, 8010 Graz Leykam, Grazerstraße 9, 8330 Feldbach Heyn Johannes, Kramergasse 2, 9020, Klagenfurt

K AR L WAGNER

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Ein halber Mond wie eine Schiebermütze Nobelpreisträgerin Herta Müller sucht in „Atemschaukel“ nach einer Sprache für die Erfahrung im Lager

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arlam Schalamows „Erzählun- dem Brot“: Einer der Häftlinge stiehlt eierst fünf Jahre später wieder nach Rumägen aus Kolyma“, die zu den nem anderen das Brot, das dieser sich über nien zurück. Die Deportationen und damit eindringlichsten und überzeu- fünf Tage abgespart hat. Als der Diebstahl die nationalsozialistische Verstrickung Rugendsten literarischen Zeugnissen über ans Licht kommt, schlagen die Mithäftlinmäniens mit blieben ein Tabuthema. die stalinistischen Lager gehören, enthält ge den Dieb fast zu Brei und pissen ihm ins Unter den Deportierten war auch der einen Katalog dessen, „was ich im Lager ge- Gesicht. „Dem Brotgericht kann man nicht Dichter Oskar Pastior (1927–2006), ein sehen und erkannt habe“. Im letzten Ab- kommen mit der gängigen Moral“, komFreund der Autorin. Müller selbst ist 1953 satz heißt es dort, der Schriftsteller müs- mentiert der aufschreibende Ich-Erzähler im Banat geboren und 1987 vor Ceaucesse „ein Ausländer“ sein, „in den Fragen, den Fall. cu nach Deutschland geflohen. Zusammen über die er schreibt“. Denn, so die paramit Pastior wollte sie dieses Buch schreiWelches ist die eigene Zeit? Die Jahre im doxe Wendung, „wenn er das Material gut Lager brachten für die Opfer die schlimmsben, er hat ihr vom Lager und der Zwangskennt, wird er so schreiben, dass ihn nie- ten und zugleich intensivsten Schmerz- und arbeit erzählt, er hat mit ihr eine Reise zu mand versteht“. den Schauplätzen der Deportation in der Glückserfahrungen, die sie je in ihrem LeDieser Satz macht klar, dass dem Lager ben machten. Sie sahen, wie andere zu TieUkraine unternommen. nicht mit alltäglicher Vernunft beizukom- ren wurden und wie sie selbst sich wie TieHerta Müller hat Pastiors Erzählungen men ist und auch nicht mit einer alltägli- re verhielten. Mehrere Jahrzehnte hat ein niedergeschrieben, darunter vielleicht chen Sprache. Um für Leser, die das Lager anderer Überlebender und Schriftsteller, „Es war das große auch folgenden Satz Leo Aubergs: „Seit 60 nicht erlebt haben, verständlich zu schrei- Imre Kertész, gebraucht, bis er eine Spra- innere Fiasko, dass ich Jahren will ich mich in der Nacht an die Geben, muss die persönliche Erfahrung wie che und eine Form für die Zeit in Ausch- jetzt auf freiem Fuß genstände aus dem Lager erinnern.“ Und im Falle Schalamows, der jahrzehntelang witz und Buchenwald, das heißt für seinen unabänderlich allein von den Gegenständen in ihrer alltägliin Stalins Lagern interniert war, müssen „Roman eines Schicksallosen“ fand. Kerté- und für mich selbst ein chen Nacktheit und ihrer poetischen Überdie Erzählungen anderer im Falle des Bu- sz’ „Galeerentagebuch“ gibt Auskunft über falscher Zeuge bin“ höhung vor allem spricht dieses Buch: von ches von Herta Müller dem Schreibenden die jahrelange sprachliche Verdichtung den Ziegelsteinen, dem Ziegelstaub, den liestwerden. aus Herta Müller fremd Er muss zum „Ausländer“ und Entschlackung des Stoffes. Ein Satzliest Kohlearten, dem Sand, dem Brot, den Kleiaus aus werden, der sich die Sachverhalte mithilfe Herta Müllers Roman gilt auch für Kertész: dungsstücken. Es ist ein Zwang: „Ich muss einer Sprache, die er nur unvollständig be- „Es war das große innere Fiasko, dass ich mich erinnern gegen meinen Willen.“ Wie herrscht, mühsam zurechtlegt. Pastior ist auch Herta Müllers Figur Leo jetzt auf freiem Fuß unabänderlich allein Die Erzählungen der Opfer, die in der und für mich selbst ein falscher Zeuge bin.“ zweifach bedroht: als Angehöriger der Eine romantische Vampirgeschichte Regel Schriftsteller sind, produziedeutschen Minderheit in Rumänien und Wie der Auschwitzüberlebende empfindet Derkeine Zeitzeuge präsentiert eine faszinierende Bilanz aus dem Wien des 19. Jahrhunderts ren oft Klischees, sagt Herta Müller. Die auch Herta Müllers aus dem sowjetischen als Homosexueller, der im Krieg, im Lager individuellen Traumata von Menschen Arbeitslager zurückkehrender Ich-ErzähMontag, 19. Oktober 2009, 19 Uhr Mittwoch, 4. November 2009,und 19 im Uhrstalinistischen Rumänien ständig etwa, die den Bombenkrieg gegen die Zi- ler „Heimweh“: „Wieso zwinge ich das Lagefährdet ist. 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 Eintritt frei 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei vilbevölkerung erlebt haben, verschwinger, mir93 zu 53, gehören.“ „Atemschaukel“ wurde als sprachmächtiges den hinter Sätzen wie „Es war eine schlimBuch von vielen Rezensenten gelobt. Es me Zeit damals“ oder „Wir haben viel Müllers Roman hat eine jener unfassbaren Entscheidungen zur Grundlage, die das 20. wurde andererseits als postexpressionistidurchgemacht“. Jahrhundert zum Jahrhundert des kollekscher Kitsch, als sprachliches SecondhandEin anschauliches Bild vom Lageralltag zu ent- tiven Terrors und der Lager werden ließen: Verfahren auch vehement kritisiert. Neben werfen, das braucht einmal Zeit. Zeit, um Kurz vor Kriegsende, im Sommer 1944, Passagen wie der zitierten über den Brotzu verstehen, in welche Zeit das Lager ei- wechselt Rumänien, das sich vorher auf diebstahl oder jener, in der beschrieben gentlich eingeordnet werden kann. Die Hitlers Seite geschlagen hatte, die Fronten wird, wie ein Mann seiner Frau im Lager historischen Daten sind dürftige Anhalts- und erklärt Hitlerdeutschland den Krieg. die Suppe weglöffelt, bis diese stirbt und punkte, die Sprachklischees sagen we- Die deutsche Bevölkerung Rumäniens dann der neuen Frau den Mantel der Vernig darüber aus, wie es ist, über Jahre nur wird von der Sowjetunion unter einen Nastorbenen umhängt, neben solchen Abvonliest einem Gedanken gepeinigt zu werden: zigeneralverdacht gestellt, nicht ganzliest un- aus schnitten, die einem den Hals zuschnüaus dem Gedanken an Essen, den Halluzinatio- berechtigt, waren doch viele Menschen in ren, gibt es immer wieder eine Anhäufung nen, die der Hunger hervorruft. „Der Hun- den deutschsprachigen Gebieten Rumänivon Metaphern, die dem Buch nicht guttut; gerengel“ ist eine Figur, die Herta Müller ens begeisterte Nazi-Anhänger. und zwar deshalb, weil sie etwas suggerieAuchvor dieder Eltern jenes fiktiven LeoDer Au-geniale Satiriker tanzt über fürEin diesen Zustand erfindet, derdes Hungerenren, den das weniger mit Erfahrungen als vielAbgründen. fulminanter Auftritt Ermittlers Polt vertrauten AlgelKulisse sitzt imder Kopf, er schwebt über den La- berg im Roman, der im Jänner 1945 imScharfsinnig mehr mit angesichts der Lagerrealität seltund unterhaltsam Weinviertler Kellergassen gerinsassen, er zeichnet sich in den schma- ter von 17 Jahren von Hermannstadt in ein sam kraftlos wirkenden Sprachbildern und ler Donnerstag, werdenden Gesichtern ab. „Alle mit19 literarischen (Paul Celan-)WortassoziaMittwoch, 18. November 2009, Uhr 29. Oktober 2009,Tage 19 Uhrukrainisches Arbeitslager deportiert wird, zusammen mit allen deutschstämmigen hat3., mir der Hungerengel das Hirn gefrestionen zu tun hat. 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei sen.“ Einer der eindringlichsten Abschnit- Männern und Frauen zwischen 17 und 45. Mit dem Mond zum Beispiel: „Das gante im Roman heißt „Der Kriminalfall mit Wie auch Herta Müllers Mutter kehrt er ze Jahr gibt es überm Russendorf die Langeweile des dünnen Mondes, sein Hals simuliert eine Gurkenblüte oder eine Trompete mit grauen Fingerklappen.“ Im nächsten Satz „wächst ein halber Mond wie eine Schiebermütze“, im übernächsten „schaut vom Himmel herunter die Langeweile einer ganzen Mondkugel“. Es gibt ein zentrales Problem bei der Bearbeitung des ungeheuren Stoffes: Wie lässt sich ein erlebendes Bewusstsein mit einem später berichtenden vermitteln? liest aus Dieses Problem ist in Herta Müllers jüngstem Roman nur ansatzweise gelöst, am besten dort, wo dieser ganz nah bei den Gegenständen ist, bei den Löffeln, den Mänteln, Barbara erhält eine Serie von Briefen, in denen ein Mann, der Kohle – und damit bei den Menschen, der sich für Jesus hält, herauszufinden versucht, warum die für die diese Gegenstände Glück, HeimErlösung nicht stattgefunden hat weh, Schmerz, das Überleben und den Tod Herta Müller: bedeuteten. Im ukrainischen Lager, von Freitag, 30. Oktober 2009, 19 Uhr Atemschaukel. dem Herta Müllers Buch erzählt, fanden 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei Roman. Hanser, 334 Menschen den Tod.

Paul Schulmeister

Ulrike Schweikert

„Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick“

„Herz der Nacht“

Alfred Komarek

Alek Popov

„Polt!“

„Für Fortgeschrittene“

Peter Henisch

„Der verwirrte Messias“

299 S., € 20,50

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„Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Ich weiß nur, dass ich wegmusste. Alles, was ich war, trage ich bei mir, alles, was ich sein werde, wartet auf der Straße vor mir. Ich will im Gehen denken, auf der Flucht leben“ MA JIAN:„RED DUST“ SEITE 6

Pandabären im Zoo Schönbrunn

Ich komme mir irgendwie bekannt vor Souverän erzählt Kathrin Schmidt vom Versuch einer Frau, die eigene Souveränität wiederzugewinnen ls Geschenk für Hypochonder ist A ­dieses Buch definitiv nicht geeignet. Es erzählt die Geschichte einer 44-jähri-

Foto: julia fuchs

gen Frau, die eines Tages vom Geräusch ­k lappernden Bestecks erwacht und sich in der Küche ihrer Eltern glaubt. In Wirklichkeit ist sie, was ihr noch längere Zeit nicht klar wird, im Spital. Verkabelt, bewegungsunfähig, der Sprache nicht mächtig – was ihr in den Sinn kommt, ist Englisch. Sie weiß nicht, wer genau sie ist und was mit ihr passiert ist. Sie hat Angst – Angst, ferngesteuert zu sein. Immerhin freut sie sich über Besuch: „Die kennt sie. Es sind ihre Söhne. Deren Namen wollen ihr zwar nicht einfallen, aber das macht jetzt nichts. Sie glaubt, sie lacht.“ Helene Wesendahl (ja, „Helene“ kommt ihr bekannt vor) erfährt, dass sie eine Hirnblutung als Folge eines geplatzten Aneurysmas hatte, zweimal operiert wurde. Ihr erstes Wort ist „Matthes“, so heißt ihr Mann, sie sagt „Mads“: „Er versteht es! Ihr Ehrgeiz ist entfacht. Bist Eulen?, fragt sie ihn. Er guckt. Überlegt er? Ruft plötzlich: Ja, bin Eulen! Ja, ja! Sie könnte nicht Jandl sagen, denkt sie. Nicht Mayröcker.“

Dass die Patientin imstande ist, von ­ihrer Kenntnis der österreichischen Gegenwartsliteratur zu profitieren, verweist auf ihren Beruf, der ihr selbst aber erst ­später wieder einfällt: Sie ist Schriftstellerin, die Rückeroberung der Sprache ist also ein in

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Gehen muss die Patientin neu lernen, auch das Fühlen. Dass der Verdacht, die Autorin, eine ausgebildete Psychologin, müsse Ähnliches selbst erlitten haben, bestätigt wird, tut nichts zur Sache dieses außergewöhnlichen Buchs. „Du stirbst nicht“ ist alles andere als eine betuliche Krankengeschichte, wie der Titel vermuten ließe. Hier kämpft jemand um seine Souveränität, praktiziert Witz als Notwehr.

jeder Hinsicht existenzielles Unterfangen. Mithilfe ihres Laptops, ihrer Mails, ihrer Texte, die sie liest, als wären sie von einer Fremden geschrieben, unternimmt Helene immer ausgedehntere Expeditionen in die eigene Vergangenheit. Die Aphasie bildet sich nur langsam zurück,

immer wieder stürzt das „Wortkartenhaus“ zusammen. Während sie bereits Komplexes schreiben kann – mit besserwisserischen Therapeutinnen kommuniziert sie schriftlich –, fällt das Sprechen noch schwer: „Matthes war heute wieder da und fragte, was es zu essen gegeben habe. Als er nachfragte, sagte sie wieder Sand. Er wiederholte es, und da fiel ihr natürlich auf: Sand war völlig falsch. Quark hatte sie sagen wollen. Quark mit Kartoffeln. Sie haben gelacht.“ Mit den Wörtern stellen sich Erinnerungssplitter ein, mit ihnen neue Wörter. Die letzten Wochen vor dem Hirnschlag scheinen ausgelöscht, dann dämmert es Helene: Da war etwas mit Matthes, der jetzt so selbstverständlich und kämpferisch für sie da ist. Ja, sie wollte von zuhause ausziehen, wegen einer Liebesgeschichte, die Viola hieß und einst ein Mann war. So bizarr das in der Zusammenfassung klingt: Aus Helenes Perspektive, die ganz und gar die des Lesers ist, entsteht das Puzzle des wiedergefundenen Lebens, Stein für Stein, bezwingend unspektakulär. Nicht nur das

Kathrin Schmidt kommt ursprünglich von der

Kathrin Schmidt: Du stirbst nicht. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 352 S., € 20,60

Lyrik. In einer prägnanten und überaus vitalen, ungeschminkt wirkenden Sprache schildert sie nicht nur den dornigen Genesungsweg einer zum Neubeginn verurteilten Frau, mit seinen kleinen Fortschritten und massiven Rückfällen, als Gratwanderung zwischen Unvernunft und Selbstbehauptung gegen die ärztliche Übermacht. Vor allem erzählt Schmidt hier, nicht schlicht und doch ergreifend, die Geschichte einer Ehe, einer Jugend in der DDR, aber auch einer im Arbeiter- und Bauernstaat schier unmöglichen Transgenderexistenz. Am Ende steht der Anfang, das Gefühl, von einem „Schnipsgummi“ am Kopf getroffen worden zu sein, das Bild reißt, die Beine geben nach, sie schafft gerade noch den Weg ins Wohnzimmer zu Matthes. „Ich sterbe, sagt sie ruhig. Du stirbst nicht, sagt er ruhig.“ DANIEL A STR IGL

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Liter atur

Weiß doch jeder, dass wir kein Geld haben Joachim Lottmann hat sich für seinen neuen Roman den Titel „Der Geldkomplex“ ausgeborgt Euro. So hoch wird, 10.0 0 0 über den Daumen gepeilt, der Vorschuss gewesen sein, den Jo-

hannes Lohmer für seinen nächsten Roman bekommen hat. Details nennt der Mann von Welt keine. Denn: „Ohne darüber je nachzudenken, war für mich die erste und letzte aller Wahrheiten, dass feine Menschen über Geld weder redeten noch groß nachdachten.“ Dass die Überweisung erst auf einen peinlichen Fehler seines Lektors hin vorgenommen wurde, interessiert im Nachhinein niemanden mehr. Hauptsache, der ewig schnorrende Lohmer vulgo Jolo, der schon in allen Clubs von Berlin-Mitte Hausverbot hatte und um die Suppenküchen herumstrich, ist wieder im Geschäft und auf dem Weg zum deutschen Großschriftsteller.

Willkommen in Lottmanns verrückter Welt.

Joachim Lottmann, selbsternannter Vater der deutschsprachigen Popliteratur und Borderliner zwischen Wirklichkeit und Erfindung, legt mit „Der Geldkomplex“ seinen fünften Roman vor. Er schreibt damit „Die Jugend von heute“ (2004) und „Zombie Nation“ (2006) fort, in denen er von den Erlebnissen seines Alter Ego Jolo unter jungen Menschen in einem geriatrischen Land berichtete. Der Reiz der Lottmann’schen Prosa liegt in ihrer Verschmitztheit. Es lässt sich nie genau sagen, wie ernst es dem Ich-Erzähler mit seinen launigen Überlegun-

gen über Hartz IV und das karge Brot der Schriftstellerei ist. Oft meint er genau das Gegenteil von dem, was er sagt. Nicht umsonst gilt Lottmann als Mitentwickler der später von Harald Schmidt perfektionierten Strategie des Totlobens: Man wiederholt ein Lob so oft, bis es unglaubwürdig wird und sich letztlich gegen den Gelobten richtet. Das hilft zum Beispiel auch gegen Klagen beleidigter Zeitgenossen. Und die gibt es bei Lottmann nicht zu knapp, schließlich zieht er einen Großteil seiner Bücher aus dem eigenen Leben. Eine Verfremdung des autobiografischen Materials bei der Niederschrift kann, muss aber nicht stattfinden. Auch den Titel „Der Geldkomplex“ hat er entliehen. So hieß schon der bekannteste Roman der Schwabinger Partyqueen Franziska Gräfin zu Reventlow (1871–1918), die in dem Buch (Untertitel: „Meinen Gläubigern zugeeignet“) ihre Flucht vor der Armut in ein Sanatorium beschreibt. Sie begreift das Geld darin als „persönliches Wesen“, über das sie der Ansicht war: „Durch liebevolle Indolenz verdirbt man’s vollständig mit ihm.“ Lottmann verlegt die Handlung ins heutige Berlin und schreibt über sich und die Kulturboheme: „Jeder weiß doch, auch wenn man es verdrängt: Niemand von uns hat Geld.“ Blöderweise hat sein Protagonist aber gerade eine sehr vollbusige, liebestolle junge Freundin namens Elena Plaschg am Hals, die ihn aufgrund seines Alters

für eine Art Sugar Daddy hält und ständig brüllt: „Wo ist mein Geld?“ So ist das mit der Jugend: „Der Medientrash wurde im eigenen blöden Leben nachinszeniert.“ Ein wenig Trost findet Lohmer bei Melanie Butenschön, dem kämpferischen jungen Sexsymbol der PDS. Seine Sorgen bringt er bei ihr freilich auch nicht an: „Ich hätte ihr gern gesagt, dass ich verarmt sei, dass ich altes Knäckebrot fremder Leute essen musste, dass ich bedürftiger war als alle ihre verdammten Hartz-IV-Berufsarmen.“ Zu bunt wird es ihm in Germoney, als Elena behauptet, von ihm schwanger zu sein. Er setzt sich nach Italien ab. Kurzzeitig erwägt er, Fischer zu werden: „Ob das schwer war? Bestimmt nicht schwerer als Popliteratur schreiben.“ Tiefere Einsichten über das Wesen des Geldes

Joachim Lottmann: Der Geldkomplex. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 351 S., € 10,30

darf man sich bei einem Mann der Oberfläche wie Lottmann nicht erwarten. Mal hat man halt weniger, mal etwas mehr davon, mal gar keins. Bei seinem Helden verläuft es übrigens schön antizyklisch, sein Vorschuss kommt just in dem Moment, in dem die Finanzkrise richtig reinhaut. Wie man sich verhält, wenn man plötzlich selber angepumpt wird, lernt Lohmer schnell: „Es geht darum, dass Leute, die nichts von einem bekommen, am Ende voller Liebe und Dankbarkeit vor einem stehen, als hätte man sie sehr wohl beschenkt und mit Geld überschüttet.“ SEBASTIAN FASTHUBER

„Aber bescheißen muss man sie“ Clancy Martin erzählt in „Verkaufen“ von den schmutzigen Geschäftspraktiken der Schmuckbranche Dollar ohne Fassung 50.0 0 0 ist allein der Sechskaräter wert, insgesamt ist das Collier aus

„perfekt kalibrierten, naturbelassenen, echten changierenden sibirischen Alexandriten im Carréschliff“ 400.000 wert. Leider ist es ein Ladenhüter. Schön allein reicht nicht: „Wenn ein Ehemann oder Liebhaber eine halbe Million Dollar für ihr Collier ausgegeben hat, will eine Frau, dass ihre Freundinnen wissen, wie teuer es war, und sichergehen kann man da nur mit großen Diamanten.“

Diamonds are a girl’s best friends – das ist auch, so scheint’s, in den 80er- und 90erJahren des vergangenen Jahrhunderts so, in denen das Romandebüt von Clancy Martin spielt – obwohl man sich während der Lektüre wiederholt fragt, wann sich das denn alles zugetragen haben mag. Der legere Umgang der Protagonisten mit Drogen scheint eher auf zwei, drei Jahrzehnte davor zu verweisen, aber was weiß unsereins schon von der amerikanischen Schmuckund Luxusuhrenbranche! Clancy Martin, Jahrgang 1967, hat, wie’s im Klappentext heißt, „viele Jahre in Schmuck und Edelsteinen gemacht“. Er hat Nietzsche und Kierkegaard übersetzt und ist heute Associate Professor für Philosophie an der University of Missouri, Kansas City, wo er unter anderem business ethics unterrichtet. Die Vorlesung haben die Pro-

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tagonisten aber ganz gewiss nicht belegt, denn von Geschäftsethik ist in „Verkaufen“ nicht viel zu merken. Lediglich den Ich-Erzähler, Bobby Clark, wandeln hin und wieder Skrupel an, sodass er eine Kundin, die im Begriff ist, ihren Ring um ein Zehntel des Marktpreises zu verscheuern, dazu rät, mit diesem doch lieber zur Konkurrenz zu gehen – zum nicht geringen Ärger von Bobbys um rund sieben Jahre älterem Bruder Jim, der überhaupt nichts dabei findet, aus der desperaten Situation der jungen Frau Kapital zu schlagen. Geschäft ist Geschäft, zu verschenken gibt es nichts, jedenfalls nichts, was sich unterm Schlussstrich nicht rechnet. Am allerwenigsten wird Treue belohnt, und so bezahlen die Clarks einer alten Stammkundin für eine 400-teilige Tiffany-Essgarnitur gerade einmal den Silberpreis, den auch der Schmelzer zahlen würde: „So läuft das mit den Stammkunden, weil man sie schon am Haken hat, kann man sie umso leichter bescheißen. Aber bescheißen muss man sie, um all die mageren Deals wettzumachen, mit denen man sie überhaupt erst an Land gezogen hat.“ Um die fetten Deals einzufädeln, agiert vor allem der abgebrühte Jim ziemlich dreist – etwa, wenn er eine Damen-TwoTone-Rolex, die bloß zum Service soll, kurzerhand in den Dampfreiniger spannt und mithilfe von echten und gefälschten Verpackungsteilen als neu verkauft: Die begehr-

ten Modelle sind vor Weihnachten knapp, und die Uhr für die Frau eines reichen Kunden dient nur als Vehikel, um diesem das eingangs erwähnte 400.000-Dollar-Collier anzudrehen.

Clancy Martin: Verkaufen. Roman. Aus dem Amerik. von Robin Detje. Berlin Verlag, 315 S., € 20,50

Die fiesen Tricks der Verkäufer gehören zu den interessanten und lesenswerten Facetten eines Romans, der insgesamt dennoch nicht als geglückt gelten kann. Denn der zweite Handlungsstrang, in dem es vor allem um das Verhältnis der beiden Brüder geht, ist um kaum ein (Geschlechter-)Klischee verlegen. Vor allem hat man sich an Typen wie Bobby, diesen orientierungslosen, bereits in jungen Jahren so furchtbar müden Männern mit ihrem dann auch noch lustlos exekutierten Frauen- und Drogenkonsum (Sex ist hier vor allem anstrengend) doch schon vor geraumer Zeit sattgelesen. Hinzu kommt, dass die gelegentlich recht hanebüchene Übersetzung mit ihren ungelenken Anglizismen und Saloppheiten der Leselust auch nicht unbedingt förderlich ist: Da wird etwa über den „intrinsischen Wert“ der Dinge räsoniert, und an anderer Stelle muss man Sätze wie „Mann. Vielleicht sollte ich das lieber selber handlen“ oder „Ich trieb Lisa hinten an Jims Schreibtisch auf“ über sich ergehen lassen. Der Preis für das glanzlackbedruckte Hardcover von „Verkaufen“ ist okay, seine Zeit aber kann man mit aufregenderer Lektüre K L AUS NÜCHTERN verbringen.

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Eine Fußmassage für den Businesskasper Der Roman zur Wirtschaftskrise: Terésia Moras „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ in bar, eingeschlagen 4 0.0 0 0 in zwei A4-Blätter 80 g Universalkopierpapier und noch mal in einen Karton gesteckt, liegen im Büro von Darius Kopp. Diese 40.000 sind die Rückzahlung für einen geplatzten Deal, für den der Kunde zwar die erste Tranche zweier Lieferungen bezogen, aber die vereinbarten 100.000 nie bezahlt hat. Die Währung – Euro? Dollar? – wird übrigens nicht spezifiziert, und das ist letztlich auch vollkommen egal: Die 40.000 sind so etwas wie der MacGuffin des Romans. Wobei die Behauptung, dass sie diesen vorantrieben, schon wieder etwas übertrieben wäre: Das Geld treibt Kopp um, gewiss; es verursacht ihm Kopfzerbrechen, aber es wird auch Tage und 300 Seiten nach Erhalt immer noch nicht geklärt sein, was damit zu geschehen hat. Bei Summen über 10.000 ist laut Geldwäschegesetz nämlich der Nachweis geboten, dass das Geld von sauberen Konten stammt – und den kann Kopp nicht erbringen.

in the D/A/CH region and Eastern Europe, in Diensten von Fidelis Wireless, the global pioneer in developing and supplying scalable broadband wireless networking systems for enterprises, governments and sverice providers. TURN TO US.“ Schön auch, dass der Dicke wieder Saison hat!

