FALTER
Nr. 9a/15
20 Jahre EU-Mitgliedschaft Österreichs Analysen, Reportagen, Debatten und Porträts
ICH BIN EUROPA E IN FA LT E R-SON D E R H E F T
Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2488/2015
Erscheinungsort: Wien P.b.b. 02Z033405 W Verlagspostamt: 1010 Wien laufende Nummer 2479/2014
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Europa
Unsere Autorinnen und Autoren
Joseph Gepp Der Verantwortliche der Falter-Wirtschaftsseiten beschreibt den Kampf der Städte in der Europäischen Union
Katharina Gossow Die Fotografin hat den Round Table im 25hours Hotel dokumentiert. Wir danken dem Hotel für den Raum!
Sibylle Hamann Die Falter-Autorin und Publizistin bereiste ein sehr europäisches Stück Wien: den Busbahnhof in St. Marx
Anna Hazod Die Illustratorin aus Wien hat unsere Essays mit kleinen, feinen Zeichnungen elegant in Szene gesetzt
Christoph Hofinger Einer der Leiter des SORA-Instituts hat die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs erhoben und analysiert
Regina Hügli Die in Großbritannien geborene Schweizer Fotografin hat die Porträts zu unserer Serie angefertigt
Florian Klenk Der Chefredakteur des Falter hat das EU-Streitgespräch moderiert und diese Beilage konzipiert
Gerald Knaus ist einer der besten Kenner Osteuropas. Er analysiert, wie die Erweiterung der EU ins Stocken geraten ist
Dirk Merbach Der Artdirector des Falter wirkte im Hintergrund bei der gestalterischen Konzeption mit
Raphael Moser hat als Produktionsleiter dieses Magazins die Texte in Form gebracht und die Produktion gemanagt
Benedikt Narodoslawsky Der Falter-Reporter hat acht Europäer und die europäische Hauptstadt Brüssel porträtiert
Anton Pelinka Der renommierte Politologe analysiert die letzten 20 Jahre Österreichs in der Europäischen Union
Benjamin Schiemer Der Sozialforscher bei (SORA) ermittelte Zahlen, Daten und Fakten zum Thema 20 Jahre EU
Wolfgang Zwander Der Redakteur des Falter gibt einen Überblick über die wichtigsten Köpfe, die Europa geprägt haben
Editorial
Inhalt
I
Europa, eine Handreichung
n der Ukraine werden gerade die Fronten begradigt. In Griechenland herrscht Krise, und in Paris und Kopenhagen erschüttern die Anschläge muslimischer Einwandererkinder die Gewissheit, dass Freiheitsrechte in einem für alle offenen Europa garantiert sind. Der Falter hat nun – nach einer Wirtschaftsbeilage und einem Feminismus-Sonderheft – zum dritten Mal einen Anlauf unternommen, ein ThemenSonderheft zu gestalten. Mit finanzieller Unterstützung der EU-Kommission, des Bundeskanzleramts und der Gesellschaft für Europapolitik haben wir in völliger redaktioneller Unabhängigkeit dieses Heft über 20 Jahre EU-Beitritt gestaltet. Sie lesen darin Essays der klügsten politischen Köpfe, Reportagen aus den Tiefen und Höhen der Gesellschaft und einen Round Table mit vier klugen Europa-Kennern und -Kritikern. Das Heft wird von einer ungewöhnlichen FotoSerie geschmückt, die Regina Hügli für uns angefertigt hat. Viel Spaß bei der Lektüre!
Florian K lenk
Wer hat dieses Magazin gemacht? Alle Mitarbeiterinnen, alphabetisch geordnet
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Wir, die Insel Anton Pelinka kritisiert, dass Österreich noch immer nicht in Europa angekommen ist ������������� 4 Wir, die Erfolgreichen Christoph Hofinger analysiert die Daten der letzten 20 Jahre ������������������������������������� 8 Wir, in Zahlen Was hat sich in den letzten 20 Jahren verändert? Eine Falter-Info-Grafik ����������������������������������� 8 Die EU und die Städte Joseph Gepp analysiert, wie sich die Städte in einem zunehmend
wirtschaftsliberalen Europa in Stellung bringen ������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 12 EU und Schweiz Wer hat in den letzten 20 Jahren die bessere Performance hingelegt? ��������������������������������� 14 Reportage In Wien-Erdberg ist eine geheime Drehscheibe europäischer Migranten ������������������������������������������� 16 EU-Erweiterung Der Politologe Gerald Knaus über die vergeblichen Hoffnungen der Beitrittskandidaten ��� 18 Debatte Eine Schriftstellerin, ein Publizist, eine Industriemanagerin und ein EU-Kritiker streiten �������������������� 22 Stadtporträt Brüssel Wie tickt Österreichs Hauptstadt Brüssel? Ein Stadtrundgang ������������������������������������ 28 EU-Köpfe und Bücher Wichtige Europäer im Überblick. Ein Who’s who historischer Figuren �������������������� 30
Impressum Falter 9a/15 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften Gesellschaft m.b.H., Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 01/536 60-0, F: 01/536 60-912, E: wienzeit@falter.at, www.falter.at Redaktion: Florian Klenk Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.; Layout: Daniel Car, Oliver Hofmann, Dirk Merbach, Raphael Moser; Lektorat: Daniel Jokesch, Patrick Sabbagh; Geschäftsführung: Siegmar Schlager Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Diese Beilage ist eine entgeltliche Einschaltung und erscheint in Zusammenarbeit mit dem Bundeskanzleramt Österreich, der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich und der Österreichischen Gesellschaft für Europapolitik. Die inhaltliche Verantwortung für diese Beilage liegt ausschließlich bei der FALTER-Redaktion. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar
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Zur Fotoserie Die Berichterstattung über Europa hat ein Problem: Die Union wird meist nur von oben betrachtet, aus den Augen der Politiker und Machthaber. Wir haben in diesem Heft acht Menschen porträtiert, deren Leben durch die EU maßgeblich verändert wurde; Benedikt Narodoslawsky hat die Porträts von Managern, Bauern, Flüchtlingen und Beamten verfasst. Die in Wien lebende Schweizer Fotografin Regina Hügli hat die Persönlichkeiten für uns in Szene gesetzt und fotografiert
Foto: Re g i n a H ü g l i
Michael Niedermayer Vorschriften, Vorschriften, Vorschriften. Der Marchfelder Bauer hadert mit der EU. Und sieht gleichzeitig ihre Notwendigkeit uf meinen Feldern baue ich Raps, ZuA ckerrüben und Weizen an. Ich bewirtschafte 90 Hektar Ackerfläche auf konven-
tionelle Art, mit einem regulären Einkommen wird es da schon eng. Es gibt einen Strukturwandel in der Landwirtschaft, die Anzahl der Betriebe hat in den letzten 20 Jahren stark abgenommen. Aber sie ist auch vor dem EU-Beitritt schon geschrumpft. Die EU sehe ich mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Der große Vorteil ist, dass wir nun zu einem großen Markt gehören und leichter exportieren können. Aus meinem Weizen werden nicht nur österreichisches Brot, sondern auch italienische Nudeln gemacht. Österreich hat insgesamt sicher von der EU profitiert. Die Landwirtschaft hingegen nicht immer. Vor dem EU-Beitritt haben wir von Österreich direkt Ausgleichszahlungen bekommen, jetzt bekommen wir sie über
Zur Person Michael Niedermayer, 50, kommt aus Breitenlee, einem Wiener Ortsteil im Marchfeld. Schon im 18. Jahrhundert lebten seine Vorfahren hier, der Hof wurde seither von Generation zu Generation weitergegeben. Niedermayer ist verheiratet und hat vier Kinder
Protokoll: B ened i k t Narodosl awsk y
Brüssel. Der Sinn war immer, die Landwirtschaft zu stützen, weil Bauern von den Weltmarktpreisen nicht leben können. Aber eigentlich wird nicht der Bauer, sondern der Konsument damit gefördert, denn wenn der Bauer weniger für sein Fleisch oder sein Gemüse kriegt, partizipiert der Konsument daran. Vom Brot, das mit meinem Weizen hergestellt wird, bleiben mir heute vier Prozent. Den Rest verschlingen der Handel, die Bäckereien, zum kleinen Teil auch Mühlen. Als Bauer brauchst du deshalb die Ausgleichszahlungen, keiner kann seinen Betrieb mehr ohne sie wirtschaftlich führen. Um an diese Ausgleichszahlungen zu gelangen, muss ich viele Auflagen erfüllen: Wegen der Ökologie brauche ich als konventioneller Bauer seit kurzem fünf Prozent Blühfläche, also Brachen, auf denen nichts angebaut werden darf. Der Bauer lebt aber von seinen Flächen – für uns
heißt das fünf Prozent weniger Ertrag. Außerdem muss ich heute für die Ausgleichszahlungen jeden Arbeitsschritt aufschreiben, den ich mache: Wann ich säe und ernte, wie viel ich dünge, welchen Pflanzenschutz ich verwende, ob ich den richtigen Anteil an Früchten zueinander habe. Es ist eine Unzahl an Vorschriften. Ich wünsche mir, dass die Bürokratie in der EU abnimmt. Und dass wir Bauern faire Preise für unsere Produkte bekommen, damit keine Ausgleichszahlungen mehr notwendig sind und wir nicht mehr als „Subventionsempfänger“ dastehen. Denn da fühlt man sich als Bauer beschimpft. Trotzdem könnte ich mir keinen anderen Beruf vorstellen, ich bin Bauer mit Leib und Seele. Man ist fast immer draußen, es ist faszinierend, dabei zuzusehen, wie die Natur lebt. Jeder Tag ist anders und ich bin mein eigener Herr. Soweit es die ganzen Auflagen halt zulassen. F
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Europa
Wir, die Insel
Warum Österreich 20 Jahre nach dem EU-Beitritt das kleinstaatliche Denken ablegen muss A n a l y se : A n t o n P e l i n k a
A
ls die österreichische Bundesregierung im Jahr 1994 die Beitrittsverhandlungen mit der EU abgeschlossen hatte, ging es darum, im nächsten Schritt bei der Volksabstimmung eine Mehrheit für die Mitgliedschaft zu sichern. Die PR-Maschinerie der Regierungsparteien lief voll an – aber auch die der Oppositionsparteien. Die FPÖ erklärte die biologische Sauberkeit österreichischer Lebensmittel in unmittelbarer Gefahr („Schildlaus-Joghurt“), und die meisten Grünen sahen Österreichs Sonderweg („small is beautiful“) gefährdet. Die Regierung erwies sich als stärker. Und als auch die Kronenzeitung – nach langem Zögern – dem Beitritt ihren Segen gab, war eine satte Mehrheit gesichert. Doch sie war mit Verzerrungen erkauft. Die Regierungsparteien setzten – wie die Opposition – auf nationalen Egoismus, nur interpretierte sie ihn anders als dies FPÖ und Grüne taten. Die Österreicherinnen und Österreicher würden durch den Beitritt wohlhabender, ohne den Beitritt ärmer werden. SPÖ und ÖVP sicherten sich eine Mehrheit für ihre Europapolitik, in dem sie möglichst viel über Österreichs und möglichst wenig über Europas Interessen sprachen. Sie argumentierten mit Europas Beitrag für Österreich Wohlergehen– und nicht mit Österreichs Beitrag zum europäischen Projekt. Die Regierung siegte im Wettstreit national-provinzieller Interpretationen. Die Verengung der Regierungskampagne war verständlich. Ging es doch zunächst darum, das Verhandlungsergebnis, das die Regierung Vranitzky – Busek in Brüssel erzielt hatte, über die Ziellinie der Volksabstimmung zu retten. Da konnte man schon in Kauf nehmen, dass die Frage nach der Zukunft einer Neutralität, die plötzlich eingebettet war in die Maastricht-Formel einer „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspo-
litik“, lieber gar nicht erst diskutiert wurde; dass die Folgen der Freiheiten eines Binnenmarktes für das Sozialgefüge eines reichen EU-Staates wie Österreich besser unter der Aufmerksamkeitsschwelle gehalten wurden. Österreich, die „Insel der Seligen“, trat – so schien es – der EU bei, damit alles so bleibt wie es ist.
Determinanten des Beitritts
I l l us t ra t i o n : Anna Hazod
Anton Pelinka ist einer der einflussreichsten Politologen Österreichs. Er lehrt und forscht in Österreich, den USA und Ungarn. 2011 erschien von ihm „Europa. Ein Plädoyer“ im Braumüller-Verlag.
