5 minute read
Colm Tóibín durchwühlt die Wäsche von Thomas Mann
Sammeln, Streichen, Brüllen, Toben
Der 200. Geburtstag von Gustave Flaubert wird mit zahlreichen Veröffentlichungen gewürdigt
Das Schlimmste an der Gegenwart ist die Zukun !“ Ob Gustave Flaubert (1821–1880), der dies als immer schon ein wenig greisenha er Jüngling mit Nestroy’schem Grimm schrieb, der Nachruhm ausgesöhnt hätte? Eher nicht: Kurz vor seinem Tod verlangte er, „dass man mich vergisst, mich in Ruhe lässt, nie wieder über mich spricht“.
Dessen ungeachtet feiert Frankreich den Bicentenaire (12.12.2021) ausführlich, auch im deutschsprachigen Raum wird er mit zahlreichen Publikationen gewürdigt. Den Anfang machte die umfangreiche Biografie des Historikers Michel Winock: Seine detaillierte Chronik bettet den Lebenslauf in die politische Entfaltung der bürgerlichen Gesellscha ein. Sie reicht von der Restaurationszeit der letzten Bourbonen über die Erhebungen von 1830 und 1848 bis in die Farce des Zweiten Kaiserreichs und die dramatische Niederlage von 1871. Der Wegbereiter des modernen Romans steht diesen Entwicklungen voller Pessimismus und in größtmöglicher Distanz gegenüber. Einzig die preußische Besatzung macht ihn dann zum Patrioten.
Flaubert stilisiert sich zum Einzelgänger aus dem provinziellen Rouen; wenn ihm Isolation und mühsames Ringen um das richtige Wort zu bedrückend werden, wir er sich mit der ihm eigenen Wucht in das Treiben der Pariser Salons, unternimmt im Zeitgeist des Orientalismus ausgedehnte Reisen nach Nordafrika und Kleinasien. Ein kompliziertes Geflecht von Beziehungen zur Weiblichkeit – von der platonischen, von Verehrung geprägten zu George Sand bis zu „gefährlichen Liebscha en“, in denen die Partnerinnen höchstens Rollen von Mätressen spielen – nimmt ihn in Anspruch.
Schon in jungen Jahren befällt Flaubert eine nie recht ausdiagnostizierte Krankheit (meist als Epilepsie umschrieben). Sie trübt seine soziale Existenz. Hinzu kommt ein finanzieller Abstieg, der ihn aus den begüterten Verhältnissen der Familie in existenzielle Nöte führt. Das alles bleibt bei Michel Winock im Kontrast zur lebendigen Schilderung des intellektuellen Lebens und der politischen Konflikte eher blass, wie auch dessen eher summarische Würdigung des literarischen Schaffens.
Gerade die Meisterwerke nach „Madame Bovary“ werden nur nebenbei erwähnt. Das hat zum einen mit dem Autor selbst zu tun, dessen Stil an einen „Chronisten der Intellektuellen“ à la Brüder Goncourt erinnert, die in Winocks Biografie und in den Salons von damals allgegenwärtig waren. Andererseits ist der (auch körperlich) „große Normanne“ in seiner Widersprüchlichkeit schwer zu fassen. Julian Barnes hat dies in seinem Roman „Flauberts Papagei“ eindrücklich dokumentiert. Dennoch ist das Buch als Quelle für Hintergrundinformationen hilfreich, vor allem im Zusammenhang mit anderen Neuerscheinungen, die lebendigere, aber nur punktuelle Einblicke erlauben.
Aus der schier unfassbaren Fülle der Korrespondenz Wesentliches und Repräsentatives auszuwählen, ist eine Herausforderung – in der Pleiade-Ausgabe nehmen die 4000 Briefe immerhin 6600 Seiten ein. Das gelingt Cornelia Hasting mit dem hübschen Band „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“ gut; die „Albernheit“ ist immerhin Flauberts populärste Erzählung „Ein schlichtes Herz“.
Die Erläuterungen dazu bleiben allerdings spärlich – und hier kann Winock eben weiterhelfen. Von hochtrabenden Erwartungen erfährt man aus einem Brief des Neunjährigen, der dabei ist, eine Eloge auf Corneille zu verfassen; von der Langeweile des Jurastudiums in Paris, die sich zum Hass auf alle Wissenscha steigert – ein Thema, das sich bis zu „Bouvard und Pécuchet“ durchziehen wird.
Den schlaganfallähnlichen Ausbruch seiner Krankheit nimmt Flaubert zum Anlass, alle bürgerlichen Berufspläne zu verwerfen und sich ganz auf „das Büchermachen“ zu konzentrieren. Die wechselnden Stimmungen zwischen Schreibeinsamkeit, tumultuösen Liebesverhältnissen, von Eitelkeit nicht freien gesellscha lichen Auftritten und den Sorgen eines liebevollen Familienmenschen lassen ein facettenreiches, widersprüchliches Bild entstehen, zusätzlich verwischt durch Selbstironie und gelegentliches Posiergehabe.