„Wie sie sich untereinander austauschen. Wie sie sich alle einig sind, dass solche Typen, solche telefonierenden, Anzug tragenden, Laptop tragenden Wichtigtuer und Businesskasper das Letzte überhaupt sind … “ Terézia Mora

Terézia Mora hat den Roman der Saison ge-

Nachdem schon Sibylle Berg in ihrem jüngsten Roman „Der Mann schläft“ männlicher Korpulenz ein Denkmal errichtet hat („Er rollte sich aus auf den Rücken wie ein Walfisch, der von weinenden amerikanischen Frauen ins Meer zurückbefördert wird. Alles an ihm war groß und rund, die Augen, die Füße, der Körper, er wirkte wie ein Spielzeug für Kinder, das man in die Badewanne legt und das über Nacht das Zehnfache seiner eigentlichen Größe erreicht“), wirft auch Mora ein freundliches Auge auf einen Bladen im Bett: „Er seufzte und rollte sich aus dem Bett. Er ist ein korpulenter Mann, 106 Kilo bei 178 cm Körpergröße, zum Glück ist das meiste davon Knochen, der Rest konzentriert sich in der kompakten Halbkugel eines Bauches, fest und glatt wie der Bauch einer Schwangeren, und darüber, leider, ein Paar Männertitten, aber sie sagt, sie liebt mich, wie ich bin, und es gibt keinen Grund, ihr nicht zu glauben.“ Dass der Held in seiner selbstgenügsamen Wonneproppenhaftigkeit nicht unbehelligt bleiben wird, ist klar. Wer es mit seinen Figuren allzu gut meint, bringt selten gute Literatur hervor. Es ist eine schöne Pointe des Romans, dass die gern als virtuell beschriebene Sphäre der Finanztransaktionen hier etwas zurückerstattet bekommt, was auf den Wirtschaftsseiten systematisch ausgeblendet und verdrängt wird: die Physis ihrer Protagonisten. Die beiläufige Akribie, mit der sich Mora der Somatik ihres Helden widmet, lässt sich durchaus als subtiler Humanismus deuten. „Er wartete, bis Flora Feierabend hatte. Sie kamen gegen 3 Uhr zu Hause an. Sie ging baden, er sah fern, dann ging er ins Bett, dann kam sie ins Bett, er erwachte noch einmal, sie hatten Sex. Als sie endlich einschliefen, ging die Sonne schon auf.“ So soll es sein. So wird es nicht bleiben. Der Rhythmus aus Hektik und Müßiggang, Phlegma und Verzweiflung bestimmt auch den Rhythmus des Romans. Nachdem Kopp

schrieben. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ ist das Buch zur Krise, und vielleicht ist diese Aktualität der Jury zum Deutschen Buchpreis so suspekt gewesen, dass sie es verabsäumt hat, es für die Shortlist zu nominieren. Verdient hätte es das allemal, zumal die angesprochene Aktualität nichts Forciertes hat und sich gewiss keinem Kalkül der Autorin verdankt; in jedem durchschnittlichen Zeitungsartikel kann man mehr über Immobilienblasen, Hedgefonds, faule Papiere und überzogene Renditenerwartungen lesen. Mora behelligt den Leser nicht mit seitenlangen ökonomischen Ergüssen, um nachzuweisen, dass sie ihre Rechercheaufgaben auch brav erledigt hat, sie verwendet gerade so viel Realien und branchenspezifische Begriffe, um einen Eindruck davon zu vermitteln, worum es geht; wie gedacht und geredet wird, und wie sich eine Welt anfühlt, in der das realphysische Auftauchen eines fünfstelligen Betrags möglicherweise irrealer und verstörender wirkt als dessen Verschwinden. Der Roman nähert sich seinem Protagonisten, dem erwähnten Darius Kopp, freundlich, mitunter fast zärtlich, dann wieder mit sanfter Ironie. Der beträchtliche Charme und die Leichtfüßigkeit, die das Buch auszeichnen (Qualitäten, für die deutschen Juroren mitunter auch ein wenig das Gespür fehlt), haben auch mit den tänzelnden Perspektivwechseln zu tun, in denen der Roman ansatzlos von der dritten in die erste Person wechselt oder Kommentare eines Erzählers einschiebt: „Der neue Besitzer entließ die gesamte Eloxim-Belegschaft. Das hatte nichts mit unserer Person oder unserer fachlichen liest aus zu tun, im Gegenteil, unsere Kompetenz Person und unsere fachliche Kompetenz spielten nicht die geringste Rolle. Das mag im Fall von Darius Kopp auch nicht anders gewesen sein, nur dass man ihn als EinzigenDer nicht feuerte, sondern ihm die Leitung Zeitzeuge präsentiert eine faszinierende Bilanz des ,gemeinsamen‘ Büros für das deutsch- Terézia Mora: Der sprachige Mitteleuropa Montag, 19. Oktobersowie 2009,Osteuropa 19 Uhr einzige Mann auf dem anvertraute. Ab heute bin ich der einzige Kontinent. Roman. 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 93 53, frei Luchterhand, 379Eintritt S., Mann auf dem ganzen Kontinent, Flora. Sa- 01/718 les and regional sales manager Darius Kopp € 22,60

Paul Schulmeister

„Wende-Zeiten. Eine Revolution im Rückblick“

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zu einem Termin gehetzt, dennoch eine geschlagene Stunde zu spät gekommen und vom Kunden zusammengestaucht worden ist („Ein Ort, ein Zeitpunkt, das ist doch keine Kernphysik!“), driftet Kopp durch ein Einkaufszentrum, sortiert die Essensangebote (Fischrestaurant? Würstchenbraterei? Bäckerei?), entscheidet sich für den SuhsiStand, besorgt sich ein Paar Aloe-Vera-Socken und ein Paar bequeme Schuhe und gönnt sich eine Fußmassage: „So lag Darius Kopp an einem Dienstagnachmittag im Herzen des Einkaufszentrums, die Füße im Fußbad, auf einem vibrierenden Stuhl, und atmete durch die Nasensonde besonders frische Luft ein, die so roch, wie sich die Geräusche in den Kopfhörern anhörten: nach Regen in den Tropen.“ So könnte es sein. So wird es nicht bleiben. Als Kopp von einem Krankenhausbesuch bei seiner Mutter (die dann doch nur davon geträumt hat, dass ihr ein Bein abgenommen wird) heimfährt, kündigt sich der Horror schon im Bahnhofsgebäude an, „das aktuell gar keins ist, stattdessen ein Irrgarten aus Bautunneln, überall herausziehendem Staub, provisorischen Aufschriften und infernalischem Lärm“. Im Zugabteil dann riecht es definitiv nicht nach Regen in den Tropen, „sondern nach Hosennaht. Nach verdeckten Fürzen“, und Kopp steht, panisch auf den Feldstärkebalken seines Handy-Displays starrend, in den Augen der Mitreisenden genau als jene Karikatur des Geschäftsmanns da, die man aus mediokren Satiren kennt: „Wie sie sich untereinander austauschen. Wie sie sich alle einig sind, dass solche Typen, solche telefonierenden, Anzug tragenden, Laptop tragenden Wichtigtuer und Businesskasper das Letzte überhaupt sind, dabei kann man ihnen keine Stecknadel in den Arsch schieben, so gekniffen sind sie, und immer diese Telefoniererei, Leute, die telefonieren, wen interessiert das schon … etc. etc.“ Jeder von uns ist einem solchen schon mal begegnet und hat Ähnliches gedacht. Dieser hier ist gewiss nicht das größte Licht auf Erden, aber wir würden ihm jederzeit eine Fußmassage gönnen. Und das ist nicht das Schlechteste, was Literatur erreichen kann. K L AUS NÜCHTERN

Ulrike Schweikert liest aus

„Herz der Nacht“ Eine romantische Vampirgeschichte aus dem Wien des 19. Jahrhunderts

Mittwoch, 4. November 2009, 19 Uhr 3., Landstraßer Hauptstraße 2a-2b, 01/718 93 53, Eintritt frei

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Liter atur

Der Dichter, der die Zinsen hasste ESSAY: STEPHAN SE T TELE

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m Verlauf der frühen 20er-Jahre, noch vor seiner Übersiedlung von London und Paris ins italienische Rapallo, wo er bis zu seiner Verhaftung am Ende des Zweiten Weltkriegs bleiben sollte, rückt die Beschäftigung mit ökonomischen und monetären Zusammenhängen erstmals in den Mittelpunkt von Ezra Pounds Denken und Schreiben. Sein episches Großgedicht und jahrzehntelanges Work in Progress, die fortlaufend durchnummerierten „Cantos“, wird ebenso zum Ort ökonomischer Zuspitzungen wie die zahlreichen Essays, die er für englische und amerikanische Zeitschriften von seinem ­ligurischen Refugium aus verfasst. Für einen Autor, der sich im Wissen um die Vergangenheit der Realität seiner eigenen Zeit stellen will, dürfe es keine durch Moden oder literarische Genres begrenzten Themen geben: „Ein Epos ist ein geschichtsträchtiges Gedicht. Ich kann nicht erkennen, wie heute jemand, der kein völliger Dummkopf ist, glauben kann, er wisse etwas von Geschichte, solange er die Ökonomie nicht versteht. Jede echte Darstellung des modernen Lebens wird sich mit Situationen zu befassen haben, die zu 80% monetärer Natur sind, auch wenn sich einfältige Autoren nicht einmal dieses ihren Fiktionen zugrunde liegenden Faktums bewusst sind.“ Während sich Pound als ökonomischer

Autodidakt durch zahlreiche nationalökonomische Schriften liest, gerät die zinsfordernde Geldschöpfung per Kredit durch die Geschäftsbanken – mit der in den USA ab 1913 fast über Nacht installierten amerikanischen Zentralbank Federal Reserve im Hintergrund – immer deutlicher zum verfemten Mittelpunkt seiner ökonomischen Betrachtungen. Doch es sind in all diesen Jahren auch etliche individuelle Erfahrungen in seiner finanziell stets gefährdeten Existenz, die zu einer Verfestigung dieser mitunter noch schwelenden Überzeugungen beitragen. Nicht zuletzt war sich Pound wohl auch des persönlichen Paradoxons bewusst, dass er und seine Frau Dorothy sowie Nebenfrau und Muse Olga Rudge im inflationszerstörten Europa über einen enormen Währungsvorteil gegenüber der verarmten einheimischen Bevölkerung verfügten. Zudem verdankte sich ein Großteil ihrer bescheidenen Einkünfte ausgerechnet noch den regelmäßigen Zinszahlungen, die seine Frau aus einem kleinen Wertschriftendepot in London erhielt. Legendär ist Pounds unermüdliches Engagement für andere Künstler und seine damit einhergehende Beschäftigung mit einer zeitgemäßen Form des Mäzenatentums. Die Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts sähe bestimmt anders aus ohne die jahrelange Unterstützung,

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mit der Pound die Karrieren von damals noch erfolglosen Literaten wie T.S. Eliot, James Joyce, William Carlos Williams, HD (Hilda Doolittle), ­Louis Zukofsky oder seines lebenslangen Freundes Ernest Hemingway mit auf den Weg brachte. Pound war davon überzeugt, dass in den USA der 20er-Jahre „kaum die fünf besten Schriftsteller des Landes“ von ihrer Arbeit anständig leben konnten, was ihm ein weiterer Beweis für eine ökonomisch vollends irregeleitete Zeit zu sein schien. Die führenden Künstler einer Epoche sollten keine Bittsteller und Hungerleider sein, sondern umgekehrt wie in einer idealisierten toskanischen Renaissance plus zupackendem amerikanischem Pragmatismus zu den maß-

Die führenden Künstler sollten keine Hunger­ leider und Bittsteller sein, sondern zu den maßgeblichen Figuren ihrer Zeit gehören geblichen gesellschaftlichen Figuren ihrer Zeit gehören. In diesem Zusammenhang ist ein letztlich gescheiterter Versuch Pounds, sich zum Mittler zwischen Kapital und Kunst zu machen, aufschlussreich, weil sich darin die gegenseitigen Missverständnisse und Unvereinbarkeiten ebenso offenbaren wie sein zunehmender Antisemitismus. Schon in seiner Pariser Zeit trat Pound 1923 als Vermittler zwischen dem New Yorker Anwalt und Kunstmäzen John Quinn und der literarischen Boheme auf. Die zuvor brieflich schon seit Jahren bestehende Freundschaft endete allerdings jäh, als Quinn kurze Zeit darauf einer Krebserkrankung erlag. Einige Jahre später trat Pound, immer auf der Suche nach Sponsoren für andere und diesmal auch für sich selbst, in Korrespondenz mit dem deutsch-amerikanischen Bankier Otto Hermann Kahn, dem maßgeblichsten Finanzier der Metropolitan Opera in New York. Als Teilhaber der New Yorker Investment-

bank Kuhn, Loeb & Co, die wesentlich später von Lehman Brothers übernommen wurde, war der ursprünglich aus dem pfälzischen Mannheim stammende Otto H. Kahn mit Eisenbahnfinanzierungen zu erheblichem Reichtum gekommen. Er bewohnte das zweitgrößte Privathaus der USA mit 127 Zimmern, brachte die Ballets Russes erstmals nach Amerika, unterstützte den berühmten österreichischen Theaterregisseur Max Reinhardt und umgab sich als Kunstsammler mit den kostbarsten Gemälden. Kahn war sowohl als WallStreet-Größe als auch im gesellschaftlichen Leben eine öffentliche Figur.

Besucher aus der Kunst- und Filmwelt wie Arturo Toscanini, Charlie Chaplin und Sergej Eisenstein gaben sich in seinen diversen Anwesen die Klinke in die Hand. Die beiden so unterschiedlichen Männer waren sich einig in ihrer Bewunderung für Mussolini und in der Verachtung des Völkerbundes. Während Kahn, der in Mussolini in den Jahren vor der auch in Italien einsetzenden Verfolgung der Juden den „größten Staatsmann Europas“ erkennen wollte, bei seinen Aufenthalten in Italien sich regelmäßig mit Mussolini zu Gesprächen traf, musste Ezra Pound bis Jänner 1933 warten, ehe ihm der hochgeschätzte „Duce“ eine erste und einmalig bleibende Audienz gewährte. In völliger Überschätzung seines Einflusses wollte Pound diese Gelegenheit dazu nutzen, um Mussolini von den Vorzügen eines umlaufgesicherten, die zinsfordernde Geldhortung ausschließenden Freigeldes zu überzeugen. Dieses würde dem Modell des von ihm bewunderten monetären Experiments von Wörgl in Tirol (Canto LXXIV) und den Ideen der Freigeldtheoretiker Silvio Gesell („Schwundgeld“) und Major C.H. Douglas („Social Credit“) folgen. Damit sollte es gelingen, den im Bankensystem festgeschriebenen Zinszwang und Kreditgewinn, von Pound in Anlehnung an den mittelalterlichen Wucherbegriff stets Usura genannt, ein für alle Mal auszuhebeln. Mit einem nur minimalen Zinsaufschlag

zur Abdeckung des administrativen Aufwands versehen sollte das Geld bei den arbeitenden und konsumierenden Menschen kursieren, anstatt mit Zinsforderungen aufgeladen im Kreditmonopol der Geschäftsbanken zu verbleiben. Diese, so folgerten Ezra Pound und andere ihm nahestehende Ökonomen, würden ohnehin nur fiktives Geld verleihen, das sie gar nicht haben, sondern als institutionell privilegierte Kreditgeber stets erst neu schöpfen, um es dann mit leistungsfrei erworbenen Zinsgewinnen belasten zu können. Unerträglich war ihm der Gedanke, dass in seinem Heimatland USA der Dollar dort seit 1913 von einer Zentralbank ausgegeben wurde, die aus einem Zusammenschluss privater Geschäftsbanken bestand. Dass Mussolini seine syndikalistischen Anfänge 1933 längst hinter sich gelassen und einen Pakt mit der Großindustrie und den Banken geschlossen hatte, konnte oder wollte Pound in seiner höchst selektiven Wahrnehmung der faschistischen Realpolitik bis zuletzt nicht wahrhaben. Als sich die faschistische Führung Jahre später längst in ihre Marionettenrepublik von Salò zurückgezogen hatte, sah er immer noch die Chance gegeben, Mussolini könnte endlich eine Geld­reform zugunsten der arbeitenden ­Bevölkerung durchsetzen – als notwendige Rückkehr zu je-

nem „Links­faschismus“, den er auch für sich selbst beanspruchte. Über seine während des Kriegs von Rom aus in englischer Sprache ausgestrahlten Radiosendungen, die im Mai 1945 schließlich zu seiner Verhaftung wegen Hochverrats und zur nachfolgenden Unterbringung im bei Pisa gelegenen Disciplinary Training Center führten, ließ er verbreiten: „Ich schreibe keine italienische Propaganda. Ich schreibe für die Menschheit, die vom Wucher angefressen ist.“ Noch im letzten Kriegsjahr versuchte er vergebens, eine deutsche Übersetzung seines dem Wucher gewidmeten, durch zahlreiche exzentrische Referenzen verklausulierten Usura-Canto XLV für eine Ausstrahlung im deutschen Soldatenradio anfertigen zu lassen. Pounds Ansicht von den destruktiven

Auswirkungen des kapitalistischen Geldsystems äußert sich im UsuraCanto in der Beschwörung einer vorkapitalistischen, gebrauchswertorientierten Ökonomie, wie er sie selbst noch im 18. Jahrhundert durch die Reformen des in den Cantos ­X LII–LI (Leopoldinische Cantos) ausgiebig gefeierten habsburgischen Erzherzogs Leopold II. im toskanischen Bankenwesen verwirklicht sah. Leopold II., das neunte Kind von Kaiserin Maria Theresia und Kaiser Franz Stephan, hatte im Zuge seiner umfassenden toskanischen Reformen die Todesstrafe und die Folter abschaffen lassen, ja sogar auf den kostspieligen Unterhalt eines Heeres verzichtet.

Dass Mussolini einen Pakt mit den Banken und der Großindus­ trie geschlossen hatte, wollte Pound nicht zur Kenntnis nehmen Darüber hinaus sorgte er dafür, dass in Siena die Bank Monte Dei Paschi (die es als älteste durchgehend bestehende Bank der Welt heute noch gibt, allerdings als normale Geschäftsbank) endgültig in eine – in heutiger Diktion – öffentlich-rechtliche Institution ohne Gewinnabsicht verwandelt wurde. Da die Monte ihre günstigen Kredite an die Handwerker und Bauern von Siena mit den Erträgen aus kommunalen Weiderechten besicherte und die Kreditraten praktisch identisch waren mit den Einnahmen der Bankaktionäre, frei von Dividenden, nennt Pound sie voller Bewunderung Bank of the Grassland: „Der KREDIT beruht letztlich im ÜBERFLUSS DER NATUR, auf dem wachsenden Gras, das die Schafe nährt.“ Es war dies das einzige Modell einer Bank, dem Pound aus voller Überzeugung zustimmen konnte.

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Aufgrund seiner hartnäckigen Allianz mit dem Faschismus ist Ezra Pound als Verfasser zahlreicher ökonomischer Schriften zur moralischen Krise des Kapitalismus heute fast vergessen Eine auf Wucher gegründete Ökonomie, heißt es im Usura-Canto, zerstöre das Beste in den Menschen, ihre Schaffens- und Lebenskraft, ihre Liebesfähigkeit und auch die Beschaffenheit ihrer Behausungen; sie sei contra naturam: „Bei Usura / Kommt Wolle nicht zu Markt / Schaf wirft nichts ab bei Usura / Usura ist die Räude, Usura / Macht stumpf die Nadel in der Näherin Hand / Legt still der Spinnerin Rocken (...) Usura metzt das Kind im Mutterleib / Und wehret des jungen Mannes Werben / Hat Schlagfluss in das Bett gebracht und liegt / Zwischen der jungen Braut und ihrem Mann.“ Der Börsenkrach im Oktober 1929 und

die nachfolgende Weltwirtschaftskrise hatten auch bei einem Multimilli-

Schon im Eintritt der Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg hatte Ezra Pound eine Verschwörung der Finanzeliten erblickt onär wie Otto H. Kahn zu einem erheblichen Vermögensverlust geführt. Er und Ezra Pound treffen 1931 in Paris wieder aufeinander, um sich „über die Grundlagen der amerikanischen Zivilisation“ (Pound) auszutauschen. Pound, der sich selbst als amerikanischer Verfassungspatriot im Sinne der Gründerväter verstand und das faschistische Modell Italiens für sein eigenes Heimatland als ungeeignet ansah, wollte Kahn dazu bewegen, zuzugeben, dass die Weltwirtschaftskrise maßgeblich durch ein internationales Bankenkartell, skrupellose Leerverkäufe und die Partikularinteressen der privaten US-Geschäftsbanken als Eignerbanken des amerikanischen Zentralbanksystems verursacht worden sei. Die kapitalistische Geldordnung mit ihrer Abhängigkeit von stetiger Kreditexpansion „out of thin air“ sei gescheitert – eine Auffassung, der Otto H. Kahn mit seiner Schrift „A Few Thoughts on the Depression“ deutlich widersprach. Schließlich war sein Geschäftspartner bei Kuhn, Loeb & Co, der aus Hamburg stammende Paul M. Warburg, der eigentliche Kopf bei der Planung der Federal Reserve Bank gewesen. Pound hatte schon den amerikanischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg als Verschwörung der Finanzeliten

angesehen, die sich seiner Meinung nach an der kriegsbedingt ausufernden Staatsverschuldung durch die Vergabe von hochverzinzlichen Krediten an die klamme Regierung und durch Profite aus der Rüstungsindustrie bereichern wollten. Aus seinen Gesprächen mit Otto H. Kahn dürfte ihm freilich zweifellos bekannt gewesen sein, dass dieser das autoritäre wilhelminische Deutschland, das er in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts zuerst in Richtung London verlassen hatte, zutiefst verachtete und sich im Ersten Weltkrieg mit gewaltigen Summen an der Finanzierung der alliierten Kriegsaufwendungen beteiligt hatte. Im folgenden Jahr bricht der Kontakt zu Kahn, der 1934 in New York stirbt, ab. Pound, zeitlebens voller Verehrung für das literarische Werk von Heinrich Heine, muss sich eingestehen, dass sein Verhältnis zu dem Investmentbanker wohl keine Neuauflage jener anregenden Freundschaft mehr werden würde, wie sie der deutsche Romantiker mit James Rothschild, damals einer der reichsten Männer der Welt, über viele Jahre hinweg in Paris unterhalten hatte. Später wird er den zuvor umgarnten Bankier mit deutlich antisemitischen Untertönen sogar als „Kubla Kahn“ in einigen Schriften verhöhnen – freilich ohne den anarchischen Witz, mit dem die Marx Brothers 1928 in der Bühnenfassung ihres späteren Films „Animal Crackers“ den im Gesellschaftsleben von New York allgegenwärtigen Kunstmäzen Otto H. Kahn in der Figur des Roscoe W. Chandler persiflierten. Im Verlauf der 30er-Jahre häufen sich die

wüsten antisemitischen Invektiven in den Cantos und in den politökonomischen Schriften des 1895 im ländlichen Idaho geborenen Poeten, obwohl über viele Jahre hinweg etliche Juden zu seinen persönlichen Freunden zählten und der grandiose jüdische Dichter Louis Zukofsky bis zum unvermeidbaren Zerwürfnis einer seiner engsten Protegés war: „Jeder Mensch, der nicht ein hoffnungsloser idiotischer Wurm ist, sollte erkennen, dass der Faschismus in jeglicher Hinsicht der russischen Judenherrschaft überlegen ist und dass der Kapitalismus zum Himmel stinkt.“ Mehr und mehr identifiziert Pound die von ihm seit Jahren universal als zivilisationszerstörend angeprangerten, systemimmanenten Verwerfungen des kapitalistischen Geldwesens nun – darin durchaus im Gleichklang

mit dem „internationalen Finanzjudentum“ der nationalsozialistischen Propaganda – mit vornehmlich jüdischen Akteuren und deren nichtjüdischen „Wasserträgern“. Nur ein einziges Mal kommt es, wenige Jahre vor seinem Tod, zu einer – in der ganze Bibliotheken füllenden Pound-Philologie bis heute kontroversiell aufgenommenen – späten Selbsteinschätzung im Gespräch mit dem Beat-Poeten Allen Ginsberg 1967 in Venedig: „Mein schlimmster Fehler war dieses dumme, aus der Vorstadt stammende Vorurteil des Antisemitismus.“ Der enzyklopädisch interessierte Romanist Ezra Pound kannte das ländliche Südeuropa seit seinen 1912 unternommenen Wanderungen durch die Provence auf den Spuren der mittelalterlichen Troubadours, deren Werke er, im stundenlangen Gehen durch die Berge nach dem rechten Rhythmus suchend, ins Amerikanische übertrug. Doch sosehr er in Paris und London den geistigen Austausch mit den dortigen Intellektuellen und Künstlern gesucht hatte, so wenig nahm Pound im provinziellen Rapallo Anteil an den politischen und ästhetischen Auseinandersetzungen der zeitgenössischen italienischen Literatur. Lieber traf er sich zum Umtrunk mit Größen des internationalen Literaturgeschehens wie den beiden Nobelpreisträgern W.B. Yeats (dessen Sekretär er in Sussex gewesen war) und Gerhart Hauptmann. Pounds Italien ist vor allem ein selektiv imaginiertes Mittelalter und

Italien war für Pound eine idealisierte Frührenaissance, die Gegenwart für ihn nur in ihrer faschistischen Gestalt von Interesse eine idealisierte Frührenaissance, die politökonomische Gegenwart des Landes nur in ihrer faschistischen Gestalt von Interesse. Vielleicht führte diese Entfremdung von den maßgeblichen italienischen Künstlern und Intellektuellen seiner Generation auch zu der dubiosen Rolle, die Pound während des Kriegs bei der Zensur der ersten umfassenden italienischsprachigen Anthologie zur amerikanischen Literatur spielte, die Cesare Pavese und Elio Vittorini 1941 unter dem Ti-

tel „Americana“ auf über tausend Seiten vorantrieben. Im Gegensatz zu Pound, der im Spanischen Bürgerkrieg nicht mehr als einen „Scheinkonflikt“ und ein „Manöver zur Abreaktion für eine Horde von begriffsstutzigen Dilettanten“ (gemeint auch hier: ökonomischpolitische Dilettanten) erkennen wollte, wurde Vittorini wegen seiner unmissverständlichen Parteinahme für die spanische Republik 1937 aus der faschistischen Partei Italiens, deren linksintellektuellem Flügel er bis dahin angehört hatte, ausgeschlossen. Unter dem Eindruck dieser Ereignisse und der Kriegsallianz mit Nazideutschland wandte er sich zunehmend den Partisanen und nach dem Krieg vorübergehend der kommunistischen Partei zu. Solche Absetzbewegungen vom Faschismus, wie sie sich in Elio Vittorinis epochalem, von Hemingway hymnisch gefeiertem Roman „Gespräch in Sizilien“ (1941) literarisch verarbeitet finden, bleiben Pound in seiner selbstgewählten Rolle als Vordenker einer linksfaschistischen Ökonomie völlig fremd. Dessen Freund aus gemeinsamen Studententagen in Pennsylvania, der Autor und Arzt William Carlos Williams, hatte sich seinem ehemaligen literarischen Mentor wegen dessen Engagement für den Faschismus entfremdet. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, den für unzurechnungsfähig erklärten Ezra Pound regelmäßig in der Psychiatrie in Washington zu besuchen. In seiner Autobiografie berichtet Williams, wie er auf der Rückfahrt vom St. Elizabeth’s Hospital mit einem schwarzen Taxifahrer ins Gespräch kommt und diesem von Pounds „unpatriotischen“ Radioansprachen während des Kriegs erzählt. Williams erläutert dem von Rückenschmerzen geplagten Chauffeur Pounds Ansichten über Roosevelts angebliches Versagen, die Macht des Bankenkartells zum gegebenen Zeitpunkt zu brechen, und die Fortschreibung dieser Zustände bis in die Gegenwart durch die ungebremste Macht des amerikanischen Notenbanksystems in Form der Federal Reserve Bank, die weder föderal sei noch irgendwelche echte Reserven habe: „Als ich zum Ende meiner kleinen Exposition kam, hielt er das Taxi an und wandte sich mir zu: ,Und deswegen haben sie ihn eingebuchtet?‘, fragte er. ,Ja, das ist im Grunde die Geschichte.‘ Der Mann sah mich an: ,Er ist nicht verrückt‘, sagte er. ,Er hat einF fach zu viel geredet.‘“

Die Falter-Buch-Rezensionen. Nachlesen und alle Bücher online bestellen. balken fashop rezensionen.indd 1

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Sachbuch

Crashkurs China K a t har i na S chne i der - R oos / B e i j i ng

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ch lese nicht gerne Bücher über das heutige China. Denn wenn man einen Ort als zweite Heimat gewählt hat, will man nicht immer von außen erklärt bekommen, was man denn da gerade so erlebt. Besonders von Leuten, die sich nur kurz oder gar nicht in diesem Land aufgehalten haben. Trotzdem: Es war eine gute Erfahrung, vor dem endgültigen Umzug Ende des Jahres das aktuelle Chinabild des Westens in Buchform Revue passieren zu lassen und dabei von Chinesen und hängengebliebenen Westlern umgeben zu sein, denen man weinend vor Lachen (oder Ungläubigkeit) von den Absurditäten der Lektüre berichten kann. Doch diese Bücher wollen erst mal bei einem ankommen, was gar nicht so einfach ist. Man fährt dafür durch das pulsierende Beijing zum internationalen Postamt, einem Relikt der alten (noch echt kommunistischen) Zeit, die ja mit der neuen rasanten (quasikapitalistischen) koexistiert. Hat man schlussendlich die Bücher in der Hand, reißen sich alle darum. „Darf ich auch mal was über China lesen?“, fragt die chinesische Kollegin. „Ich schreib jetzt auch ein Buch über China“, gesteht die österreichische. Das neue Selbstbewusstsein des aufstrebenden China, dessen Ambitionen sich gerade in den 60. Nationaltagsfeierlichkeiten am 1. Oktober vor allem militärisch manifestiert haben, ist allgegenwärtig im herbstlichen Beijing. Hier gibt es keine Frage, welche Stellung das Land in der Welt einnehmen will. Natürlich eine in der ersten Reihe. Für uns wäre es an der Zeit, uns auch einmal direkt mit den vielfältigen Stimmen aus China auseinanderzusetzen. Denn die Neuerscheinungen zur Frankfurter Buchmesse spiegeln die Realität sehr gut wider: Noch immer gibt es etwa achtmal mehr Übersetzungen aus dem Deutschen ins Chinesische als umgekehrt.

