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Deba enkultur Svenja Flaßpöhler und Lukas Meschik wünschen sich mehr Besonnenheit im Diskurs
Kann man über den Lockdown erzählen?
Soziologie: Ein Sammelband mit Interviews zur Corona-Pandemie als Gefahr und als Gleichmacher
Für eine kurze Zeit machte die CoronaPandemie unsere Erfahrungen gleich. Im Lockdown zu sein bedeutete, sich in einer „gesamtgesellscha lichen“ Situation wiederzufinden, die paradoxerweise darin genau bestand, das In-Gesellscha -Sein zu unterbinden. Dieser Zustand steigerte das Mitteilungs- und Lesebedürfnis enorm, war Anlass für tonnenweise produzierte Corona-Tagebücher, ist aber auch ein gefundenes Fressen für soziologische Forschung.
Eine Gruppe deutscher Nachwuchswissenscha ler machte sich bereits im April 2020 daran, narrative Interviews über die Erfahrungen mit dem ersten Lockdown und über gefühlte Risiken der Pandemie zu führen. Dass das Buch mit den Ergebnissen erst jetzt erscheint, ergibt einen interessanten verfremdenden Effekt, denn die frühe Zeit der Pandemie, ohne Impfung und Medikamente, scheint fast schon vergessen und wirkt im Rückblick noch einmal bedrückender klaustrophob: „Und dann die ganze Nacht über hatte ich eigentlich nur darüber nachgedacht, was ist, wenn sie irgendwie ansteckend ist?“, erzählt eine 28-jährige Lehrerin über ein geplantes Treffen mit einer Freundin, das sie schließlich absagt.
60 Interviews haben die Soziologinnen und Soziologen geführt, 25 davon sind im Buch zu Porträts beziehungsweise Situationsbeschreibungen ausgearbeitet und von theoriegeleiteten Essays flankiert, die sich etwa kritisch mit der Heroisierung bestimmter Berufsgruppen beschä igen oder mit der Bevorzugung traditioneller Familienformen bei den Corona-Maßnahmen.
Als Leitfaden für die Interviews dient Ulrich Becks fast in Vergessenheit geratene Theorie der „Risikogesellscha “ aus den 1980er-Jahren, derzufolge technischer Fortschritt in der Moderne immer neue Risiken schafft, die zu weiterer Modernisierung zwingen, wobei manche Bevölkerungsgruppen mehr und manche weniger unter den Folgelasten der Innovation zu leiden haben.
Sarah Lenz, Martina Hasenfratz (Hg.): Gesellscha als Risiko. Soziologische Situationsanalysen zur Coronapandemie. Campus, 311 S., € 35,95
Covid-19 lasse sich als eine Facette der „Risikogesellscha “ verstehen, lautet das Fazit.
Die Frage nach der Gefahreneinschätzung und dem persönlichen Risikoverhalten spielt folglich eine zentrale Rolle in den Porträts. Wie stehen die Befragten zu den Pandemiemaßnahmen der Regierung, wie versuchen sie sich zu schützen? Eine Studentin im Sample etwa hat zu Beginn der Pandemie einen Job in einem Supermarkt angenommen, sich aber bereits nach dem ersten Arbeitstag vom Kassendienst wieder befreien und für kontaktärmere Tätigkeiten einteilen lassen.
Eine Managerin arbeitet unbeeindruckt im Homeoffice weiter und hatte ihr Leben schon vor der Pandemie krisenstabsmäßig im Griff, inklusive Toilettenpapiervorrat, „noch bevor es die Witze darüber gab“. Die Mutter eines chronisch kranken Kindes bleibt gelassen, weil sie die Angst um ihren Sohn schon seit Jahren kennt. Ein Krankenpfleger sieht sich aufgrund seines Risikoberufs selbst als Gefahr für andere und fordert die „harte Tour“ vom Staat. Ein Ladenbesitzer hält, nachdem Bekannte in seinem Umfeld symptomlos erkrankt sind, Covid-19 für eine statistische Verirrung.
Krankenpfleger, Assistenzärztin, Student,Schauspielerin, Schülerin, Geflüchteter in einer Wohngemeinscha , Tanzlehrerin, Manager mit Arbeitsplatz in Tokio, Altenpflegerin, Verkäuferin, Malerin, Lehrerin, pensionierter Verfahrensmechaniker – das Sample der Befragten ist weit gestreut, die Lebensrealitäten und Lebensalter sehr verschieden, und doch lesen sich diese Berichte auf fast erstickende Weise ähnlich.
Das liegt zum einen an dem frühen Zeitpunkt der Interviews im April und Mai 2020, der Lockdown war da gerade ein paar Wochen alt und die Aussagen zur Pandemie fielen entsprechend unsicher und abwartend aus. Zudem kommt trotz des weiten Interviewspektrums hier nur die Mittelschicht in ihren Aussagen vor – wirkliche Extreme und Ausreißer gibt es nicht. Dass alles ähnlich klingt, liegt aber auch an der Forschungsmethode.
Diese Pandemieerfahrungen sind keine direkten Icherzählungen von Betroffenen, sondern Berichte, gefiltert und geformt durch den Blick der Soziologen und Soziologinnen, die ihrerseits als Ich im Text auftauchen und sich in ihrer Rolle als Beobachterinnen beobachten: „Ich komme mir ein bisschen wie ein Schaulustiger vor, der in eine Art Terrarium glotzt.“
Die 25 Porträts sind also auch Forschungstagebücher, Corona-Erzählungen zweiter Ordnung sozusagen. Die Rechnung geht an manchen Stellen auf, an anderen wiederum scheint es, als störten sich die beiden Perspektiven oder dämp en sich gegenseitig ab. Wie müssen wir erzählen, um mehr zu erfahren, als wir schon wissen? Diese aus narrativen Interviews gewobenen „soziologischen Geschichten“ jedenfalls sind im Ton noch viel zu zagha . Vielleicht haben wir aber auch, bereits abgestump , zu viele Corona-Erzählungen gehört und gelesen.
Der Überdruss am Thema spielt dem Buch nicht gerade in die Hände. Wichtig aber ist vor allem der Versuch, einen in Vergessenheit geratenen kritischen Diskurs über „Risiko“ wieder zu beleben. In einem der Essays im Band erinnert Michael Grothe-Hammer an Niklas Luhmann. Der Gegenbegriff zu „Risiko“ sei nicht „Sicherheit“, hat der gesagt, denn Sicherheit sei eine Fiktion. Anders als die „Gefahr“, die einem von außen zustoße, sei Risiko durch eigenes Verhalten beeinflussbar, wenn auch niemals ganz zu vermeiden. Warum wird in unserer Gesellscha Covid-19 vornehmlich als vermeidbares Risiko wahrgenommen, nicht als Gefahr?, fragt Grothe-Hammer. Auch darüber, wie „Gesundheit“ zum politischen Thema und „Krankheit“ zum Risiko geworden ist, lohnt es sich, weiter nachzudenken. ANDREA ROEDIG
GERHARD RÜHM
Epigramme und Epitaphe
RITTER LITERATUR 136 Seiten brosch. ISBN: 978-3-85415-627-7
Gerhard Rühms poetische Kalküle und sein lakonischer Humor konterkarieren den Irrglauben und Gewalt-Eskalationen heutiger Wirklichkeit. Mitreißende Sprachartistik und vom Autor entwickelte Verfahren sprachmusikalischer Transgression eröffnen Wege zu einem intensiveren, gleichsam leibbasierten Verstehen.