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Zeitgeschichte Bogumil Balkansky versucht, das Massaker von Srebrenica zu verstehen

Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden“, fragen Goethe und Schiller im gemeinsam verfassten Distichon. 200 Jahre später versucht der amerikanische Historiker Helmut Walser Smith (geb. 1962) darauf eine Antwort zu geben und tut dies in einem anspruchsvollen theoretischen Konzept mit anschaulichen Beschreibungen. Die gestutzte Version des Untertitels – „Geschichte einer Nation“ – zeugt davon, dass sich der Verlag der Komplexität des Unterfangens bewusst ist. Als „Geschichte einer Nation“ scheint das Werk für ein deutschsprachiges Publikum doch etwas zu rudimentär, da nur Beispiele aus den letzten 500 Jahren gebracht werden, aber dafür sehr gerafft und großartig übersichtlich, etwa die Zusammenfassung der Wirren des Dreißigjährigen Krieges.

Mehr Aufschluss gibt der Originaltitel: „Germany. A Nation in Its Time: Before, During and A er Nationalism 1500–2000“. Die Beschreibung des Prozesses, in dem die Bewohner eines Gebietes in Mitteleuropa einen Begriff von diesem Raum und dadurch ein Gefühl für die eigene Identität bekamen, ist ein zentrales Anliegen des Autors. Erst spät erwuchs daraus etwas, was sich als Nationalismus bestimmen lässt. Kriege haben diese Entwicklung mitgeprägt, vor dem 19. Jahrhundert allerdings wird militärische Macht darin keine bedeutende Rolle spielen.

Reizvoll ist der mediengeschichtliche Zugang des Autors zu seinem Thema: So nimmt im ersten Kapitel „Deutschland vor dem Nationalismus“ eine ausführliche Betrachtung frühneuzeitlicher Landkarten, Atlanten und Reiseberichte breiten Raum ein. Die Geschichte des Buchdrucks verbindet sich mit Errungenscha en der Astronomie. Beispielha dafür ist die erste größere Darstellung von Deutschland, eine „gesüdete“ Romweg-Karte um 1500: Mit einem Sonnenkompass, einer Sonnenuhr mit Magnetnadel kombiniert, wird sie zum Reiseführer, da das Instrument an verschiedenen Breitengraden verwendet werden kann.

Die Deutschen entdeckten so, nach Rom ziehend, ihr Gebiet als Raum zwischen anderen Völkern. Gleichzeitig mit dieser geografischen Errungenscha vollzog sich die Rezeption der um 1450 in Italien aufgefundenen „Germania“ des Tacitus und gab ihnen ein erstes, noch recht nebulöses Geschichtsbild einer gemeinsamen Vergangenheit. Nach den Verwüstungen des Dreißigjährigen Kriegs regten sich patriotische Ansätze. Sie knüp en sich nicht an das immer schon theoretische, besser imaginär zu nennende Konstrukt des Heiligen Römischen Reiches, sondern an Landesteile wie Preußen, Bayern oder Württemberg, motiviert durch Zerfallsängste, die paradoxerweise an der selbst mit verursachten Teilung Polens den Ausgang nahmen. Eine wachsende Reisetätigkeit führte zu einem neuen Naturgefühl und einer Hinwendung zu landscha licher Schönheit: Der „deutsche“ Wald spielt hier naturgemäß eine große Rolle.

Die Romantiker versuchten in Sprache und Dichtung zu finden, was dieses Land „im Innersten zusammenhält“. Mit begrifflichem Raffinement unterscheidet Walser Smith in den folgenden Kapiteln zwischen einem „Zeitalter des Nationalismus“, in dem dieser sich als Strömung formiert, und einem „nationalistischen Zeitalter“, in dem er den Zeitgeist dominiert. Der Autor nimmt dabei Anleihe an Kant, der betont, er lebe in einer Ära der Au lärung und hoffe, diese münde in ein aufgeklärtes Zeitalter.