Die Historiker Jonathan Spences „Die Rückkehr zum Drachenberg. Ein Exzentriker im China des 17. Jahrhunderts“ beschreibt den Gelehrten und Essayisten Zhang Dai, der den Untergang der letzten Han-chinesischen Dynastie, der Ming-Dynastie, miterlebte. Spence ist nicht nur ausgewiesener Experte für diese Epoche, sondern auch für das moderne China. Auch ohne Vorkenntnisse über die Ming-Dynastie und ihren Verfall fühlt man sich nach der Lektüre in der chinesischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts zuhause. Dies ist nicht nur Spences genauem und gleichzeitig literarisch genussvollem Umgang mit den Quellen zu verdanken, sondern auch der historischen Person Zhang Dai, der eine Fülle von Essays und genaue politische und philosophische Analysen der Ming-Dynastie und mikrohistorisch facettenreiche Biografien seiner Familienmitglieder hinterließ. Er wählte Verwandte aus, die einen besonderen Charakter hatten, auch wenn dadurch negative Eigenschaften zum Vorschein kamen. Ein Fest-

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Das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse hat am 1. Oktober seinen 60. Geburtstag gefeiert. Elf Neuerscheinungen erklären ein boomendes, widersprüchliches Land

Jonathan D. Spence: Die Rückkehr zum Drachenberg. Ein Exzentriker im China des 17. Jahrhunderts. Hanser, 287 S., € 22,10 Chin Annping: Konfuzius – Geschichte seines Lebens. Verlag der Weltreligionen, 250 S., € 25,50 Liao Yiwu: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten. S. Fischer, 539 S., € 23,60 Helmut Brinker: Die chinesische Kunst. C.H. Beck, 123 S., € 8,20 Klemens Ludwig: Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte. C.H. Beck, 190 S., € 13,40 Helwig SchmidtGlintzer: Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne. C.H. Beck, 148 S., € 11,30

mahl für jeden Historiker, der nicht nur ein exquisites Mahl mit detaillierter Speisenfolge vorfindet, sondern gleichzeitig einen Fundus an Grundnahrungsmitteln, aus dem er schöpfen kann. Man erfährt von der damaligen Vergnügungssucht, die sich im Besuch von kunstsinnigen Prostituierten, dem Teegenuss, dem Abhalten von Theaterspielen oder dem Sammeln kunstvoller Laternen für das Mondfest zeigte, von der Härte des Beamtenprüfungssystems, auf das sich manche Familienmitglieder ein Leben lang vorbereiteten. Die Beziehungen innerhalb der Familie, der Charakter der Großmutter, der Schwiegermutter, das Los der verstoßenen Konkubinen und die manchmal schwierige Beziehung zum Vater und Großvater treten plastisch hervor. Die Geschichte der MingDynastie wird bis zu ihrem Untergang beschrieben, der auch der Untergang der Familie war. Zhang Dai zog sich in die Berge in einen Tempel zurück, denn er wollte sich nicht den Mandschuren unterwerfen. Laut Zhang Dai besteht das „Problem mit Geschichtswerken“ darin, „dass jene, die dazu in der Lage wären, sie nicht schreiben, wohingegen jene es tun, die es besser unterließen“. Im Fall dieses Werks kann man sagen, dass sowohl Zhang Dai als auch Jonathan Spence dazu in der Lage waren – und es zum Glück für die Leser auch taten. Chin Annpings „Konfuzius – Geschichte eines Lebens“ wagt sich an die bekannteste historische Gestalt Chinas heran und zeichnet das Porträt eines Mannes, der mit dem Leben, der Gesellschaft und den Fürsten seiner Zeit sehr streng war. Auch er wurde in Zeiten des Umbruchs geboren und wanderte 14 Jahre lang weit entfernt von seiner Heimat umher. Während uns Zhang Dai durch sein selbstverfasstes umfangreiches Werk näherkommt, lernen wir Konfuzius nur durch die Aufzeichnungen seiner Anhänger kennen. Chin Annping sieht ihr Werk als Gegenentwurf zur ersten Konfuzius-Biografie, 300 Jahre nach dessen Tod von Sima Qian veröffentlicht, dem wichtigsten chinesischen Historiker aus der Han-Zeit, der die Tradition des Verfassens von Dynastiegeschichten begründete. Ihrer Meinung nach hatte Sima Qian eine zu ausgeprägte Fantasie und schmückte Lücken gerne mit lehrreichen moralischen Aussagen aus. Diese Lücken galt es zu öffnen und klaffen zu lassen, damit der historische Konfuzius wieder in den Vordergrund treten konnte. Weiters profitiert das Werk von einem Bambustäfelchenfund von 1993, in dem Konfuzius erwähnt wird und der ein neues Licht auf die Forschungsergebnisse wirft. Konfuzius war das Kind armer Eltern, ein Gelehrter, der sich hocharbeiten musste. Einmal wäre er fast auf einer Reise verhungert. Zu seiner Zeit wurde sein Wissen nicht unbedingt gewürdigt. Er wollte am öffentlichen Leben, an menschlichen Beziehungen aller Art teilnehmen und sich nicht als Einsiedler zurückziehen. Anerkennung fand er erst, als seine Anhänger in gute Stellungen gelangten und sich dort bewährten. Sie holten ihn später zu sich und überzeugten ihre Fürsten von der Wichtigkeit und Richtigkeit der konfuzianischen

Denkweise. Am Ende scheint Konfuzius sich in einen alten Mann verwandelt zu haben, der moralisch und im Sinne der Riten alles richtig machen wollte und seinen Zeitgenossen als zu pedantisch erschien. So nahm er zum Beispiel nicht Platz, ehe seine Matte gerade lag. Dies sind Dinge, die man auch vorher schon gewusst hat, aber nach der Lektüre des Buches hat man das Gefühl, Konfuzius ohne mythische Verklärung vor sich zu sehen.

Der chinesische Beobachter Einen umfassende Einblick in die Abgründe und Nischen der heutigen chinesischen Gesellschaft bietet der Schriftsteller und Untergrundmusiker Liao Yiwu (geb. 1958) mit seinen Reportagen „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser. Chinas Gesellschaft von unten“. Der Blick aus dieser Richtung ist nichts für Zartbesaitete. Die Interviews mit Menschen, die gesellschaftlich ganz unten verortet sind, wurden vom Autor zum Teil aus dem Gedächtnis niedergeschrieben: Stimmen aus Chinas schwärzester Vergangenheit und Gegenwart werden hörbar und beinahe fühlbar. Liao Yiwu saß selbst nach dem Tiananmen-Massaker von 1989 wegen eines Gedichts im Gefängnis, seine Bücher sind in China verboten. Ein Schwerpunkt des Buchs ist die Beschäftigung mit dem Tod und den ihn umrahmenden Berufen wie Totenrufer, Leichenschminker, Trauermusiker, aber auch mit Leprakranken – ein anderer jene Gestalten, die der wirtschaftliche Aufschwung hervorgebracht hat, wie der Menschenhändler, der Ausbrecherkönig oder der Gelegenheitsarbeiter. Leider sind die Übersetzungen, die aus verschiedenen Federn stammen, teils staubtrocken, gelegentlich eher blumigdrollig am chinesischen Original klebend oder einfach ungenau. Daraus ergeben sich Stilblüten, die zum Schmunzeln, aber auch zu Unverständnis führen.

Der westliche Blick Helmut Brinker hat sein Forscherleben mit alter chinesischer und japanischer Kunst verbracht. Sein schmales Buch „Die chinesische Kunst“ gibt einen wissenschaftlichen und wegen der vielen Beispiele gleichzeitig anschaulichen Überblick über die traditionelle chinesische Kunst. „Die chinesische Kunst“ endet in diesem Buch mit der Qing-Dynastie. Der Schwerpunkt liegt auf der klassischen Kunst der Literati (Schriftkunst und Malerei) und nicht auf Kunsthandwerk und Architektur, die im alten China als Werke von Technikern und Handwerkern angesehen wurden. Der Autor versteht es, kunsttheoretische Konzepte mit konkreten Beispielen aufzufrischen. Man erfährt spannende Details über die Machart der Pinsel, die Qualität eines Bildes, das nach chinesischem Verständnis auf dessen „Seele“ beruht, über Exzentriker der Tang-Dynastie, die mit den Fingern malten, und das Fehlen von Konzepten wie Perspektive und Schatten. Das Einzige, was den Lesefluss stört, sind Inhalte, die eigentlich in Fußnoten gehören, was manchmal zu ungewollter

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„Für mich hat alles keinen Geruch. Das führt nicht dazu, dass ich überall daheim bin, sondern es bewirkt, dass alles Fremde ist“ Walter Kohl: „Wie riecht Leben,“ SEITE 52

Fotos: Julia Fuchs, privat

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Kompliziertheit und einer Anhäufung von Klammern führt. Ein wissenschaftlicher Apparat hätte da Abhilfe geschaffen. Über Klemens Ludwigs „Vielvölkerstaat China. Die nationalen Minderheiten im Reich der Mitte“ gilt es zuerst festzuhalten, dass kein einziger Vertreter einer nationalen Minderheit zu Wort kommt, außer man zählt den letzten Kaiser Pu Yi, seines Zeichens Mandschure, als Minoritätsmitglied, wobei man davon ausgehen kann, dass er sich zu seiner Zeit eher als Mittelpunkt der Welt fühlte. Man überlegt, wie das Buch wohl zustande kam. Sommer 2008: Aufstand in Tibet und Xinjiang, und keiner weiß so richtig Bescheid über die Minderheiten in China … Ludwig musste wohl herhalten, um den Stand der Dinge aus der westlichen Literatur und Zeitungsartikeln (oft ist die Quellenlage nicht offenbar) zusammenzufassen. Fehler und Unachtsamkeiten haben sich eingeschlichen, auf die hinzuweisen vielleicht pingelig erscheinen mag, die aber, wenn man über Minderheiten in China schreibt, nicht unerheblich sind. Die Jurchen als Verwandte der Mandschuren zu bezeichnen ist nicht ganz korrekt, da sie ihre Vorfahren waren. Was die Tujia wohl davon hielten, wüssten sie, dass Herr Ludwig meint, dass „folkloristische Elemente ihre Identität prägen“, und „auch ihre künstlerischen Darbietungen, wie die traditionelle Oper, denen des großen Nachbarn (also China, Anm. K. S.-R.) nicht fern sind“. In Taiwan wird er sich ebenfalls keine Freunde machen, da er die Gaoshan, die es eigentlich nur dort gibt, zu den Minderheiten der Volksrepublik China zählt. Ostturkestan können die Mongolen im 13.

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Katharina Schneider-Roos lebt seit 2000 in China und arbeitet als Journalistin, Dokumentarfilmerin, TV-Produzentin und -Researcherin für den ORF und andere europäische Stationen, Filmfestivalkuratorin (u.a. Viennale/Unesco) sowie als Chinaexpertin für das Schweizer Kulturfestival Culturescapes: China

Jahrhundert nicht unter ihren Einfluss gebracht haben, da es erst 1933 gegründet wurde, wie Ludwig selbst ein paar Seiten weiter anführt. Und so weiter. Helwig Schmidt-Glintzer ist allen Sinologiestudierenden und Chinafans bekannt durch sein umfassendes Standardwerk über die chinesische Literaturgeschichte. Nach der Lektüre seines neuen Buchs „Chinas Angst vor der Freiheit. Der lange Weg in die Moderne“ wünscht man, er wäre bei der Literatur geblieben. Schmidt-Glintzer möchte einen „Beitrag zur Versachlichung der internationalen Diskussion über Freiheit, Demokratie und die Verwirklichung einer die Menschenrechte respektierenden und verwirklichenden Weltgesellschaft“ leisten. Leider sind seine Argumente zeitweise weder sachlich, noch entsprechen sie den Tatsachen. Es ist wichtig, innerchinesische Traditionen aufzuzeigen, aber man kann nicht davon ausgehen, dass sich diese Traditions­ linien ungebrochen bis heute durchziehen. Im Gegenteil, es klafft hier eine beträchtliche Lücke, denn viele Chinesen kennen ihre eigene Tradition gar nicht gut, sie wurde ihnen über eine geraume Zeit hinweg auch gar nicht beigebracht. Um die rasanten Entwicklungen in China abschätzen zu können, müsste der Autor doch öfter die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel, deren Direktor er ist, verlassen und sich Richtung China bewegen. Dass er immer wieder der chinesischen Staatspropaganda nahekommt, ist mehr als befremdlich. Etwa mit der Behauptung, dass „das Gelingen einer demokratischen Ordnung und vor allem die Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen ein Mindest-

maß an sozialer Homogenität voraussetzt“ – wofür etwa die durchaus heterogene Demokratie Indien ein zum Himmel schreiendes Gegenbeispiel darstellt. Unterzeichner der Charta 08 wehren sich vehement gegen solche Argumente. Laut SchmidtGlintzer sieht die chinesische Regierung die Religionsgemeinschaften als wichtige Verbündete im Werben um Mitgefühl und Fürsorge. Das ist meines Erachtens eher rhetorisch der Fall, denn sie klammert dabei ausdrücklich manche Religionsgemeinschaften aus. Die Konflikte in Xinjiang werden „von einer Exilregierung befördert“. Da scheint Schmidt-Glintzer mehr zu wissen als all die politischen Analytiker und die Journalisten, die vor Ort waren und sich abmühten, die Abläufe, Drahtzieher und politische, ethnische und religiöse Details der Unruhen in Xinjiang auseinanderzudröseln, um ein genaues Bild zu bekommen.

Der vermeintliche Universalgelehrte Elmar Holensteins „China ist nicht ganz anders“ hinterlässt ein großes Fragezeichen. Der Titel, ein Aufruf zur Entexotisierung Chinas, löst Sympathie aus, doch die Willkürlichkeit der Beispiele in den vier Essays wird dem Titel nicht gerecht. Es ist ein Mischmasch aus Workshopvorträgen und schon in Zeitschriften publizierten Artikeln, die mit neuen Schlussworten versehen wurden. Holenstein scheint sich als Universalgelehrter zu verstehen, der, sobald es zum Thema China kommt, allen Gebieten – ob Philosophie, vergleichende Linguistik, Fortsetzung nächste Seite

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Rechtswissenschaften oder Theologie – gewachsen ist. Nebenbei führt er dann in verschiedenen Bereichen neue Terminologie ein wie etwa „buddhaitisch“ statt buddhistisch und „daoitisch“ statt daoistisch. Das Thema Kommunismus versus Kapitalismus klärt Herr Holenstein bereits auf Seite 19. „Den größtmöglichen Wohlstand der überwiegenden Mehrheit erreicht man nicht in einer fundamentalistischen Gesellschaft, in der alle unabhängig von ihren Fähigkeiten und Leistungen gleich viel besitzen und den gleichen Lohn erhalten. Man erreicht sie eher in einer umsichtig regulierten, marktwirtschaftlichen Gesellschaft, in der es einigen besser geht als der Gesamtheit.“

Die Korrespondenten Korrespondentenbücher sind bei Verlagshäusern begehrt und finden auch genügend Leser. Gleichzeitig werden sie in Journalistenkreisen von Beijing eher mit Ironie aufgenommen: „Hast du schon gehört, XY hat jetzt auch schon wieder ein Buch geschrieben.“ Die Inhalte sind meistens Zusammenfassungen der ohnehin schon geleisteten Recherche- und Berichterstattungsarbeit, gewürzt mit einem Einblick ins persönliche Leben der Autoren. Von Adrian Geiges, bis 2008 in Beijing Korrespondent für den deutschen Stern, stammt die „Gebrauchsanweisung für Peking und Shanghai“. Geiges, Jahrgang 1960, las laut seiner Homepage mit zwölf die Mao-Bibel, schloss sich der moskautreuen DKP und der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ) an und wurde von der Partei auf eine geheime Kader-

Elmar Holenstein: China ist nicht ganz anders. Essays. Ammann, 200 S., € 20,60 Adrian Geiges: Gebrauchsanweisung für Peking und Shanghai. Piper, 224 S., € 15,40 Peter Hessler: Über Land. Begegnungen im neuen China. Berlin, 555 S., € 24,70 Cornelia Vospernik: In China. Reportagen abseits der Schlagzeilen. Kremayr & Scheriau, 160 S., € 19,90 Christian Y. Schmidt: Bliefe von dlüben. Der China-Crashkurs. Rowohlt, 192 S., € 15,40

schmiede in der DDR entsandt. In späteren Jahren wandte er sich in China dem Kapitalismus zu. Von solch einem Mann hätte man sich doch tiefere politische Einblicke erwartet, aber in einer Reihe, die „Gebrauchsanweisungen“ verspricht, sollte man danach vielleicht gar nicht suchen. Tatsächlich liefert er eine relativ gut lesbare Mischung aus informativem Reiseführer – inklusive den historischen und kulturellen Unterschieden der rivalisierenden Städte Beijing und Shanghai – und persönlichen Erfahrungen. In seinem Buch „Über Land. Begegnungen im neuen China“, schafft Peter Hessler, langjähriger Beijing-Korrespondent des New Yorker, es aufgrund seiner wundervollen Beobachtungsgabe, den Leser wirklich durch das Land mitzunehmen. Seine Reise Richtung Westen entlang der chinesischen Mauer zeigt Gebiete Westund Mittelchinas, die selten im Blickpunkt stehen. Dank seiner Verwurzelung, besonders in dem Dorf an der Mauer, in dem er einen chinesischen Hof gemietet hat, seiner engen Freundschaft mit dem kleinen Sohn seiner Vermieter, dem er in einer Notsituation beistand, bekommt man Einblicke, die oberflächliche Berichterstattung nicht gewährleisten kann und will. Hessler hat sich auf dieses Land und seine Kultur eingelassen, ohne unkritisch zu werden. Das Transportmittel Auto steht vielleicht ein wenig zu sehr im Mittelpunkt, doch das verzeiht man diesem in die Tiefe gehenden Buch gerne. Cornelia Vosperniks „In China. Reportagen abseits der Schlagzeilen“ geht weg von der reinen Reportage, es handelt sich dabei eher um eine persönliche und humorvolle Beschreibung des Lebens einer

„Westlerin“ in China. Die Rolle der ORFKorrespondentin tritt dabei außer in den letzten beiden Kapiteln in den Hintergrund. Vospernik hat ein sarkastisches Talent, Alltagsmissverständnisse und Problemchen, denen man als Ausländerin in fremder Umgebung Tag für Tag begegnet, bis ins Detail zu beschreiben. So etwa den Umgang mit den zwei chinesischen Türschlössern des ORF-Büros, die sich in verschiedene Richtungen öffnen lassen, oder die Panik, die Vospernik selbst immer wieder auslöst, wenn sie für einen Mann oder einen potenziellen uigurischen Terroristen gehalten wird. Manchmal fallen die Urteile über die chinesischen Eigenheiten allerdings ein wenig zu harsch aus und beruhen auf Sprachproblemen. Christian Y. Schmidt, der aus China Kolumnen für das Satiremagazin Titanic verfasst, ist nichts heilig, und das ist gut so. Er macht sich in seinen „Bliefen von dlüben“ lustig über die Ahnungslosigkeit und Unbelehrbarkeit der Chinabesucher, denn es gibt seiner Meinung nach „einen Haufen Mythen und Legenden über China, die sich in den Köpfen der Westler festgefressen haben und hier die Aufnahme neuer Informationen verhindern“. Nebenbei erfährt man brisante Details wie, dass in 63 Prozent aller in Festland-China produzierten Fernsehsendungen der Jahre 2004 und 2005 geraucht wurde und dass die chinesische Apfelsaftindustrie in der Lage ist, in einer Stunde 5000 Tonnen Apfelsaftkonzentrat herzustellen. Dieses witzige und gemeine Buch über den Alltag in Beijing eignet sich hervorragend als Geschenk für in den Westen Heimgekehrte oder solche, die planen, sich in Beijing anzusiedeln – oder auch nur F eine Reise dorthin zu tun.

Der hohe Blutzoll utopischer Hoffnungen Religion: John Gray zieht Parallelen zwischen christlich-apokalyptischen Sekten und den politischen Projekten der Moderne Bockelson war ein SchneiderJ an geselle zu Beginn des 16. Jahr-

hunderts. 1534 ließ er sich zum König der norddeutschen Stadt Münster ausrufen, die er zum „neuen Jerusalem“ machen wollte. Bockelson stand an der Spitze einer der vielen christlichen Sekten, die im Zuge der Reformationsbewegung in Europa entstanden. In Münster wurde ein Stadtstaat errichtet, in dem es eine quasikommunistische Gütergemeinschaft gab, während gleichzeitig auf unverheiratete Frauen die Todesstrafe wartete. Bockelson sah sich als Messias, der seine Anhänger auf das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt vorbereitete. Der umstrittene britische Philosoph John Gray vergleicht Bockelson unter anderem mit George W. Bush. In seinem Buch „Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“, das 2007 unter dem Titel „Black Mass: Apocalyptic Religion and the Death of Utopia“ erschien, führt er das Scheitern verschiedenster Weltanschauungen und politischer Projekte auf ihren angeblich religiösen Ursprung zurück. „Unsere Welt am Beginn des neuen Jahrtausends ist übersät mit den Trümmern utopischer Projekte, die zwar säkular auftraten und sich religiösen Vorstellungen widersetzten,

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in Wirklichkeit aber von religiösen ­Mythen getragen waren.“ Wie Jan Bockelson hätten auch die Jakobiner während der Französischen Revolution, die Nationalsozialisten im „Dritten Reich“, die Sowjetkommunisten und die US-amerikanischen Neokonservativen utopische Visionen verfolgt, die unerreichbar und von vornherein zum Scheitern verurteilt waren. Gray attestiert ihnen allen einen prinzipiell religiösen bzw. christlichen Charakter, der sich vor allem darin äußert, eine endgültige Lösung der Probleme der Menschheit in einer Art „Endzeit“ anzustreben. Wenn nötig, auch mit Gewalt. Das Konzept der Revolution als Wendepunkt in der Geschichte ist für Gray ein grundsätzlich religiöses. Und ein teleologisches, also auf ein Ziel hin gerichtetes oder gar apokalyptisches, also auf ein Ende gerichtetes Geschichtsbild genuin christlich. Solche Interpretationen hätten sich, auch wenn sie vom Mainstream des Christentums immer weiter abstrahiert worden seien, über die Jahrhunderte hinweg gehalten. Jan Bockelson firmiert hierbei als ein Beispiel für das erneute Aufkeimen teleologischer Vorstellungen in den millennaristischen Bewegungen des Mittelalters. Später hätten sich

die apokalyptischen oder utopischen Vorstellungen zunehmend auch in den Bereich des Säkularen ausgebreitet. „Die politischen Ideologien der letzten 200 Jahre waren getragen von einem Mythos der innergeschichtlichen Erlösung, der das fragwürdigste Geschenk des Christentums an die Menschheit ist.“ Im Irakkrieg sieht Gray nun das jüngste Beispiel für die Auswüchse dieser Vorstellungen. Die Demokratie nach US-amerikanischem Vorbild auf diese Weise in die ganze Welt zu exportieren sei ein weiterer unter vielen Belegen dafür, dass politische Utopien von vornherein zum Scheitern verurteilt seien. „Falls die letzte dieser Utopien in den Wüsten des Irak verendet sein sollte, müssen wir ihr nicht nachtrauern. Ihr Untergang wäre ein Segen für die Welt, denn utopische Hoffnungen haben einen weit höheren Blutzoll gefordert als die Glaubenskriege der Vergangenheit.“ Eine Rückkehr genau solcher Glaubenskriege hält Gray angesichts der ökologischen Herausforderungen für wahrscheinlich. Der Klimawandel und die damit verbundene Ressourcen- und Nahrungsknappheit würden die politische Weltordnung entscheidend verändern und neuen Nährboden für religiös-apokalyptische Kulte

bieten. Die Lösung liege in der „verlorenen Tradition des Realismus“, darin, sich mit den Fehlern der Menschheit abzufinden, sich damit zu begnügen, unlösbaren Problemen auf dem Weg des geringsten Übels zu begegnen, statt die unmögliche Mission anzutreten, sie aus der Welt zu schaffen. Als Brandrede gegen alles Religiöse ist Grays Buch trotz allem nicht zu verstehen. Denn er beschreibt auch den modernen Atheismus als ein auf das Christentum zurückzuführendes Phänomen. Der deutsche Untertitel ist schlecht gewählt, weil Gray eben gerade nicht die Religion selbst, sondern quasireligiöse politische Bewegungen als Ursache für die Krise sieht, in der sich die Welt seiner Meinung nach befindet. Lesenswert ist es jedenfalls, auch wenn man mit seinen teilweise provokanten Thesen nicht übereinstimmt. MICHAEL WEISS

John Gray: Politik der Apokalypse. Wie Religion die Welt in die Krise stürzt. Klett-Cotta, 363 S., € 23,60

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Gewalt, die sich als Religion hervorbringt Religion: René Girard hat schon vor 30 Jahren eine schlüssige Theorie zur Gewalt der Religionen vorgelegt

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eit Voltaire wird Religion in der öffentlichen Diskussion gerne als etwas Sekundäres, um nicht zu sagen Parasitäres angesehen, von Mächtigen oder Ideologen erfunden zum Zwecke des Ausbaus oder der Rechtfertigung von Herrschaft und Unterdrückung, zur Not unter Verwendung von Gewalt. Dass Religion und Gewalt in einem Zusammenhang stehen, scheint heute offenbar, über die genaue Natur bzw. die Ursache dieser Verbindung herrscht allerdings alles andere als Einigkeit. Dient Religion nicht, wie beflissene (Kirchen-)Politiker und politisch korrekte (freilich oft selbst nicht gläubige) Medienmacher gerne behaupten, vielmehr der Herstellung von Moral und somit der Kontrolle von Gewalt? Also dem Frieden, dem sich die großen Weltreligionen alle irgendwie verschrieben haben? Doch woher rührt dann die Gewalt der Religiösen – von den unrühmlichen Kapiteln der Geschichte des Christentums bis zu den Selbstmordattentätern im Namen Allahs? Eine der stringentesten Erklärungen dieser anscheinend paradoxen Verbindung hat vor gut drei Jahrzehnten ein französischer Gelehrter vorgelegt, der von der Literaturwissenschaft über die Ethnologie zur Anthropologie kam und dort zu seinem Lebensthema fand, der Religionstheorie. Bekannt wurde René Girard in den 70er-Jahren mit seiner Studie „Das Heilige und die Gewalt“ (frz.: 1972, dt.: 1987), ein Jahrzehnt später legte er mit einem Buch nach, das einen zentralen Begriff seiner Theorie zum Titel macht: „Der Sündenbock“ (frz.: 1982, dt.: 1988). Denn der Sündenbockmechanismus stand nach Girard am Anfang von Religion und gleichzeitig von Sprache und Kultur – Religion stellt somit mitnichten etwas Nachträgliches, Aufgepfropftes dar, das man nur entfernen muss, um zum (eigentlich friedlichen) Naturzustand zurückzukehren, sondern den gewalttätigen Ursprung von Kultur, ja der Menschwerdung überhaupt. Den Schlüssel zu dieser Universaltheorie, die Girard selbst „mimetische Theorie“ nennt, da in ihr die Nachahmungsfähigkeit des Menschen eine entscheidende Rolle spielt, fand er in den Mythen nicht nur des europäischen Kulturkreises, die nach ihm Erzählungen über die gewalttätige Ausstoßung eines Sündenbocks aus der Perspektive der Täter sind, weswegen in den Mythen die Gewalt stets verschleiert und dem Sündenbock die Schuld zugeschrieben wird. Aus ihnen filtrierte Girard den „mimetischen Zyklus“, der die Rivalitäten innerhalb von (früh-)menschlichen Gruppen beschreibt, die aus der Tatsache entstehen, dass das intensive, unstillbare menschliche Begehren auf Nachahmung beruht – das heißt, das zu begehren, was der andere begehrt bzw. besitzt. Ohne kulturelle Regelungen müssen diese Rivalitäten von Zeit zu Zeit notwendigerweise eskalieren und einen Zyklus von Gewalt in Gang setzen, der in einer Krise der sozialen Ordnung kulminiert, die durch die unwillkürliche Zusammenrottung aller gegen ein willkürlich ausgewähltes, unschuldiges Opfer wiederhergestellt wird. Da dieser kollektive, ekstatische, in blinder Erregung vollzogene Lynchmord

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René Girard wurde 1923 in Avignon geboren und ist einer der bedeutendsten Religionsphilosophen der Gegenwart. 2005 wurde er in die Académie française aufgenommen

Mimetismus: Auch der lange vergessene französische Soziologe Gabriel de Tarde (1843–1904) wird soeben wiederentdeckt und bei Suhrkamp verlegt. Girard moniert an de Tarde allerdings, dass er stark vom Optimismus und Konformismus triumphierenden Kleinbürgertums gefärbt sei und „die Nachahmung als alleiniges Fundament von gesellschaftlicher Harmonie und ,Fortschritt‘“ sehe