Österreichs Beitritt in die Europäische Union erfolgte unter den politischen Voraussetzungen, die auch für alle anderen Mitgliedstaaten gegolten haben und noch gelten: Die EU war ein Projekt der politischen Mitte, aus unterschiedlichen Gründen bekämpft von den Kräften an den Rändern des politischen Spektrums. Dennoch sind einige österreichische Besonderheiten zu beobachten: Die FPÖ war zur Zeit der Römischen Verträge, die Grundlage der Europäischen Gemeinschaften ab 1957, enthusiastisch für den Beitritt – wohl weil sie eine Hintertür zum Anschluss an (West) Deutschland vermutete. Das sollte sich im Vorfeld der Beitrittsverhandlungen von 1994 entscheidend ändern. Und die Grünen waren 1994 fast geschlossen gegen den Beitritt – nur um bald danach ihr Damaskus-Erlebnis zu haben. Dass die Grünen sich im Engagement für die und in der EU von niemandem übertreffen lassen wollen, ist auch ein Zeichen, dass sie in der politischen Mitte angekommen sind. Doch das eigentlich Auffällige am österreichischen Beitritt war, dass er so spät erfolgte. Und das war das Resultat von geopolitischen Rahmenbedingungen: wie Schweden und Finnland hielt der Neutralitätsstatus, der ja auch und wesentlich die Folge von Geographie war, die drei Länder davon ab, schon vor 1990 sich um einen Beitritt zu bemühen. Erst der Zusammenbruch der UdSSR gab den Weg frei.
Österreichs Beitritt war – auch hier unter Voraussetzungen, die überall in Europa zu beobachten sind – die Folge einer rationalen Einsicht politischer Eliten. Da war die enge Verflechtung von Österreichs Wirtschaft mit dem (west)europäischen Markt, die berücksichtigt werden musste. Und da war vor allem die sicherheitspolitische Überlegung: Die postjugoslawischen Kriege vor der österreichischen Haustür hatten vorgemacht, was es heißt, als Kleinstaat zu sein, einsam und allein. Besser gemeinsam als einsam – so die elitäre Logik. Doch die Vermittlung dieser rationalen Einsicht an die Gesellschaft glückte nur in Grenzen – aber immerhin. Alle Befunde zeigen, dass eine positive Bewertung von Österreichs EU-Mitgliedschaft vor allem mit einem Faktor korreliert: mit Bildung. Je höher der Bildungsgrad, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Bürgerin, einer Bürger Österreichs die Vorteile der EU höher bewerten als die Nachteile. Das ist wohl auch der Hauptgrund, dass die Grünen – deren Wählerschaft mehr als die aller anderer Parteien – von Menschen mit höheren Bildungsabschlüssen dominiert wird, so rasch ihre EU-Position gewechselt haben.
Die Rationalität der EU_Gegner Gegen Österreichs EU-Mitgliedschaft wurden und werden im Lande vor allem zwei Argumente angeführt: Die EU sei ein „neoliberaler“ Kapitalistenverein, der die Errungenschaften des Sozialstaates aushöhle und der ökonomischen Globalisierung Tür’ und Tor öffne; und, zweitens, die Union beschneide die nationale Souveränität und drohe zum zentralistischen „Superstaat“ zu werden. Dass es immer weniger Sinn macht, von „Nationalökonomie“ zu sprechen – und immer mehr von einer „Globalökonomie“, hat mit der Union eigentlich nichts zu tun: Die Globalisierung trifft China ebenso wie die USA, die Schweiz ebenso wie Japan. Die Globalisierung „passiert“. Und sie ist auch ein großer Gleichmacher – dass das Zentrum der ökonomischen Dynamik sich von Europa nach Asien verlagert hat, das bedeutet soziale und ökonomische und kulturelle Gewinne für die Gesellschaften Asiens Fortsetzung auf Seite 6
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„Die EU heißt für mich Sicherheit und Frieden. Sie hat mir die Chance gegeben, ein neues Leben anzufangen“
Foto: Re g i n a H ü g li
Abdi Aden Ali Italiener retteten dem somalischen Flüchtling das Leben. In der EU fand er die Freiheit, die es in seiner Heimat nicht gibt ls ich nach Europa kam, war für mich A alles ganz neu. Das Leben, das Essen, das Wetter. Zum ersten Mal in meinem
Leben habe ich Schnee gesehen. Die Kälte war schwierig für mich, ich habe zwei Jacken getragen. In meinem Heimatland Somalia hat es durchschnittlich 28 Grad. Die EU kenne ich, weil Soldaten aus Europa Frieden in mein Land bringen wollten. Aber sie haben es nicht geschafft. Seit 1991 gibt es in Somalia keine Zentralregierung. Eines Tages fragten mich die Rebellen der islamistischen Al-Shabaab-Bewegung, ob ich ein Spion sei. Meine Familie ist zwar muslimisch, aber ich ging nicht oft in die Moschee. Die Rebellen sagten, sie würden mich in ein Lager bringen, auf mich warte viel Geld und das Paradies. Das heißt, ich hätte für sie kämpfen müssen. Aber ich wollte nicht. Mein Vater, meine Mutter und ich haben gemeinsam entschieden, dass ich
Zur Person Abdi Aden Ali stammt aus einer Nomadenfamilie, in der es keinen Geburtstag gibt. Sein Geburtsdatum legte erst ein Arzt nach einer Untersuchung in Europa fest, demnach ist er am 4. Mai 1996 geboren. Der Somali suchte 2013 in Österreich um Asyl an und studiert nun Politikwissenschaften
P r o t o k o ll : Benedik t Narodosl awsk y
nach Äthiopien flüchte. Ohne Familie und Freunde wegzugehen, war die schwierigste Entscheidung meines Lebens. Die Reise war lange. Denn in Äthiopien konnte ich nicht bleiben, weil ich keine Papiere hatte. Wenn dich die Polizei dort erwischt, verhaften sie dich. Ich bin deshalb weiter in den Sudan geflüchtet, dann weiter nach Libyen. Ich entschied mich dafür, nach Europa zu gehen, weil ich da in Freiheit und Sicherheit leben kann. Ich traf einen Schlepper, er hat mich mit rund 80 Menschen in ein kleines Schlauchboot gesteckt. Er hat in eine Richtung gedeutet und hat uns gesagt, dort sei Italien, dort sollen wir hin. Wir fuhren los und verloren gleich die Orientierung. Der Schlepper hat uns zwei Säcke Brot und zwei Flaschen Wasser mitgegeben, bereits am zweiten Tag war alles weg. Am fünften Tag hat uns die italienische Armee aus dem Mittelmeer gerettet. Ich war
froh, dass ich überlebt habe und in Europa sicher war. Im Sommer 2013 bin ich nach Österreich gekommen. In Somalia haben wir in der Schule zwar von Kaiserin Sisi gehört, aber ich habe nicht gewusst, wo Österreich liegt. Die Caritas gab mir eine Unterkunft und einen Deutschkurs. Ich habe gerade einen positiven Asylbescheid bekommen und wohne nun in einem Studentenwohnheim in Mödling. Die EU heißt für mich Sicherheit und Frieden. Sie hat mir die Chance gegeben, ein neues Leben anzufangen. Ich wurde aus dem Meer gerettet, habe Essen, eine Unterkunft und einen Deutschkurs bekommen. Dafür bin ich dankbar. Jetzt will ich Politikwissenschaften studieren und ein berühmter Politiker werden. Dann werde ich mich in Somalia für den Frieden einsetzen. Denn das brauchen die Menschen: Freiheit und Frieden. F
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Europa
Fortsetzung von Seite 4
(und Lateinamerikas und zunehmend auch Afrikas), in denen die Alphabetisierung ebenso rasant fortschreitet wie die durchschnittliche Lebenserwartung zunimmt. Und, überhaupt: Wer den Siegeszug des Neoliberalismus beklagt, muss sich auch der Frage stellen, warum der „real existierende Sozialismus“ verschwunden ist. Dass die staatliche Souveränität überall an Bedeutung verliert, drückt sich ja auch darin aus, dass Kriege zunehmend von Nicht-Staaten geführt werden, von Al Khaida bis zum „Islamischen Staat“, der bekanntlich keiner ist. Nationale Grenzen verlieren an Bedeutung, und dass sie im Europa des Binnenmarktes und des Schengenvertrages weitgehend aufgehoben sind, ist nur Ausdruck der abnehmenden Politikfähigkeit der Staaten. Die europäische Union ist der Versuch, diese unumkehrbare Tendenz durch eine Bündelung von nationaler Staatlichkeit in transnationale Politikfähigkeit zu beantworten.
Die „Sanktionen gegen Österreich“ Mitten in die Gewöhnung an die Alltäglichkeit der EU platzte Anfang 2000 die Entscheidung der EU-14, Maßnahmen gegen Österreichs Regierung zu verhängen. Diese wohl am besten unter „diplomatischen Boykott“ einzuordnende Politik der 14 wurden nicht innerhalb der EU getroffen und hatten auch keinen Einfluss auf die Mitwirkung der österreichischen Vertreterinnen und Vertreter in den EU-Institutionen. Die Ursache der Maßnahmen war die Regierungsbeteiligung der FPÖ. Die EU-14 – im wesentlichen regiert von Konservativen (Chirac, Aznar) und Sozialdemokraten (Schröder, Blair) – hatten Grund zur Sorge: Die FPÖ schien so gar nicht in das Konzept von Europa zu passen, das die Grundlage der Union war. Immerhin war Jörg Haider für seine Aussagen bekannt, die den Nationalsozialismus relativierten. Und die FPÖ war eine Partei, die von ehemaligen Nationalsozialsten für ehemalige Nationalsozialisten gegründet worden war. Der Regierung Schüssel – Riess-Passer gelang es, die Maßnahmen gegen die Re-
Dass die Medien EU-Politik als Außenpolitik definieren, spiegelt die herrschende Befindlichkeit
Illustration: Anna Hazod
gierung in „Sanktionen gegen Österreich“ umzudeuten. Und der dadurch ausgelösten patriotischen Schulterschluss verhinderte, dass hierzulande nicht über den Charakter der FPÖ und damit über die Begründung der Maßnahmen diskutiert wurde, sondern über die Beleidigung, die das Land Mozarts und Grillparzers erdulden musste. Die Regierung hatte die nationale Deutungshoheit über diesen Konflikt erreicht. Obwohl 2000 – von Regierung und einem Großteil der Medien inszeniert – die nationale Empörung kochte, hatte diese Aufgeregtheit keine erkennbaren, längerfristigen Folgen für Österreichs Beziehung zur EU. ÖVP und SPÖ und Grüne blieben dem europäischen Projekt verbunden, und auch wenn von einer Europa-Begeisterung in der Gesellschaft nicht gesprochen werden konnte, kam es zu keiner relevanten Bewegung, an deren Spitze die FPÖ Österreich aus der Union hätte herausführen können.
