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Sprachen Zwei Neuerscheinungen zu Schri en und den zwanzig wichtigsten Sprachen

Sich vom Schönen verzücken lassen

Kunstgeschichte: Horst Bredekamp feiert Michelangelo mit einem Kulturidealismus, der glücklich macht

Horst Bredekamp verleiht als Kunsthistoriker von Weltruf und programmatischer Kopf des Humboldt Forums im wiedererrichteten Berliner Stadtschloss der preußischen Gelehrtentradition neuen Glanz. Ein halbes Jahrhundert hat er den Kosmos Michelangelo ergründet und ungezählten Studenten in zweisemestrigen Vorlesungen nahezubringen versucht. Nun erfüllte er sich und der Leserscha einen Traum und legt „seinen“ Michelangelo vor. Der Wagenbach Verlag mobilisierte alle Ressourcen, um den Prachtband mit der hauseigenen Liebe zu distinguiertem Satz, schönem Papier und großzügiger Illustration zu edieren.

Der Traum von Buch kommt seinen Lesern mit einem aus der Zeit gefallenen Kulturidealismus entgegen, der zuerst wehrlos und am Ende glücklich macht. Wir werden zu dankbaren Studenten, die einem geborenen Lehrer lauschen dürfen. Bredekamp lebt geradezu vor, was er einst (in prekärer theoretischer Begrifflichkeit) als „Bildakt“ zu fassen suchte: Idealerweise gewinnen beide, Deuter und Bild, im Prozess der Rezeption. Die meisten Abschnitte können als separate Werkmonografien gelesen werden. Verbunden werden sie äußerlich durch die Lebensgeschichte, innerlich durch hermeneutische Leitmotive, etwa jenes der körperlichen Berührung. Es verbindet die heidnisch-sinnenfrohen Karyatidenpaare der Sixtinischen Kapelle mit dem „Noli me tangere“ für Vittoria Colonna und den beiden späten „Pietás“ Michelangelos.

Nicht erst Bredekamp sieht Michelangelos Größe darin, affektive und ideelle Gegensätze in der künstlerischen Gestalt sinnbetörend ausleben zu können, ohne die Gegensätze zu harmonisieren. In der sublim antikisierenden Büste des Tyrannenmörders Brutus pries Michelangelo den politischen Attentäter im Namen republikanischer Ideale – und machte diesen insgeheim zu einem Wiedergänger des Caligu-

Das Physische wird zum Tanz, zur Arabeske, zur Choreografie von Energien jenseits des individuellen Körpers und aller theologischen Programme

Horst Bredekamp: Michelangelo. Wagenbach, 816 S., € 91,50

la, Inbegriff des eigenmächtigen Verbrechers auf dem Thron.

Bredekamps Beschreibungen, wie Michelangelo das Antagonistische in Nuancenverschiebungen der leiblichen Gestalt und sogar im leblosen Stein der Kapellen, Paläste und Portale betörend versinnlicht, gehören zu den Gipfelleistungen heutiger Kunstschri stellerei. Staunend lernt man, dass Motive der zunächst für die Freskierung der Altarwand der Sixtinischen Kapelle vorgesehenen luziferische Engelsrebellion noch insgeheim den Aufbau des tatsächlich ausgeführten Jüngsten Gerichts mitbestimmten. Dass Bredekamp in theoretischer Hinsicht wenig glücklich verfährt, wiegt dagegen wenig. „Panempathie“ tau er den energetischen Grundzug des Jahrtausendgenies, doch Sich-verzücken-Lassen vom Schönen hat ebenso wenig mit Mitgefühl zu tun wie die Fähigkeit, konträren Krä en eine suggestive sinnliche Gestalt zu verleihen.

Der Michelangelo-Kosmos war zum Erstaunen

und o zur Empörung schon seiner Zeitgenossen immer auch ein Drama des inszenierten Leibes, der Nacktheit, der unversöhnbaren Triebkrä e des Menschen. Seine choreografierten Körper wollen versinnlichende Medien für etwas anderes, Unsinnliches, Unerreichbares sein und sind doch immer auch ein künstlerischer Zweck an sich. Die sexuelle Aufladung sehnt sich nach Transzendenz durch den Leib hindurch, und umgekehrt fährt „proteisches“ körperliches Begehren zu beiderlei Geschlechtern in Heilige und Heroen, in Maria und ihren Sohn (und Geliebten) allemal. Nichts könnte, stimmt man Bredekamp zu, moderner sein als das.