René Girard: Das Ende der Gewalt. Analyse des Menschheitsverhängnisses. Erkundungen zu Mimesis und Gewalt mit Jean-Michel Oughourlian und Guy Lefort. Herder, 520 S., € 41,10

der Gesellschaft einen unverhofften Frieden bringt, wird das Opfer im Nachhinein zum Gott erhoben. Auf diese Weise sind, so Girard, nicht nur die Religionen, sondern aus diesen auch alle menschlichen Institutionen entstanden. Da der so erlangte Frieden aufgrund von neu ausbrechenden Rivalitäten nicht von Dauer war, versuchte die archaische Gemeinschaft durch die Entwicklung von Ritualen den ersten Tötungsakt kontrolliert an einem stellvertretenden Opfer zu wiederholen, um dessen wundersame Wirkung zu erneuern – und durch das Aufstellen von Verboten Verhaltensweisen zu vermeiden, die eine neuerliche Eskalation von Gewalt befördern konnten. „Die Kultur entspringt nicht direkt der Versöhnung, die auf den Opferakt folgt, sondern dem zweifachen Imperativ von Verbot und Ritual, das heißt der um der Krisenvermeidung willen nun vollständig vereinten Gemeinschaft“, heißt es in „Das Ende der Gewalt“, einem von Girards grundlegenden Werken, das bereits 1978 erschienen ist und nun erstmals in vollständiger deutscher Übersetzung vorliegt. In diesem Missing Link zwischen den beiden schon erwähnten Bänden diskutiert Girard die bereits vollständig ausgereifte mimetische Theorie auf 500 dichten Seiten mit dem Psychiatrieprofessor Jean-Michel Oughourlian und dem Arzt Guy Lefort. Obwohl sich der glänzende Stilist und unbarmherzige Aufklärer Girard auch sonst einer glasklaren Argumentation befleißigt, stellt sich der Gesprächscharakter des Buchs (das nicht wie die alte Übersetzung die Parts der beiden Mitdiskutanten einfach ausspart) dabei als Gewinn für die Lektüre heraus, denn mögliche Einwände sowie damals bereits vorliegende Kritik werden so gewinnbringend in die Darstellung eingebunden. Das paradoxe Verhältnis von Religion und Ge-

walt bringt Girard auf die Formel: „Das Religiöse ist nichts anderes als diese immense Anstrengung zur Erhaltung des Friedens. Das Heilige ist Gewalt, aber wenn das Religiöse die Gewalt verehrt, dann stets deshalb, weil sie als friedensbringend gilt.“ Tatsächlich ist es beeindruckend, welche Lebensbereiche die mimetische Theorie abzudecken und wie viel bisher scheinbar Unzusammenhängendes sie in einem neuen Licht erscheinen zu lassen vermag: kollektive Gewalt, Verbote und Rituale, die Haustierhaltung, das sakrale Königtum und die Monarchie, das Inzestverbot, die Sprache und das Theater, die „Vorbildwirkung“ der Werbung (in der ja meistens nicht nur das Produkt gezeigt wird, sondern ein Mensch, der damit glücklich geworden ist) und die Globalisierung – kurz: die ganze Palette des erschreckenden und paradoxen Verhaltens der Spezies Mensch. Obwohl diese „Anthropologie des Religiösen“, eine „radikal soziologische Lesart aller geschichtlichen Formen von Transzendenz“, wie Girard sie selbst nennt, in keinem Widerspruch zur Evolutionstheorie steht und die Religion, um mit Kant zu sprechen, „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ betrachtet, hat sie sich an Teile der katholischen Theologie als anschlussfähig erwiesen – sicher mit ein Grund, warum sie in intellektuellen Kreisen weniger

stark rezipiert wurde. So wie die Tatsache, dass sie zur Konversion des ehemaligen Agnostikers Girard geführt hat. Im zweiten Teil entwickelt Girard seine zweite Hauptthese – nämlich, dass sich die „jüdisch-christliche Schrift“ fundamental von archaischen Religionen unterscheidet, weil sie historisch zum ersten Mal offenlegt, was die Mythen verschleiern. Die „anthropologische Leistung des Evangeliumstextes“ liegt in der bereits im Alten Testament vorbereiteten „Offenlegung des Gründungsmechanismus“ aller menschlichen Kultur – der Herstellung des Friedens auf Kosten eines unschuldigen Opfers. Und das hat die Welt verändert, ob sie es will oder nicht, ob sie es wahrnimmt oder nicht, denn: „Die Befähigung des Opfermechanismus, Heiliges zu produzieren, gründet (…) auf der Verkennung dieses Mechanismus.“ Natürlich muss sich diese Lesart des Christentums, die die Bibel unter dem Aspekt von Begehren und Psychologie, ihre Offenbarungskraft unter anthropologischem Aspekt betrachtet, in wesentlichen Teilen von jener der Amtskirche unterscheiden. Nicht nur Erbsünde, Erlösung und Apokalypse erhalten eine neue Bedeutung. Die von Girard vorgeschlagene nichtsakrifizielle Lesart der Passion steht auch im Gegensatz zu 2000 Jahren Kirchengeschichte, die Girard als historischen Irrtum ansieht, der letztlich verantwortlich war für die Gewalt, die die Geschichte des real existierenden Christentums ja bekanntlich hervorgebracht hat. In Girards Interpretation der Evangelien ist Jesus nicht von Gott geopfert worden – sondern gegen alle Opferakte gestorben. Und hat damit zumindest in unserer Kultur die weitere Herstellung von Heiligem durch Gewalt unterbunden. In dem darauffolgenden entmythologisierten Zeitalter gibt es keine versöhnenden Opfer mehr – mit weitreichenden Implikationen. „Ohne sakrifizielle Mittlerinstanzen müssen sich die Menschen auf immer und ewig miteinander versöhnen oder sie finden sich mit dem baldigen Aussterben der Menschheit statt“, formuliert Girard im Jahr 1978 angesichts von Atombombe, weltweitem Wettrüsten und zunehmender Umweltzerstörung. Im letzten Teil legt Girard eine „interdividuelle Psychologie“ und eine profunde kritische Auseinandersetzung mit Sigmund Freud vor, dessen Annahmen teilweise aufgegriffen, aber entscheidend modifiziert werden. Als Einführung in sein Denken sei jedoch eher die Studie aus dem Jahr 2005 empfohlen: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ – auch weil hier die mimetische Theorie erhellend auf Phänomene der Jetztzeit angewandt wird wie die Enthierarchisierung, Wettbewerbsorientierung und Globalisierung der Gesellschaft, die dem mimetischen Begehren und seinen gewalttätigen Implikationen ungebremst Nahrung verschaffen. Der mimetische Prozess spielt sich nicht mehr in aller Öffentlichkeit ab, er beherrscht nun unterschwellig die Beziehungen. Und die Medien mit ihrer Gier, überall Opfer zu finden – und der in ihnen gespiegelten kollektiven Sucht, selbst Opfer zu sein. K irsti n B r e it e n f e l l n e r

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„Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen.“ Egon Krenz, Nachfolger Erich H o n e c ke r s , a m 1 8 . Ok t o b e r 1 9 8 9 (Zitat aus: Wolfgang Schuller: „ D i e de u t s c he Re v o l u t i o n 1 9 8 9 “ )

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Foto: Julia Fuchs

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Augenblicke der Verschmelzung Religion: Charles Taylor legt einen großen, religiös inspirierten Entwurf zum säkularen Zeitalter vor

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Charles Taylor (geb. 1931) gehört zu den einflussreichsten Vertretern der politischen Philosophie der Gegenwart und wird dem Kommunitarismus zugerechnet Zuletzt erschienen: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. Suhrkamp (2009), 165 S., € 12,40 Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Suhrkamp (2002; vergriffen), 101 S.

Nun hat sich der gesellschaftliche Ort des

Glaubens im Laufe der Geschichte mehrfach verschoben. Ausgehend von der Theorie Emile Durkheims eines gesellschaftlichen Orts des Sakralen unterscheidet Taylor eine paläo-, eine neo- und eine postDurkheim’sche Periode. Erste ist jene des Ancien Régime, einer von Gott gebilligten hierarchischen Ordnung. Mit der Moderne beginne die „neo-Durkheim’sche“ Periode, in der die Gläubigen mobilisiert werden müssen, da die Religionszugehörigkeit nunmehr freiwillig ist. Gleichzeitig sind hier aber Glaube und politische Identität eng verwoben, wie etwa im Nationalismus. Die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts markieren einen deutlichen Bruch mit diesem System und den Beginn dessen, was Taylor das „Zeitalter der Authentizität“ nennt. Dieses beginnt mit dem Ausbruch aus dem Kerker der Disziplin hin zur dionysischen Ekstase, für den Namen wie jener von Georges Bataille stehen. Und es führt zur „expressivistischen Revolte“ der Jugendkultur mit ihrer Suche nach authentischen Lebens- und Ausdrucksformen. Als Massenphänomen prägt dies heute den Kulturkapitalismus, in dem Waren dazu dienen, die eigene Persönlichkeit zum

Ausdruck zu bringen. Das Erstaunliche ist, dass Taylor dies keineswegs als platten Hedonismus abkanzelt. Statt einer moralischen Verurteilung sucht er vielmehr nach dessen religiöser Dimension. Für ihn setzt sich der Weg, den die Revolten der 60er-Jahre eröffnet haben, in jenen Erfahrungen fort, die zugleich massenkulturell und individualistisch sind: die Suche nach einem eigenen Stil, einem eigenen Ausdruck, die er nicht als selbstgenügsamen Hedonismus, sondern als neue Form der Spiritualität versteht. Diese Spiritualität bezeichnet er als post-Durkheim’sche. Unsere heutige Verbindung zum Sakralen kenne keine Einbettung mehr in einen kirchlichen oder staatlichen Rahmen. Spiritualität stehe heute nicht mehr in einer inneren Verbindung zur Gesellschaft. Der Zugang zur religiösen Praxis laufe vielmehr über die verschiedenen Formen spiritueller Lebenspraxis. Da folgt jeder seinem eigenen Weg. So wie jeder seinen eigenen Stil sucht. Dennoch ist die postDurkheim’sche Epoche keine einer trivialen, privatisierten Spiritualität. Diese habe sich zwar von der politischen Gesellschaft gelöst, dennoch handle es sich dabei um eine kollektive Erfahrung. Die Suche nach einem Gefühl der Fülle jenseits der Immanenz sowie nach einer Perspektive für die eigene Transformation führe uns zu neuen kollektiven Orten: zu außeralltäglichen Massenveranstaltungen – durchaus auch an metatopischen Orten wie dem Fernsehen oder dem Internet – wie etwa dem Begräbnis von Prinzessin Diana, an dem Millionen individueller Monaden in einem „Augenblick der Verschmelzung“ miteinander trauerten. Wie groß dabei die Ergriffenheit und die Sensationslust gewesen sind, sei dahingestellt. Taylor sieht die Bildung solcher „einsamen Massen“ auch bei Raves und Rockkonzer-

ten. Dies alles sind für ihn Formen religiösen Glaubens, spirituellen Erlebens einer transzendenten Fülle, die die Alltäglichkeit einer säkularen, entzauberten Welt transzendieren. Natürlich ist diese post-Durkheim’sche Form des „Glaubens ohne Zugehörigkeit“ äußerst fragil. Gerade in einer pluralistischen, säkularen Welt ist eine Spiritualität ohne Religion sehr heikel. Ohne feste Verbindlichkeiten leben wir also in einem spirituellen Prekariat. Umso mehr, als unsere Epoche keine reine Form der Religiosität kennt, sondern nur ein Spannungsverhältnis zwischen neo- und postDurkheim’schen Interpretationen, zwischen einer Religion, die der Autorität eine Vorrangstellung einräumt, und einer Religion der individuellen Suche. Unsere ganze Kultur sei, so Taylor, von der Erfahrung eines „gegenläufigen Drucks“ gekennzeichnet, eingezwängt zwischen den Extrempositionen einer orthodoxen Religiosität und eines materialistischen Atheismus. Nirgendwo sei dieser gegenläufige Druck so spürbar wie im Bereich der Sexualität. Obwohl Taylor gerade die „Exkarnation“ der christlichen Religionen, die Ablösung der Spiritualität von allen physischen Ritualen, kritisiert und den dionysischen Ausbruch weiterführen will, sieht er den heutigen Menschen vor einem unlösbaren schroffen Widerspruch: der „Unmöglichkeit, das Dionysische mit einer kontinuierlichen Lebensweise in Einklang zu bringen; die Schwierigkeit, das Sinnliche in einer fortwährenden Beziehung zu halten“. Man mag diese Erfahrungen der Fülle spirituell nennen oder nicht. So definiert sind sie auch für jeden Atheisten nachvollziehbar. Was kann man mehr von einem ­religiösen Buch über Säkularisierung erwarten?

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Charles Taylor: Ein säkulares Zeitalter. Suhrkamp, 1284 S., € 70,–

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as neue Buch von Charles Taylor ist in jeder Hinsicht groß: Groß ist der Umfang – 1284 Seiten –, groß ist der Anspruch – das gesamte „säkulare Zeitalter“ zu erfassen –, und groß ist das Ergebnis. Der kanadische Philosoph erzählt eine eigene Geschichte der Säkularisierung, keine große Erzählung vom linearen Untergang der Religionen infolge des Aufstiegs der Moderne. Es ist eine absolut parteiische Darstellung. Wie die Marxisten, die meinten, keine Wissenschaft könne vom Klassenstandpunkt ihres Autors abstrahieren, so bekennt sich auch Taylor zu seiner eigenen Perspektive auf seinen Gegenstand: Es ist die eines Gläubigen. Taylors Darstellung setzt damit ein, nach den heutigen Bedingungen des Glaubens zu fragen. Diese sind es, die sich verändert haben. Denn Glauben sei heute nur mehr eine Option unter anderen. Eine fragile, umkämpfte Option. Der Pluralismus hat Eingang in die Art des Glaubens gefunden: Direkt, naiv kann heute nicht mehr geglaubt werden, nur noch angezweifelt, reflektiert, erkämpft. Damit durchzieht von Anfang an ein unaufdringlicher Heroismus das Buch – jener des Gläubigen in einer säkularen Welt. Wobei Taylors Definition des Glaubens sehr weitläufig ist: Er sei ein „Gefühl der Fülle“, ein „Ort, an dem das Leben voller, reicher, tiefer, lohnender“ ist. Und er sei eine „Transformationsperspektive“, das Bedürfnis, die engen Grenzen des vorgegebenen Lebens, der immanenten Erfüllung zu überschreiten.

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Sachbuch

„Das Religiöse ist nichts anderes als diese immense Anstrengung zur Erhaltung des Friedens. Das Heilige ist Gewalt, aber wenn das Religiöse die Gewalt verehrt, dann stets deshalb, weil sie als friedensbringend gilt.“ R en é G i rard : „ D as E nde der G e w a l t “ SEITE 35

Chinesische Medizin Akupunktur bei Dr. Claudia Radbauer

Vom Schutzwall zur East Side Gallery Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer, Startschuss für eine beispiellose Folge friedlicher Revolutionen vom ehemaligen Ostblock bis nach Südafrika, die die Welt ein für alle Mal verändern sollten. Der Kalte Krieg, der die Nachkriegsjahrzehnte geprägt hatte, verabschiedete sich, beginnend mit dem Ende der DDR, sang- und klanglos in die Geschichtsbücher, und die darauffolgenden 90er-Jahre wurden das Jahrzehnt des Optimismus, das erst am 11. September 2001 abrupt endete. Dass allerdings die Mauer auch 20 Jahre nach ihrem realen Fall in Deutschland immer noch nicht aus allen Köpfen verschwunden ist, wird bald einmal deutlich, wenn man mit „Ossis“ oder „Wessis“ spricht. Pünktlich zum Jubiläum hat der Buchmarkt eine unüberblickbare Reihe von Publikationen ausgeworfen, aus denen hier eine Auswahl von sechs Büchern vorgestellt werden soll.

Alltagsgeschichte(n) Der kleine Kerl ist dafür zuständig, dass es gute Träume gibt. Dafür streut das Sandmännchen Schlafsand in die Augen. Einen netten Gesellen hat sich das DDR-Fernsehen da ausgedacht: weißer Bart, rote Mütze, freundliches

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Wesen. Verständlich, dass die Trickfilmfigur genauso wie Spreewaldgurke und Club Cola Teil des nostalgischen DDR-Erinnerns wurde: In der DDR war nicht alles schlecht! Der von Martin Sabrow herausgegebene Sammelband „Erinnerungsorte der DDR“ zeigt, wozu Alltagsgeschichte taugt. Trabi oder Sandmännchen, die sonst gern sehnsüchtig-heiter in Fernsehshows und Spielfilmen auftauchen, werden ernst genommen und als Teil der Geschichte verstanden. Denn Alltagsgeschichte ist für Sabrow keine Verharmlosung der politischen Realitäten in einer unfreien Gesellschaft, sondern wirkt Ostalgie entgegen. Die Erinnerungsorte des Titels werden als Symbole begriffen, die zur Identitätsstiftung beitragen. Dazu zählen reale Orte ebenso wie Ereignisse, Begriffe, Bilder und Bücher. Die Autoren des mehr als 600 Seiten starken Bands befassen sich mit Bautzen, dem Stasi-Gefängnis, mit Pankow, jenem auch dank Udo Lindenbergs Song über den „Sonderzug nach Pankow“ bekannten Berliner Bezirk, der in den frühen DDR-Jahren als Machtzentrum galt, mit den Montagsdemonstrationen von 1989, dem Plattenbau, der Ostsee.

Sportler und Spitzel Was war die DDR? Diese Frage stellen auch die Autoren des Sammelbands „Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand“. Sie setzen sich sachlich und jenseits von Urteilen und Vorurteilen mit der DDR und der Mauer in den Köpfen auseinander. Auch wenn die Sprache manchmal etwas gar zu betont nüchtern ausfällt, sind die Themen spannend – Wohnbaupolitik, Technik und Produktion in der DDR, die Nationale Volksarmee, Ausländer, die gesellschaftliche Stellung von Mann und Frau, die Stasi. War die DDR ein Volk von Spitzeln? Diese Frage erhitzt bis heute die meisten Gemüter. „Das starke Bemühen um den Aufbau eines hochgradig formalisierten Netzes von Zuträgern demonstriert die grundlegende Schwäche des Regimes“, schreibt Her­ ausgeber Thomas Großbölting. Die SED-Diktatur habe vergleichsweise wenig auf die Akzeptanz und das Mittun der Bevölkerung setzen können. Die Vorstellung vom „Volk der Spitzel“ gehe also ins Leere, auch wenn Ende Oktober 1989 mehr als 91.000 Menschen hauptamtlich für die Stasi gearbeitet haben und 173.000 als inoffizielle Mitarbeiter registriert waren.

Von der Mauer in den Köpfen zum Bau in Berlin und zu Dimitrij Vrubel. Er hat das berühmteste Werk des East Side Gallery genannten Mauerabschnitts geschaffen: den Bruderkuss zwischen Erich Honecker und Leonid Breschnew. Vrubel ist einer von 118 Künstlern aus 21 Ländern, die im Frühjahr 1990 insgesamt 1,3 Kilometer Mauerfläche auf der Ostseite bemalten. Vor einem Jahr begannen die Sanierungsarbeiten, anschließend sollten die Künstler ihre Werke für das Gedenkjahr 2009 nochmals daraufpinseln – was Vrubel zunächst irritierte: Das wäre doch ein neues Bild! Aber dann legte er doch los. Schließlich könne man die Fläche ja auch nicht einfach so weiß lassen. Vor 20 Jahren wäre es mehr als schwierig gewesen, an diese Stelle überhaupt zu gelangen. Vor der Hinterlandmauer befanden sich Todesstreifen – die 167,8 Kilometer lange Mauer begann für die Ostberliner also schon bis zu 100 Meter vor dem eigentlichen Bau. Wer hatte diesen Einfall? Warum wehrten sich die Berliner nicht dagegen?

Das unmenschliche Bauwerk Diesen Fragen widmet sich Edgar Wolfrum in seinem Buch „Die Mau-

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Zeitgeschichte: Vor 20 Jahren, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Eine Rückschau in Büchern

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s a c h b u c h    er. Geschichte einer Teilung“. Es habe Proteste gegeben, in Form von Flucht und kleinerem und größerem Widerstand im eigenen Land: ein Bäcker, der kein Brot mehr backen wollte, oder ein Lokführer, der seinen Zug illegal nach Westberlin fuhr. Nur eine spontane Massenerhebung hätte das Regime in Bedrängnis bringen können, meint Wolfrum. Das Monstrum war perfekt geplant gewesen. DDR-Staatsoberhaupt Walter Ulbricht hatte die Idee dazu immer wieder in Moskau vorgetragen. Zunächst bekam der DDR-Staatschef aber ein Nein zur Antwort. Wie also KPdSU-Chef Nikita Chruscht­ schow überzeugen? Wolfrum interpretiert den berühmtesten Satz Ulbrichts neu. In einer Pressekonferenz am 15. Juni 1961 in Ostberlin meldet sich die Journalistin Annamarie Doherr zu Wort: „Ich möchte eine Zusatzfrage stellen. Doherr, Frankfurter Rundschau. Herr Vorsitzender, bedeutet die Bildung einer freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?“ Ulbrichts Antwort: „Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht, da sich die Bauarbeiter in der Hauptstadt hauptsächlich mit Wohnungsbau beschäftigen und ihre Arbeitskraft voll eingesetzt wird.“ Ulbricht, meint Wolfrum, habe mit dieser Antwort versucht, bewusst Öl ins Feuer zu gießen, um eine Flüchtlingswelle zu provozieren. Diese sollte Moskau zu einem Ja bewegen, das im Juli 1961 auch tatsächlich in der sowjetischen Botschaft eintraf. Ulbricht weihte wenige ein, Stabschef der Aktion wurde das spätere DDR-Staatsoberhaupt Erich Honecker. Wolfrum  bietet einen brauchbaren Überblick über das „unmenschliche Bauwerk“, von der Vorgeschichte mit Besatzungszonen, Berlinkrise und Koreakrieg über die Errichtung der Mauer bis zu ihrem Fall, von der Lüge des „antifaschistischen Schutzwalls“ über geglückte und missglückte Fluchten bis zum Umgang der Westberliner mit dem „Ding“, das da plötzlich stand. So etwa Joseph Beuys: Der Künstler schlug 1964 vor, die Mauer um fünf Zentimeter zu erhöhen – aus Proportionsgründen.

„Dann geh doch rüber!“ „Guten Tag Genossen! Ich komme aus Westberlin und will in die Nationale Volksarmee oder die Grenztruppen der DDR eintreten.“ Eduard Still war 1986 von Westnach Ostberlin über die Mauer geklettert – versuchte er ähnlich wie Beuys der SED mit Ironie zu begegnen? Der damals 30-jährige Rauchfangkehrer war einer von mehr als 400 Menschen, die im Laufe der Jahre auf ungewöhnlichem Weg nach Ostberlin zu reisen versuchten: Sie sprangen. Martin Schaad hat in seinem Buch „,Dann geh doch rüber‘. Über die Mauer in den Osten“ recherchiert, weshalb die „Grenzverletzer WB-DDR“, wie sie das DDR-Ministerium für Staatssicherheit nannte, das taten – statt wie alle anderen einen Grenzübergang zu benutzen. Der eine hatte vier Liter Wein intus. Der andere wollte einmal schauen, „was auf der anderen Seite los ist“. Einer hatte Geldsorgen, ein anderer Heimweh. Der Senat von Westberlin postierte freilich keine Polizisten entlang der Mauer, hätte er doch so der

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völkerrechtswidrigen Demarkationslinie eine Art Anerkennung gezollt. Also war es vergleichsweise einfach, über die Mauer in den Osten zu gelangen – wenn auch nicht ungefährlich. Denn auf der anderen Seite standen Grenzsoldaten, die auch schossen. Wem erlaubte die DDR die Einreise? Wann wurde ein Mauersprung als „Provokation“ oder als „Missachtung der Souveränität der DDR“ gesehen? Schaad geht dem nach und erzählt anhand jeweils einer persönlichen Geschichte von den Motiven der Mauerspringer. John Runnings etwa, damals 68 Jahre alt, reichte es. Der politische Aktivist kletterte eine Woche vor dem 25. Jahrestag des Mauerbaus per Leiter auf die Mauer und schlug zunächst mit einem Vorschlaghammer darauf ein. Udo Cürsgen, dessen Verlobte in Ostberlin lebte, überlegte sich, welche Stelle das meiste Aufsehen erregen könnte – und sprang nahe des SpringerHochhauses. Das Medieninteresse nicht nur der Bild-Zeitung war ihm gewiss. Und Eduard Still, der gern Teil der Volksarmee geworden wäre? Er meinte dies völlig ironiefrei. Still litt an einer schweren Psychose, fünf Mal schickte man ihn nach kurzen Spitalsaufenthalten wieder zurück nach Westberlin.

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erster Schritt der SED-Führung sein sollen. Die Massen sollten mit einer neuen Reiseregelung beruhigt werden. Doch als in einer Pressekonferenz gefragt wurde, wann denn diese in Kraft trete, stotterte Schabowski: „Das tritt, nach meiner Kenntnis, ist das sofort, unverzüglich.“

20 Jahre später

Zur Person Christine Zeiner ist freie Mitarbeiterin des „Falter“ und lebt in Berlin

Die Revolution Dass es eine Revolution war, die die Mauer schließlich zum Einsturz brachte, und keine „Wende“, stellt der Historiker Wolfgang Schuller auch mit dem Titel seines Buchs klar: „Die deutsche Revolution 1989“. „Mit der heutigen Tagung werden wir eine Wende einleiten, werden wir vor allem die politische und ideologische Offensive wiedererlangen“, hatte Egon Krenz, Nachfolger Erich Honeckers, am 18. Oktober 1989 in seiner Antrittsrede verkündet. Wende heißt also: Veränderung „von oben“. Dabei ging der Umbruch vom Volk aus. „Die Revolution in der DDR erstreckte sich über das ganze Land, sie wirkte überall, in großen und kleinen Städten und Dörfern“, schreibt Schuller. Und: „Sie hätte nicht stattfinden können, wenn nicht alle Schichten und Berufe, also vor allem auch ungezählte Durchschnittsbürger, aktiv an ihr teilgenommen hätten.“ Was trieb die Demonstranten in der Provinz an? Wie schätzten die führenden SED-Funktionäre die Lage ein? Penibel trägt Schuller allerlei Quellen zusammen, berichtet von jenen Orten, an denen die Staatsmacht zum ersten Mal zurückwich, und widmet sich auch der Rolle des Theaters. In Schwerin etwa begann die Revolution schon im Februar 1989 – „unbemerkt und wohl auch unbeabsichtigt“. Landvogt Gessler – man gab Schillers „Wilhelm Tell“ – stand auf einem Balkon, der dem des Staatsratsgebäudes in Berlin ähnelte. Eine Aufschrift verkündete: „Grenzgebiet. Betreten verboten“. Bei einem Gastspiel an der Berliner Volksbühne im Oktober 1989 gab es Szenenapplaus bei Tell-Zitaten wie: „Wer wird hier leben wollen ohne Freiheit?“ Oder: „Wir sind umringt von Spähern.“ Ebenfalls im Oktober konnte die Polizei erstmals bei Demonstrationen nicht durchgreifen: In Plauen, der fünftgrößten Stadt Sachsens, gingen am 7. Oktober mehr als 10.000 Menschen auf die Straße, „Deutschland, Deutschland“ und „Gorbi, Gorbi“ rufend. Es folgten Dresden und Leipzig. Und dann fiel die Mauer. Dem Sekretär für Informationswesen, Günter Schabowski, ist es zu verdanken, dass dies am 9. November 1989 passierte. Eigentlich hätte es ein

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Was dann geschah, schildert der ORF-Korrespondent und Leiter des Berlin-Büros Peter Fritz in „Der ratlose Riese. Deutschland 20 Jahre nach der Wende“ so, als würde man einen Film sehen. Fritz versteht sein Handwerk. Am 9. November 1989 war er ORF-Innenpolitik-Redakteur, ging nach Dienstschluss einen heben und landete durch einen Zufall einen Tag später in Berlin. Fritz erzählt auf sympathische Weise, was er damals gesehen und gehört hat, etwa als er Ostberliner dabei beobachtete, wie diese U-Bahn-Stationen wieder benutzten, an denen jahrelang kein Zug hatte halten dürfen. Und spannt von da aus einen Bogen zum Jubiläumsjahr. Die Wirtschaftskrise kommt dabei ebenso vor wie der Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Nicht mehr hineingeschafft haben es die Parlamentswahlen vom 27. September und die neue Koalition von Konservativen und Liberalen, dafür aber gibt es Porträts des glücklosen SPD-Spitzenkandidaten Frank-Walter Steinmeier sowie von Kanzlerin Angela Merkel. Am Ende landet Fritz beim 50. Geburtstag des Trabi. Ein locker-flockiges Buch für alle, die nicht täglich eine deutsche Zeitung in den Händen halten und ein bisschen mehr über das Nachbarland erfahren wollen.

