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Der Monumentalroman „Stalingrad“ von David Grossman

Im Fleischwolf der Weltgeschichte

Wassili Grossmans Monumentalroman „Stalingrad“ weist unter 150 Figuren auch einige Pappkameraden auf

Stalingrad ist ein Mythos. Nach der Schlacht an der Wolga zwischen Herbst 1942 und Winter 1943 verzeichnet die deutsche Seite über eine Million Tote, die sowjetische Seite über eineinhalb Millionen. Russische und deutsche Autoren haben sich daran abgearbeitet – von Viktor Nekrassow bis Walter Kempowski. Als spektakulärster Wurf gilt heute Wassili Grossmans monumentale Epopöe „Leben und Schicksal“, der ultimative Roman über die psychologisch kriegsentscheidende Schlacht des Zweiten Weltkriegs.

Die Welt schaute auf die Metropole Stalingrad und wartete auf die Wende an der Wolga. So lautete auch der Titel von Grossmans erstem, 1952 erschienenem Stalingrad-Roman. Und hier beginnt auch das Problem: Anders als der ob der vehementen Kritik am Stalinismus in Sowjetzeiten verbotene zweite Teil der Dilogie „Leben und Schicksal“ ist der nunmehr neue übersetze erste Teil purer sozialistischer Realismus. Und zwar nicht im besten Sinn.

Wassili Grossman, 1905 im ukrainischen Berditschew geboren, stammte aus einer bürgerlich-jüdischen Familie; sein literarisches Debüt, der Bergarbeiterroman „Glückauf“, blieb systemkonform. Die Bürgerkriegserzählung „Die Stadt Berditschew“ (als „Die Kommissarin“ von Alexander Askoldow verfilmt) errang trotz „Abweichungen“ von der offiziellen sozialistischen Ästhetik das Lob Maxim Gorkis. Den Großen Terror Stalins bekam Grossman selbst zu spüren: Seine Frau wird als „Volksfeind“ verha et, kommt aber nach Bittbriefen des Autors wieder frei. Am 5. August 1941 meldet sich der 36-Jährige als Korrespondent der Armeezeitung Krasnaja Swesda freiwillig an die Front. „Stalingrad“ beginnt mit einem nach authentischen Quellen geschilderten Treffen von Mussolini und Hitler am 29. April 1942 in Salzburg Kleßheim, das rasch ins Komische kippt. Die beiden Achsen-Diktatoren schwadronieren über Weltherrscha , ihre nächsten Kriegspläne und „lächeln wie immer breit und gefällig mit allem Gold und Porzellan ihrer falschen Zähne“. Eine Seite später erfährt man noch, dass Hitlers ununterbrochenes Sprechen einen „süßlichen Geschmack in seinem Mund“ erzeugt. Bei so viel Karikatur verwundert es nicht, dass der Gröfaz die wahren Probleme des Unternehmens „Barbarossa“ verkennt: den Widerstand der Sowjets nämlich, die „Kra eines großen Volkes, das bereits das Fundament einer kün igen Welt gelegt hatte“.

Bisweilen erstrecken sich derartige hymnische Tiraden des auktorialen Erzählers über mehrere Seiten. Zum Glück geht es nicht immer so weiter. Wo Krieg herrscht, muss es im Roman auch Frieden geben, so prekär der auch sein mag. Die ziemlich große Familie Schaposchnikow trifft sich noch einmal in ihrer geräumigen Wohnung in Stalingrad: Im Zentrum steht Alexandra Wladimirowna Schaposchnikowa, gelernte Chemikerin, die vor der Revolution im Ausland Chemie studiert hatte und jetzt technische Literatur für den Krieg übersetzt. Wir befinden uns im Reich der alten Sowjetintelligenzija.

Da sind weiters drei Töchter sowie die Schwiegersöhne, die im Roman eine wichtigere Rolle spielen. Und da sind schließlich Sofja Lewinton, Chirurgin, die sehr viel später im Konzentrationslager ermordet wird, sowie der Enkel Anatoli, der gerade unterwegs zur Front ist. Als wär’s ein Stück von Tschechow wird noch über Gott und die Welt geredet, eine gewisse Unruhe angesichts der näher rückenden Front macht sich allerdings bemerkbar. Dass die Deutschen bis an die Wolga vorstoßen, werde, so denkt man, die sowjetische Lu waffe schon verhindern. Es sind insgesamt um die 150 Figuren, die in Grossmans Roman in den Fleischwolf der Weltgeschichte an der Wolga geraten – Parteifunktionäre, Arbeiter und Ingenieure, sowjetische und deutsche Militärs aller Ränge, von den Generälen Jeromenko

Wassili Grossman: Stalingrad. Roman. Aus dem Russischen von Christian Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe. Claassen, 1275 S. , € 36,–

und Paulus abwärts. Großartig beschreibt Grossman das Bombardement Stalingrads durch die Deutschen, den ersten Einsatz des Schaposchnikowa-Enkels Anatoli oder die Lu kämpfe zwischen „Jaks“ und „Messerschmitts“; es finden sich zahlreiche eindringliche Beschreibungen der Stadt und der Steppenlandscha vor und nach der Schlacht. Das Feld ist mit Leichen von Rotarmisten übersät. Doch dann tritt mit dem SS-Offizier Lenard, „mit hoher weißer Stirn und reglos blauen Augen“, eine Pappfigur auf den Plan: „Wir haben nicht nur die Bolschewisten und den russischen Raum besiegt – wir haben uns selber von der Ohnmacht des Humanismus befreit.“

Noch weiß der Übermensch nichts von den Verteidigungsplänen der Sowjets, die im Oktober einen mächtigen Gegenangriff planen. Bevor Generaloberst Krymow die Wolga in einer Barke übersetzt, wird noch einmal innegehalten: „Der gewaltige Himmel mit seinem Sternenstaub wölbte sich hell und leicht über den Fluss und weite Landscha en, die sich nach Osten und Westen hin ausbreiten.“ Der Feuersturm beginnt, Krymow geht in die Schlacht. Der letzte Satz lautet: „Er schritt über die Erde Stalingrads.“

Wassili Grossman beendete nach eintausend Tagen an der Front und als einer der prominentesten sowjetischen Kriegsreporter den Krieg in Berlin. Unmittelbar danach folgten sieben Jahre Arbeit am „Stalingrad“Roman, der bei seinem Erscheinen 1952 – trotz zwischenzeitlicher Kritik, die Rolle von Partei und Stalin nicht ausreichend gewürdigt zu haben – zum Erfolg wurde. Den erhofften Stalinpreis erhielt Grossman dennoch nicht, stattdessen begann er, die eigentliche Geschichte der Schlacht von Stalingrad in „Leben und Schicksal“ gänzlich umzuschreiben. Allein dort wurde klar, dass die Sieger leer ausgingen. Dieses Buch wurde verboten und ist tatsächlich lesenswert.

ERICH KLEIN

Es ist der Sommer 2018. Jakob Horak, Mittvierziger, Romanautor, ist mit seiner Freundin auf Lesetour durchs österreichische Hinterland. Letzter Stopp: Heidenholz, Waldviertel. Hier hat er die Sommer seiner Jugend verbracht. Als sein Verleger ihm eine schlechte Nachricht überbringt, hat die Landidylle aber schnell ein Ende. Horak begibt sich mit seinem Jugendfahrrad auf Wanderschaft – und neue und alte Begegnungen leiten eine neue Ära ein. Ein sehr stimmungsvoller Roman über das Waldviertel, das Älterwerden und die Liebe. Ein sehr humorvoller Roman über das Schriftstellersein und überraschende Wendungen im Leben.

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