Sind „wir“ Europa? Österreich hat sich in der EU als wenig auffälliges Mitglied gezeigt: Zumeist vertritt die Regierung im Rat Positionen, die im europäischen „mainstream“ liegen. Die österreichischen Abgeordneten sind im EUParlament in ihre jeweiligen Fraktionen integriert und dort oft auch erfolgreich: Hannes Swoboda und Johannes Voggenhuber hatten, Ulrike Lunacek und Othmar Karas haben ein gesamteuropäisches Profil – aber eben, durchaus im Sinne des Parlaments, nicht als Repräsentantinnen und Repräsentanten ihres Landes, sondern ihrer Fraktionen. Dass die Medien EU-Politik zumeist als Außenpolitik definieren, spiegelt die herrschende Befindlichkeit: Spanische oder polnische Politik werden Österreich als „außen“ und nicht als „innen“ wahrgenommen. Die Haltung, die 1994 in der Öffentlichkeit geherrscht hat – was bringt die EU uns, hat sich nicht wirklich verändert. Das Land will aus seiner EU-Mitgliedschaft einen (vor allem ökonomischen) Nutzen ziehen. Und diese Erwartung ist natürlich le-
gitim. Aber die logische Ergänzung wird kaum mitgedacht: Welchen Vorteil hat die Union von Österreich, einem der reichsten Mitgliedsländer? Die Funktionen und Strukturen der EU bieten jeden Grund, dieses Europa der Union in ein österreichisches Wir-Gefühl mit einzuschließen; eine europäische Identität zu entwickeln, die einer österreichischen nicht entgegengesetzt ist, sondern diese ergänzt; die EU als einen –wenn auch unvollendeten – Bundesstaat zu sehen, in dem die Entscheidungsgewalten zwischen der Union und den einzelnen Staaten aufgeteilt sind; eine Föderation, in der alle Mitglieder als Folge eines politischen und wirtschaftlichen und kulturellen Synergieeffekts Vorteile zu erwarten haben, weil sie den anderen Vorteile einräumen. Diese an sich logische Identifizierung mit der Union gibt es (noch?) nicht. Am Beispiel der Asyl- und Migrationspolitik kann dies beobachtet werden: Der Binnenmarkt und der Schengen-Vertrag sichern den freien Personenverkehr. Und daher sollten Personen, die in ein Land der EU einreisen, nicht nach dem Recht des Landes, sondern nach dem Recht der Union behandelt werden. Dies ist aber politisch nicht durchzusetzen. Denn die Staaten, die – vor allem weil sie nicht an der Schengen-Außengrenze liegen – wehren sich gegen eine Vergemeinschaftung des Asyl- und Migrationsrechtes. Denn dann müsste es zu einer gerechten Verteilung von Lasten kommen – und diese nicht die weit überproportional bei Staaten wie Griechenland, Italien und Spanien liegen. Zu den Staaten, die sich gegen eine solche Europäisierung erfolgreich zur Wehr gesetzt haben, zählt Österreich. In einem Land, das große Probleme hat, seine Bundesländer dazu zu bringen, sich bei der Aufnahme von Asylsuchenden innerösterreichisch solidarisch zu verhalten, fürchten die Parteien, dass eine Zustimmung zu einer EU-Zuständigkeit für Asyl- und Migrationsfragen bei Wahlen höchst unpopulär wäre. Vermutlich haben diese Parteien recht: Die Bereitschaft, die Union als Solidargemeinschaft zu sehen, ist in Österreich krass unterentwickelt. Österreich ist in Europa noch nicht angekommen. F
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„Für mein Unternehmen hat die EU eine wesentliche Bedeutung“
Foto: R egina Hügli
Ursula Simacek Die Managerin sieht in der EU nicht nur ein Friedensbündnis, sondern auch einen Wirtschaftsmotor für ihre Firma eine Mutter ist gebürtige Tschechin. Zum Thema Grenzen sind mir meiM ne Kindheitserlebnisse noch lebhaft in Er-
innerung. Wir haben meine Großeltern in Tschechien oft besucht. Die Fahrt dorthin war beschwerlich, denn damals gab es ein anderes Reisen – vor allem in den Osten. Bei den Grenzkontrollen wurde unser Auto mehr als einmal praktisch auseinandergenommen und es kam auch zu Leibesvisitationen. Heute passiert man ohne ernsthafte Erschwernisse und Kontrollen die Grenzen. Und das Umrechnen vom Schilling in andere Währungen von damals gibt es zum Glück auch nicht nicht mehr. Durch die EU gestaltet sich vieles einfacher. Für mich persönlich ist die EU vor allem ein Friedensbündnis, das für Stabilität, Sicherheit und die Wahrung der Menschenrechte sorgt. Seit der Gründung der EU sind sechs Jahrzehnte vergangen und es hat in der Zeit in keinem Mitglieds-
Zur Person Ursula Simacek, 40, studierte Publizistik und legte die Meisterprüfungen für die beiden Handwerke Schädlingsbekämpfer und Gebäudereiniger ab. Seit 2006 ist sie Geschäftsführerin des Familienunternehmens Simacek, seit 2012 Vizepräsidentin der Industriellenvereinigung Wien. Die Managerin hat eine Tochter
Protokoll: Benedik t Narodosl awsk y
land Krieg gegeben. Das gibt mir ein sehr gutes Gefühl. Ich bin überzeugte Europäerin. Auch für mein Unternehmen hat die EU eine wesentliche Bedeutung. Wir sind im internationalen Facility-Management tätig und beschäftigen europaweit 7000 Mitarbeiter aus über 30 Nationen; die meisten davon kommen aus den EUMitgliedstaaten. Wir wachsen vor allem im CEE-Raum und sehen die Region Süd-Ost-Europa als strategischen Wachstumsmarkt. Der Outsourcing-Bereich wird dort anders gedacht. Bei uns werden nur Teillösungen fürs Facility Management vergeben, in den CEELändern gibt es hingegen Gesamtvergaben. Das ist für uns wirtschaftlich sehr interessant, da wir alle fachgerechten Services für eine Immobilie bieten – von der Reinigung über die Bewachung bis hin zu Schädlingsbekämpfung und Wartungsangelegenheiten. Mittlerweile ist unser „Österreich
Marken Export“ mit über 20 Standorten in Europa vertreten. Sechs Jahrzehnte lang hat die EU positives Wirtschaften mit sich gebracht und kann auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken. Ein Europa ohne die EU kann ich mir nicht mehr vorstellen. Ein Kontinent mit über 400 Millionen Menschen ist ein großes politisches und ökonomisches Thema. Hätte jedes Mitgliedsland seine eigene Position, wie könnten wir da gegen Länder wie die USA, Brasilien, Indien oder China bestehen? Es gibt überall Vor- und Nachteile, in der EU überwiegen die Vorteile. Wenn ich aber etwas ändern könnte, dann würde ich mir anschauen, was im Verwaltungsapparat der EU notwendig ist und wie wir schneller zu Ergebnissen kommen. Gewisse Entscheidungen ziehen sich ja sehr lange, da wäre es schön, wenn wir den Formalismus beschleunigen könnten. F
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Europa
Staaten haben die EU gegründet: Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Sie bildeten 1957 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Die erste Erweiterung fand mit dem Beitritt von Dänemark, Irland und Großbritannien im Jahr 1972 statt. 1981 folgte Griechenland, 1986 Spanien und Portugal, 1995 Österreich, Finnland und Schweden, 2004 und 2007 die ehemaligen Ostblock-Staaten inklusive Slowenien und 2013 Kroatien
2/5
92 %
Insgesamt leben 416.000 Angehörige anderer EU-Staaten (ohne Kroatien, das erst im Juli 2013 zur EU beigetreten ist) in Österreich. Das entspricht einem Anteil von 41,4 Prozent aller ausländischen Staatsangehörigen. Den größten Anteil haben seit Anfang 2010 die Deutschen
Vom Gesamtbevölkerungszuwachs Österreichs innerhalb eines Jahrzehnts (1.1.2003 bis 1.1.2013: plus 351.587 Personen) gehen 92 Prozent auf das Konto der positiven Wanderungsbilanz (+322.125). Der Rest ist mit dem Geburtenüberschuss erklärbar.
der Ausländer in Österreich kommen aus einem anderen EU-Staat
157.793
Absolute Anzahl der deutschen Staatsbürger in Österreich 1.1.2013
59.000
Ca. Anzahl der rumänischen Staatsbürger in Österreich
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EU-Erweiterungen gab es von 1957 bis 2013 bevö l k e r u n g
528.950
Personen beträgt das Bevölkerungswachstum in Österreich zwischen 1995, dem Jahr des EU-Beitritts, und dem Jahr 2013
71,3 % 68,9 %
Importanteil 2013 aus den EU-28
3,8 %
Einen derartig geringen Ausländeranteil verzeichnete Österreich im Jahr 1981
Im Laufe der 1980er-Jahre stieg die Zahl nur sehr langsam an. Mit der starken Zuwanderungswelle um 1991 nahm auch die Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit zu. 1994 betrug die Ausländerzahl bereits rund 665.100, ihr Anteil lag bei 8,4 Prozent. Ab Mitte der 1990er-Jahre stagnierten Zahl und Anteil weitgehend, seit dem Jahr 2001 ist wiederum ein stärkerer Zuwachs zu verzeichnen.
11,9
%
Exportanteil 2013 in die EU-28
16,9
So enorm war der Anteil der Einwanderung am Bevölkerungswachstum zwischen 2001 und 2013
Prozentpunkte Anstieg der Importquote (1995–2013), von 35,8 % auf 52,7 %
Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft 2013 an der Gesamtbevölkerung
800 %
So hoch ist die Steigerung der ausländischen Direktinvestitionen seit dem EU-Beitritt
1 Die Zuwanderung ist in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern am meisten durch „Migration aus anderen EU-Ländern“ geprägt (2012)
In keinem anderen EU-Land ist die Zuwanderung so stark durch Migration aus anderen EU-Ländern geprägt wie in Österreich. Dies geht aus der aktuellen Ausgabe des Internationalen Migrationsausblicks der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor. OECD-weit sind die Migrationsströme nach der weltweiten Wirtschaftskrise eine Zeit lang zurückgegangen. Die Zuwanderung in die OECD-Länder ist 2010 zwar das dritte Jahr in Folge gesunken, hat aber in den meisten Ländern 2011 wieder zu steigen begonnen.
Erfolg ohne Erfolgs Der „Ederer-Tausender“ sollte die Österreicher von der Europäischen Union überzeugen. Trotz beeindruckender Analyse: Christoph Hofinger
I
m heißen Sommer des Jahres 1992 montierten ein paar junge Falter-Redakteure das Dach eines rostigen Suzuki-Jeeps ab und fuhren ins Weinviertel, um am Beispiel der 6000-Seelen-Gemeinde Wolkersdorf zu beschreiben, wie ein Beitritt zur „EG“ Österreich verändern würden. Haupterkenntnis unserer Expedition, die Andrea Kästle und ich im Falter 32/1992 zusammenfassten: Die Bevölkerung grummelte schicksalsergeben – die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Orts sahen dagegen den Beitritt als logischen Schritt, der nur formal das Unaus-
weichliche festschrieb. Österreich war bereits eng mit Europa verwoben und steckte mittendrin in den Entwicklungen, die sich durch den Beitritt zur späteren EU höchstens beschleunigen, aber nicht fundamental verändern sollten. Damals prophezeite uns ein Landwirt, dass
von den 174 bäuerlichen Betrieben in Wolkersdorf „in zehn Jahren die Hälfte zusperren würde“ – tatsächlich: knapp 60 landwirtschaftliche Betriebe hat die Gemeinde heute noch. Doch das „Bauernsterben“ war schon vorher in vollem Gang: Öster-
reichweit hatten in den 15 Jahren vor dem Beitritt fast 80.000 landwirtschaftliche Betriebe zugesperrt, in den 15 Jahren danach gaben weitere 66.000 auf. Und vielleicht wären es ohne Beitritt sogar mehr: Denn Franz Fischler konnte als Landwirtschafts-Kommissar ein europäisches Fördersystem etablieren, das für nicht wenige Kleinlandwirtschaften und Bergbauern die Rettung war. Das mit der damaligen „EWG“ bereits eng verflochtene Österreich hat seine Chancen als EU-Mitglied genutzt. So haben sich laut Wirtschaftskammer die jährlichen Di-
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Um 3,6
Prozentpunkte stieg der Anteil der erwerbstätigen Personen an der Bevölkerung zwischen 15 und 64 Jahre seit 1995 bis 2013 von 68,7
auf 72,3 an. Verantwortlich für die Steigerungen sind Frauen. Bei den Männern verzeichnet die Statistik einen Abfall von 78,6 auf 77,1 (1,5 Prozentpunkte), bei den Frauen einen Anstieg von 58,9 auf 67,6 (8,7 Prozentpunkte).
1,2
Prozentpunkte beträgt der Anstieg des Anteils der Arbeitslosen an den Erwerbspersonen (15–74 Jahre) zwischen 1995 und 2013
Das Volumen des österreichischen Außenhandels hat sich seit 1995 von 42,2 Milliarden Euro auf 125,8 Milliarden Euro erhöht.
40 %
aller internationalen Betriebsansiedlungen in Österreich (2007–2010) stammen von deutschen Unternehmen
4,7 %
Durchschnittliche jährliche Inflationsrate zwischen 1970 und 1994
Durchschnittliche jährliche Inflationsrate seit EU-Beitritt
Euro Regionalförderungen von der EU an Österreich zwischen 2007 und 2013
1,15 Mrd
Euro Regionalförderungen geplant von der EU an Österreich zwischen 2014 und 2020
26 Mrd
124 Mrd
Menschen wurden pro Jahr seit dem EU-Beitritt mehr beschäftigt
0,2 1,2 Mrd 6,5 Mrd
300 %
1,6 Mrd
w i r ts c h aft
16.000 Die Exporte Österreichs sind nach dem EU-Beitritt dreimal so hoch wie davor
Zwischen
und
Euro zahlt Österreichs im Jahr durchschnittlich netto an die EU
Euro Regionalförderungen von der EU an Ö sterreich zwischen 1995 und 1999
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1,3 Mrd
Ca. Euro brachte der EU-Beitritt Österreich an kumuliertem zusätzlichen Wirtschaftswachstum
1,9 %
FALTER
Euro mehr Direktinvestitionen lukrierte Österreich zwischen 1994 und 2013. Sie stiegen von rund 13 auf
137 Milliarden Euro
Euro
jährlich investierten ausländische Unternehmen in Österreich seit dem EU-Beitritt. In den drei Jahren vor dem Beitritt waren es im Durchschnitt nur circa 1,3 Milliarden Euro pro Jahr.
Ca. 50 % aller ausländischen Investitionen von Österreich flossen nach Ost- Mitteleuropa
Österreich ist größter Investor in Slowenien, Kroatien, Serbien und Bosnien-Herzegowina
Halbiert Das Außenhandelsdefizit
Das strukturelle Außenhandelsdefizit, das Österreich seit den 1970er/1980er-Jahren im weltweiten Warenaustausch auswies, hat sich von gut acht Milliarden Euro im Jahr vor dem EU-Beitritt (1994) auf zuletzt etwas über vier Milliarden Euro halbiert (2013).