Das linke Erbe

Martin Sabrow (Hg.): Erinnerungsorte der DDR. C.H. Beck, 619 S., € 30,80 Thomas Großbölting (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? Ch. Links, 336 S., € 20,50 Edgar Wolfrum: Die Mauer. C.H. Beck, 191 S., € 17,40 Martin Schaad: „Dann geh doch rüber“. Ch. Links, 208 S., € 17,40 Peter Fritz: Der ratlose Riese. Ueberreuter, 207 S., € 22,95 Hubertus Knabe: Honeckers Erben. Propyläen, 447 S., € 23,60

Es ist jenes Nachbarland, in dem die Sozialdemokraten anders als in Österreich weniger mit dem Erstarken von rechts, sondern zunehmend mit Erfolgen von links konfrontiert sind: „Triumph für Lafo!“ titelte Ende August die Bild-Zeitung. Oskar Lafontaine hatte im Saarland für Die Linke 21,3 Prozent der Stimmen eingefahren. „Gysi und Lafontaine wollen jetzt die SPD beraten“, prophezeite die Welt nach der Bundestagswahl, bei der die Linkspartei auf 11,9 Prozent zugelegt hatte. Der Historiker Hubertus Knabe nennt sie „Honeckers Erben“. Lafontaine war 1999 mit dem Satz „Das Herz wird noch nicht an der Börse gehandelt, aber es hat einen Standort: Es schlägt links!“ als Finanzminister der Regierung Schröder zurückgetreten. 2005 wechselte er von der SPD zur „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Gysi, in der DDR Anwalt und Mitglied der SED, war dar­a n beteiligt gewesen, diese in die Nachfolgerpartei PDS umzuwandeln. 2007 fusionierte die PDS mit der WASG zu Die Linke. „Wie Phönix aus der Asche schwang sich die Diktaturpartei der DDR aus den Ruinen des SED-Staates empor und wurde (…) erneut zu einem Faktor der Politik.“ Knabe beginnt bei Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, widmet sich ausführlich der Stasi-Vergangenheit von LinksparteiMitgliedern und hört beim „Napoleon von der Saar“ Lafontaine auf. Irgendwann ödet der polemische Stil nicht nur an, er nervt. Die Linke ist böse, warum sie trotzdem großen Zulauf erhält, geht dabei eher unter. Dennoch ist dieses Pamphlet lesenswert aufgrund der aktuellen Frage, ob sich die SPD nach der verlorenen Wahl nun auch bundesweit der Linken öffnen wird. C hr i st i n e Z e i n er

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Sachbuch

Schädel, Mordwerkzeuge und Täterfotos

Wo kam all das Geld her? Und wo ist es jetzt hin?

Genozid: Daniel J. Goldhagens neues Buch wird wohl kaum eine internationale Debatte auslösen

Kaufen: Ein Starökonom und ein Aktionskünstler untersuchen die Mechanik von Boom und Finanzkrach

b Daniel Jonah Goldhagens O neuestes Werk „Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht

o kam all das Geld her? Und wo W ist es jetzt hin? Hat mein Geld jetzt ein anderer? Drei ziemlich simple

und wie er zu verhindern ist“ ähnli­ che Kontroversen auslösen wird wie „Hitlers willige Vollstrecker“ aus dem Jahr 1996, wird sich erst zeigen, die englische und die deutsche Ausgabe erscheinen nahezu zeitgleich im Ok­ tober. Die marktschreierisch prog­ nostizierte „internationale Debatte“, die „unser Verständnis genozidaler Konflikte für immer verändern“ wird, wäre wohl eher verwunderlich, denn so neu ist das alles nicht, was der Au­ tor hier präsentiert. Und warum sich das Verständnis für genozidale Kon­ flikte nach der Lektüre noch dazu „für immer“ verändern sollte, ist nicht nachvollziehbar. In dem rund 700 Seiten umfassen­ den Werk versucht Goldhagen die Entstehungsbedingungen von Völ­ kermord zu analysieren und zu kate­ gorisieren, geht der Frage nach, was diesen von anderen gewaltsamen Aus­ einandersetzungen wie etwa Krieg unterscheidet und was die Menschen dagegen tun können. Seinen Begriff des „eliminationist antisemitism“ erweitert er hier zu einem allgemei­ nen Eliminationismus: „Eliminatori­ sche Überzeugungen und Wünsche, Diskurse und Ideologien, Handlun­ gen und Strategien spielen zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften eine wichtige Rolle. Trotzdem wur­ den die vielen Facetten eliminatori­ scher Überzeugungen und Handlun­ gen begrifflich nie als Elemente eines gemeinsamen Phänomens erfasst: des Eliminationismus.“ Dieser Begriff, sei hier angemerkt, wurde von Sir Karl Popper – die Lek­ türe wäre für einen Politikwissen­ schaftler und ehemaligen Professor vielleicht ganz nützlich – in einem ganz anderen Zusammenhang ver­ wendet. Popper versteht darunter in seiner „Logik der Forschung“ (1934) wissenschaftliche Prüfungen als Ver­ suche, Theorien zu falsifizieren. So weit, so begriffsverwirrend. Goldhagen identifiziert fünf Hauptfor­

men der Eliminierung: Transforma­ tion, Unterdrückung, Vertreibung, Reproduktionsverhinderung und Vernichtung. Für alle nennt er zahl­ reiche, bekannte Beispiele vor allem aus dem 20. und 21. Jahrhundert, kon­ zentriert sich in seiner Darstellung jedoch schließlich auf den Massen­ mord, „den Mord an mehr als einigen hundert Menschen in verschiedenen Massakern“. Die anderen Formen er­ örtert er nur dann, wenn sie mit „kon­ ventionellen Massenmorden und Ver­ treibung einhergehen“. Auch wenn Goldhagen glaubt, er schreibe Bücher „allein zu Themen, die ich für relevant halte und bei de­ nen ich den Eindruck habe, dass ich

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etwas grundsätzlich Neues, Anderes und Zutreffendes vermitteln kann“, so lässt sich das bei sehr viel gutem Willen maximal für das letzte Kapitel „Was wir tun können“ bestätigen. Ausgehend von Plattitüden wie „Die gesamte Menschheit – mit all ih­ ren Staaten und politischen Führun­ gen – kann und muss bestrebt sein, die Personen und Gruppen, die Krieg gegen die Menschheit führen, unver­ züglich niederzuwerfen“, schlägt er zum Beispiel vor, dass jeder mit kon­ ventionellen Militäroperationen oder verdeckt gegen Täter vorgehen kön­ nen solle, da diese sich im Krieg ge­ gen die Menschheit befänden. „Infol­ gedessen wäre es ein defensiver Akt, die Täter zu töten. Damit würden die freizügigeren Regeln des Krieges an­ stelle der restriktiven Regeln der Strafverfolgung gelten, was in der Re­ gel grenzüberschreitende Aktivitäten erlaubt.“ Das ist wirklich etwas „Anderes“, wie­

wohl nichts „Zutreffendes“: interna­ tionale Selbstjustiz gegen die Bösen – eine neue Form der Globalisierung. Hie und da finden sich auch durchaus vernünftige, obgleich schwer umzu­ setzende Vorschläge, wenn Goldha­ gen meint, es solle eine internatio­ nale Überwachungsorganisation von demokratischen Staaten geschaffen werden, um Massenmorde aufzude­ cken und diese zu untersuchen, da die Uno hier tatsächlich immer wieder versagt hat. Natürlich ist es eine Frage, wie man so ein Buch bebildern soll – vielleicht am besten gar nicht. Denn so, wie es hier geschehen ist, kann man es nur als gründlich misslungen bezeichnen. Ein Beispiel: Zwischen zwei Fotos fin­ det sich folgende nichtssagende Bild­ legende: „Eine große Zahl von (für die Teilnahme am Massenmord verur­ teilten) Einzelpersonen, die einzeln und gemeinsam vorgingen, löschten das Leben einer großen Zahl von Ein­ zelpersonen aus, die einzeln und ge­ meinsam sterben (…).“ Ansonsten sieht man Leichenberge, Schädel, Mordwerkzeuge, ein paar Täterfotos dazwischen, nicht zu vergessen auch eines „im Gespräch mit dem Verfas­ ser“. Dass Goldhagens Ausführungen dazu beitragen werden, Völkermord zu vermeiden, darf aus guten Grün­ den leider bezweifelt werden.

E va B l i ml i n ger

Daniel J. Goldhagen: Schlimmer als Krieg. Wie Völkermord entsteht und wie er zu verhindern ist. Siedler, 800 S., € 30,80

Fragen, aber doch auch ziemlich kom­ plizierte Fragen in Hinblick auf die ge­ genwärtige Finanzkrise. Denn Geld ist etwas Mysteriöses. Zunächst kann es aus dem Nichts entstehen. Und zwar durch Kredit. Und das geht so: Sparer tragen Geld auf die Bank. Die Bank ver­ gibt das Geld als Kredit. Und für jeden Euro, den ein Sparer einzahlt, vergibt sie zehn, 20 Euro an Kredit. Aber da­ mit ist das Spiel noch nicht zu Ende. Der Kreditnehmer gibt das Geld aus, andere nehmen es ein. Einen Teil die­ ser Einnahmen tragen sie zur Bank, die vergibt sie wieder mehrfach als Kredit. Im Boom dehnt sich das Kredit­ volumen aus, in der Baisse schrumpft es zusammen. So „entsteht“ und „ver­ schwindet“ Geld. Das Geld, das ich verliere, muss also nicht notwendiger­ weise bei einem anderen landen. Aber das ist nicht das Ende vom Lied, und darauf weist der deutsche Aktionskünstler, Philosoph und Ak­ tivist Georg Zoche in seinem schma­ len Büchlein „Welt Macht Geld“ hin: Zwar verlieren die Investoren Geld und auch diejenigen, denen sie ihr Geld anvertraut haben – die „Schuld­ ner“ –, können bankrottgehen. Aber es gibt immer Leute, die davon profi­ tieren. Die Häuser, die in einer Immo­ bilienblase gebaut werden, gibt es ja wirklich, und Baumeister, Installateu­ re, Immobilienhändler und Banker sind die Gewinner der Blase. „Blasen vernichten kein Geld, sie schichten es lediglich im großen Stil um“, behaup­ tet Zoche. Das ist nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch.

Blasen können ein lukratives Geschäft sein, und in einer globalen Ökonomie können ganze Volkswirtschaften zu den „Gewinnern“ zählen. Genau dar­ auf weist Zoche hin. Die USA haben seit Jahren „über ihre Verhältnisse“ gelebt, das heißt, sie haben auf Pump eingekauft. US-Dollars sind nach Chi­ na, nach Europa, in den Nahen Osten geflossen, wurden dort aber natürlich nicht in Tresoren gestapelt, sondern wanderten in die USA zurück , wo mit dem Geld ein Immobilienboom aufge­ blasen wurde. Jetzt sind die Investitionen ent­ wertet, aber die Häuser stehen immer noch. In den USA wuchs der Reichtum, aber das Risiko wurde exportiert. Zo­ che ist kein Ökonom, aber er argumen­ tiert sauber. Nur: Er insinuiert auch ein wenig. Letztendlich, so glaubt Zo­ che, habe die US-Notenbank Fed ge­ nau gewusst, was sie tut, und auch ge­ nau gewusst, wie das endet, also na­ ive Anleger aus aller Welt betrogen. Und damit schrammt er hart an einer Verschwörungstheorie vorbei. Ganz abgesehen davon, dass er auch nichts dazu sagt, dass auch die anderen einen

Nutzen hatten: Die Güter, die die USA auf Pump kauften, trieben ja in Euro­ pa, in China die Konjunktur an. Robert J. Shiller ist ein ganz anderer Ty­

pus als Zoche. Shiller ist jener Ökonom an der Yale University, der das Platzen der Immobilienblase und deren Fol­ gen exakt prognostiziert hat und seit­ her als Star gehandelt wird. Sein Buch „Die Subprime-Lösung“ ist eine klu­ ge, verständliche Einführung in die Mechanik von Boom und Zusammen­ bruch. Im ersten Teil beschreibt er die „soziale Ansteckung“, die vom Glau­ ben ausgeht, es würde immer weiter bergauf gehen, wenn es einmal eine Zeitlang bergauf gegangen ist. „Rück­ kopplungsschleifen“ von Preisanstieg, Winner-Storys und hysterischem Op­ timismus befeuern die Blase. Plötz­ lich machen auch normale Leute mit bei der Jagd nach dem schnellen Geld. Man beginnt die Welt mit seltsamen Augen zu sehen: Preisanstieg von Immobilien wird als „Reichtumsge­ winn“ angesehen, obwohl hohe Haus­ preise und hohe Mieten die meisten Menschen ja eigentlich ärmer machen und man umgekehrt doch eher sagen müsste, wenn „die Immobilienpreise im Verhältnis zu unserem Einkommen sinken, werden wir wohlhabender“.

Im zweiten Teil seines knappen, klugen Buchs stellt Shiller die Frage, ob un­ sere Finanzprodukte simpler wer­ den müssen. Dafür spricht ja einiges: Toxische „Wert“-Papiere wurden ja auch deshalb in hoher Zahl über die gesamte Welt verkauft, weil niemand mehr wusste, was sich in den raffinier­ ten Verbriefungspapieren versteck­ te. Shiller will nicht zurück zum alten Sparen-verleihen-Bankgeschäft. Raffi­ nierte Finanzprodukte können kom­ plizierte Risiken absichern und zur Wohlstandsmehrung beitragen. Sie müssen nur so konstruiert sein, dass sie nicht zu tickenden Zeitbomben R o bert M i s i k werden.

Georg Zoche: Welt Macht Geld. Ein Handbuch. Blumenbar, 77 S., € 16,40 Robert J. Shiller: Die SubprimeLösung. Wie wir in die Finanzkrise hineingeraten sind – und was wir jetzt tun sollten. Börsenbuch, 177 S., € 20,50

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„Langfristig gesehen ist es eindeutig eine gute ­Sache, wenn die Immobilien­ preise absacken.“ R o be r t J . S h i lle r : „ D i e S u b p r i me - L ö s u ng “ SEITE 40

Gedämpfte Teigtaschen von Kang am Naschmarkt, Wien 4

Neuromarketing oder warum Sex doch nicht verkauft Kaufen: Zwei Neuerscheinungen versuchen, die schöne neue Welt der Werbung mit der Gehirnforschung kurzzuschließen er in einem Tomografen liegt und W das Logo von Coca-Cola oder Microsoft vorgespielt bekommt, entwickelt in aller Regel mehr Hirnaktivität, als wenn ein unbekanntes Produkt aufscheint. Überraschend ist das nicht. Und über die Kaufentscheidung sagt es wenig. Es sei denn, man geht von der unbewiesenen Annahme aus, 90 Prozent der Kaufentscheidungen fielen unbewusst. Der Markenberater Martin Lindstrom wagt sich in seinem Buch „Buy-ology“ noch weiter vor. Weil Raucher im Tomografen auf Warnhinweise wie „Rauchen tötet“ oder Fotos verteerter Lungen ihren Nucleus accumbens – auch Suchtzentrum genannt – aktivieren, meint er, dass die gewünschte Abschreckung nicht nur ausbleibt, sondern Nikotinsüchtige sogar zum Anstecken einer Zigarette angeregt werden.

Während Wissenschaftler rätseln oder disku-

tieren, was Momentaufnahmen aus dem Gehirn bedeuten, kennt Lindstrom keine Zweifel. Zweifel passen nur in sein Geschäftsmodell, wenn er Gemeinplätze Werbetreibender erschüttern kann. Sex verkauft? Der Däne widerspricht. Männer starren aufs nackte Fleisch, übersehen aber, wofür eigentlich geworben wird. Frauen reagieren auf laszive Models desinteressiert bis allergisch. Einen anderen Trend sieht Lindstrom darin, dass in der Werbung zunehmend

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subtiler auf Angst gesetzt wird. Obwohl Babyhaar nicht shampooniert gehört, verkauft sich Babyshampoo prächtig, das „keine Tränen mehr“ verspricht. Für Zahnpasta wird mit Studien geworben, die einen Zusammenhang zwischen Zahnfleischerkrankungen und Herzinfarkten oder Schlaganfällen herstellen. Alles nach dem Motto, wer unser Produkt nicht kauft, lebt weniger sicher, weniger glücklich, weniger frei. Warum ziehen eigentlich so viele Menschen Markenprodukte vor? Hat noch nicht jeder Konsument begriffen, dass eine erkannte Marke in erster Linie einen deftigen Preisaufschlag signalisiert? Statt einer Antwort bietet Lindstrom nur Plattitüden. Etwa, dass stets das gleiche Produkt zu haben beruhige. Oder die Anekdote von einer Makrelenart, für die sich in Japan der Preis versechsfacht hat, seit der Fisch als Markenprodukt verkauft wurde. Sein Erweckungserlebnis hatte Lindstrom bereits mit elf. Auf dem Hinterhof seiner Eltern errichtete er sein eigenes „Legoland“ und buchte seine erste Anzeige in einer Lokalzeitung. Prompt kamen auch Anwälte des Spielzeugkonzerns und redeten ihm die Verwendung des Markennamens aus. Kurz darauf spielte der kleine Martin nicht mehr mit Legosteinen, sondern betrieb von seinem Kinderzimmer aus eine Werbeagentur. So putzig kann nur eine steile Karriere beginnen. Heute jet-

tet Lindstrom rund um den Globus, um bekannte Markenartikler zu beraten.

Martin Lindstrom: Buy-ology. Warum wir kaufen, was wir kaufen. Campus, 230 S., € 25,60 Christian Elger, Friedhelm Schwarz: Neurofinance. Wie Vertrauen, Angst und Gier Entscheidungen treffen. Haufe, 240 S., € 25,50

Dabei setzt er seit einigen Jahren voll auf Hirnforschung. Die „Kaufen“ und „Naturwissenschaft“ kombinierende Wortkreation „Buy-ology“ ist nicht nur ein nettes Wortspiel, sondern selbst schon eine Marke. Unter dem Namen firmieren neben dem angeblich schon in 30 Sprachen übersetzten Buch auch Website, Newsletter, Vortragstour und seine jüngste Firma. Understatement ist seine Sache nicht. Seinen Minderwertigkeitskomplex bekämpft er auch auf seiner Website, die sein grinsendes Konterfei in fast 100 Varianten zum Runterladen bereithält. Als Autor streut er geschickt Andeutungen und setzt an jedes Kapitelende einen Cliffhanger. Wer Smalltalkfutter tanken will und etwas Verkaufsgeplärre aushält, kann „Buy-­ ology“ mit Vergnügen lesen. Das lässt sich von Christian Elgers und Friedhelm Schwarz’ Studie „Neurofinance. Wie Vertrauen, Angst und Gier Entscheidungen treffen“ nicht behaupten. Darin schustern der Mediziner und der Journalist lieblos zusammen, was Hirnforschung und Wirtschaftspsychologie über den Umgang mit Geld und Risiko wissen. Dass es dieser Titel auf die Handelsblatt-Liste der zehn besten deutschsprachigen Wirtschaftsbücher des Jahres gebracht hat, kann nur ein peinliches Versehen sein. S t efan L ö ffle r

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Liter atur

Bier trinken für den Regenwald

Der Open Space hat mich umgebracht

Kaufen: Die Lohas, Nachfolger der Bobos, wollen sich die Welt schönkaufen, sagt Kathrin Hartmann

Jugendkultur: Noch drei Monate bis zum Ende der Nullerjahre – zwei Bücher gewähren schon jetzt Ein- und Rückblick

ir sind die neuen Ökos, von deW nen die Presse häufig redet. Unser Konsum ist konsequent ökolo-

as haben Ebay, Emos, MetroseW xuelle, Smoothies und Speeddating gemeinsam? Sie sind eine Er-

gisch und fair, ohne auf Modernität zu verzichten“, brüllt einem die Homepage www.karmakonsum.de entgegen, einer Kommerzgemeinschaft, in der sich die Lohas miteinander vernetzen. Wie? Sie wissen nicht, was Lohas sind? Sie dachten, Bobos sind der letzte Schrei? Von wegen! Lohas ist das Akronym für „Lifestyle of Health and Sustainability“ und beschreibt einen Lebensstil, der auf Gesundheit und Nachhaltigkeit basiert. Angeblich. Der US-Soziologe Paul Ray hat das Phänomen im Jahr 2000 in „The Cultural Creatives: How 50 Million Are Changing the World“ erstmals beschrieben, also schon vor 9/11. Und danach ging’s mit dem Weltretten sowieso erst richtig los.

„Im Gegensatz zu den ,alten Ökos‘ sind wir technologiefreundlich und genussorientiert“, heißt es bei karmakonsum.de weiter. „Wir gehören aber nicht zur Spaßgesellschaft, sondern genießen nachhaltig. Wir wissen über die Folgen unseres Konsums und versuchen, diese möglichst gering zu halten.“ Dass das alles nicht so einfach ist, wie es klingt, dass Leute, die sich die Welt schönkaufen wollen, gar nicht altruistisch handeln und was die Wirtschaft davon hat, darum geht es im soeben erschienenen Buch „Ende der Märchenstunde. Wie die Indus­t rie die Lohas und LifestyleÖkos vereinnahmt“ der deutschen Autorin ­Kathrin Hartmann. Lohas interessieren sich für Gesundheit, Spiritualität, Nachhaltigkeit und Ökologie. Ihr Prinzip lautet, die durch den Kapitalismus ruinierte, ungerechte Welt durch „guten Kapitalismus“ zu retten. Der Massenmarkt von damals ist zum Sinnmarkt geworden: Man wohnt in schick revitalisierten Altbauwohnungen in Mitte (Berlin), im Schanzenviertel (Hamburg) oder Neubau (Wien) und sorgt in den neuen Stilghettos tüchtig für Gentrifizierung. Man holt mit dem SUV die Kinder vom Yogakurs ab, parkt vor dem Biosupermarkt, macht Tai-Chi, trinkt Grüntee oder Bionade. Die deutsche Ökobrause mit dem Retroschick steht für eine ganze Bewegung, die Wochenzeitung Die Zeit prägte in diesem Zusammenhang bereits den Begriff des „Bionade-Biedermeier“. Mit ziemlich viel Wut im Bauch und teilweise genüsslich gehässig beschreibt Kathrin Hartmann die neue Kaufkraft aus den Szenevierteln. Hartmann, Jahrgang 1972, ist Journalistin. Sie war bis vor kurzem Redakteurin beim Monatsmagazin Neon – jener Jungmenschenbibel also, die das schöne Lohas-Leben bis ins Detail abbildet. Ihr großer Vorwurf an die sich neu entwickelnde Gutkunden-

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schicht: Sie ist unpolitisch. Doch die Macht der Konsumenten ist nicht so groß, wie sie glauben. Und wie ihnen seitens der Industrie neuerdings suggeriert wird. Die Wirtschaft ist nämlich noch gefinkelter als die Lohas. Wieso macht es niemanden stutzig, wenn Weltkonzerne von „Werten“, „Nachhaltigkeit“ oder „Verantwortung“ sprechen? Seit die Industrie Greenwashing als Marketing- und Markenkonzept entdeckt hat, kann man in den Urlaub fliegen für den Klimawandel, Fischstäbchen essen für den Artenschutz oder Bier trinken für den Regenwald. Pro Kiste Bier, verspricht eine deutsche Brauerei, rette man einen Quadratmeter Regenwald. Statt 142 Kisten Bier zu kaufen, könnte man auch zehn Euro für den Naturschutz spenden. Ein Autohersteller pflanzt Bäume, statt für neue Abgastechnologie zu sorgen. Ein T-Shirt-Produzent behandelt offenbar seine Angestellten gut, verrät aber nichts über die Herkunft seiner Baumwollstoffe. Und alle konsumieren mit gutem Gewissen. Irgendwie. Und die Politik? Statt Gesetze zum Schutz von Natur und Menschen zu beschließen, wird gepackelt und (EU-)Geld in absurde Förderprojekte gesteckt. Die Autorin zitiert eifrig Studien, die Bi-

beln der Globalisierungskritik von Klaus Werner-Lobo („Schwarzbuch Markenfirmen“) bis Naomi Klein („No Logo“) sind natürlich auch dabei. Wirtschaftspolitische und soziologische Analysen wechseln in Hartmanns Abrechnungsbuch ab mit Reportagen. Beispielsweise über den Süden Spaniens, wo Erdbeeren für den deutschen (und sicher auch österreichischen) Winter Umwelt, Land und Leute kaputtmachen. Das liest sich dann wie die journalistisch einwandfreien Stücke aus Neon oder anderen Magazinen. Ob es das Beste wäre, wenn die Leute im Winter einfach keine Erdbeeren mehr essen würden, fragt die Autorin in Andalusien Umweltaktivisten, Ökobauern und Nationalparkwächter. Irgendwie wäre das auch ­fatal, lautet die Antwort. Strategischer Konsum, so Hartmanns Schlussfolgerung, könne nie das große Ganze ändern, denn: „Es gibt kein richtiges Einkaufen im falschen Wirtschaftssystem.“ CHR ISTOPHER WUR MDOBLER

Kathrin Hartmann: Ende der Märchenstunde. Wie die Industrie die Lohas und Lifestyle-Ökos vereinnahmt. Blessing, 384 S., € 17,50

findung der sogenannten Nullerjahre, des Jahrzehnts zwischen 1. Jänner 2000 und 31. Dezember 2009. Noch schnell vor deren Ablauf hat die Wirtschaftsjournalistin Judith-Maria Gillies ein Lexikon mit den 200 wichtigsten Begriffen dazu verfasst. Von A wie Alcopop bis Z wie Zungenreiniger beschreibt sie die Trends dieser Zeit. „Unsere Nullerjahre“ ist kurzweilig, weil Gillies ihre Einträge mit kleinen Anekdoten anreichert. Dabei beschreibt sie vieles, was wir schon fast wieder vergessen oder verdrängt haben. Etwa die „Sex and the City“-Phase, als weibliche Fans der Serie einen Cosmopolitan nach dem anderen bestellten, nur um Hauptfigur Carrie nachzuahmen. Oder das AudreyHepburn-Revival, bei dem der Hollywoodstar, dessen Antlitz in jeder zweiten Wohnung hing, posthum noch einmal zur Stilikone erhoben wurde. Den Leinwanddruck gab es um 69 Euro bei Ikea. „Retrostil zum Mitnahmepreis. Und wir griffen zu, in der Hoffnung, einen Abglanz von Schönheit und Stil auf unseren bescheidenen Wänden zu verbreiten.“ Über solche absurden Hypes muss man sich einfach lustig machen. Gillies tut das mit viel Sprachwitz. „Unsere Nullerjahre“ eignet sich zum Durchblättern, Schmunzeln und zum Schwelgen in Erinnerungen. Eine Einschätzung, wie sich die derzeitige Dekade von den vorigen unterscheidet und ob wir uns in die richtige Richtung bewegt haben, liefert das Buch aber nicht. Das ist auch nicht sein Anspruch. Im Gegensatz zu Alexandre des Isnards

und Thomas Zuber mit „Willkommen im Funky Business“. Die beiden Franzosen beschäftigen sich nicht dezidiert mit den Nullerjahren, sondern beklagen eine eindeutige Fehlentwicklung dieser Zeit: das Arbeiten im Großraumbüro. Im Open Space blicken sich die Kollegen gegenseitig über die Schulter, der Chef tut, als sei er der beste Kumpel, will aber ASAP, as soon as possible, die Time­ sheets haben. Und trotz der permanenten Überlastung setzen alle ein freundliches Gesicht auf. Das „Diktat der guten Laune und der Geselligkeit“ nennen die beiden Mittdreißiger das. Sie kennen sich in den betroffenen Branchen aus. Alexandre des Isnards berät Medien und Webagenturen, Thomas Zuber arbeitet als Computersystemanalyst. „Die Idee für dieses Buch kam uns durch eine Mail einer unserer Kollegen. Darin forderte er uns auf, den Grund seiner plötzlichen Kündigung zu erraten. (…) ob es wegen des Chefs sei, der Kollegen, wegen der verschie-

denen wechselnden Projekte oder wegen der ,Doppelagenten‘ im Global Office, im Großraumbüro. War es wegen der gekünstelt-guten Stimmung oder der schlechten Bezahlung, wegen der Bedeutungslosigkeit seiner Arbeit als ,Manager‘ oder der Deadlines, die ihn daran hinderten, seine Tochter zu sehen?“ löste in Frankreich eine Debatte aus. Der Originaltitel „L’open space m’a tué“ heißt auf Deutsch „Der Open Space hat mich umgebracht“. Nach der Veröffentlichung meldeten sich zahlreiche Menschen zu Wort, die sich ebenfalls im Großraumbüro überwacht, überlastet und ausgebeutet fühlten. Die sich wiedererkannten in der anonymisierten Geschichtensammlung von gestressten Angestellten. Etwa über den 31-jährigen Projektleiter Julian, der kurz vor einer nicht einhaltbaren Deadline einen Kreislaufkollaps bekam. Oder Isabella, 30, die den Blackberry sogar mit ins Bett nimmt, um permanent für ihre Firma erreichbar zu sein. Was uns die Autoren mit diesen Beispielen sagen wollen, wird relativ schnell klar. Ab Seite 100 wirkt das stellenweise repetitiv – unterhaltsam ist es wegen der skurrilen Beobachtungen trotzdem. Obwohl die Autoren von „Willkommen im Funky Business“ und „Unsere Nullerjahre“ unterschiedliche Absichten verfolgen, gibt es doch auch Parallelen. Die Abhängigkeit vom Blackberry oder das Verschwimmen von Arbeit und Freizeit beschreibt auch Gillies. Die beiden Bücher liefern erste Deutungsansätze, wie sich die Welt in den vergangenen zehn Jahren verändert hat. Ein umfassendes Urteil über die Dekade kann man dabei allerdings nicht erwarten – nicht zuletzt deswegen, weil wir das Jahrzehnt ja noch nicht zur Gänze hinter uns gebracht haben. Dieses Fragenkonglomerat

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Judith-Maria Gillies: Unsere Nullerjahre. Das Jahrzehnt der Bagels, Blogs und Billigflieger. Eichborn, 208 S., € 15,40 Alexandre des Isnards, Thomas Zuber: Willkommen im Funky Business. Lebenszeichen aus dem Global Office. Eichborn, 160 S., € 15,40

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Sachbuch

„Es gibt kein richtiges Einkaufen im falschen Wirtschaftssystem.“ K a t hri n H ar t ma n n : „ E n de der M ä rche n s t u n de “ SEITE 42

Chinarestaurant Sichuan im Donaupark, Wien 22

Unterwegs in Vatistan und Kindistan am Apple ist ein Mann mit einer VielS zahl von Was-wäre-wenn-Neurosen. „Was, wenn der komische Plastikgeruch,

den ich gerade eingeatmet habe, einen bösartigen Gehirntumor hervorruft? Was, wenn der rote Fleck auf dem Muffin, den ich da esse, mit Aids infiziertes Blut ist?“ So etwas erschwert den Alltag und ist nur mit Selbstironie zu bewältigen. Kombiniert mit der Aussicht auf werdende Vaterschaft kann die Sache leicht ins Exzessive kippen. Der New Yorker, Jahrgang 1975, debütierte vor zwei Jahren mit dem Reisebericht „Schlepping durch die Alpen“, in dem ein großstädtischer, jüdischer Jungautor (also Sam Apple selbst) im absolut falschen Schuhwerk den letzten österreichischen Wanderschäfer durchs Mur-MürzTal begleitet. Kein Zweifel, Apple hat einen scharfen Blick fürs Skurrile. In seinem neuen Buch richtet er diesen nun aus Anlass der Schwangerschaft seiner Frau auf die wilden Blüten, die die Pränatal-, Geburts- und Babyindustrie so treibt, und versucht darüber eine Bestimmung der eigenen Jungvaterrolle. In Apple paaren sich journalistische Akribie und ernsthafte Neugier mit der Angst, irgendetwas falsch zu machen oder zu versäumen: Deshalb lässt er so gut wie nichts aus. Nicht einmal eine BotoxGratis-Werbeveranstaltung für Schwangere und Jungmütter.