Die komplizierte Entstehungsgeschichte der Werke wird grei ar: Nur „Madame Bovary“ entsteht in einem zwar langen, aber kontinuierlichem Entwicklungsgang. Alles andere wird ent- und verworfen, wieder aufgenommen und ineinandergeschoben. „Sammeln und Streichen“ ist die Maxime der literarischen Arbeit: Aus einem ungeheuren Materialblock wird das Wesentliche herausgeschlagen und das treffende Wort gesucht, um es an der einzig passenden Stelle festzuschreiben. Ein Bemühen um „Genauigkeit und Seele“, wie es später Robert Musil formuliert.
Hinzu kommt noch der Anspruch des richtigen Klanges: Jeder Satz muss, laut gelesen, absolut und fühlbar überzeugend sein. Das Schreibzimmer des Landhauses wird zum „ gueloir“ („Brüllraum“), einem Resonanzraum, in dem Flaubert die Wortfolgen akustisch auf die Probe stellt. Kein Wunder, dass der Tagesertrag des schri stellerischen Ringens bisweilen einen einzigen Satz ausmacht.
Michel Winock: Flaubert. Aus dem Franz. von Horst Brühmann und Petra Willi. Hanser, 655 S., € 37,10
Gustave Flaubert: „Ich schreibe gerade eine kleine Albernheit“. Ausgewählte Briefe 1832–1880. Ausgewählt und übersetzt von Cornelia Hasting. Mit einem Nachwort von Rainer Moritz. Dörlemann, 319 S., € 27,80
Gustave Flaubert: Memoiren eines Irren. Neu übersetzt von Elisabeth Edl. Hanser, 240 S., €28,80
Guy de Maupassant: Über Gustave Flaubert. Aus dem Franz. von Ernst Wilhelm Fischer. Mit einem Nachwort von Elisabeth Edl. Alexander, 136 S., € 15,95
Ebenso wenig erstaunlich sind die Probleme, die das bei der Übertragung in eine andere Sprache bereitet. Wie anspruchsvoll diese Arbeit ist, weiß die Flaubert-erfahrene Elisabeth Edl, Übersetzerin und Herausgeberin des soeben erschienenen frühen Textes „Memoiren eines Irren“. Sie hat zuletzt die „Éducation sentimentale“ ins Deutsche übertragen und die inzwischen achte Übersetzung („Lehrjahre der Männlichkeit“) für einen Titel vorgeschlagen, der eigentlich auch ohne Französischkenntnisse verständlich ist.
Die Romanminiatur des 17-Jährigen, stilistisch noch geprägt von Byron- und Werther-Lektüre, gibt in hohem, lyrischem Ton Einblick in das Seelenleben eines Jünglings. Er erinnert sich an die zwei Jahre zurückliegenden Momente der ersten Verliebtheit. Höhepunkt: eine Bootsfahrt mit der wesentlich älteren Herzensdame samt Gatten. Sie wird in der nächsten Saison nicht zurückkehren.
Man kann über den Gefühlsüberschwang des Textes lächeln, im Kern enthält er aber schon das ganze Flaubert’sche Programm: Entschwunden Geglaubtes durch literarische Gestaltung zurückzuholen. Das kluge Nachwort von Wolfgang Matz verweist zu Recht auf Proust. Edl kommentiert ihrerseits den Essay „Über Gustave Flaubert“ von Guy de Maupassant (1850–1893).
Seinem jungen Verwandten begegnete Flaubert mit Sympathie wie sonst nur George Sand und Iwan Turgenjew. Ihn akzeptierte er als einzigen Schüler, obwohl er noch 1875 versicherte, er plage sich mit dem Versuch, keine Schule zu haben. Maupassant bedankt sich 1874 mit einer Hommage. Er entwir einprägsame Bilder seines Mentors: Man sieht ihn nachts auf die Seine blicken, wo die Schiffer „sich der Fenster als Leuchtturm bedienten“ − sonntags kamen die Bürger von Rouen „enttäuscht heim, wenn sie nicht vom Dampfer aus dieses Original, den Herrn Flaubert, in seinem hohen Fenster hatten stehen sehen“.
Zwei Höhepunkte des literarischen Schaffens hebt er hervor: die wundervolle Erzählung „Sankt Julian der Gastfreie“ als „Meisterwerk an Farbe und Stil, ein Meisterstück großer Kunst“; und „Bouvard und Pécuchet“. Hier zeigt er tiefe Einsicht in die Kontinuität des Œuvres: „Was Flaubert für die antiken Religionen und Philosophien in der ‚Versuchung des heiligen Antonius‘ getan hat, das hat er wiederum für alles moderne Wissen in diesem Buch vollführt. Es ist der Turm des Babels des Wissens ...“ Als „Enzyklopädie der menschlichen Dummheit“ blieb das Hauptwerk ob der Unendlichkeit seines Gegenstandes Fragment ...