Raum zwischen anderen Völkern

Geschichte: Zwei neue Bücher zur Geschichte und dem Nationalismus der Deutschen

Helmut Walser Smith: Deutschland. Geschichte einer Nation. C.H. Beck, 667 S., € 35,–Heinrich August Winkler: Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte. C.H. Beck, 278 S., € 26,95

Den Beginn des „nationalistischen Zeitalters“ setzt Walser Smith mit der Weltkriegsepoche an, die von Begeisterung in Frustration umschlug und schließlich in den Fanatismus führte. In seiner Sicht auf den Kriegsausbruch 1914 ist er sehr nahe an Christopher Clarke („Die Schlafwandler“, 2012), der die Schuldzuweisung wohl allzu großzügig vornimmt, und verweist ausdrücklich auf diesen. Die Gräuel des Zweiten Weltkriegs beschreibt Walser Smith als sich entfesselnde Maschinerie. Sie führt von lokalen Pogromen über die Verbrechen der Sondereinsatzkommandos in die totale Entmenschlichung des industriellen Mordes. Nach dem Krieg herrschte zunächst Schockstarre, ein allgemeines Leugnen und selbstgerechte Verweisung auf einige wenige Schuldige. Resultate von Meinungsumfragen in den 1950er-Jahren über die Rolle Hitlers als Staatsmann, das Zusammenleben und die NS-Politik im Allgemeinen zeigen, wie sehr sich die Mentalität seither geändert hat. Nur allmählich fanden die Deutschen zu einem neuen, mitfühlenden Nationalismus, in den das Gedenken an die Opfer integriert wurde und mit dem sie ihren Platz in Europa fanden. Der Autor übersieht nicht, dass Fantasien von „völkischer Reinheit“ heute wieder virulent zu werden drohen.

Brillante Seiten des Buches befassen sich mit vergessenen Protagonisten der Geistesgeschichte, etwa dem Humanisten Sebastian Münster (1488–1552), einem hervorragenden Kartografen und frühen Hebräisten, der jüdische Texte vor der Zerstörungswut der Religionseiferer rettete. Oder Heinrich Wilhelm Riehl (1823–1897), der mit seinen erwanderten Beobachtungen als früher Feldforscher und einer der Gründerväter der Ethnologie gelten kann. Seine Dorfidyllen lassen ihn allerdings bedenklich ins „Völkische“ abgleiten. Insgesamt verliert das Buch an begrifflicher Schärfe und Anschaulichkeit, je mehr es sich der Zeitgeschichte nähert.

Nationalismus ist auch ein Thema in der Sammlung von Aufsätzen und Reden des großen Zeithistorikers Heinrich August Winkler (geb. 1938 in Königsberg), die sich über fast 50 Jahre erstrecken: „Deutungskämpfe. Der Streit um die deutsche Geschichte“. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive werden politische Konturen und soziale Wirkkrä e der Idee deutlich. So schildert Winkler stringent, wie um 1800 zunächst linke Kritik an Feudalismus und Partikularinteressen im Mittelpunkt standen, im Laufe des Jahrhunderts aber Abwehrmechanismen gegen den au ommenden Sozialismus in den Vordergrund traten.

Für das Bürgertum war Nationalismus ein Bollwerk gegen die „vaterlandslosen Gesellen des Proletariats“. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärt Winkler nicht mit einer allgemeinen Kriegsbereitscha , sondern unterstreicht die treibende Rolle des preußischen Militarismus: Die adelige Offizierskaste der Großgrundbesitzer mit ihrer beherrschenden Stellung in Militär und Wirtscha führte Deutschland in den Krieg. ILLUSTRATION: PM HOFFMANNDie Junker aus Winklers ostpreußischer Heimat hatten auch erheblichen Einfluss auf Deutschlands „Sonderweg“, als man 1929 als einzige Industrienation auf die Weltwirtscha skrise mit dem Weg in die Diktatur reagierte. Die Sammlung gibt faszinierende Einblicke in die Gedankenwelt des Autors, der seit dem „Historikerstreit“ von 1986/87 das deutsche Geschichtsbild wesentlich mitprägt.

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