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Er trifft eine Namensberaterin, besucht einen „Sing-and-Sang-Zeichensprachekurs für Babys“ und eine „Baby-Loves-DiscoParty“. Ein von ihm interviewter Pränatalpädagoge teilt ihm mit, dass „jedes Kind, das nicht pränatal stimuliert wird, eine weitere vergebene Möglichkeit“ darstelle, und er selbst schließt eine Kindermädchenkandidatin als ungeeignet aus, weil diese als Handyklingelton „Sexual Healing“ installiert hat. Ja, voller Selbstironie und echter Ratlosigkeit verheddert sich Apple zum Vergnügen des Lesers total und fördert dabei auch sehr interessante sozial- und kulturhistorische Aspekte rund ums Kinderkriegen zutage: etwa eine Bewegung im stalinistischen Russland, die durch Psychoprophylaxe mittels Atemtechniken, Massage und Hypnose die sowjetische Frau ein für alle Mal „vom Fluch der Geburtsschmerzen“ befreien wollte und – wiewohl voller absurder Auswüchse – viel Vorar- Sam Apple: Die beit für bis heute gültige Geburtsvorberei- merkwürdigen, aber wahren Abenteuer des tungsmethoden geleistet hat. Ein ganz anderes Register zieht da das Buch

des deutschen Film- und TV-Schauspielers Hans-Werner Meyer („Der Baader Meinhof Komplex“), Jahrgang 1964. Hier ist alles herber, männlicher und hemdsärmeliger. „Durchs wilde Kindistan“ lautet der Titel. Folgerichtig und ebenfalls noch lustig ist es optisch dem klassischen grünen Karl-May-

Sam Apple nach der Paarung. Atrium, 350 S., € 20,50 Hans-Werner Meyer: Durchs wilde Kindistan. Zwischen Windeln und Wahnsinn. Südwest, 384 S., € 17,50

Cover mit zentralem Bild nachempfunden. Im Buchinneren geht Meyer dann aber die Metaphorik durch: In heiteren Karl-MayGefilden mit Bezeichnungen wie „Zahnistan“, „Saugland“ und „Schlucht der Namensfindung“ treibt er mit heillos überfrachteten Sätzen des Guten zu viel: „Du reitest auf deinem schon etwas ermatteten Euphorie-Gaul über die staubige Landstraße des Alltags, die sich durch die lieblichen Hügel Sauglands schlängelt.“ Ähem?! Es gibt einen Vater-Effendi und einen noch unerfahrenen Vater-to-be-Reisenden, der in Dialogform unterwiesen wird: über Stolpersteine und Freuden, Hürden und Triumphe moderner Vaterschaft. Einiges davon kommt klischeehaft daher – wie die Behauptung, dass „die Dame deines Herzens“ während der Schwangerschaft natürlich zur hormongesteuerten, unberechenbaren „Frau unter Einfluss“ wird –, anderes ist gut beobachtet und durchdacht. Hans-Werner Meyer hat Humor, und man muss unbedingt eine Lanze für ihn brechen, weil er ein so überzeugtes und überzeugendes Plädoyer für engagierte Vaterschaft von Anfang an hält. Er verspottet die Behaviouristen, die Müttern natürliche Vorsprünge und Instinkte attestieren, kämpft leidenschaftlich um gleiche Ansprüche und Pflichten und ist dabei letztlich ein großer Genießer.

Foto: Julia Fuchs

Väter: Zwei amüsante Abhandlungen über das Abenteuer Vaterschaft und die wilden Blüten der Babyindustrie

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Von Blockrastern und Blockbustern Film: Zwei neue Bücher befassen sich mit dem Stadtplan als Matrix des Erzählens und dem Kino made in Hollywood n seiner papierenen Form hat er vielleicht Igefaltet, bald ausgedient, der Stadtplan, den man mit Kugelschreibermarkierungen versehen in der Tasche mit sich trägt. Den man in fremden Städten nur ungern auspackt, weil er einen als Touristen zu erkennen gibt. Der sich bei Wind und Regen pludert, während man auf Planquadrat C7 nach dieser einen verdammten Seitenstraße sucht. Auf leisen Sohlen haben Navigationssysteme, Online-Adresssuchmaschinen und -applikationen wie Google World und Google Street View ihm den Rang abgelaufen. Insofern ist der Band „Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst“ auch als Hommage zu verstehen: In 15 Aufsätzen versammelt er Untersuchungen zur medialen Reflexion dieses unscheinbaren Gebrauchsmediums und rückt es so letztlich selbst ins Rampenlicht. „Metropolen im Maßstab“ ist der erste Band

der geplanten interdisziplinären Reihe „Urbane Welten“. In dem von Achim Hölter und Volker Pantenburg herausgegebenen Kompendium geht der interdisziplinäre Ansatz auf: In seinem Aufsatz „Zeit/ Stadt/Plan“ arbeitet Nils Plath am Beispiel von Uwe Johnsons Prosa heraus, wie sich der Machtanspruch der DDR in der willkürlichen Neugestaltung ihrer Kartografien umsetzte: „Der Ring, eine fast natürliche Bahn im Organismus des Verkehrs:

zerbrochen“, so Johnson in einem Zeitungstext von 1964, „die Vorortlinien (...): abgewürgt, zerschnitten, tot.“ Am Beispiel der geteilten Stadt wird deutlich, wie stark die Darstellung einer Lebenswelt dem Willen der Machthaber unterliegt: Passt das Jenseits der eigenen Zone nicht ins Bild, bleibt es auf dem Papier eben weiß. Die allegorische Verwandtschaft des Mediums Stadtplan zum Medium Film drängt sich auf: die Welt in ausschnitthafter Darstellung, die im besten Fall an den Rändern (ihrer Erzählung) über sich hinausweist. Oder, um der lieben Ordnung willen, gerade das nicht darf. Laura Frahm untersucht die alternative, filmische Kartografie der Stadt Los Angeles in Thom Andersens Essayfilm „Los Angeles Plays Itself“. Volker Pantenburg gibt einen Überblick über den Einsatz von Stadtplänen in der Konzeptkunst. Und Ekkehard Knörer liest Michel de Certeaus „Kunst des Handelns“ parallel zu Jacques Rivettes Paris-Spazierfilm „Le Pont du Nord“. Nicht fehlen darf natürlich die Rolle des Stadtplans in Kriminalfilmen wie „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“ von Fritz Lang oder „Le Samuraï“ von Jean-­ Pierre Melville, denn der überdimensionale Stadtplan gehört zum Inventar jedes Filmkommissariats, „wo er Totalität von Kontrolle des städtischen Raums (suggeriert), die in der erzählten Geschichte bestätigt oder dementiert werden kann“.

Achim Hölter u.a. (Hg.): Metropolen im Maßstab. Der Stadtplan als Matrix des Erzählens in Literatur, Film und Kunst. Transcript, 352 S., € 30,50 Thomas Elsaesser: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino. Bertz + Fischer, 272 S., € 20,50

Lange gewartet hat man auf Thomas Elsaessers Sammelband „Hollywood heute“, dessen Aufsätze im Lauf von mehreren Jahrzehnten entstanden und nur teilweise in deutscher Übersetzung erschienen sind. Als Pool moderner Alltagsmythologien nimmt der Grandseigneur der Film Studies das System Blockbuster ernst, denn „viele dieser Schlüsselfilme sind ebenso Bilderrätsel einer neuen Weltordnung wie illusionistische Spektakel des alten make believeHollywood“. Das „Heute“ des Titels bedeutet für den Autor vor allem die späten 80er- und 90er-Jahre. Acht Beispiele des postmodernen Unterhaltungskinos stehen im Mittelpunkt der Untersuchung: von „Chinatown“ (1974) von Polanski und „Die Hard“ (1988) von John McTiernan über „The Silence of the Lambs“ (1991) von Jonathan Demme und „Pulp Fiction“ (1994) von Tarantino bis zu„Memento“ (2000) von Christopher Nolan. Letzterer bildet das Zentrum des letzten Kapitels zu Mind­ game-Movies, die nicht nur ihre Helden, sondern auch die Wahrnehmung des Zuschauers aufs Glatteis führen. Natürlich ist die Welle solcher Kippeffektfilme im Gefolge von „The Sixth Sense“ inzwischen irgendwie vorbei. Macht aber nichts. Denn eine an- und ausbaufähige Anleitung zur intelligenten Lektüre des so oft verachteten Hollywood-Kinos bietet Elsaessers MAYA MCK ECHNEAY Band allemal.

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RADFAHREN IN WIEN Das Servicehandbuch bietet für jede Entwicklungsstufe des Typus „städtischer Radfahrer“ Informationen, die das Leben auf zwei Rädern erleichtern: Kauf- und Reparaturberatung, Adressen von Fahrradfachgeschäften und anderen Rad-Dienstleistern, wichtige Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung sowie Vorschläge für Fahrradausflüge. Ein Faltplan liefert Tipps für Idealrouten durch Wien. 320 Seiten, € 16,50

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Sachbuch

„Ich hatte eine Doppel­ begabung und wählte den falschen Weg (...). Andere wurden Kellner, Putzfrau­ en, Bettler, ehe man sie als Künstler arbeiten ließ, ich wurde Kabarettist.“ Georg Kreisler: „Le t z te Lieder“ SEITE 48

Da Long Zentrum, Wien 7

Wo hört der Westen auf? Geschichte: Zwei Monumentalwerke betrachten die Geschichte des Westens bzw. der ganzen Welt

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Weltkrieg enden lässt, erzählt er in Summe eine Erfolgsgeschichte. Die repräsentative Demokratie hatte sich bis 1914 in den europäischen Ländern, wenn auch mit manchen Abstrichen, durchgesetzt. Der Westen hatte im 18. Jahrhundert mit ei-

nem normativen Projekt begonnen, das zum Motor seiner Entwicklung wurde und an dem er sich immer wieder selbst messen lassen musste. Freilich hatte der Wiener Kongress versucht, die demokratischen Impulse zu beseitigen, aber gelungen ist dies nur sehr kurzfristig. 1848, das große Jahr der europäischen Revolution, konnte man noch bilanzieren: wie gewonnen, so zerronnen. Trotzdem ließ sich nach 1848 die Konstitutionalisierung nur verzögern. Kriegsniederlagen (siehe die k. k. Monarchie) boten Chancen für die Demokratisierung, beinhalteten aber auch Risiken. Stabiler erwies sich in der Regel der langsamere Weg der demokratischen Entwicklung wie in Großbritannien, das zwar weniger demokratische Höhenflüge und Hochgefühle, aber auch weniger Rückschläge erlebte. Winkler hat den Blick für die langen Wege der Geschichte. Im Strudel des historischen Ablaufs erwies sich der Abstand zwischen Utopie und realer Praxis als erheblich und produzierte Verstöße gegen die eigenen Werte, die zu neuem Aufbruch Anlass gaben. Auch die

Heinrich August Winkler, ganz der britische Deutsche, hält wenig von Revolutionen, weil sie demokratische Entwicklungen in der Wirkung eher verzögern als vorantreiben. Trotzdem sieht er die Amerikanische und Französische Revolution als Initialzündung des Projekts Westen Jürgen Mirow stellt spannende Grundsatzfragen: Wieso gibt es Staaten? Welche Tierarten wurden wann über den Globus geschippert, und was hat das mit der Demografie zu tun? Und gibt darauf schnelle Antworten

Theoretiker der Demokratie kamen oft genug in Erklärungsnotstand. Schon die beiden ersten großen historischen Initialzündungen litten an krassen Widersprüchen. Die Amerikanische Revolution 1776 fand mit ihrer Erklärung der Menschenrechte weltweit ein begeistertes Echo, galt aber offensichtlich nicht für die Ureinwohner wie für die schwarzen Sklaven im eigenen Land. Die Französische Revolution 1789 versetzte halb Europa, ja selbst nüchterne Geister wie Immanuel Kant in Euphorie, aber die Jahre der Jakobinerherrschaft mit ihrem hohen Blutzoll waren für die Franzosen so ernüchternd, dass sie lieber auf Freiheit und Volksherrschaft verzichteten und bei Napoleon Sicherheit suchten. Dennoch haben die Werte der Amerikanischen und Französischen Revolution, die Winkler das „transatlantische Projekt“ nennt, bis heute ihre Kraft als utopisches Leitbild erhalten. Das demokratische Projekt war freilich auch

der Humus für den Nationalismus mit seinen seltsamen Kreationen, die im Kontrast zur Freiheit standen. „Einig und frei“ wollten die Vertreter des Deutschen Parlaments 1848 sein und beeilten sich, Böhmen, Mähren oder das Trentino ohne Rücksicht auf die Sprachverhältnisse für den deutschen Nationalstaat zu reklamieren. Das war der Stoff, aus dem die Weltkriege des 20. Jahr-

Foto: julia fuchs, welt.de

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einrich August Winkler mag Erfolgsgeschichten. Vor neun Jahren erschien seine zweibändige Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert „Der lange Weg nach Westen“, die in Konkurrenz zu den ähnlichen, allerdings etwas anders gewichteten Unternehmungen Hans-Ulrich Wehlers oder Thomas Nipperdeys auftrat. Nun zielt Winkler, zumindest vom äußeren Anschein her, auf die ganze Weltgeschichte. Seine „Geschichte des Westens“ hat das Thema internationalisiert und in den großen Bogen – „Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert“ – gespannt. Soeben ist der erste Band erschienen, fast 1300 Seiten stark. „Die Demokratie ist auf dem Prüfstand, aber sie hat sich noch nicht blamiert“, befand einst der in der Wirtschaftskrise wieder zu Ehren gekommene John Maynard Keynes. Angesichts des heraufziehenden postdemokratischen Berlusconismus sind sich viele heute nicht mehr so sicher. Die Skeptiker tun gut daran, einen Blick in Winklers große Erzählung der Demokratie zu werfen. Das Projekt von Volkssouveränität, Gewaltenteilung und Rechtsherrschaft, dessen Geschichte dieser in einem mächtigen Panorama ausbreitet, hat Höhen und Tiefen, Varianten und Abarten, vor allem aber eine stetige Weiterentwicklung gesehen. Auch wenn Winkler den jetzt erschienenen ersten Band mit dem Ersten

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s a c h b u c h    hunderts gemacht wurden. Ebenso verquer zur Demokratie verhielten sich die kolonialistischen Ambitionen und Abenteuer. Der „Westen“ ist für Winkler ein Kürzel für ein bestimmtes Wertesystem, das sich globalisiert hat und überall in der ganzen Welt Ansprüche stellt. Gleichzeitig legt sich Winkler auf eine politische Geografie fest. Das löst zumindest Irritation aus. Er beschäftigt sich etwa mit der Verwestlichung Japans, rechnet dieses aber nicht dem Westen zu. Dann und wann wird er noch expliziter und weiß genau, wo der Westen aufhört und der Osten anfängt. 1989 ist ihm kein Problem, weil da alte westliche Länder wieder zum Westen dazukamen. Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, dass der Autor ansatzweise die Länder unter dem Einfluss der orthodoxen Kirche aus dem Westen exkludiert – betrifft das doch nicht nur Russland und die Ukraine, sondern auch die EU-Staaten Griechenland, Bulgarien und Rumänien. Nicht weiter verwunderlich ist es da, dass auch die Türkei (obwohl zum „westlichen Militärbündnis“ zählend) trotz ihrer Geschichte beim „Westen“ nicht dabei ist, weil sie den islamischen Ländern zuzurechnen war und ist. Merkwürdig mutet auch an, dass Winkler wiederholt von der Türkei spricht und das Osmanische Reich meint. Aus Winklers Sicht beginnt die Zweiteilung

im Römischen Reich, als sich Rom und Byzanz trennten und nie mehr zueinanderfinden sollten. Diese Auseinanderentwicklung wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit zementiert. Das westliche Europa erlebte eine dichte Folge von Religionskämpfen, die nie einen eindeutigen Sieger kannten. Kaiser und Päpste ritter-

ten um die Vorherrschaft, Katholizismus und Protestantismus verschlangen sich in einem erbitterten Streit, und auch Ketzerbewegungen wie die Hussiten und die Hugenotten begründeten eine opferreiche Tradition der Religionsrevisionen und -transformationen – und damit die des freien Willens und der Freiheit. Die herrschenden Kirchen bekämpften die Abweichungen aufs Schärfste, aber ausrotten konnten sie das freie, individualisierte Denken nicht mehr. Die USA, eine Gründung von emigrierten Religionsabweichlern, waren dann das erste Land, in dem politische Gleichberechtigung und Religionsfreiheit zum Grundgesetz erhoben wurden. Von dem, was der Okzident zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert an Freiheitsbewegungen erlebte, wurden der Balkan und Russland nicht erfasst. In den orthodoxen Ländern mit ihrem Staatskirchentum konnte sich der Bazillus der Aufklärung vorerst nicht verbreiten, entwickelten sich keine Modelle der Gewaltenteilung. Winkler unterstellt, dass diese Prägung bis heute Folgen hinterlassen hat, dass jahrhundertealte Traditionen noch in Köpfen und Strukturen am Werk sind. Man darf gespannt erwarten, wie er im zweiten Band verfahren wird. Wird er weiterhin die osteuropäische Geschichte oder die Geschichte der modernen Türkei benachteiligen? Dabei zeichnete sich schon im 19. Jahrhundert ab, dass das demokratische Konzept keine Spezialität des Westens war, sondern sich globalisierte. Winkler führt bei der Behandlung des britischen Kolonialreichs Indien an, dass die „Teil­ europäisierung des kolonialen Rechtswesens“ die postkoloniale Entwicklung vorzubereiten half. Auch andere Einwände

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lassen sich vortragen. Die haben allerdings mit seiner Spezialisierung zu tun. Bei aller Breite seiner Darstellung lässt Winkler die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklungen nur am Rande Revue passieren. Er liefert Problemgeschichte und politische Ereignisgeschichte in einem. Indem er politische Philosophie und Realpolitik aufeinander bezieht, erzielt er sehr achtbare erzählerische Leistungen, die analytische Tiefe besitzen.

Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert. C.H. Beck, 1312 S., € 39,10 Jürgen Mirow: Weltgeschichte. Piper, 784 S., € 25,70

Jürgen Mirows „Weltgeschichte“ ist da wesentlich unbescheidener. Auf 650 Seiten gibt dieses Buch einen umfassenden Aufriss der Weltgeschichte, und zwar von der biologischen Revolution anno 100.000 v. Chr. an – inklusive einer langen methodologischen Grundlegung, in der er die Ereignisgeschichte ziemlich brutal vom Tisch wischt und begründet, warum er sich auf Strukturen und Prozesse konzentriert. Das Ergebnis ist voraussehbar: holzschnitt­ artig, aber durchaus anregend, weil Mirow spannende, durchaus ungewöhnliche Fragen stellt. Wie sieht die Entwicklung der Kontinente im Vergleich aus? Wieso fiel das chinesische Reich so weit zurück? Wieso gibt es Staaten? Wie bildeten sich Nationen und demokratische Systeme? Welche Tierarten wurden wann und wie über den Globus ex- und importiert, und was hat das mit der Demografie zu tun? Unter welchen Bedingungen entstanden die Schrift, später bei den Phöniziern das Alphabet oder die großen Weltreligionen? Die „Fragen eines lesenden Arbeiters“ hat einst schon Brecht erstellt, Mirow fügt noch viele andere Fragen hinzu und hat dazu schnelle Alfred Pfoser Antworten.

Falters FACHBÜCHER Gerda Mehta, Klaus Rückert (Hg.) MEDIATION Das Buch informiert über die wesentlichen Faktotren, die zu konstruktiven Konfliktbewältigungen beitragen können. Renommierte Experten geben Einblick in den tatsächlichen Ablauf von Mediationsprozessen.

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sachbuch

Das geistige Leben und der Lärm der Straße

„Ich glaube nicht, dass ich mir sympathisch wäre“

Musik: Alex Ross lässt auf horizonterweiternde Weise die Musik des 20. Jahrhunderts Revue passieren

Musik: Georg Kreisler offenbart sich in seiner Autobiografie „Letzte Lieder“ als unverstandener, einsamer Künstler

as Unterfangen ist kühn und D wirkt zunächst anachronistisch. Auf gut 700 Seiten breitet Alex Ross

on der Wahrheit muss man V schweigen, über die Wirklichkeit lässt sich reden. (...) Die Entde-

(geb. 1968), Musikredakteur beim New Yorker, die großen musikalischen Strömungen und Neuerungen des vergangenen Jahrhunderts aus. „The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören“ lautet der gut ins Ohr gehende Titel dieser beispiellosen Unternehmung. Auch ohne den Apparat mit Anmerkungen und Hörvorschlägen sind es immer noch 600 Seiten dichter Darstellung. Sie zeichnen gut nachvollziehbar die groben Entwicklungslinien nach – Strauss und Mahler, Schoenberg und Debussy, Strawinsky, Sibelius, Musik unter Stalin, Roosevelt, Hitler, die Avantgarde der 50er, Britten, Minimalismus, Ligeti. Ross hüpft aber auch immer gerne schnell in Details. Er ist, das könnte er sich bei seinem ambitionierten Unterfangen wohl auch nicht leisten, kein Dogmatiker. Wie es gerade am besten passt, verbindet er biografische Darstellungen von Komponisten mit Detailanalysen ihrer Stücke und der Einbettung der Werke in den politischhistorischen Kontext. Zwar handelt es sich bei Ross ganz klar

um einen Klassik-Mann, doch zum Glück endet sein musikalisches Interesse nicht an der Tür des Konzertsaals. Relevantes aus anderen Bereichen lässt er ebenfalls gelten und beweist sich dabei als durchaus kenntnisreich, was sowohl Bebop als auch Pop betrifft. So finden sich kurze Kapitel zum Jazz in der ersten (Duke Ellington) wie auch zur Rockmusik in der zweiten Jahrhunderthälfte (The Velvet Underground und ihre Beziehungen zum Minimalismus). „Zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, schreibt Ross gegen Ende hin, „hat es intellektuell wie emotional keinen Sinn, klassische Musik gegen Popkultur auszuspielen. Junge Komponisten sind mit Popklängen im Ohr aufgewachsen, und sie verwenden oder ignorieren dieses Erbe, je nach Gelegenheit.“ Sonic Youth mit ihren „mikrotonalen Stimmungen“, die „opulenten harmonischen Konstruktionen von Radiohead“, Björk oder Joanna Newsom lassen Einflüsse von Steve Reich, Stockhausen, Messiaen oder Pärt hören. Ja, mitunter verläuft der Einfluss inzwischen auch umgekehrt, siehe junge, klassisch ausgebildete Popmusiker wie Final Fantasy oder Dirty Projectors. Heute gültige Musik beschreitet einen „Mittelweg zwischen geistigem Leben und dem Lärm der Straße“, wie Ross richtig schreibt. Die Klassik hat es da schon schwerer. „Klassische Komposition des 20. Jahrhunderts klingt für viele wie Lärm. Sie ist eine weitgehend ungezähmte Kunst, eine noch nicht assimilierte Untergrundszene“, heißt

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es am Anfang des Buchs. „Manche Menschen sind ernsthaft überrascht, wenn sie hören, dass es immer noch Komponisten gibt, die Musik schreiben.“ Einer von denen, die Ross hoch schätzt, ist der Grazer Georg Friedrich Haas (geb. 1953), der es auf die Liste von essenziellen Werken der letzten Jahrzehnte geschafft hat: „Haas’ gut einstündiges Ensemblewerk ‚In vain‘ könnte mit seiner Verbindung spektraler Harmonien und riesenhafter Bruckner’scher Strukturen der österreichisch-deutschen Musik einen neuen Weg weisen.“ Freilich ist Haas auch hierzulande nur jenen wirklich ein Begriff, die sich eingehend mit Neuer Musik beschäftigen. Am anderen Ende des Buchs trifft man Richard Strauss und Gustav Mahler. Nicht Debussy darf hier das „Jahrhundert des Todes“ (Leonard Bernstein) eröffnen, sondern die Uraufführung der Strauss-Oper „Salome“ 1906 in Graz, die neben Mahler, Schoenberg und Puccini angeblich auch der junge Adolf Hitler besucht haben soll. Zwei Jahre zuvor drängten sich bei einem Strauss-Konzert in New York über 5000 Besucher. Im Laufe der nächsten 100 Jahre sollte der zeitgenössischen Klassik nach und nach das Publikum abhandenkommen. Neuerungen wie die Atonalität verschreckten viele Hörer. „Vielleicht werden klassische Komponisten die unmittelbare Wirkung ihrer popmusikalischen Gegenüber nie mehr erreichen, doch in der Freiheit ihrer Einsamkeit können sie Erfahrungen von einzigartiger Intensität vermitteln.“ Diesem Schluss will man allerdings nicht vorbehaltlos zustimmen. Denn diese Einsamkeit gründet sich allein auf mangelndes Interesse des Publikums. Am Anfang des 21. Jahrhunderts bleibt Komponisten offenbar nur Zweckoptimismus. Von diesem Einwand abgesehen bietet „The Rest Is Noise“ fast alles, was man sich von einem Musikbuch wünschen kann. Sein Autor verfügt nicht nur über Wissen, er kann es auch vermitteln und anspruchsvolle Musik so lustvoll beschreiben, dass man bald mit einer schönen Einkaufsliste loszieht und nebenbei die eine oder andere MP3-Datei runterlädt. Sebastian Fasthuber