88,2 Mrd
beträgt die Erhöhung des Volumens der Importe zwischen 1995 und 2013
geschichte Wirtschaftsdaten ist das nicht gelungen rektinvestitionen aus der EU in den 17 Jahren bis 2012 auf rund 2 Milliarden fast verdreifacht. Österreichs Außenhandel hat sich in zwei Jahrzehnten nominell verdreifacht – und dabei waren österreichische Exporteure so erfolgreich, dass das Außenhandelsdefizit statt rund einem Fünftel nur mehr ein Dreißigstel des Handelsvolumens ausmacht. Das wird im Wolkersdorf-Mikrokosmos durchaus sichtbar: Die von dort in alle Welt exportierenden Betriebe (darunter der Süßwarenkonzern Manner) beschäftigen heute um die Hälfte mehr Beschäftigte als in den frühen 1990er-Jahren.
Nicht nur wirtschaftlich sind wir vernetzt, auch die Migrationsströme haben sich geändert: Seit 2010 sind Deutschen die größte Gruppe in Österreich wohnhafter „Ausländer“. Bei den heurigen Wiener Bezirksvertretungs-Wahlen sind fast 180.000 EUBürger wahlberechtigt – zehnmal so viele wie noch 1996. Wien und Österreich als Ganzes sind für viele Europäer ein Anziehungspunkt für ihre Aufstiegshoffnungen geworden, aber vor lauter Zuwanderungsskepsis hält sich der gebührende Stolz darüber in engen Grenzen.
Österreich ist also seit 1995 um einiges wohlhabender geworden, zum Großteil durch eigene Kraft, aber auch als Folge des EU-Beitritts – bloß fühlt es sich für die Menschen nicht so glamourös an. Es gab seit 20 Jahren keine längere Strecke, ohne dass kleinere und größere Krisen langen Schatten auf die heimische Lebenswelt geworfen hätten. Es gibt mehr Arbeitslose denn je, Tendenz steigend. Die Lebenszufriedenheit derer, die noch einen Job haben, ist geringer: Laut Arbeitsklima Index waren Fortsetzung nächste Seite
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EUROPA
Um 10,6 ha
ist die Durchschnitt sgröße landwirtschaftlicher Betriebe zwischen 1995 und 2010 gestiegen. Sie beträgt heute 42,4 Hektar. Von
1980 auf 1990 stieg die Durchschnittsgröße nur um 2,4 Hektar von 24,8 auf 27,2 Hektar.
65.800
landwirtschaftliche Betriebe haben seit dem Jahr 1995 geschlossen
1995 gab es noch 239.100 landwirtschaftliche Betriebe. 2010 waren es nur mehr 173.300. In den 15 Jahren davor war die Zahl landwirtschaftlicher Betriebe um 79.000 gesunken.
2/3 Beträgt der Anteil der Touristen aus der EU an der Ankunft ssteigerung ausländischer Touristen zwischen 2000 und 2013
4,6 Mio von 6,8 Mio (= Anstieg der gesamten Ankünfte aus dem Ausland) kamen aus EU-Herkunftsländern. Das ist auch mehr als die Zunahme der Ankünfte aus dem Inland (plus 3,6 Mio.).
Fortsetzung von Seite 9
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,26 EURO
fließt pro eingezahltem Euro Forschungsgelder von der EU an Österreich zurück
Österreich zahlt deutlich weniger ein, als es aus dem Forschungstopf wieder ausbezahlt bekommt. Die Rückflussquote bei Forschungsgeldern ist von anfangs 70 auf 126 Prozent gewachsen. Das heißt, pro eingezahltem Euro fließen 1,26 Euro zurück.
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Prozentpunkte
Das Image der EU hat sich in Österreich im Vergleich zu vor zehn Jahren etwas verschlechtert. Der Anteil an Menschen, die ein positives Bild von der EU haben, ist um fünf Prozentpunkte gesunken, der Anteil jener, die ein negatives haben, hingegen um acht Prozentpunkte gestiegen. Am besten war es am Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2009: 34 Prozent der Österreicher hatten damals ein positives Image der EU, 27 Prozent ein negatives.
Christoph Hofinger brachte kurz nach der Reportage „Wolkersdorf? Europa!“ ein Interview mit FPObmann Jörg Haider, in dem dieser sich erstmals gegen den EU-Beitritt aussprach, in die Falter-Redaktion. Als diese sich nicht zum Abdruck durchringen konnte, beschloss er, seine Laufbahn als Journalist zu beenden und Politikforscher zu werden. Als Kolumnist sind er und der Falter einander seit dieser Zeit treu geblieben.
Benjamin Schiemer, Sozialforscher bei SORA, ermittelte gemeinsam mit Christoph Hofinger Zahlen, Daten und Fakten zum Thema 20 Jahre EU
95.259 Weniger angezeigte Straft aten in Österreich 2012 im Vergleich zu 2003
44 %
Die Anzeigen fielen von 643.286 auf 548.027 zurück.
Um 21,9
Prozentpunkte ist die Wahlbeteiligung an EU Wahlen zwischen 1996 und 2014 gesunken Anteil der Touristen aus der EU an der gesamten Ankunft ssteigerung (Inland und Ausland) zwischen 2000 und 2013
Die Ankunftssteigerungen in Österreich seit 2000 wurden zu 44 Prozent aus EU-Ländern, zu 21 Prozent aus dem restlichen Ausland und zu 35 Prozent aus dem Inland erzielt.
Wahlbeteiligung 1996: 67,3 %, 1999: 49,4 %, 2004: 42,4 %, 2009: 46,0 %, 2014: 45,4 %
47,3 66,64 % PROGNOSEN
ALLGEMEINES
der Österreicher stimmten am
12. Juni 1994 für den EU-Beitritt.
Jahre wird das Durchschnitt salter 2050 in Europa betragen. Das ist um 8,4 Jahre mehr als 2005
Es braucht eine neue Erzählung, wie Europa in 20 oder 30 Jahren aussehen kann
2014 nur mehr 34% der Beschäftigten mit ihrem Leben insgesamt „sehr zufrieden“, 1997 waren es noch 43%. Die Ungleichheit zwischen höheren und niedrigen Einkommen wächst weiter (auch wenn nicht mehr so schnell wie vor dem Beitritt) und ist auf dem Höchststand der Nachkriegszeit. Die Österreicherinnen und Österreicher haben seit dem Beitritt zur EU zwar gute Episoden, aber keine glückliche Epoche erlebt. Ein kurzes Hoch Ende der 1990er-Jahre, volle Auftragsbücher 2006 bis 2008, das war’s schon. Und ständiger Begleiter ist die nagende Angst der im Grunde reichen Gesellschaft, die sich fürchtet, ihr Wohlstandsniveau nicht halten zu können. Die meisten Österreicher akzeptieren unsere spezifische Nachkriegs-Variante der Demokratie – föderal, konsensorientiert und sozialpartnerschaftlich –, weil diese sich nach dem zweiten Weltkrieg zeitgleich mit steigendem Wohlstand für breite Teile der Bevölkerung etabliert hat. (Dort, wo Demokratisierung mit Wohlstandseinbrüchen zusammenfiel – so wie im Russlands Jelzins –, hat sie den schwersten Stand.) Die österreichischen Eliten haben in den
1990ern versucht, die EU-Integration als Sequel der Nachkriegszeit – politisch-ökonomische Erfolgsgeschichte, die zweite – zu rahmen: Das neue EU-integrierte Österreich bringt jetzt halt noch jedem was extra. Diese Erzählung ist gleichzeitig wahr und gescheitert: Rein ökonomisch ist der „Ederer-Tausender“ – jährlich 1000 Schilling mehr für alle Familienerhalter – zwar eingetreten, aber die Story von der EU, die bei uns Milch und Honig fließen lässt, fühlt sich in Zeiten wachsender Ungleichheiten und Abstiegsgefährdungen unwirklich an. Es braucht daher eine neue Erzählung. Eine die davon handelt, dass Österreich in und mit Europa die Werte, die seinen Bewohnern wichtig sind, umsetzen kann. Die ein Bild davon zeichnet, wie ein Europa in 20 oder 30 Jahren aussehen kann. Und damit die erzählerische Kraft nicht alles kompensieren muss, was im Konstrukt Europa hinkt, ist es Zeit für Änderungen erstens in der Europäischen Verfassung und zweitens in der Verfasstheit des politischen Bewusstseins Europas. Einerseits brauchen die Europäer zumindest ein Amt, das sie direkt wählen (und auch wieder abwählen) können, am besten den oder die Kommissionspräsidenten. Andererseits müssten sie Europa endlich als stark und konsequent im Verfolgen der Bürger-Interessen erleben: indem die EU zum Beispiel die obszönen Steuergeschenke an Konzerne wie Apple oder Amazon abstellt und dem Kapital die Fluchtmöglichkeiten nach Offshore konsequent abdreht, um es stattdessen in die Zukunft des Kontinents zu investieren. Eine wenigstens ansatzweise heroische EU bei diesem Kampf beobachten zu können, würde die erkaltete Liebe der Österreicher für Europa vielleicht neu entflammen lassen. Dann fiele ihnen leichter, was die niederösterreichische Landesregierung seinerzeit den Wolkersdorfern, die mehr über Europa wissen wollten, mittels Broschüre verordnete: das „Projekt Europa mit einer positiven Grundstimmung anzupacken“. F
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„Junge Slowaken ziehen her, sie sehen den Ort als grüne Umgebung von Bratislava“
Foto: R egina Hügli
Gabriele Nabinger Die Bürgermeisterin des Grenzorts Kittsee sieht ihre Gemeinde aufblühen. Gleichzeitig sei aber die Kriminalität gestiegen ittsee liegt zwischen Wien und Bratislava. Als ich 1985 hierhergekommen K bin, war hier das Ende der Welt. Im Kalten
Krieg haben die Einwohner Flüchtlinge auf den Feldern sterben sehen, die von Soldaten auf Wachtürmen abgeschossen wurden. Heute gibt es keine Grenze mehr. Als sie fiel, gab es eine Euphorie im Ort. Wir sind heute eine gemeinsame Region, das ist eine gute Sache. Viele fahren nun in die Slowakei einkaufen, weil die Supermärkte rund um die Uhr offen haben, auch am Wochenende. Und die Slowaken kommen zu uns einkaufen, im Einkaufszentrum werden die Einheimischen manchmal sogar auf Slowakisch angesprochen. Seit wir in der EU sind, haben wir einen enormen Wirtschaftsaufschwung erlebt. Das Burgenland zählte zu den Ziel1-Gebieten der EU, von 1996 bis 2013 hat das Land eine Milliarde Euro bekommen. Früher gab es nicht einmal eine Umfah-
Zur Person Gabriele Nabinger, 58, studierte zuerst Französisch und Russisch, danach noch Medizin. Seit 1985 arbeitet sie im Krankenhaus Kittsee. Die Sozialdemokratin engagierte sich politisch in der Ärztekammer, saß siebeneinhalb Jahre im Gemeindeamt von Kittsee und ist seit zweieinhalb Jahren Bürgermeisterin des Ortes. Sie hat drei Töchter Protokoll: Benedik t Narodosl awsk y
rung, heute hat das Dorf an der Grenze einen Autobahnanschluss, einen Bahnhof mit stündlichen Zugverbindungen nach Wien und ein Einkaufszentrum. Es sind Radwege entstanden, in den Leitha-Auen gibt es Paddelwege. Das ist schon ein deutlicher Impulsschub. Im Spital arbeite ich mit Kollegen aus Ungarn, der Slowakei und Österreich zusammen, es gibt dort überhaupt kein Problem. Aber in Kittsee gibt es nach wie vor Ressentiments. Als die Grenze gezogen wurde, haben Kittseer Bauern ihrer Gründe in der Tschechoslowakei verloren. Jetzt, wo es keine Grenze mehr gibt, gehören sie jemand anderem. Das Misstrauen ist nach der Grenzöffnung noch größer geworden, weil die Kriminalität zugenommen hat. Rasenmäher werden aus Carports gestohlen, man kann sein Rad nicht mehr draußen stehen lassen, sonst ist es weg. Die Polizei
sagt zwar, es sei hier bei weitem nicht so schlimm wie in Wien, trotzdem fühlen sich die Leute nicht mehr wohl. 2013 gab es im Burgenland 10.256 strafbare Handlungen, 40 Prozent davon in unserem Bezirk Neusiedl. Früher waren die Eingangstore offen, heute sind sie zu. Kittsee ist heute die am raschesten wachsende Gemeinde Österreichs. Junge Slowaken ziehen her, sie sehen den Ort als grüne Umgebung von Bratislava. Ihre Kinder gehen in unseren Kindergarten, er ist mittlerweile der größte des Burgenlandes. Das ist schon eine Challenge. So wie auch das Ortsbild: Die Slowaken wohnen in Wohnungsgenossenschaften. Die großen Siedlungsbauten passen nicht in unser Ortsbild, wir haben deshalb einen Bebauungsstopp verordnet. Wir wollen unsere dörfliche Struktur mit den Einfamilienhäusern erhalten und kein Vorort von Bratislava werden. F
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Europa