Ein Zweig des imponierenden Bredekamp’schen Lebenswerkes widmet sich im Geiste Aby Warburgs dem Versuch nachzuweisen, dass Denken in Bildern eine autarke Erkenntnisquelle sei, die gegenüber dem Begrifflichen und Empirischen zu Unrecht geringgeschätzt werde. Dieser Zweig ging diverse Male irre, so in der buchlang vorgetragenen These, das Bild der Koralle sei ein entscheidender Katalysator der Entwicklung der Darwin’schen Evolutionstheorie gewesen.

Diese Überzeugung spielt in das Michelangelo-Buch nur marginal hinein, aber wo sie es tut, wird es schnell prekär. Michelangelos Entwürfe zur Befestigung von Florenz waren kein Produkt bildkombinatorischer Fantasie, sondern eines physikalischen Kalküls: Es galt, Bauformen zu finden, die verteidigenden Kanonen freies Schussfeld ließen, angreifenden dagegen möglichst wenig plane Flächen boten, die frontal getroffen werden konnten.

Mit dem frühen Biografen Condivi sieht Bredekamp in der Fähigkeit, sich von jedwedem Schönen quasi-erotisch bis hin zur Selbstgefährdung verzücken zu lassen, einen schöpferischen Energiequell Michelangelos. Das bringt Bredekamp in Konflikt mit der eigenen ikonografischen Schulung: Wenn der Grund und das Erfüllungsziel der Kunst das sinnlich verzückende Schöne ist, sind intellektuelle Botscha en allenfalls Mittel, keine Letztziele des ästhetischen Erlebens.

Auch ein Meister der sinndeutenden Kunstwissenscha stößt hier wohl an Grenzen seiner Disziplin. Die sinnliche Suggestivität und körperliche Wucht vieler Findungen Michelangelos geht über jede Art Bedeutungsinhalt hinaus. Kein Ikonograf kann beschreiben, weshalb, sagen wir, bis heute der Jonas über der Sixtinischen Altarwand mit seiner fauvistisch kolorierten Spiralbewegung bis heute eine solch ungebrochene sinnbetörende und zugleich enigmatische Präsenz ausstrahlt, die selbst Gottvater im Deckenzentrum übertönt.

Das Physische wird zum Tanz, zur Arabeske, zur Choreografie von Energien jenseits des individuellen Körpers und jenseits aller theologischen Programme.

SEBASTIAN KIEFER

»vielleicht der einzige sogenannte pornographische roman eines deutschsprachigen autors, den man zur weltliteratur rechnen muss.« oswald wiener

»Es handelt sich um den Schlüssel(loch)roman der Wiener Jahrhundertwende, der lange vor Wolf Haas aus dem Wiener Dialekt eine Kunstsprache machte. Die Mutzenbacher zeigt uns – buchstäblich – die Kehrseite der Ära Wiens um 1900, indem sie manisch von dem spricht, wovon der literarische Kanon jener Zeit schweigt: ein fröhlicher Kinder- und Sozialporno des Vorstadt-Elends der ›entrischen Gründe‹ von Ottakring – eine ebenso artistische wie bedenkliche Parallelaktion zu Schnitzlers Reigen und Freuds Theorie einer infantilen Sexualität. Deshalb verdient die unzüchtige Mutzenbacher eine anständige Edition, die einen kritischen Diskurs über sie ermöglichen soll. Es gilt, ein literaturwissenschaftliches Versäumnis wettzumachen.« Clemens Ruthner Josefine Mutzenbacher

Kritische Ausgabe nach dem Erstdruck, mit Beiträgen von Oswald Wiener, Stellenkommentar und einem Nachwort hg. von Clemens Ruthner, Melanie Strasser und Matthias Schmidt

424 S., Klappenbroschur in Bütten, Fadenheftung, 16,5 × 23 cm ISBN 978 3 85449 575 8 € 34,– sonderzahl

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