Alex Ross: The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören. Piper, 703 S., € 30,80

ckung, dass die Kunst versucht, uns die Wirklichkeit plausibel zu machen, ist etwas Grandioses. Damit ist mein Leben eigentlich schon erzählt.“ Der Leser befindet sich auf der zweiten Seite, und schon soll alles gesagt sein. Immerhin 156 Seiten benötigt Österreichs wohl berühmtester Kabarettist, Komponist, Chansonier und Satiriker Georg Kreisler (geb. 1922) dann doch, um Zeugnis abzulegen über ein, wie man meinen sollte, erfülltes Künstlerleben. Über Jahrzehnte waren seine Tourneen ausverkauft. Davon steht in dem Buch kaum etwas: „Ich habe alles vergessen, alle Anekdoten, alle Missverständnisse, alle Publikumsreaktionen, alle abhandengekommenen Requisiten, alle Kämpfe mit Journalisten, das hat alles stattgefunden und nicht stattgefunden, es ging an mir vorüber, es war nicht mein Leben.“ Den wahren Kreisler muss man sich als einsamen, unverstandenen Künstler vorstellen. Mit Ausnahme seiner vierten Ehefrau Barbara Peters waren die Frauen durch die Bank Enttäuschungen, ebenso wie seine Kinder, die sich alle vom Vater distanziert haben. Ähnlich verhält es sich mit Regisseuren, Intendanten und Kritikern. Von den Kollegen ganz zu schweigen. Mit Häme wird besonders Gerhard Bronner bedacht. „Er war dumm, wollte nichts lernen, aber er hatte eine glänzende Überredungsgabe und konnte mit dem, was er und andere für Kunst hielten, viel Geld verdienen“, heißt es über den Mann, der Kreisler immerhin zum Durchbruch in Österreich verhalf, nachdem dieser aus den USA nach Wien zurückgekehrt war. Und, schwer verzeihlich: „Alles in allem ist es schade, dass es ihn gab, er hat einen schädlichen Einfluss auf das Wiener Kulturleben ausgeübt.“ Gegen Ende wartet der Autor noch mit dem Geständnis auf, er träume manchmal davon, „Pop-, Rock-, HipHop- und andere billige Musik“ sowie „gleichzeitig alle Kitschliteratur und Kitschbilder“ zu verbieten. Dann nämlich würden die Menschen genauso gern „echte Kunst genießen“. Der Einwand liegt auf der Hand: Es gibt

Passagen, in denen Kreisler nicht nur starrsinnig wirkt, sondern verbittert. „Ich kann mich nicht erinnern, je eine sachliche negative Kritik über mich gelesen zu haben, immer nur Anfeindungen, unbegründete Behauptungen und Lügen.“ Ob es so war oder die sachliche negative Kritik einfach nur vergessen wurde, lässt sich schwer ­sagen. Traurig ist es allemal. Dessen ungeachtet stellt dieses Buch eine fesselnde Lektüre dar. Be-

eindruckend daran ist nicht allein die Tatsache, dass der Verfasser trotz seiner 87 Jahre von Altersmilde noch nicht einmal gehört haben dürfte. Vor allem versteht es Kreisler nach wie vor, treffend zu formulieren. Wenn „Letzte Lieder“ schon keine gängigen Memoiren bieten will, so entlohnt es mit den Gedanken und Ansichten eines Unbequemen. Eines Wiener Juden, der sich standhaft geweigert hat, nach seiner Rückkehr aus dem Exil wieder die österreichische Staatsbürgerschaft anzunehmen, weil er dazu einen Antrag hätte stellen müssen. Über die frühen Jahre, die mit der Flucht vor Hitler in die USA jäh endeten, heißt es knapp: „Eine Jugend mit erwachenden Freiheitsgefühlen, erster Liebe, lustigen Streichen und dergleichen hatte ich nicht.“ Über das Drama jüdischer Flüchtlinge: „Man kann nicht zurückkommen.“ Außerdem sei jeder Mensch ein Flüchtling, der eine fliehe in ein anderes Land, der andere in eine Karriere. Und Karriere und Kunst gehen, das macht der Autor unmissverständlich klar, nicht zusammen. Seine bekannten Melodien und Programme wischt er mit ein paar Sätzen lässig vom Tisch: „Lieder wie das vom Taubenvergiften schüttelt man aus dem Ärmel.“ Als sein Hauptwerk sieht er die Romane, Theaterstücke und Opern an, die, verglichen mit unzerstörbaren Liedern wie „Wien ohne Wiener“ oder „Mir g’fallts, aber ich bin dagegen“, freilich nur wenig Interesse hervorgerufen haben. Erfolg blieb ihm suspekt. Als er in den USA nach mageren Jahren langsam auf die Beine kam, übersiedelte er zurück nach Wien. Dann floh er vor dem Applaus nach München. Berlin. Basel. Jetzt lebt er in Salzburg. „Ich hatte eine Doppelbegabung“, schreibt er, „und wählte den falschen Weg (...). Andere wurden Kellner, Putzfrauen, Bettler, ehe man sie als Künstler arbeiten ließ, ich wurde Kabarettist.“ Leider viel zu selten lässt Kreisler leise Selbstironie aufblitzen. Was hält Kreisler von Kreisler? „Ich bin ein einfacher, hochkomplizierter Mensch.“ Und: „Ich glaube nicht, dass ich mir sympathisch wäre, wenn ich mich auf einer Cocktailparty ­t räfe.“ Sebastian Fasthuber

Georg Kreisler: Letzte Lieder. Autobiografie. Arche, 156 S., € 20,50

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Rauchende Schlote und Halbdrachen Darwin-Jahr: Julia Voss liest „Jim Knopf“ als Gegenmythos zu Rassenwahn und Evolutionstheorie ls Jim, Lukas und die Lokomotive A Emma in den Tunnel einfahren, quellen daraus schwarze Rauchschwaden.

Über dem Eingang prangt die Warnung: „!Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten.“ Der Schutzumschlag von Julia Voss’ „Darwins Jim Knopf“ zeigt genau dieses Bild aus Michael Endes erstem Kinderbuch, das 1960 erschien, 15 Jahre nach dem Niedergang des Nationalsozialismus. Man fragt sich, wieso beinahe ein halbes Jahrhundert vergehen musste, bis jemand entdeckt hat, dass Ende mit „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ einen Gegenmythos zur NS-Ideologie schaffen wollte. Deswegen wirkt es nur mehr bizarr, dass man Ende damals „Fluchtliteratur“ vorwarf. Die Kritiker und auch Millionen Leser übersahen angesichts des märchenhaften Personals die prominent platzierten Hinweise auf Rassenwahn und die rauchenden Schlote von Auschwitz. Wobei Voss zunächst auffiel, dass Jim Knopf natürlich Jemmy Button ist. So nannten die englischen Seeleute jenen Jungen, den sie 1830 aus Feuerland entführten. Nach einem Jahr in England brachte die Beagle Jemmy wieder nach Südamerika zurück. Mit an Bord war der junge Charles Darwin, der gerade seine Weltreise antrat. Endes Jim Knopf wird per Paket auf die Insel

Lummerland verschickt. Voss erkennt darin ein auf das Wesentliche reduziertes Eng-

land des 19. Jahrhunderts, mit Bahnlinie, Kauffrau und König. Für ihn war Darwin ein Apostel, der das Recht der Stärkeren in Form der „natürlichen Auslese“ verkündete, die zum Rassismus führen musste. Dass Ende Darwin damit auch missverstanden hat, hängt mit der Darwin-Rezeption in Deutschland zusammen, die auf den „struggle for life“ abhob, dessen deutsche Übersetzung „Kampf ums Dasein“ zu martialisch ausfiel. Die Nazis destillierten daraus ihre pseudowissenschaftliche „Rassenkunde“, die deutschen Kindern zwischen 1933 und 1945 in der Schule eingetrichtert wurde. Dort saß damals auch Michael Ende, Jahrgang 1929, Sohn eines surrealistischen Malers, der in der NS-Zeit Malverbot erhielt. Ende entwickelte ein sehr genaues Gespür dafür, wie die Nazis mit einer kruden Mischung aus uminterpretiertem Darwinismus und germanischer Mythologie die Köpfe der Kleinen zu indoktrinieren suchten. So feierten etwa Siegfried und die Nibelungen Urstände in den Kinderbüchern der NS-Zeit. Ende macht aus den ehemals heldenhaften Drachentötern bösartige Drachen, allen voran die Lehrerin Frau Mahlzahn, die in der Schule von Kummerland die Kinder terrorisiert. Seine Helden überwinden Frau Mahlzahn, töten sie aber nicht, sondern führen sie gefesselt ab. Es sind die Mischwesen wie der Halbdrache Nepomuk, die triumphieren, und der farbige Jun-

ge Jim Knopf entpuppt sich als Königssohn. Sein Reich Jimbala ist nichts anderes als Atlantis. Dieser sagenumwobene Kontinent, für die Nazis mythischer Ursprungsort der arischen Rasse, wird hier schlichtweg umkodiert. „Nicht die blonden, stahlharten Menschen mit dem reinen Blut bewohnen das aufgetauchte Inselreich, sondern Kinder und Vögel.“

Julia Voss: Darwins Jim Knopf. S. Fischer, 192 S., € 18,50

Endes Gegenwelt ist tolerant und vielfältig. Misstrauisch gegenüber vermeintlich unwandelbaren Naturgesetzen, wandte er sich der Anthroposophie Rudolf Steiners zu. Dabei war er weniger weit weg vom Naturforscher Darwin, als er selbst wahrnahm. Für Voss ist es kein Zufall, dass schon im 19. Jahrhundert die Evolutionstheorie bei Kindern, anders als bei den sich streitenden Erwachsenen, sehr schnell Erfolg hatte. Die Abenteuer der Steinzeitmenschen, grölende Mammuts und riesenhafte Dinosaurier begeisterten die Kleinen. Vor allem aber die von Darwin postulierte Wandelbarkeit der Spezies ließ sich bestens mit Märchen, mit Zauber und Verwandlung verknüpfen. „Darwins Jim Knopf“ merkt man an, dass es etwas hurtig geschrieben ist, an sich handelt es sich dabei um einen längeren Essay. An den originellen Einsichten ändert dies nichts und auch nicht daran, dass Julia Voss mit dem schmalen Band einen würdigen und originellen Beitrag zum DarwinJahr abgeliefert hat. O l iver H o c h a de l

Was verbindet Höckerschwan und Rosskastanie? Biologie: Ein Mammutwerk katalogisiert die „echten Österreicher“ des heimischen Pflanzen- und Tierreichs ie naturwissenschaftliche Forschung D nimmt, bewusst oder intuitiv, immer wieder Fragen auf, die auch die Gesell-

schaft beschäftigen. So war das Thema der Einwanderung von Tier- und Pflanzenarten nach Österreich Gegenstand intensiver Studien und Publikationen. Dabei wurde durchaus heftig auch die Frage erörtert, was den nun „erwünschte Natur“ sei und welche Eigenschaften dieser pflanzlichen und tierischen „Aliens“ oder Neo­biota nicht willkommen seien. Eine Antwort war nicht leicht zu finden, denn manche der zugewanderten Lebewesen empfinden wir als genuinen Bestandteil der heimischen Fauna und Flora: zum Beispiel die aus Griechenland stammende Rosskastanie oder die ursprünglich im Norden Chinas heimische Wanderratte. Manche davon sehen wir als Bereicherung, wie den aus Nordeuropa kommenden Höckerschwan, bei der Spanischen Wegschnecke hingegen fordern Gartenbesitzer strikte Ausrottung. Der Diskurs darüber, welche Arten in Österreich bleiben dürfen und welche nicht, wird oft vergleichbar mit der emotionalisierten Debatte über die Immigration von Menschen geführt. Nur schwer findet sich ein passender Begriff für diese „gebietsfremden Arten“, die auch „Neubürger“, „invasive Lebewesen“ oder eben „Aliens“ genannt werden. „Ökofaschismus!“ und „Nazibiologie!“, tönte es sogleich aus der linken Ecke. Kein

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Tier- und Pflanzenarten in einer Publikation zusammenzutragen und zu veröffentlichen. Die gleichermaßen schwere wie gewichtige Neuerscheinung „Endemiten in Österreich“ ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Erhebung aller hier vorkommenden Arten und eine Grundlage für zukünftige Managementpläne im Naturschutz.

Wunder, dass die Politik dieses Thema nicht gerne aufgreift und sich auf wechselseitige Kompetenzzuweisungen zwischen Bund und Land beschränkt. Umso schöner ist es daher, umgekehrt zu er-

heben, wer nun ein „echter“, weil nur hier vorkommender „Österreicher“ ist. Endemiten nennt man jene Arten, die ausschließlich in einem bestimmten Gebiet vorkommen. Im 19. Jahrhundert begann man, Lebewesen mit diesem Begriff auszuweisen, die aufgrund ihres von geografischen Barrieren geformten Lebensraums nirgendwo sonst vorkamen. Vor allem ferne Inseln wie Madagaskar, Galapagos oder Neuseeland zeigten eine „exklusive“ Flora und Fauna. Bald entdeckte man, dass extreme Lebensräume wie Berge, Höhlen oder Thermalquellen ebenso biogeografische Inseln sind. Zieht man für diese Gebietsabgrenzung politische Grenzen heran, dann kann man bestimmte Tier- und Pflanzenarten als nationale Wahrzeichen reklamieren. Der Große Panda ist das weltweit bekannte und sympathische Antlitz Chinas, während das Wappen Australiens als heraldische Schildhalter ein großes Rotes Känguru und einen Emu zeigt. Mit der Anerkennung als gebietsbezogene Besonderheit werden oft erst Schutzmaßnahmen für diese Lebewesen möglich. Umso wichtiger war es, das vorhandene Wissen über die Verbreitung heimischer

Wolfgang Rabitsch, Franz Essl: Endemiten – Kostbarkeiten in Österreichs Pflanzen- und Tierwelt. Naturwissenschaftlicher Verein für Kärnten & Umweltbundesamt, 924 S., € 49,–

150 Pflanzen- und 575 Tierarten gibt es weltweit nur in Österreich. Sie sind hier mit detaillierten Angaben zu Vorkommen, Biologie und Gefährdungsgrad zu finden. Als gelernter Österreicher ist man direkt überrascht, dass ein solches Buch überhaupt erscheinen konnte: Nicht nur galt es Forscher der verschiedenen wissenschaftlichen Einrichtungen zu koordinieren, sondern auch eine Finanzierung für dieses aufwendige Vorhaben zu finden. Offenbar hat der nationale Charakter dieser Aufgabe die Unterstützungsbereitschaft vor allem der Bundesländer erhöht und so ein grafisch ansprechendes Werk ermöglicht, das auch international beachtet wird. Lob verdient auch das Kärntner Landesmuseum, das das Werk in Kooperation mit dem Umweltbundesamt verlegt hat. Fast wie ein Treppenwitz erscheint es dabei, dass ausgerechnet jenes Bundesland, das Probleme mit dem Aufstellen von zweisprachigen Ortstafeln hat, ein Buch über „echte“ Österreicher produziert hat. P eter I w a n ie w i c z

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„Zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat es intellektuell wie emotional keinen Sinn, klassische Musik gegen Popkultur auszuspielen.“ Ale x Ross: „ T h e Re s t i s N o i s e “ SEITE 48

Hongkonghaus, Wien 6, der Schriftzug bedeutet „Falter“ auf chinesisch

Von der Spielsucht zur Statistik August 1654 schrieb der MathemaIdenmtikerMathematiker und Philosoph Blaise Pascal an Pierre de Fermat ei-

nen entscheidenden Brief. Auf den ersten Blick lässt nichts erkennen, dass die darin ausgeführten Gedanken die Grundlage für eine Theorie legen würden, die heute von der Wissenschaft bis zur Wirtschaft fundamental die Strukturen unserer Gesellschaft mitbestimmt: die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Angefangen hat alles mit einem Laster: Schon im zehnten Jahrhundert unternahm Bischof Wibold von Cambrai den ersten Versuch, den Zufall dem Menschen wohlgesonnen zu machen und Häufigkeitsmuster in den Ergebnissen von Glücksspielen zu entdecken. Danach versuchten sich viele weitere mit ähnlichen Ansinnen an der Berechnung des Glücks – besonders hervorzuheben der italienische Mathematiker Girolamo Cardano, der nach eigenen Angaben „stets hitzköpfig, stur und den Frauen ergeben“ sowie „erbärmlich, gehässig, wolllüstig“, darüber hinaus spielsüchtig und entsprechend motiviert war. Er verfasste mit dem erst fast 90 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1663 erschienenen „Liber de ludo alea“ die erste wissenschaftliche Abhandlung zum Würfelspiel, die allerdings auch als Anleitung für Spieler intendiert war. Von der Spielsucht selbst nicht angekränkelt, widmeten sich auch Pascal und

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Fermat in ihrem Briefwechsel dem Würfelspiel. Ihre Aufmerksamkeit galt der Lösung des sogenannten Spielabbruchproblems, bei dem es vereinfacht darum geht, wie der Spieleinsatz gerecht aufgeteilt wird, wenn das Würfelspiel vorzeitig abgebrochen wird.

entscheidender Stelle zu hoch, und Fermat stellt mathematische Tatsachenbehauptungen auf, die sich im Verlauf der weiteren Geschichte als völlig haltlos herausstellen sollten. So manches Mathematiktrauma ließe sich vielleicht abwenden, würde man derlei Dinge im Schulunterricht erfahren.

des Glücks“ ist nicht das erste Buch über die Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Doch mit Keith Devlin, Autor populärwissenschaftlicher Bestseller wie „Das Mathe-Gen“, hat sich ein Meister seines Fachs der Thematik angenommen. Die Idee ist simpel und genial: Man nehme einen berühmten Text, zeige die darin enthaltene geistige Revolution und entfalte daran den Weg einer Theorie – in diesem Fall der Wahrscheinlichkeitsrechnung von ihren Anfängen im 17. Jahrhundert bis zum Risikomanagement des 21. Jahrhunderts. Dabei bewältigt Devlin nicht nur die keineswegs leichte Aufgabe zu zeigen, was an der Lösung eines Detailproblems wie dieses revolutionär sein soll. Er gibt auch einen Einblick in die Entstehung mathematischer Gedanken – fern von dem aus der Schule vertrauten Bild der Mathematik als einer Sammlung mehr oder minder interessanter Kochrezepte. Und man mag es kaum glauben: Auch große Geister wie Pascal und Fermat hatten ihre geistigen Blackouts. So sind Fermats Gedanken Pascal an

Formal ist das Buch routiniert: Die wenigen Stellen, an denen die Mathematik über Volksschulniveau hinausgeht, sind mit Vorwarnungen inklusive Hinweis ausgestattet, dass man sie auch einfach überspringen könne. Wohldosierte Anekdoten verhindern allzu tiefe Reflexionen dar­über, ob das Thema wirklich so spannend sei – vor allem wenn das Buch den verruchten Teil des Glücksspiels verlässt und für Statistik zu faszinieren versucht. Aus der Sicht von Nichtmathematikern mag ein wenig stören, dass Devlin (wie die meisten seiner Fachkollegen) dazu neigt, die Bedeutung der Mathematik ein wenig überzuformulieren. So sieht er nicht nur die Gauß’sche Glockenkurve als „eine Art Symbol für das 21. Jahrhundert“, sondern ist auch überzeugt, dass sich der „Faktor Mensch“ mathematisch analysieren lässt. Für Devlin der Grund, wieso Risikomanagement kein Zweig der Psychologie geworden ist, sondern mathematisch angegangen wird. Dass dahinter ein auf Quantifizierung fixiertes Weltbild steht, sieht er Martina Gröschl offenbar nicht.

„Pascal, Fermat und die Berechnung

Keith Devlin: Pascal, Fermat und die Berechnung des Glücks. Eine Reise in die Geschichte der Mathematik. C.H. Beck, 204 S., € 18,40

Foto: Julia Fuchs

Mathematik: Keith Devlin legt ein gut lesbares Buch über die Geschichte der Wahrscheinlichkeitsrechnung vor

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Vom limbischen System zum Ende der Liebe Gefühle: beliebt bei Populärliteratur und Forschung. Ein essayistischer Streifzug durch die Neuerscheinungen

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hezoff wissenschaftlich. Was ging im limbischen System von Boris ab, als er sich öffentlich mit Lilly stritt?“ Wenn ein lateinisches Fachwort in die Bild am Sonntag vordringt wie am 20. Juli 2008, muss es im Vorfeld schon gehörig Aufsehen erregt haben. Tatsächlich schien das „limbische System“ jene Rolle bei der Erklärung des menschlichen Verhaltens einnehmen zu können, die einmal Freuds „Unbewusstes“ innehatte. Nur handfester, Experiment und Seziermesser zugänglich. Neurowissenschaftler hatten in diesem kleinen „System“, das zu den ältesten Teilen des Gehirns gehört und den Thalamus und die Basalganglien im Zentrum „umsäumt“ (limbus, lat.; Saum), schon zur Jahrhundertmitte das „Organ“ ausgemacht, in dem emotionale (und einige triebhafte) Reaktionen gesteuert werden. Das geschieht, wie man bald sah, in enger Wechselwirkung mit kognitiven Funktionsarealen. Wenn man Probanden im Experiment Fotografien von Gesichtern nur eine Zehntelsekunde lang aufblitzen lässt, hat sich, obwohl die genauen Gesichtszüge noch gar nicht „abgelesen“ werden konnten, bereits ein Vertrauenstest vollzogen – und der irrt selten. Bei Patienten, bei denen jene „alten“ Gehirnstrukturen zerstört sind, ist dieser Test kaum noch möglich. Außerdem konnte man nachweisen, dass ohne eine unbewusste emotionale und wertende Vorstrukturierung einer zukünftigen Handlung die allermeisten Entscheidungsprozesse gar nicht möglich sind. Ohne diese „Gefühle im Voraus“ würde nichts etwas bedeuten, man wüsste buchstäblich nicht, wo man nach einem Kriterium für die Entscheidung suchen soll. Solche Einsichten waren wichtige Anstöße

für den „emotional turn“ – die Aufwertung der Gefühle in der wissenschaftlichen Forschung. Weitere gesellten sich mit den Erkenntnissen von Entscheidungstheoretikern dazu, wie leistungsfähig Intuitionen und unbewusste Schlussfolgerungen in unübersichtlichen Situationen und nichtlinearen Systemen sind, gerade auch an der Börse und in der Ökonomie. Werbung und des Management entdeckten die Macht der Gefühle neu (das war schon einmal in den 20er-Jahren geschehen), während die angewandte Psychologie zu propagieren begann, dass man Gefühle auch strategisch optimieren kann – im „Gefühlsmanagement“. Oft las man nun Dinge wie: „Nicht unser ,Ich‘ entscheidet, sondern unser Gefühlszentrum im Gehirn.“ Plötzlich konnten „unbewusste Wahrnehmungen“ Gegenstände „einschätzen“ und Gefahr oder Attraktivität „erkennen“. Verborgene Strukturen „überprüften“ die Situation, brachten uns dazu zu handeln etc. In einer seltsamen Einigkeit redeten Labortechnokraten und Esoterikratgeber von diesen unbewussten Prozessen, als wären sie Personen, denn: Nur Personen können erkennen, abwägen, entscheiden. Diese Verwirrung der Kategorien, dieses Umschlagen von experimenteller Aufklärung in Geisterglauben, rief die Philosophie auf den Plan. Sie kam wie immer zu spät. Am spätesten im deutschsprachigen Raum. Heute gibt es eigene Zeitschrif-

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ten, Kongresse, Lehrstühle. Auf einem von ihnen sitzt Sabine A. Döring. Sie legt jetzt eine 600-seitige „Philosophie der Gefühle“ vor, in der repräsentative Debattenbeiträge versammelt und kommentiert werden. Beim Singular „Philosophie der Gefühle“ denkt man zuerst wohl an Liebes-, Kunst- oder Sprachgefühl. Oder an: „Ich fühle, hier stimmt etwas nicht“, „Ich fühle, dass ich ein anderer geworden bin“ etc. Oder daran, dass meine Vorstellung davon, wer „ich bin“, sicherlich auf Gefühle rekurrieren muss – wahrnehmen oder erkennen kann man das „Selbst“ ja nicht. Jedoch: All das kommt bei Döring nicht vor. Es geht alleine um sogenannte emotionale Gefühle. Der höchst künstliche Ausdruck kündet von der Künstlichkeit des Unterfangens. Genauer müsste man sagen, es geht um „gefühlte Emotionen“, denn es soll sich um emotionale „Zustände“ wie Angst, Neid, Zorn etc. handeln, die ein Erlebnis-, also Gefühlsmoment implizieren. Diese besondere Spezies soll sich „gegenüber nicht­ emotionalen Gefühlen dadurch auszeichnen, dass sie auf etwas in der Welt gerichtet sind“. Philosophen befassen sich wie so oft auch hier zuallererst damit, welche Vorstellungen wir zur physischen „Außenwelt“ haben. Ich sehe plötzlich eine zähnefletschende Dogge vor mir – inwiefern sind nun meine Angstgefühle auf die Dogge „gerichtet“ oder eben doch nur eine Wahrnehmung meines Körperzustands? Inwiefern „repräsentiert“ dieser „Gefühlszustand“ die Dogge und impliziert deshalb ein „kognitives“ Element? Und so weiter. Und so fort. Der Scharfsinn und die Geduld, mit denen die akademische Philosophie diese Fragen seziert, ist imposant, lehrreich, klärend. Doch die Begriffsklärer gehen oft merkwürdig unsensibel mit der Beschreibungssprache um. Wenn ich ein Gesicht mit Blicken studiere, mich von den vielen kleinen Zuckungen sympathetischer Gefühle leiten lasse, Schatten und Linien mit Charakterzügen, Absichten, Lebenserfahrungen etc. in Verbindung bringe – bin ich dann in einem „Gefühlszustand“? Wohl kaum, sondern: Ich nehme ineinanderfließende Impulse prozesshaft wahr, suche sie ab und benutze dabei ein großes Spektrum von oftmals sich überlagernden oder widersprüchlichen Gefühlen, um mir ein Gesicht zu erschließen. Ich kann meine Aufmerksamkeit auf jene Gefühle oder das Gesicht richten und beide modulierend aufeinander beziehen und sogar diese Art der Aufmerksamkeit seinerseits beobachten. Die Fixierung der Philosophen auf die Frage,

wie ein Geschehen „im“ Subjekt mit „der Wirklichkeit“, zu verstehen als physische „Außenwelt“, zusammenhängt, verhindert, dass ein differenzierteres Modell des Bewusstseins und der vielen, unter Umständen gleichzeitig aktivierten Funktionen des Sichbeobachtens, Empfindens, Aufmerkens, Abtastens, Abmischens, des Geschehenlassens usf. entstehen könnte. Ohne ein solches wird man schwerlich ein Bild der Gefühle gewinnen können. Die notwendige Einbettung der Gefühle in das Gesamte eines Subjekts wird immerhin angedacht im schmalen, vorbildlich konzen­

Sabine A. Döring: Philosophie der Gefühle. Suhrkamp, 500 S., € 18,50 Sven Hillenkamp: Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit. Klett-Cotta, 311 S., € 23,60 Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbst­ hilfe. Suhrkamp, 412 S., € 27,60

Martin Hartmann: Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären. Campus (2005), 184 S., € 13,30 Harry G. Frankfurt: Gründe der Liebe. Suhrkamp (2006, Nachdruck), 108 S., € 15,30 Weiterführende Lektüre: Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen. Goldmann (2008), 283 S., € 9,20 Malcolm Gladwell: Blink! Die Macht des Moments. Piper (2007), 264 S., € 10,30 Gerald Traufetter: Intuition. Rowohlt (2009 als TB), 335 S., € 10,30 Bas Kast: Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft. Fischer (2009 als TB), 216 S., € 10,30 Forschungsschwerpunkt „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

trierten und als Einführung ins Thema besser geeigneten Buch von Martin Hartmann von 2005: „Gefühle. Wie die Wissenschaften sie erklären“. Auch mit der Liebe tun sich Philosophen schwer. Harry G. Frankfurt überraschte daher, als er, ebenfalls 2005, mit „Gründe der Liebe“ eine veritable Metaphysik der Liebe vorlegte: Man liebt nicht etwas, weil es wertvoll ist; es wird wertvoll, weil man es liebt. Liebend zu sorgen heißt, nicht mehr frei zu sein. Gleichzeitig ist Liebe auch das, was Endzwecke in unserem Leben setzt, die wir um ihrer selbst willen anstreben. Das, was wir am reinsten um seiner selbst willen anstreben, mit dessen Wohlergehen wir uns am fugenlosesten identifizieren – das sind allerdings wir selbst. Selbstliebe ist daher das Urbild der Liebe. Der Journalist Sven Hillenkamp verkauft in seinem soeben erschienenen Buch „Das Ende der Liebe. Gefühle im Zeitalter unendlicher Freiheit“ eine altbekannte Diagnose als neue Einsicht. „Möglichkeitsmensch“ nannte Robert Musil seinen „Mann ohne Eigenschaften“ Ulrich, in dem sich eine Epoche spiegeln sollte. Heute taumeln wir von einem Möglichkeitsspielraum in den nächsten. Wir sind „zu frei“, um tiefere Bindungen eingehen zu können. Kaum beginnt eine neue Liaison, ist man innerlich schon bei der möglichen neuen – es könnte die erfülltere, aufregendere, eigentlichere sein. Hillenkamp präsentiert sein Remake in einem Dauerstakkato enervierend schlichter apodiktischer Urteile und SchwarzWeiß-Figuren: „Noch vor nicht langer Zeit befand der Mensch sich im Kampf mit der Ordnung. Heute befindet der Mensch sich vornehmlich im Kampf mit sich selbst.“ Als „frisch“ und „provozierend“ mag man das in der Sphäre der Blogs und ihres schnellen Meinungskonsums empfinden. De facto bedeutet es die Abwesenheit jeder Reflexion auf Terminologie, Empirie und die Milieuspezifik der Phänomene, zu denen auch immer Gegenbewegungen gehören – etwa ein neuer Kult der Treue und der Familie. Empirie- und theoriegesättigter geht es bei Eva Illouz zu. Aber auch sie wiederholt sich in ihrem neuen Buch „Die Errettung der modernen Seele“, und zwar die Thesen und Themen ihrer früheren Bücher, die die Durchsetzung des „therapeutischen Diskurses“ in den Arbeits- und Lebenswelten des 20. Jahrhunderts illustrieren. Pauschalisierend macht Illouz Freuds Vorlesungen in Massachusetts 1909 zu einem Urknall des Jahrhunderts und seines neuen „emotionalen Stils“. Elton Mayos einflussreiche Entdeckung der Gefühle für die Effizienz des Produktionsprozesses wird damit zu einem Nebenprodukt Freuds. Soziologenjargon belastet auch diesmal die Nerven des Lesers. Trotzdem: Eine ganze Reihe von treffenden Differenzierungen, wie und weshalb sich das moderne „Selbst“ mithilfe der „therapeutischen“ Terminologie neu konstruiert hat, lässt die Lektüre zum Gewinn werden. Illouz lässt uns etwas sehen, was allzu selbstverständlich geworden ist. Das ist viel auf dem Gebiet der Gefühle, das soeben in geradezu jugendlichem Eifer noch einmal neu entS e b astian K iefe r deckt wird.