Die Städte und ihre Europas Städte begegnen Brüssel immer öfter mit Misstrauen. Sie fürchten etwa, dass die EU die kommunale
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ie Müllabfuhr muss privatisiert werden. Die städtischen Volkshochschulen dürfen keinen Zuschuss vom Rathaus mehr bekommen, weil dies private Bildungseinrichtungen angeblich diskriminiert. Die Mietpreisbremsen bei Wohnungen müssen abgeschafft werden. Und wenn ein Konzern am Stadtrand mittels FrackingMethode nach Schieferöl bohren will, dann muss die Gemeinde zustimmen. Derart düster schätzt eine aktuelle Studie des deutschen Handels- und Investitionsexperten Thomas Fritz die Situation ein, in der sich europäische Städte wiederfinden würden, nachdem die großen derzeit geplanten EU-Handelsabkommen in Kraft getreten sind, das TTIP mit den USA und das CETA mit Kanada (siehe auch Gegenüberstellung). Im Auftrag des globalisierungskritischen Vereins Campact hat sich der Experte angeschaut, wie konkret sich beide Vertragswerke auf die Unabhängigkeit der norddeutschen Großstadt Hamburg auswirken würde. Desaströs, so das Fazit des 26-seitigen Papiers. Die Kommune würde ihre Selbstständigkeit an Großkonzerne und die Unwägbarkeiten des Weltmarkts verlieren. Fritz warnt vor „Risiken, die Bürgerinnen und Bürger nicht bereit sind zu tragen“. Er ist bei weitem nicht der Einzige, der Europas
Bericht: J o se p h G e p p
I l l us t r a t i o n : Anna Hazod
Handelsabkommen kritisch und Gefahren für die Kommunen heraufdämmern sieht. Nicht nur in der globalisierungskritischen Aktivistenszene vieler europäischer Staaten hat sich diese Ansicht längst durchgesetzt, auch darüber hinaus. Die Kronen Zeitung etwa kampagnisiert hierzulande gern gegen das TTIP-Abkommen oder die angeblich drohende Privatisierung der Trinkwasserversorgung. Gegen Letztere unterschrie- Joseph Gepp ben im Rahmen einer europaweiten Bürger- ist Wirtschafts petition im Jahr 2013 über zwei Millionen redakteur des Falter
Menschen. Beim Thema Wohnbau wiederum duelliert sich die rot-grüne Stadtregierung von Wien gemeinsam mit anderen Hauptstädten in Europa derzeit mit der Brüsseler EU-Kommission. Es geht um die künftige Rolle des geförderten Wohnbaus auf dem Kontinent, man fürchtet dessen Zurechtstutzung. Was ist da los? Wovor genau fürchten sich Europas Kommunen und Bürger? Und wie stehen die EUInstitutionen dazu? Wer diese Fragen beantworten will, muss erst einmal zurück in die Frühzeit des vereinten Europa, ins Jahr 1957. Und er muss verstehen, was dieses Europa ein Stück weit ausmacht: ein offener Wirtschaftsraum, also der freie Fluss von Waren und Dienstleistungen durch alle Mitgliedsländer. Doch der bringt manchmal auch Probleme mit sich. Jeder, der in Europa ebendiese Waren und Dienstleistungen anbietet, muss gleichberechtigt sein, so sehen es die grundlegenden Verträge der Union vor. Dieses Prinzip ist ein Kernbestandteil der Integration, die die Gemeinschaft wirtschaftlich – und dadurch auch politisch – zu einem starken Ganzen machen soll. Konkret unterschrieben die Gründungsstaaten der späteren EU im Jahr 1957 die Römischen Verträge. Damit die freie Zirkulation der Dienstleistungen und Waren fair abläuft, heißt es darin, darf kein Staat seine Güter subventionieren. Jede staatliche Unterstützung, die Europas „Wettbewerb verfälscht“ und „den Handel zwischen Mitgliedsstaaten beeinträchtigt“, ist „mit dem Binnenmarkt unvereinbar“ – und somit verboten, heißt es im Artikel 107 des EUGrundlagenvertrags. Wenn sich seither ein Wirtschaftstreibender in Europa diskriminiert und vom Wettbewerb ausgeschlossen fühlt, darf er sich an die EU-Kommission wenden, jene Behörde, die über die Einhaltung der Verträge wacht. Die Beamten entscheiden dann in den Wettbewerbs-Causen. Auf den Web-
seiten des offiziellen Europa füllen ihre Beschlüsse Tausende von Seiten. Dass das Wettbewerbsregime der EU über die Jahrzehnte zu einem machtvollen Instrument geworden ist, das zeigt beispielsweise Daniel Seikel, Politologe der gewerkschaftsnahen deutschen Hans-Böckler-Stiftung, in einer Studie aus dem Jahr 2011. Als Beispiel wählte der Forscher die Liberalisierung der deutschen Landesbanken – auch wenn diese nicht mit kommunalen Dienstleistungen zu tun haben, so zeigen sie doch, wie das Prinzip funktioniert: Der damalige EU-Binnenmarktkommissar Mario Monti ging konsequent gegen die Privilegien der staatseigenen Institute vor, nachdem sich private Banken bei ihm über Wettbewerbsnachteile beschwert hatten. Geschickt überwand Monti dabei selbst den Widerstand der mächtigen deutschen Bundesregierung. Seikel ortet in seiner Studie einen „liberalisierungs- und integrationsfreundlichen Aktivismus der Kommission“: Sie handle „proaktiver, als man es sich von einer neutralen Behörde erwarten würde“. Doch zurück zu den kommunalen Dienstleistungen: Daran, dass auch eine städtische Müllabfuhr oder ein Wasserwerk je den Wettbewerb verfälschen könnte, dachten die Gründerväter Europas 1957 nicht. Zwar könnte es theoretisch dazu kommen – denn wenn irgendjemand in der EU eine private Müllabfuhr gründet, hat diese ja potenziell einen Wettbewerbsnachteil gegenüber der staatlich finanzierten. Doch solche Szenarien schienen in den 1950ern absurd. Zu selbstverständlich war es, dass die so genannte Grundversorgung immer in staatlichen Händen bleiben würde. Auch heute noch ist sie vom sogenannten EU-Beihilfenrecht strikt und dezidiert ausgenommen. Doch es gibt Grenzfälle: Was ist zum Beispiel, wenn ein städtisches Wasserwerk nebenher Aufträge für private Industriebetriebe erledigt? Was, wenn ein geförderter Bauträger einer Stadt einmal ein frei finanziertes Hochhaus errichtet? Genau solche diffizilen Fragen, solche Grenzfälle lassen Aktivisten in Europa fürchten, dass die Spielräume alles Öffentlichen stets geringer werden – egal, ob in Sachen TTIP, Wohnbau oder bei der angeblich drohenden Wasserprivatisierung.
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Angst vor Europa Wasserversorgung liberalisiert oder ihre Sozialwohnungen auf den Markt wirft. Ist die Sorge berechtigt?
Der Konflikt um Letztere brach beispielsweise im Jahr 2013 aus. Es ging darum, unter welchen Umständen europäische Gemeinden europaweit ausschreiben müssen, wenn sie städtische Versorgungsleistungen von Privaten erledigen lassen wollen. Die neuen Regeln sollten jedoch nicht gelten, wenn die Leistung sowieso von der Stadt selbst erbracht wird, also wenn beispielsweise das städtische Wasserwerk für die Versorgung zuständig ist. Allerdings: Was ist überhaupt ein städtisches Werk? Darf an ihm beispielsweise ein Privatunternehmen beteiligt sein? Es sei nie die Absicht gewesen, die Wasserver-
sorgung zu privatisieren, sagte damals der zuständige Binnenmarktkommissar Michel Barnier. Dennoch nahm die Kommission bald den Bereich Wasser komplett aus der umstrittenen Richtlinie; derart heftig war der Widerstand ausgefallen. Oder beim sozialen Wohnbau. Der Ursprung der Geschichte liegt hier in den Niederlanden im Jahr 2005, als sich private Immobilieninvestoren an die damalige Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes wandten. Wohnbaugenossenschaften, die mit staatlicher Unterstützung geförderte Wohnungen errichten, würden vom Staat bevor-
zugt, argumentieren die Investoren – und das verschaffe ihnen Wettbewerbsvorteile. Sozialer Wohnbau, so der Standpunkt, dürfe künftig nur den Ärmsten zugutekommen; alles andere verzerre den europäischen Wettbewerb. In der Folge senkten die Niederlande im Jahr 2010 die Einkommensobergrenzen für den sozialen Wohnbau. Konsequenz: Nur noch die Ärmsten durften im Gemeindebau wohnen. Über eine halbe Million Niederländer verloren das Recht darauf – und die sozialen Wohnbauten drohten zu Armenghettos zu verkommen. In diesem Fall war es allerdings nicht die EU-Kommission, die ihren Willen durchsetzte. Denn der damaligen liberal-konservativen Regierung der Niederlande kam die Vorgabe aus Brüssel gerade recht, um die unpopuläre Maßnahme durchzuführen – und den schwarzen Peter elegant nach Brüssel zu schieben. „Die Kommission schreibt keine Einkommensgrenzen für den sozialen Wohnbau vor“, sagt heute Ricardo Cardoso, Sprecher der Kommission. „Uns ist es nur wichtig, dass Gelder, die für den sozialen Wohnbau vorgesehen sind, nicht für kommerzielle Aktivitäten zweckentfremdet werden.“
Werden die Städte von der EU bedroht? Oder suchen sie nur nach einem Sündenbock?
Die Episode mit dem sozialen Wohnbau zeigt: Das Beihilfenrecht kann auch als Vorwand missbraucht werden. In Frankreich beispielsweise gab es, wie in den Niederlanden, einen ähnlichen Versuch privater Investoren, gegen den sozialen Wohnbau vorzugehen. Doch die französische Regierung trat im Gegensatz zur niederländischen entschlossen dagegen auf, und prompt wurde der Fall ad acta gelegt. Fazit: Es gibt wohl Grenzfälle, wo bestimmten Mischformen von kommunalen und privaten Dienstleistungen in Konflikt mit dem EU-Beihilfenrecht geraten. Allzu schnell dient Brüssel aber auch als Sündenbock, den man für Schlechtes verantwortlich machen kann, zum Beispiel den erschwerten Zugang zu Sozialwohnungen. Dass manche Politiker ein doppeltes Spiel betreiben und zu Hause anders tönen als auf europäischer Ebene, dieses Phänomen ist auch in Österreich nicht unbekannt. Das Abkommen TTIP zum Beispiel wird hierzulande gern kritisiert, bis hinein in die Reihen der konservativen ÖVP. Auf europäischer Ebene jedoch hält Österreichs Regierung das Mandat für die Verhandlungen unverändert aufrecht. Denn wer weiß schon genau, was in Brüssel passiert? F
Das TTIP und die Städte – eine Gegenüberstellung am Beispiel Hamburg Mietpreisbremsen Die Campact-Studie sagt:
Die Investitionsschutz-Klausel im TTIP kann die sogenannte „Mietpreisbremse“ gefährden, welche Mieterhöhungen in Stadtvierteln beschränken soll. Denn diese Bremse beeinträchtigt die Gewinnerwartungen privater Immobilieninvestoren. Die Kommission sagt:
Öffentliche Monopole und Dienstleistungen können trotz TTIP gestaltet werden, wie Staaten und Kommunen das wünschen. Von den TTIP-Verhandlungen sind öffentlich finanzierte Gesundheits- und Sozialleistungen dezidiert ausgenommen – das gilt etwa auch für Maßnahmen bei Wohnungsmieten. Städte haben also das volle Recht auf Mietpreisbremsen.
Volkshochschulen
Fracking
Konzerne könnten juristisch gegen kommunal finanzierte Volkshochschulen vorgehen, wenn sie sich durch sie sich diskriminiert fühlen. Zum Beispiel könnte der Sprachschulkonzern Berlitz die Förderung der Hamburger Volkshochschulen als „indirekte Enteigung“ anfechten.
Der Mineralökonzern ExxonMobil könnte im Süden der deutschen Hansestadt Hamburg Fracking betreiben. Derzeit haben die Behörden der Firma eingeräumt, dort nach Schiefergas zu suchen. Würde man eine Förderung desselben später nicht erlauben, dann könnte ExxonMobil die entgangenen Gewinne einklagen.
Die Campact-Studie sagt:
Die Kommission sagt:
TTIP bringt keine Gefahr für die Bildung in Europa, weil sämtliche EU-Handelsabkommen die öffentlich finanzierte Bildung ausschließen. In der Praxis heißt das, dass ausländische Institutionen TTIP nicht nutzen können, um zur öffentlich finanzierten Bildung jedweder Art Zugriff zu erlangen.