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Sachbuch

„Ich verstehe Ihre Frage so, dass es Menschen in Westdeutschland gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR mobilisieren, um eine Mauer aufzurichten, ja? Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht.“ W al t er U lbr i c h t , e h emal i ger D D R - S t aa t sc h e f Z i t a t aus : E dgar W o l f rum : „ D i e M auer . G esc h i c h t e e i ner Te i lung “ SEITE 38/39

Chinesische Snacks, Lili-Markt, Wien 4

Mit eingeschränkten und geschärften Sinnen m Anfang steht die Angst. Im Alter von A 15 Jahren schwindet die Sehkraft von Saliya Kahawatte auf etwa zehn Prozent.

Wie soll er nun eine Ausbildung machen? Einen Job finden? Der deutsch-singhalesische Jugendliche wählt eine irrwitzige Strategie: weitertun, als wäre nichts. Mit Unterstützung der ganzen Familie schafft er das Abitur. Und heuert danach als Lehrling in einem Luxushotel an. Was folgt, gleicht einer Fahrt auf der Hochschaubahn. Nächtelang sitzt er mit der Lupe über vergrößerten Weinkarten. An seinem Arbeitsplatz ordnet er das Flaschenlager so, dass er alles greifen kann, ohne sehen zu müssen. Mit geschärftem Gehör findet er den Weg zwischen Tischen und Gästen. Schließlich eröffnet er sein eigenes Bistro. Und bricht zusammen. Kaum ist er wieder fit, schlittert sein Lokal in die Miesen. Verkauf. Neuanfang. Spannung und Action genug für einen Hollywood-Film enthält dieser Lebensbericht sowie eine gehörige Portion Slapstick. Auch stilistisch leiht sich der Autor die Technik aus diesen Regionen. Seine Geschichte erzählt er in flotten Rückblenden. Trotz buddhistischen Respekts geht er salopp zur Sache: „Ich will nichts beschönigen. Seh- und gehbehindert zu sein, ist für sich genommen ein ziemlich großer Scheiß.“ Selbstironie schützt hier auch vor Pathos. Ist Kahawatte mit 39 zu jung für eine Autobiografie? Der französische Wi-

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derstandskämpfer Jacques Lusseyran war 29, als die Schilderung seines blinden Lebens erschien – das war im Jahr 1953 („Das wiedergefundene Licht“, dt. 1994). Beide beziehen ihre Spannung nicht bloß aus dem Blindsein. Während Lusseyran über seinen Kampf in der französischen Résistance berichtet, ringt Kahawatte mit inneren Dämonen. Zuletzt feiert er jedoch einen Sieg: über sich selbst. Er will der Welt nicht mehr verheimlichen, wie wenig er von ihr sieht. MinusVisus heißt das Institut für Persönlichkeitstraining und Coaching, das er heute betreibt. Auf der Homepage (www.minusvisus.com) wird eifrig mit seiner Lebensgeschichte geworben. Das vorliegende Werk hat jedoch nichts von einer Marketingmasche. Mitreißend erzählt, gibt es Einblicke in eine weniger eingeschränkte als vielmehr durch ungewöhnliche Erfahrungen erweiterte Welt. Nie wieder etwas riechen zu können: Angesichts lebensbedrohlicher Verletzungen und mehrerer Schädeloperationen erscheint die Nachricht für den Journalisten Walter Kohl nach einem schweren Unfall zunächst als das geringste Übel. Doch sie bedeutet mehr, als er zunächst wahrhaben will. Heimat, stellt Kohl fest, sei dort, wo der riechende Mensch nichts rieche, weil ihm der Geruch so vertraut sei. Aber nicht für ihn: „Für mich hat alles keinen Geruch.

Saliya Kahawatte: Mein Blind Date mit dem Leben. Eichborn, 208 S., € 18,50 Walter Kohl: Wie riecht Leben. Bericht aus einer Welt ohne Gerüche. Zsolnay, 240 S., € 20,50

Das führt nicht dazu, dass ich überall daheim bin, sondern es bewirkt, dass alles Fremde ist.“ Der Geruchssinn liegt in den entwicklungsgeschichtlich alten Hirnteilen und hängt daher eng mit tiefverwurzelten Gefühlen zusammen. Was dies in der Praxis bedeutet, erfährt Kohl vor allem bei der Liebe: „Mein Hirn möchte Sex, zum Sex braucht man das limbische System, dieses ist lahmgelegt.“ Wie existenziell Gerüche für ihn sind, bemerkte er erst, als ihm der Geruchssinn verlorenging. Das ist spannend zu lesen. Und es ist neu. Von Blinden liegen viele Erfahrungsberichte vor. Auch Gehörlose haben bereits ihr Erleben veröffentlicht – kürzlich etwa erst Sarah Neef mit „Im Rhythmus der Stille. Wie ich mir die Welt der Hörenden eroberte“ (Campus 2009). Über eine geruchlose Welt waren bisher nur fiktive Betrachtungen zu lesen. Weniger aufregend als befremdend gestaltet sich die Dramaturgie von Kohls Buch. Denn er lässt ein Alter Ego erzählen. Das letzte Kapitel schreibt er allerdings in der dritten Person. Dort öffnet sich dem Helden ein anderes Tor zur Sexualität. Für ihn endet das Buch befriedigend. Für den Leser bleibt am Ende offen, was authentisches Erleben des Autors war und was Fiktion. Der Verlag bestätigt zumindest, dass Kohl tatsächlich ohne Geruchssinn auskommen muss.

Foto: Julia Fuchs

Lebensberichte: Zwei Bücher schildern das Leben eines beinahe Blinden und jenes in einer Welt ohne Gerüche

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Fettarm in den Herzinfarkt Ernährung: Es gibt keine bösen und guten Lebensmittel mehr. Ein Aufruf zu mehr Genuss beim Essen

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acht Fett wirklich fett? Sollen wir mehr oder weniger Kohlenhydrate essen? Wer sich über Ernährung informiert, wird verunsichert. Zu fast jeder Studie gibt es eine Gegenstudie. Was vor Jahren verteufelt wurde, soll plötzlich doch gesund sein. Und umgekehrt. Jahrzehntelang wurde gepredigt, dass Fette des Teufels sind – außer im Olivenöl. Das fing in den 70er-Jahren in den USA an mit dem Bericht der US-Akademie der Wissenschaften über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Krebs. Deren Erkenntnisse machte sich die Industrie zunutze, um Lebensmittel „umzudesignen“: Das „Zeitalter des Nährstoffwahns“ begann, wie das der amerikanische Journalist Michael Pollan in seiner lesenswerten Abrechnung „Lebensmittel“ nennt. Will heißen: Lebensmittel werden nicht nach ihrem Geschmack beurteilt, sondern nach ihrem Nährstoffgehalt, ihrer vermeintlichen Funktionalität. Das führte und führt zu haarsträubenden Entwicklungen: Kein Volk der Erde macht sich mehr Sorgen über sein Essen als die Amerikaner (und die Mittel- und Westeuropäer). Und nirgends gibt es so viele übergewichtige und durch falsche Ernährung kranke Menschen. Unzählige Ernährungsmethoden und -moden nahmen in den USA ihren Ausgang und wurden bei uns willig aufgegriffen. Immer wurden bestimmte Bestandteile unserer Lebensmittel verteufelt und andere gelobt: Proteine gegen Kohlenhydrate, Kohlenhydrate gegen Proteine und dann gegen Fette; später Fette gegen Kohlenhydrate. Letzteres ist der neueste Schrei: Low-Carb, das Vermeiden von Kohlenhydraten, bei uns auch unter dem Namen LOGI-Diät residierend.

Das Gemeine: All diese Moden und Metho-

den sind interessegelenkt. Nicht nur, dass man mit Diätbüchern oft in die Bestsellerlisten kommt. Hinter fast jeder Ernährungsstudie steht ein Verband oder Konzern, der diese finanziert. Und so diktiert, was in der Studie und später in den Empfehlungen oder Gesetzen steht. Kaum irgendwo wird so heftige Lobbyarbeit betrieben wie in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie, nicht nur in Brüssel. Pollan findet haarsträubende Beispiele. Seine Warnung: „Die amerikanische Kost“ (darunter versteht er industriell erzeugte Lebensmittel, die vorgeben, gesünder zu sein, wie Jog­ hurt mit „linksdrehenden“ Milchsäuren) „ist auf dem besten Weg, auf der ganzen Welt zur maßgeblichen Ernährungsform zu werden.“ Seine Prognose: Sie macht uns auf Dauer „immer kränker und dicker“. In den 50er-Jahren hatte man in den USA angeblich herausgefunden, dass für die steigende Anzahl der Herzkrankheiten der steigende Verzehr von Fett und Nahrungscholesterin verantwortlich war, die vor allem in Fleisch- und Milchprodukten stecken. Daraus wurde von Herzspezialisten die „Lipid-Hypothese“ entwickelt, aufgrund derer 1977 ein Ausschuss des USSenats die Amerikaner dazu aufrief, den Verzehr von Rindfleisch und Milchprodukten einzuschränken. Das löste einen Feuersturm der Rindfleisch- und Milchindustrie aus. Der Vorsitzende des Ausschusses, Senator McGovern aus South Dakota,

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blies zum Kampf. Die Richtlinien wurden unverbindlicher umgeschrieben. Die „Lipid-Hypothese“ hat sich in den USA und bei uns trotzdem als Dogma durchgesetzt. Ernährungswissenschaftler aus Harvard konnten 2001 allerdings nachweisen, dass es keinen Zusammenhang zwischen Nahrungsfetten und Herzkrankheiten gibt. Heute weiß man, dass Margarine ungesünder ist als die gute alte Butter, die angeblich den Cholesterinspiegel hochtreibt. Margarinehersteller konnten dennoch seit den 70ern viel Geld verdienen. Unsere Ernährung hat auf den Cholesterinspiegel nur bedingt Einfluss. Forschungen an Zwillingen haben ergeben, dass unsere Gene einen weitaus größeren Einfluss auf den Cholesterinspiegel haben als Diät oder Bewegung. Heute glaubt man, dass ein leicht erhöhter Cholesterinspiegel gar nicht so schlecht ist: In der Muttermilch steckt doppelt so viel Cholesterin wie in Kuhmilch. Manche Experten vermuten, dass gestillte Kinder deshalb einen höheren IQ entwickeln. Denn Cholesterin spielt beim Aufbau des Gehirns und des Nervensystems eine entscheidende Rolle.

Weitere empfehlenswerte Literatur:

„Fettarm in den Herzinfarkt“ nennt Kathrin Burger in „Die Vollkornlüge“ ihr Kapitel zum Thema Fette. Mittlerweile wisse man, dass der Mensch Fette braucht, nicht nur als Geschmacksträger. Denn manche Vitamine können wir nur verwerten, wenn genügend Fett als Transporter in der Nahrung steckt. Aber die Wissenschaft und mit ihr die Öffentlichkeit glaubt immer noch an „gute“ und „böse“ Fette. Gut sind angeblich Öle (Olivenöl!), Nüsse, Fisch (Omega-3-Fettsäure!) – schlecht tierisches Fett (Schweinshaxe!), gehärtetes Fett und Transfettsäuren (Pommes!). Auch diese Unterscheidung wackelt: Burger weist darauf hin, dass unser Fleisch durch Züchtung immer fettärmer wird – und dadurch schlechter schmeckt. Der Fettgehalt von Schweinefleisch ist heute niedriger als der von Geflügel. Und das Fett einer Kalbshaxe besteht mittlerweile zur Hälfte aus ungesättigten, also gesunden Fetten! Das gepriesene Sonnenblumenöl ist gar nicht so „gut“, weil die darin enthaltenen Omega-6-Fettsäuren Entzündungsprozesse anfachen. Auch Olivenöl ist nicht immer gesund: Ab 180 Grad Celsius, beim Braten, verwandeln sich mehrfach ungesättigte Fettsäuren in schädliche Substanzen. Zudem hat man 2008 an der Universität Münster herausgefunden, dass zumindest Mäuse bei verstärkter Aufnahme von Olivenöl unter mehr Herzkrankheiten leiden. Also muss man sich wohl auch von dem Gedanken verabschieden, dass Olivenöl der entscheidende Faktor für ein gesünderes Leben im Mittelmeerraum ist. Michael Pollan spricht in diesem Zusammenhang vom „französischen Paradox“: Amerikanische Ernährungswissenschaftler können einfach nicht begreifen, „wieso ein Volk, das sein Essen so genießt wie die Franzosen und unbekümmert jede Menge Nährstoffe konsumiert, die von Ernährungswissenschaftlern für toxisch gehalten werden, eine wesentlich niedrigere Herzkrankheitenrate hat als die US-Amerikaner mit ihrer hochgradig designten fettarmen Kost“. Die eher konservative Deutsche Gesellschaft

Der Brockhaus Ernährung. Gesund essen, bewusst leben. F.A. Brockhaus (2008), 702 S., € 51,40

Annette Sabersky: Diät! 99 verblüffende Tatsachen. Trias, 101 S., € 13,40 Margit Schönberger: Das Diätenhasserbuch. Knaur, 255 S., € 9,20 Gunter Frank: Lizenz zum Essen. Piper, 332 S., € 10,30 Udo Pollmer, Susanne Warmuth: Pillen, Pulver, Powerstoffe. Eichborn, 205 S., € 20,60 Angela Mörixbauer, Markus Groll: Die 50 größten Diät-Lügen. Krenn, 128 S., € 16,90

Lisa Hark, Darwin Deen: Gesunde Ernährung. Dorling Kindersley, 336 S., € 20,60

Michael Pollan: Lebensmittel. Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn. Arkana bei Goldmann, 266 S., € 8,20 Kathrin Burger: Die Vollkornlüge und andere Ernährungsmärchen. Herder, 158 S., € 9,20

für Ernährung (DGE) hat in ihrer 2007 aktualisierten Fettleitlinie vorsichtig zurückgerudert und behauptet keinen eindeutigen Zusammenhang mehr zwischen den gesättigten („bösen“) Fetten und koronaren Herzerkrankungen. Cholesterin und Butter versus Öle: Das sind nur zwei besonders umstrittene Beispiele aus der Ernährungswissenschaft, die belegen, dass fast alles, was man uns erzählt hat und teilweise immer noch erzählt, falsch war oder zumindest höchst zweifelhaft. Das Gleiche gilt auch für die neuerdings sehr beliebten Antioxidationsstoffe, die unser Essen angeblich zum „Superfood“ werden lassen, weil sie Radikale in unseren Zellen „einfangen“ und uns dadurch gesünder und sogar jünger machen. Alles Humbug! Unsere Lebensmittel beste-

hen aus hunderten von Stoffen. Einige davon hat man in den letzten 150 Jahren analysiert: Vitamine, Ballaststoffe, Spurenelemente und jetzt eben die „Antioxidantien“. Aber ob Tomaten wirklich gesund sind, weil sie besonders viel Lycopin enthalten, ist völlig unklar. Denn über die vielen anderen Stoffe, die Tomaten enthalten, weiß man nichts oder wenig. Und wer ahnt, was die im Körper anrichten? Die meisten Studien, die die Wirkungsweise bestimmter Lebensmittel untersuchen, sind Vergleichsstudien. Da müssen Menschen über einen längeren Zeitraum, oft Jahre, angeben, was sie täglich essen. Manche bekommen mehr Tomaten, andere weniger. Aber der eine treibt Sport, der andere nicht. Der eine hat am Abend eine Flasche Rotwein getrunken, der andere nicht. Ob die alle immer ganz ehrlich sind? Zum Beispiel beim Alkohol? Diese Studien sind vermutlich genauso „wissenschaftlich“ wie die berüchtigten Wahlprognosen diverser Umfrageinstitute. Und wie gesagt: Wes’ Brot ich ess, des’ Meinung ich sag. Das gilt besonders in der drittmittelabhängigen Wissenschaft. Was bleibt? Man kann vermutlich all die Hitlisten der angeblich „gesündesten Lebensmittel“ vergessen. Teure Nahrungsergänzungsmittel sowieso. Man sollte von allem etwas essen, möglichst bunt essen. Viel Obst und Gemüse ist wahrscheinlich nicht schädlich. Ob es fünfmal am Tag viel nutzt, ist auch umstritten. Ab und zu ein Schnitzel bringt niemanden um. Auch kein Hamburger. Jeden Tag Hamburger mit Pommes ist garantiert nicht gesund. Am ungesündesten ist es, ständig über seine Ernährung nachzudenken. Noch ungesünder, nach Kalorienlisten zu essen. Oder Diätenbücher zu lesen und gar anzuwenden. Nutzlos ist es sowieso. Weil der Körper fast jede Ernährungsumstellung ausgleicht. Weil die Gene einen viel größeren Einfluss auf unser Erscheinungsbild und unsere Gesundheit haben als unsere Ernährung oder Lebensweise. Nicht jeder Dicke ernährt sich falsch oder bewegt sich zu wenig. Aber regelmäßige Bewegung ist trotzdem zu empfehlen. Vor allem gilt: Gesund ernährt sich, wer gerne und mit Genuss ist. Wer keine (teuren) Fertigprodukte zu sich nimmt, sondern viel Frisches, Saisonales, Lokales – eventuell auch Traditionelles. Und wer angstfrei isst. Ohne schlechtes Gewissen. T h o mas A skan V i e r i c h

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Sachbuch

Sprünge nach Hirschen aus Helikoptern Kochen: Falter-Chefredakteur und Freizeitkoch Armin Thurnher stellt 17 neue Kochbücher vor Monumental Alexandre Dumas holte ihn Mitte des 19. Jahrhunderts als Koch in den poshen Pariser Jockey-Club. Man nannte Jules Gouffé den „Apostel der dekorativen Küche“, und wer die Farbtafeln in seinem Kochbuch betrachtet, die Hummer- und Krabbenberge oder den Kalbskopf, versteht, warum: „Man nimmt einen, der Anzahl der Tischgäste angemessenen großen Kalbskopf, der sehr fett und sehr weiß sein muss (…) – schneidet jede Hälfte des Kopfes in 3 Theile, wobei man Acht gibt, das der Theil, an dem das Ohr sitzt, völlig viereckig ist, was das gefällige Ordnen auf der Auftragschüssel sehr erleichtert.“ Der Reprint der deutschen Ausgabe von „Die feine Küche“ ist dekorativ, mit Lederrücken: imposant für die Bücherwand! Historisches Interesse groß, praktischer Nutzen eher gering. Aufs Kochbuch angewandt, verdient den Titel Enzyklopäde keiner so sehr wie Alain Ducasse. Der geniale Franzose hat ein weltweites Restaurantimperium aufgebaut; aus seinen Lokalen bringen seine Chefs nun Rezepte für das Buch „Weltweit genießen“ ein; es ist das vierte in der Reihe Ducasse’scher Enzyklopädien. Zwar sind manche Rezepte aufgrund schnöseliger Zutaten so nicht machbar. Trotzdem ein Muss für jede Kochbuchsammlung. Mit CD.

Regional Besonders schön gemacht ist das „Esterházy Kochbuch“. Es gibt historische Einblicke in den Fürstenhof der Esterházy (natürlich inklusive Haydn, dessen Frau seine Partituren als Backpapier oder Lockenwickler verwendete), erfreuliche Rezepte samt Weinempfehlungen, es ist wunderschön fotografiert und adäquat gestaltet. Willi Haider ist ein Koch, den man mögen muss. Im Grazer Straßenmagazin Megaphon kocht der Zweihaubenkoch günstig. Seine Tätigkeit beschränkt sich auf Kurse und Publizistik: Mit Ingrid Pernkopf hat er nun die „Österreichische Vorratskammer“ ausgeleuchtet. Dort findet man Erwartbares wie Marmeladen und eingelegte Gurkerln, aber auch sehr Originelles wie Kuchen im Einmachglas. Klingt seltsam, ist aber den Versuch wert: Man kann mehrere auf einmal machen, sie schmecken immer frisch, eignen sich als Mitbringsel und halten bis zu sechs Monate! Eine eher merkwürdige Mischung bietet das „Erdäpfel-Kochbuch“. Es mischt Haubenköche mit Bauern. Das wäre okay, käme es nicht ziemlich hausbacken da-

Jules Gouffé: Die feine Küche. Gerstenberg, 489 S., € 51,30,

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Alain Ducasse: Weltweit genießen. Matthaes, 1135 S., € 90,50

her und manchmal auch ungenau: „100 g Erdäpfel“ als Mengenangabe zum Strudel reicht einfach nicht. Da muss man schon dazusagen, welche Sorte!

International Die Neuseeländerin Anabel Langbein sieht gut genug aus, um ihre Bücher selbst als Model zu schmücken, und ihre Aussteigerbiografie hat sie, sagt sie, am Ende zurück in den Garten geführt, aus dem sie für die Familie Frisches kocht. „Ich fing Aale, legte Fangleinen aus und sprang auf der Suche nach wilden Hirschen aus Helikoptern.“ Eine neuseeländische Artemis also, aber ihr Kochbuch kommt durchaus appetitlich daher. „Mamma Maria“ klingt zu kitschig, um ganz wahr zu sein, wer aber Sizilien kennt, kennt auch den Kitsch und glaubt an ihn. Ein Familienkochbuch im Wortsinn – und dennoch keinen Hauch amateurhaft. Eine inselstämmige Designerin und Autorin besucht ihre Mamma und kocht mit ihr die Kindheit durch. Das hat was. „La Cucina Italiana“ versucht der Gefahr, Wiederholtes erneut zu wiederholen, durch gefällige Aufmachung und einen Slow-Food-Zugang zu entgehen. In der Tat sind die Zeichnungen der Engländerin Val Archer erfreulich anzusehen; aber bei einem einfachen Rezept mit sardischem Fladenbrot und Pecorino wüsste man gern, wo man das Brot herbekommt oder wie man es macht. Eher Reisebeschreibung denn Kochbuch. Das genaue Gegenteil stellt Christian Voithofers „Mediterrane Küche“ dar. Klarer Aufbau, klare Rezepte – aber viel zu grelle, uninspirierte Fotos. Einige Tricks und Anregungen lassen sich trotzdem finden. Freunde der praktischen Reihe aus dem Christian Verlag werden auch mit diesem ihre Freude haben: „Currys & Currys“ mit Huhn oder Ente, Fleisch, Fisch oder Gemüse. Jody Vassallo bietet 90 thailändische und indische Curryrezepte und ein paar wichtige Grundzutaten, sodass man selber weiterexperimentieren kann. Wie immer machen die Fotos Lust aufs Kochen.

Süß Es musste ja so kommen. Wenn die atlantische Achse abgegrast ist, folgt das australische Bistro. Es heißt E’cco und liegt in Brisbane. Philip Johnson führt es, und er legt, erzählt er, besonderen Wert auf gepflegte Süßspeisen. Mit 100 davon tritt er

Esterházy Kochbuch. Ausgew. v. Christoph Wagner. Edition Löwenzahn, 184 S., € 29,95

Ingrid Pernkopf, Willi Haider: Die österreichische Vorratskammer. Pichler, 318 S., € 29,95

Christian Voithofer: Mediterrane Küche. Stocker, 143 S., € 12,90 Jody Vassallo: Currys & Currys. Christian, 159 S., € 18,50 Philip Johnson: Süße Lust. Christian, 191 S., € 25,70 Janet Smith: Muffins & Cupcakes. Christian, 159 S., € 18,50 Vidhu Mittal: Indien – Die neue vegetarische Küche. Zabert Sandmann, 208 S., € 25,50 Sandra Forster (Hg.): Das Vegane Kochbuch. Blumenbar, 165 S., € 25,60 Domitille und Michel Langot: Wohlfühl-Rezepte. Christian, 192 S., € 25,70 Ewald Plachutta: Plachutta Kochschule. Teil 2. Brandstätter, 448 S., € 34,95 Martina Willmann, Christian Seiler: Ganz einfach Kochen lernen mit Martina Willmann. Pichler, 247 S., € 24,95

Das ErdäpfelKochbuch. Krenn, 128 S., € 14,90

Annabel Langbein: Eat Fresh. Gerstenberg, 240 S., € 25,60

den Beweis an. Wenig, allzu wenig ist originär australisch oder zumindest exotisch. Immerhin kann man einen Süßkartoffelkuchen mit Honig-Zimt-Sahne probieren. Auch dieses Buch scheint aus dem angloamerikanischen Raum zu kommen, ist aber tatsächlich zuerst in Paris erschienen: Die Autorinnen legen bereits ihr zweites Werk zum gleichen Thema „Muffins & Cupcakes“ vor. Für kleine wie große Süße!

Vegetarisch bis Vegan Was Hobbyköchen immer Freude macht, sind Step-by-Step-Fotos. Das Buch der Inderin Vidhu Mittal ist durchgehend (!) damit ausgestattet, bietet dazu noch eine Einführung in Nahrungsmittel und Würzen sowie grundlegende Techniken – vom Vorbereiten von Gemüse bis zum Zubereiten von Naturjoghurt. Eine brauchbare, wenn auch nicht besonders inspirierte Sache. Sandra Forster leitet Deutschlands erstes veganes Restaurant in München. Ihr Kochbuch kommt zwar äußerlich in strengem beigem Leinen daher, ist aber für die Zielgruppe durchaus brauchbar und, ja, auch kulinarisch gestaltet. Die Zielgruppe wächst – wer darüber nachdenkt, was industrialisierte Lebensmittelproduktion den Tieren antut, ist schon ein Kandidat. Beinahe ganz vegetarisch ist das hübsche Buch „Wohlfühl-Rezepte“. Und es ist besser als sein leicht nerviger Titel; allerdings kommen nicht nur Nüsse und Hülsenfrüchte in delikaten Varianten vor, sondern durchaus auch Speck und Fisch in Spurenelementen. Dennoch: eine feine Sache.

Kochschulen Warum soll mehr vom Guten nicht noch besser sein, fragt sich Ewald Plachutta und schiebt im Jahresrhythmus Bücher auf den Markt. Er ist der Meister der No-Nonsense-Küche auf Österreichisch, ein wenig bieder, aber hausmannsdeppensicher. Der zweite Band seiner Kochschule widmet sich dem Backen, dem Pikanten – das inkludiert auch Fisch und Fleisch im Teig – und dem Süßen, wo man auch seinen Reisauflauf wieder auffrischen kann. Lebendiger und trendiger kommt das Buch von Martina Willmann daher. Dafür sorgt der Reportagestil von Christian Seiler, der vom dürren und abschreckenden Man-nehme-Stil entlastet. Die Fotos machen Lust mitzumachen. Hier ist tatsächlich ein veritabler, lebendiger Kochkurs gelungen. Patisserierezepte fehlen, ein zweiter Band scheint also im Rohr zu sein.

Cettina Vicenzino: Mamma Maria! Christian, 224 S., € 25,70

Anna DelConte, Val Archer: La Cucina Italiana. Collection Rolf Heyne, 256 S., € 41,10

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