Die Campact-Studie sagt:
Die Kommission sagt:
Die Frage, ob die Suche nach Schiefergasreserven erlaubt wird oder nicht, bleibt auch in Zukunft ausschließlich in der Entscheidung jedes einzelnen EU-Mitgliedsstaates bzw. der Vereinigten Staaten von Amerika. Nichts am TTIP-Abkommen wird daran etwas ändern. F
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Europa
„Österreich hängt die Schweiz ab“ Was nutzt die EU-Mitgliedschaft der heimischen Wirtschaft? Der Nationalbank-Experte Franz Nauschnigg untersucht dies anhand der Unterschiede zwischen Österreich und der Schweiz
I n t e r v iew : J o se p h G e p p
F
ranz Nauschnigg leitet die Abteilung Europäische Angelegenheiten in der Österreichischen Nationalbank. Im Gespräch vergleicht er die Wirtschaftsentwicklung in Österreich mit jener in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten – und zeigt damit, was uns der EUBeitritt ganz konkret gebracht hat.
Falter: Herr Nauschnigg, wie hat sich Österreich als EU-Mitglied in den vergangenen Jahrzehnten wirtschaftlich entwickelt – im Vergleich zur Schweiz als Nicht-EU-Mitglied? Franz Nauschnigg: Um diese Frage zu beantworten, muss man weit zurückgehen. Seit den 70er-Jahren ist Österreich etwas rascher gewachsen als die Schweiz. Das lag damals noch daran, dass Österreich stets ärmer war – es war also ein Aufholeffekt beim BIPWachstum. Seit der Anfang der 90er-Jahre allerdings geht die Wachstumsentwickelung in Österreich und in der Schweiz stark auseinander: Österreich hängt die Schweiz ab. Das liegt insbesondere an zwei Faktoren. An welchen? Nauschnigg: Erstens haben sich die Schweizer 1992 in einer Volksabstimmung gegen die Betritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ausgesprochen – Österreich hingegen ist nacheinander in den EWR, die EU und schließlich in die Wirtschafts- und Währungsunion eingetreten und hat den Euro eingeführt. Und zweitens hat Österreich von der Ostöffnung stärker profitiert als die Schweiz. Österreich hatte also einen Wachstumsschub. Nauschnigg: Richtiger ist, die Schweiz hatte eine Wachstumsschwäche, wohingegen Österreich normal gewachsen ist. Wir müssen dabei auch bedenken, dass in der Schweiz viele Jahre lang Debatten über die europäische Ausrichtung des Landes stattgefun-
I l l us t r a t i o n : Ann a H a z o d
„Österreich ist als Eurostaat vor Währungskrisen geschützt. Für die Schweiz gilt das nicht“
den haben. So etwas schafft Verunsicherung. Viele Schweizer Firmen sind lieber gleich nach Vorarlberg oder nach Baden-Württemberg gegangen, statt in der Schweiz zu bleiben. Dann wussten sie, sie sind auf der sicheren Seite, im EUBinnenmarkt. Wirtschaftsraum und Binnenmarkt sind große Wörter. Was konkret am EU-Beitritt hat Österreichs Unternehmen geholfen und damit das Wachstum angekurbelt? Nauschnigg: Im Rahmen der EU profitiert Österreich vor allem von Handelsabkommen mit anderen Staaten. In einer großen Gemeinschaft kann man besser Konditionen ausverhandeln und hat mehr Verhandlungsmacht als beispielsweise die Schweiz. Außerdem fallen Grenzkosten für Österreich weg, zum Beispiel Zölle. Die Schweiz hat diese Mankos zwar erkannt und versucht, auf dem Weg sogenannter bilateraler Verträge Zugang zum EU-Binnenmarkt zu erhalten. Diese Mühen spiegeln sich auch tatsächlich im Wachstum wider, das nach dem Jahr 2000 angezogen hat, als ebendiese Verträge unter Dach und Fach waren. Trotzdem blieb viel Unsicherheit über die künftige Europastrategie der Schweiz. Österreichs Engagement im Osten gilt gemeinhin als eine Erfolgsgeschichte, die nicht nur auf den EU-Beitritt zurückzuführen ist. Da spielen auch Faktoren wie die geografische Nähe und die gemeinsame Geschichte hinein. Wie hätte ein österreichisches Ost-Engagement nach der Wende ohne EU-Beitritt ausgesehen? Nauschnigg: Wohl bei weitem nicht so durchschlagskräftig. Österreich dient traditionell als eine Art Brückenkopf zwischen Ost und West – doch diese Funktion wäre wahrscheinlich zum Gutteil weggefallen. Unsere Nachbarn im Osten sind ja allesamt der EU beigetreten, sie hätten also den Brückenkopf Österreich als NichtEU-Land nicht benötigt. Als Standort für die Osteuropa-Headquarters internationa-
ler Konzerne etwa wäre Österreich sicher viel weniger attraktiv gewesen. Ist der Zugewinn an Wachstum, den Österreich infolge des EU-Beitritts genießt, auch beim normalen Bürger auf der Straße angekommen? Oder spiegelt er sich nur im Wertgewinn irgendwelcher Aktien wider? Nauschnigg: Vorsicht, das ist eine andere Frage. Die Verteilungsfrage hängt mit innerösterreichischen Faktoren zusammen, etwa mit Steuern. Man kann sich das wie einen Kuchen vorstellen – dass er insgesamt größer wird, sagt noch nicht, wer welches Stück bekommt. Allgemein lässt sich sagen, dass die Wirtschaft sicher stärker vom BIP-Wachstum profitiert hat als die Arbeitnehmer. Das zeigt sich zum Beispiel an der Entwicklung der Lohnquote, also dem Anteil der Löhne und Gehälter am Gesamteinkommen im Land. Wie sind Österreich und die Schweiz durch die Krise gekommen? Nauschnigg: Beide Länder haben sie relativ gut bewältigt. Im Europavergleich war der Einbruch in der Schweiz in den Jahren 2008 und 2009 etwas schwächer. Das liegt an einer krisenresistenteren Wirtschaftsstruktur als beispielsweise in Österreich. So verfügen die Schweizer etwa über mehr hochwertige Pharma- als über Stahlindustrie. Auch hat sich die Schweiz relativ gut aus der Krise herausgewurstelt – allerdings um den Preis, dass sie mit hohen Interventionen den Wechselkurs stabilisieren musste. Was bedeutet das? Nauschnigg: Man muss auch bedenken, dass Österreich als Eurostaat vor Währungskrisen geschützt ist – für die Schweiz gilt das nicht. Sie musste also ihre Franken gegen Euro wechseln, damit der Kurs des Franken nicht zu hoch wird und die Wirtschaft nicht unter hohen Preisen für ihre Produkte leidet. Diese Politik des stabilisierten Wechselkurses hat die Schweiz vor wenigen Wochen aufgegeben. Die Schweizer Zentralbank hat nun riesige Euroreserven in ihrer Bilanz – und die verlieren gegenüber dem Franken an Wert. Allein dieses Jahr könnte der Verlust, abhängig von der weiteren Frankenkursentwicklung, meiner Schätzung zufolge höher sein als in Österreich die Kosten der Probleme mit der Hypo Alpe Adria. F
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„Ich habe den Eindruck, dass man die EU als überdisziplinierende Mutter wahrnimmt, die ihr Kind einschränkt, anstatt es sich entfalten zu lassen“
Foto: Re g i n a H ü g l i
David Starzl Dank der EU kann der deutsche Student in Österreich die Uni besuchen. Nun überlegt er, für immer in Wien zu bleiben ch habe eine Weile in Berlin gelebt und wollte dann dort Filmwissenschaft stuIdieren. Aber um in Deutschland studieren
zu können, was man will, muss man ein sehr gutes Abiturzeugnis haben. Für das Fach Filmwissenschaft hätte ich einen Notenschnitt von 1,9 gebraucht, deshalb bin ich nicht reingekommen. In Österreich kann ich im Prinzip studieren, was ich will. Schon lange bevor ich hergekommen bin, hat mich die Mentalität in Wien gereizt. Erst habe ich hier Filmwissenschaft studiert, dann bin ich zur Psychologie gewechselt – das Auswahlverfahren dafür hab ich geschafft. Ich bin sehr dankbar und froh, dass ich hier studieren kann, und kann mir definitiv vorstellen, dauerhaft in Wien zu bleiben. Man liest zwar davon, dass sich Österreicher darüber aufregen, dass Deutsche ihnen ihre Studienplätze wegnehmen, aber ich persönlich habe noch keine direkten
Zur Person David Starzl, 24, machte sein Abitur 2009 im bayrischen Augsburg. Nach einem Aufenthalt in Berlin zog er 2011 nach Wien, um erst Filmwissenschaften zu studieren, und wechselte im Wintersemester 2013 nach bestandener Aufnahmeprüfung zum Studienfach Psychologie
Protokoll: B ened i k t N a r o d o s l a ws k y
Anfeindungen mitbekommen. Wenn es die Chance gibt, in Österreich zu studieren, sollte man jedenfalls auch nicht uns Studenten dafür kritisieren, dass wir diese nutzen. An der Europäischen Union ist mir sympathisch, dass man versucht, staatliche Grenzen zu überwinden und eine verbindende europäische Identität zu etablieren. Dass man länderübergreifend studieren kann, ist für mich ein Aspekt davon. Ich sehe mich als Europäer, als Teil einer Gemeinschaft mit gemeinsamen Werten, die man vertritt. Etwa Meinungsfreiheit, Pressefreiheit oder den Versuch, die Gleichwertigkeit für alle Menschen zu gewährleisten – also egal, welchem Geschlecht, welcher Hautfarbe oder welcher Religion man angehört. Aber das „Fremdeln“ zu überwinden, ist nicht leicht. Jedes Land hat seine eigene Kultur und Sprache, die zu einem ge-
wissen Grad die Identität seiner Bewohner formt und die ebenfalls bewahrt werden will. Vielleicht könnte das Gemeinschaftsgefühl durch häufigere staatenübergreifende Projekte, Programme und Events gepusht werden. Außerdem habe ich den Eindruck, dass man die EU oft eher als überdisziplinierende Mutter wahrnimmt, die ihr Kind einschränkt, anstatt es sich entfalten zu lassen. Ich glaube, wenn das europäische Volk mehr direktes Mitspracherecht bekommen würde, könnte dieses Gefühl ein wenig relativiert werden. Was mir an der EU momentan missfällt, sind zum Beispiel die maßlosen Subventionen für die konventionelle Landwirtschaft … Vor der letzten EU-Wahl habe ich mich durchaus informiert, war dann aber letztlich doch nicht wählen. Ich konnte oder wollte mich zu lange nicht konkret festlegen und hab das dann mit der Briefwahl etwas verpeilt. F
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Europa
In Erdberg liegt die Ein bislang unbekannter Busbahnhof in Wien ist ein abenteuerlicher Schauplatz europäischer Freizügigkeit
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ur Begrüßung pfeift der Wind. Man steigt aus dem Bus, steht auf einem Parkplatz, wie in einem Windkanal. Über dem Kopf donnert der Durchzugsverkehr auf der Südosttangente. Rechts das Gitter eines mehrere Stockwerke hohen Parkhauses und ein Klo (Benützung: 50 Cent). Links Mistkübel und ein Bauzaun, denn die Tangente wird eben saniert. Vor dem Imbiss, der „Barney’s Bus Stop“ heißt, hängt eine Lichterkette, davor wacklige Heurigenbänke, es gibt Leberkässemmel, Jägermeister und einen TV-Bildschirm mit einem Schi-Langlaufrennen.
Reportage: S ib y l l e Hamann
Ist das Wien? Ein Koreaner, eine Amerika-
nerin würde es nicht erkennen. Im Warteraum, einem schmucklosen blauen Containerbau, hängen ein Werbeplakat aus Zagreb und eine Weltuhr mit der aktuellen Uhrzeit von Paris. Ein Schild weist den Weg zum Club Danube („Fitness und Racket“), ein anderes zur Pizzeria Peccino. Ein Plakat verrät, dass vor ein paar Monaten der Zirkus da war. Doch von Wien sieht ein ratloser Neuankömmling, Rollkoffer in der einen, Stadtplan in der anderen Hand, erst einmal nur die trostlose Erdbergstraße. Der Vienna International Bus Terminal (VIB) ist auf den meisten Stadtplänen gar nicht eingezeichnet. Der Hintereingang der U3-Station versteckt sich gut. Nun aber steht auf dem hässlichen Parkplatz unter der Tangente eine schöne Frau. „Die Welcome-Atmosphäre ist nicht ideal, ich weiß“, sagt Claudia Pich. Frau Pich hat schwarze Locken, wache Augen und einen scharfen Blick für das Wesentliche. Sie ist für den öffentlichen Auftritt des Familienunternehmens Blaguss zuständig, das den VIB betreibt. Dass man überhaut jemanden hat, der sich um PR kümmert, ist ziemlich neu. „Wir dachten immer, dieser Ort interessiert eh keinen“, lächelt Frau Pich offensiv. Vielleicht ändert sich das in genau diesem Moment? Der VIB hätte Interesse jedenfalls verdient. Ist er doch ein Knoten, der ganz Europa zusammenhält. 425 Linienbusse fahren hier jede Woche ab, sagenhafte 1,6 Millionen Passagiere steigen jährlich ein und aus. Von Erdberg kommt man nach London und Vilnius, nach Rom und Istanbul.
Illustration: Anna Hazod
Sybille Hamman ist freie Journalistin und Autorin des Falter. Im ResidenzVerlag erschien ihr Buch „Saubere Dienste“ über das Leben von ausländischen Putzfrauen in Wien
Alle Phasen der europäischen Vereinigung haben sich an diesem Ort eingeschrieben, und alle Wellen der europäischen Migration. Vor allem aber ist dieser Ort, seit jeher, das Tor zum Balkan. Es ist Sonntagnachmittag, und eben ist Mira Janicevic mit zwei großen Taschen aus Belgrad angekommen. Seit 30 Jahren lebt sie in Wien, putzt in einer Arztpraxis, hat hier zwei Söhne großgezogen und inzwischen fünf Enkelkinder. In Belgrad hat sie die Schwester besucht und Blumen aufs Grab der Eltern gestellt. Früher habe man die neunstündige Fahrt jede Woche gemacht, erzählt sie, doch jetzt kommen die Kinder schon lang nicht mehr mit. Allein fährt sie noch einmal im Monat. Fast immer um dieselbe Zeit, fast immer mit demselben Chauffeur. Vor dem wartenden Bus nach Sofia, der Motor läuft schon, verabschiedet sich ein schickes Pärchen, das eine Fernbeziehung führt, sie Kellnerin, er Elektriker, alle zwei, drei Wochen besucht man einander übers Wochenende. Routiniert wuchten sie die Rollkoffer in den Bauch des Busses, ein Scherzchen noch, ein Kuss. Daneben macht ein junger Mann mit Nickelbrille und Rasta-Mütze, Matej heißt er, einen hastigen letzten Zug an seiner Zigarette. Er fährt gleich heim zur Mama nach Subotica. In Floridsdorf wohnt er bei seiner Schwester und macht einen Deutschkurs, um die Aufnahmeprüfung auf die Wiener Filmakademie zu schaffen. In ein paar Tagen wird er wieder hier sein, mit Essen in Tupperdosen im Gepäck. Hört man diesen Menschen zu, verliert der VIB mit einem Schlag seine Unwirtlichkeit. Wird zu einem beinahe heimeligen Ort, der Woche für Woche mit vertrauten Gesichtern, Routinen, Gewohnheiten aufgeladen wird. Im Leben der Wiener Arbeitsmigranten ist er ein Fixpunkt – egal, wie viel sich rundherum änderte. Während die Busse Jahr für Jahr bequemer wurden, wuchsen die Kinder auf. Während die Busse Bord-WCs bekamen, verstellbare Fußstützen und WLAN, wurde aus dem „NachHause-Fahren“ schleichend etwas anderes, das man besser mit „die Verwandten besuchen“ beschreibt. Rundherum tobte der Kroatien-Krieg, der Bosnien-Krieg, der Kosovo-Krieg, es gab
ethnische Säuberungen, die NATO bombardierte Serbien, der Frontverlauf erzeugte Umwege, doch die Busse fuhren weiter. Um in ihre nebeneinanderliegenden Dörfer zu gelangen, mussten serbische und kroatische Bosnier zeitweise verschiedene Routen nehmen, über das jeweils eigene ethnische Territorium. Doch viele haben auch in jener Zeit ihren Lieblingsplatz im Bus behalten. Besonders beliebt ist jener ganz hinten in der Mitte, wo man die Beine ausstrecken kann. Sie haben ihre gewohnten Sitznachbarn, ihr Jausenritual. Es gibt Routen, auf denen traditionell geschwiegen, und solche, auf denen stets gelacht und geredet wird. Manchmal kommen heute pensionierte Chauffeure vorbei, wenn ihr ehemaliger Bus abgefertigt wird – um ihren ehemaligen Stammfahrgästen kurz Hallo zu sagen. Dass die vier Fahrkartenschalter für ExJugoslawien draußen im Freien sind, die Schalter für Westeuropa hingegen im geheizten Innenraum des VIB, ist demnach keine Diskriminierung, sondern eher ein Zeichen besonders enger Verbundenheit: „Die brauchen keine Beratung, die kennen den Fahrplan auswendig“, erklärt Pich. Man kann sagen: Mit den zigtausenden Kilometern, die die Arbeitsmigranten in diesen Bussen zurücklegten, mit den Beziehungen, die sie pflegten und dem Geld, das sie hin- und hergetrugen, haben sie dafür gesorgt, dass Europa zusammenwuchs. Lange bevor es Schengen gab, die Zollunion und den freien Warenverkehr. Fritz Haberfellner hat vieles davon miterlebt.
Graue Locken, ausladender Bauch, goldene Halskette, zupackende Hände, schneller Schmäh: Haberfellner saß zwanzig Jahre lang am Lenkrad. Fuhr einst durch die dreifachen Schlagbäume am Eisernen Vorhang und durch das gespenstische Niemandsland zwischen Ost und West. Und begleitete die Öffnung, die mit den Einkaufstouristen begann. Mit Schaudern erinnert er sich an die gierigen Österreicher, die er per Bus nach Soporon brachte – „um zehn am Vormittag waren die Geschäfte schon so ausgeräumt, dass für die Einheimischen nichts mehr übrig war.“ An die Pensionistin, die zehn Kilo Butter unter ihrem Sitz verstaute, „weil die Butter so billig war“; an die Fußbodenheizung dachte sie nicht. Ein paar Jahre später zog die Karawane dann in die umgekehrte Richtung, und die Ungarn rafften in Österreich alles an Elektronik zusammen, was sie kriegen konnten. Die Händler fuhren direkt an den Bushaltestellen vor, bauten Türme aus Videorekordern auf und verkauften direkt vom Anhänger herunter. Heute haben große Teile Europas den Euro, es gibt keinen Zoll mehr und keine
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Mitte Europas Mangelwirtschaft. Aber noch immer verraten die Gepäckabteile der Busse, wo es Preisgefälle gibt, und wo der europäische Warenverkehr seine Mängel und Lücken hat. Zum Beispiel ist es in vielen Balkanländern riskant, über Amazon einzukaufen – Buchkuverts schauen wie Wertgegenstände aus und werden daher oft entwendet. Man lässt also lieber an eine österreichische Adresse liefern und sich die Ware per Bus bringen. Gern werden in Wien Winterreifen mit abgefahrenem Profil verladen – sie erzielen in Serbien gute Preise, weil dort kein Mindest-Profil vorgeschrieben ist. Warum aber werden Waschmaschinen, Kaffee und Waschpulver transportiert, wo doch Saturn, Billa und Spar überall in Osteuropa Filialen haben? Viele Pendler sind fest davon überzegt, dass die Qualität der Produkte dort schlechter ist – trotz gleicher Produktnamen, trotz identischer Verpackungen.
Fotos: Heribert Corn
Auch über die Personenfreizügigkeit kann
man am VIB etwas lernen. Die bedeutet nämlich nicht, dass man ohne Pass reisen kann. „Check-in nur mit gültigem Reisedokument“, steht auf einem in Plastik eingeschweißten A4-Zettel neben der Glastür, daneben der Stempel des Innenministeriums. Beinahe jeden Tag stehen genau an dieser Stelle Menschen, die hoffen, per Bus ohne Visum weiterzukommen. Meist afrikanische Asylwerber, die anderswo in Europa Verwandte haben. „Die müssen wir alle wegschicken“, erklärt Pich. „Der Buschauffeur haftet persönlich dafür, dass niemand illegal an Bord ist, im Extremfall müsste er dafür sogar ins Gefängnis.“ Frei bewegen hingegen dürfen sich Bürger aller Schengen-Länder, also auch Bettler aus Rumänien und Bulgarien. Die erkennt man an den Plastikschlapfen und am fehlenden Gepäck. In Sofia, berichten Passagiere, sei es üblich, die Fahrgäste informell zu sortieren, und den Roma Plätze in den letzten Reihen zuzuweisen. In Wien hingegen ist man um nüchterne Distanz bemüht. „Wer ein Ticket kauft, ist ein Passagier, der Rest geht uns nichts an.“ Haberfellner sitzt heute nicht mehr am Lenkrad. Irgendwann reichte es ihm. Lissabon, Moskau, Italien – am liebsten Italien! – hin, retour, wochenlang auf der Straße, eine Nacht hier, ein Nacht dort, von einem Hotelzimmer ins nächste, er konnte kaum genug davon kriegen. Bis zu jenem Moment, als er mitten der Nacht in seinem eigenen Bett aufwachte, das Klo in seiner eigenen Wohnung nicht fand, gegen eine Kastentür stieß. Und darüber erschrak, dass seine Ehefrau im gemeinsamen Bett lag. „Da hab ich beschlossen: Es ist genug“, grinst er. Seither lenkt Haberfellner nicht
mehr den Bus, sondern den Terminal, lotst seine Fahrer durch den Stau, sorgt dafür, dass die Busse ordentlich gewartet werden. Seine Frau ist immer noch bei ihm. Jetzt schaut er auf die Uhr, streift die Jacke über, er muss rasch hinunter, denn gleich fährt Frankfurt ab, dann Budapest, dann Pozarevac. Es ist Ehrensache, dass der Chef jeden Bus persönlich verabschiedet. Der Chauffeur nach Budapest ist Ungar, jener nach Pozarevac ein serbischstämmiger Österreicher, das ist praktisch für den Umgang mit örtlichen Behörden. „Tricat tri“, lässt sich Haberfellner die Passagierzahl bestätigen – er übt nebenher Fremdsprachen – und geleitet ein verirrtes japanische Pärchen hinüber zum Budapest-Bus. Seit Haberfellner nicht mehr fährt, hat sich auf Europas Straßen viel verändert. Verwegen ist da gar nichts mehr. Alle Lenkerzeiten werden heute elektronisch aufgezeichnet, viereinhalb Stunden fahren, dann 45 Minuten Pause, so lautet die Voschrift; nach neun Stunden Fahren muss man neun Stunden ausruhen. Fünf Wochen rückwirkend kann der Chip mit diesen Daten kontrolliert werden. Fahrer sind immer zu zweit unterwegs, Pinkel- und Rauchpausen gibt es längst nicht mehr, das gemeinsame nächtliche Pleskavica-Essen an der serbischen Raststätte gehört der Vergangenheit an. Papierfahrscheine werden ebenfalls bald abgeschafft – auf mehreren Strecken sind bereits elektronische Tickets in Betrieb, die dem Chaffeur per Pieps stets genau sagen können, welcher Passagier noch fehlt.
Der Vienna International Busterminal wurde 2007 eröffnet. Hier verkehren Buslinien von Blaguss und 48 anderen Unternehmen im Verbund Eurolines, 22.000 Busse pro Jahr. Topdestinationen sind Serbien und Bosnien.
Inhaber ist die Firma Blaguss. Paul Blagusz, ein ungarischsprachiger Hirtensohn aus Oberpullendorf, bringt 1928 als Lohnfuhrwerker Bauern mit ihren Produkte zum Wiener Naschmarkt. In den Fünfzigerjahren erweitert sich das Und auch die Reisenden verändern sich. Längst Geschäftsfeld um fahren nicht mehr nur Pendler mit dem burgenländische Bus, immer mehr Jugendliche, Studieren- Arbeitspendler aus de, Touristen kommen dazu, aus ganz Euro- Ausflügler. 1976 pa, Asien, Übersee. Befeuert durch Online- werden „GastarbeiterliReiseportale, spricht sich jede neue Rou- nien“ nach Jugoslawien te schnell herum. Zu Stoßzeiten platzt der eingerichtet, ebenso Terminal bereits aus allen Nähten. „Wir „Bäderbusse“ an die spüren, dass der Fernbusverkehr überall in Adria. 1987 KooperatiEuropa boomt, insbesondere in Deutsch- on mit der ungarischen land“, sagt Pich. „Immer mehr Menschen Volanbus, seit der haben kein Auto mehr, Bahnfahren ist kom- Ostöffnung fährt pliziert, und Billigflüge uncool.“ man nach Bulgarien, Insofern offenbart Erdberg auch die blin- Mazedonien, Rumänien den Flecken der europäischen Verkehrspoli- und Polen. Seit 2014 tik. Jahrelang hat man den Bedarf nach ei- Kooperation mit der nem billigen, einfach zugänglichen Trans- deutschen „Flixbus“
portmittel übersehen. Bis heute scheitert die EU daran, ein gemeinsames Bahnnetz samt übersichtlichem Buchungssystem aufzubauen. Unterschiedliche Schienenbreiten und nationale Eitelkeiten blockieren den grenzüberschreitenden Zugverkehr, immer mehr Nachtverbindungen werden eingestellt. Und in Wien baute man einen Zentralbahnhof – uns vergaß, dass es nicht nur
ins Burgenland, sondern auch nach Südosteuropa praktisch keine vernünftigen Zugverbindungen mehr gibt. Ein moderner Umsteigeterminal für Busse war auf dem riesigen, neu geplanten Zentralbahnhofgelände jedoch nie vorgesehen. Bösartig könnte man sagen: Man hat Pendler und Arbeitsmigranten bei der Verteilung öffentlicher Ressourcen und Flächen wieder einmal übersehen. Und sich, wie so oft, drauf verlassen, dass sie sich schon irgendwie privat organisieren werden. Und genau das haben sie ja auch. Der VIB ist hundertprozentig privat. Er ist kein Ergebnis architektonischer Planung, ambitionierter Wettbewerbe und öffentlicher Förderung, sondern, eher zufällig, in einer Nische entstanden, für die niemand anderer Verwendung hatte. Das schlauchförmige, 8000 Quadratmeter große Grundstück unter der Tangente gehört der Asfinag. Weil die Lücke nicht einmal eine Adresse hatte, nannte man sie „Erdbergstraße 200A“. Feste Bauwerke dürfen hier gar nicht errichtet werden. Aber es ist wie mit vielen Schmuddelkindern: Man gewöhnt sich an sie, irgendwann kann man sie sich gar nicht mehr anders vorstellen. Und wenn jemand anderer sie hässlich findet, wird man alles tun, um sie zu verteidigen. „Nicht optimal“, nennt Norbert Kettner, der Obmann von Wien Tourismus, heute den Terminal; „nicht attraktiv genug“, sagt Josef Bitzinger von der Wirtschaftskammer; „einer Weltstadt unwürdig“, gibt auch Firmenchef Thomas Blaguss zu; und die Politik wälzt schon länger Pläne, ihn abzusiedeln. Nur Claudia Pich sagt dazu nichts. Sie lässt ihren Blick beinahe liebevoll über die Mistkübel gleiten, über das Gitter des Parkhauses, hinüber zu dem Schild, das vor Taschendieben warnt. Wenn erst einmal die Tangenten-Sanierung fertig ist und der Bauzaun wegkommt, wird man die „WelcomeAtmosphäre“ optimieren, verspricht sie. „Offener“ soll der Terminal werden, „mehr Farbe“ bekommen, richtige Perrons, Beschriftungen in Deutsch und Englisch, ein durchgehendes Leitsystem. Auch für „Barney’s“ Imbiss, mit der baumelnden Lichterkette, kann sich Pich einiges vorstellen. Sie sieht halt vieles, das Neuankömmlinge nicht sehen. Die Geschichten. Verborgene Qualitäten, die man erst auf den zweiten Blick erkennt. Dann schaut sie hinauf zur Tangente, der Wind pfeift, über dem Kopf donnert der Durchzugsverkehr, man spürt die Vibrationen. Doch sogar die Unterseite einer Autobahn hat einen Vorteil. Man wird nie nass. F
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Wenn die Nachbarn um Einlass bitten Was Österreich gelang, bleibt anderen verwehrt: mehrere Balkanstaaten und die Türkei warten noch immer auf ihren EU-Beitritt. Warum ihre Hoffnungen enttäuscht werden und was das für unsere Zukunft bedeutet
A n a l y se : G e r a l d K n aus
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n der Ostgrenze der EU herrscht Krieg. Hunderttausende sind auf der Flucht. Krieg herrscht auch entlang der Grenze des Beitrittskandidaten Türkei. Auch dort Millionen Vertriebene. In Südosteuropa, dem Kriegsschauplatz der 90er-Jahre, wird heute nicht gekämpft, immerhin. Aber auch auf dem Balkan sind tausende Menschen in Bewegung. Im Kosovo beherrscht der Massenexodus einer zunehmend verzweifelten Bevölkerung im ärmsten Land der Region die Medienberichterstattung. Soziale Spannungen wachsen in der ganzen Region, wo alle Länder ärmer sind als Griechenland. Gleichzeitig werden Regierungen in der Region autokratischer, nimmt der Druck auf Journalisten zu, von Skopje über Belgrad bis Ankara. Fragt man vor diesem Hintergrund in Brüs-
sel und in europäischen Hauptstädten nach, was die EU machen könnte, um in diesem „anderen Europa“ Stabilität zu sichern, Menschenrechte zu verteidigen und Spannungen – in und zwischen Ländern – abzubauen, dann kommt das Gespräch schnell auf die „europäische Perspektive“ dieser Länder. In der Türkei werden Journalisten eingeschüchtert? „Wir könnten Kapitel 23 öffnen“, lautet der Vorschlag namhafter Experten, darunter ein finnischer Friedensnobelpreisträger, „dann könnten wir mit Ankara besser über Menschenrechte sprechen.“
I l l ust r ati o n : A n n a H az o d
Gerald Knaus ist Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI). Er arbeitete in Bosnien fünf Jahre lang für verschiedene NGOS und internationale Organisationen und ist Associate Fellow am Carr Center for Human Rights Policy der Harvard University Kennedy School of Governance in den USA.
Im Kosovo droht eine soziale Krise in Massenverzweiflung umzuschlagen wie einst, Mitte der 90er-Jahre, in Albanien. Vielleicht kann beschleunigt ein Assoziationsabkommen zwischen dem Kosovo und der EU angenommen werden, um die Lage zu beruhigen. Ähnliches geschah nach Protesten in Bosnien, wo vor genau einem Jahr die Gebäude der Kantonsregierungen in Tuzla, Zenica und Sarajevo in Flammen aufgingen. Der Kosovo und Serbien sollen sich aussöhnen, nachdem auch dieses Jahr wieder Spannungen zwischen den Volksgruppen im Kosovo auftraten. Die Lösung liegt in der „europäischen Perspektive“ der beiden Länder, hört man. In Mazedonien geht die Regierung gegen die Opposition vor, der sie einen Staatsstreich vorwirft. Man ahnt es, auch hier müsste die politische Antwort irgendetwas mit der EU-Erweiterung zu tun haben. Immerhin ist Mazedonien seit beinahe einem Jahrzehnt ein offizieller Kandidat für einen Beitritt. In Kiew sind im letzten Winter Menschen unbeeindruckt von Heckenschützen auf die Straße gegangen, um für die europäische Perspektive der Ukraine zu demonstrieren. Es gibt sie weiterhin, die mobilisierende Wirkung der Vision eines integrierten und demokratischen Europas ohne Grenzen. Spricht man mit ehemaligen albanischen Aufständischen in Tetovo über Mazedonien, dann sehen sie die einzige Hoffnung
in einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft. In den letzten Tagen haben sich die Botschafter aller EU-Länder in Bosnien vehement für eine unverbindliche Erklärung starkgemacht, in der sich Politiker im Land zu Reformen in Hinblick auf eine zukünftige EUMitgliedschaft Bosniens verpflichteten. Am Horizont, erklärten sie der Öffentlichkeit, warte als Anreiz ein offizieller EU-Kandidatenstatus, wie ihn etwa Albanien im letzten Jahr erhalten hat. Dabei glauben heute immer wenige r EU-Bür-
ger, dass zukünftige Erweiterungen in ihrem Interesse sind. Die Umfrageergebnisse sind klar: Eine wachsende Zahl von Bürgern lehnt zukünftige Erweiterungen ab. Es ist eine knappe Mehrheit in der EU insgesamt, und 60 Prozent in der Eurozone. Diese Ablehnung ist in den letzten fünf Jahren überall in der EU gewachsen, selbst in Italien (59 Prozent dagegen) oder in neueren Mitgliedsländern wie Tschechien (50 Prozent). Die stärkste Ablehnung fand das Eurobarometer in einem Land, das wirtschaftlich wie kein anderes von der Öffnung Europas profitiert hat: Österreich, Spitzenreiter der Erweiterungsskepsis (76 Prozent). Erklärt diese Skepsis auch die Unklarheiten der Sprache, sobald man versucht zu verstehen, wie das mit der europäischen Perspektive nun genauer zu verstehen ist? Man hat sich an einen wolkigen Diskurs gewöhnt – „Kandidatenstatus“, „europäische Perspektive“, „Verhandlungen“, „Kapitel die geöffnet werden“ –, sodass man oft gar nicht mehr weiß, was es mit all diesen Zauberformeln auf sich hat. Tatsächlich verstehen heute immer weniger Beobachter, was eigentlich passiert in diesem „Erweiterungsprozess“. Das wichtigste Instrumentarium der EU, um Einfluss auf ihre Nachbarn zu Fortsetzung auf Seite 20
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„In der EU sehe ich eine Gefahr von Missstand und Korruption. Dem muss man entschieden entgegenwirken“
Foto: Re g i n a H ü g l i
Aurelia Windisch Durch die Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten kommt die steirische Polizistin Kriminellen nun leichter auf die Spur leite die Polizeiinspektion in Lebring Iichchinmitder Südsteiermark. Beruflich verbinde der EU die Installation von Euro-
pol, mit der die Exekutiveinheiten in den EU-Staaten besser zusammenarbeiten können. Bevor Österreich der EU beigetreten ist, war eine Kooperation mit den Nachbarländern weitaus schwieriger bis nahezu unmöglich. Heute können wir Spuren und Täterhinweise untereinander abgleichen und austauschen. Wenn wir Täter in unserem Überwachungsgebiet verfolgen und sie ins Ausland flüchten, können wir ihre Straftaten über Europol nachweisen und ihrer damit habhaft werden. Aufgrund der Zusammenarbeit konnten wir unsere Aufklärungsquote verbessern. Durch den Wegfall der Grenzen gibt es nun aber auch mehr reisende Täter. Sie können ungehindert über die Grenze und ihre Beute leichter ins Ausland bringen.
Zur Person Aurelia Windisch, 50, begann 1991 bei der Gendarmerie und ist seit 2005 Polizeibeamtin. Seit neun Jahren leitet sie die Polizeiinspektion Lebring in der Südsteiermark. Die Abteilungsinspektorin ist verheiratet und hat einen Sohn
Protokoll: B e n ed i k t N a r o d o s l a w sk y
Der Grenzfall hat andererseits auch Auswirkungen auf den Verkehr gehabt. Es gibt heute keine Rückstaus mehr in den Hauptreisezeiten. Früher mussten wir wegen ihnen oft den Verkehr regeln. Als Exekutive haben wir derzeit viele Gesetze zu vollziehen, die es aufgrund von EU-Normen gibt. Ein banales Beispiel dafür ist etwa eine neue Regelung im Kraftfahrgesetz, die vorschreibt, welche Beleuchtungseinrichtungen Autos haben müssen. Ich finde, die EU sollte nicht versuchen, stets Einheitslösungen für alle Staaten herbeizuführen. Die Mitgliedsstaaten haben schließlich andere Ausgangssituationen, darauf sollte die EU mehr Rücksicht nehmen. Von der EU würde ich mir in Zukunft wünschen, dass ihre Bürokratie ein möglichst niedriges Niveau erreicht, um die Kosten in einem erträglichen Rahmen zu halten. So sollten zum Beispiel für ehe-
malige Politiker nicht unnötige Posten geschaffen werden. Außerdem sehe ich eine Gefahr von Missstand und Korruption. Dem muss man entschieden entgegenwirken, indem man die Arbeit so transparent wie möglich macht. Ich habe zwar das Gefühl, dass man sich in der EU darum bemüht, aber bei so einer Größe besteht die Gefahr, dass die Kontrolle nicht ausreichend gegeben ist. Insgesamt sehe ich die EU positiv, weil sie die Freundschaft und Partnerschaft der Mitgliedsstaaten garantiert. Vor 70 Jahren sind sich Deutschland und Frankreich noch als Kriegsgegner gegenübergestanden, heute sind die beiden Völker verbunden. Durch die EU gibt es politischen und sozialen Frieden. Außerdem können einzelne Staaten durch die EU auch global ihre Interessen vertreten. Durch die Zusammenarbeit können sich die Mitgliedstaaten entwickeln und Wohlstand schaffen. F
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nehmen, ist eines der am wenigsten verstandenen. Das könnte noch schwerwiegende Folgen haben. Machen wir ein Experiment. Versuchen wir die Erweiterungspolitik der EU einem aufgeweckten, noch nicht vom Jargon abgestumpften Kind zu erklären. Ganz am Anfang steht ein Versprechen: Artikel 49 in den europäischen Verträgen, die von allen Mitgliedsstaaten der EU ratifiziert wurden. Dort steht schlicht, dass jedes europäische Land, das bestimmte Bedingungen erfüllt, der Europäischen Union beitreten kann, wenn die bestehenden Mitglieder es aufnehmen wollen. Was sind europäische Länder? Wahrscheinlich alle Länder, die auch dem Europarat – dem ersten Verbund von Demokratien, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde und der mit der EU die blaue Sternenfahne teilt – beitreten durften. Als Marokko einen Antrag stellte, scheiterte es. Albanien, Moldau, die Ukraine sind Mitglieder im Europarat. Sie könnten daher einen kurzen Brief an die EU schreiben und erklären, dass sie gerne beitreten würden. Bosnien könnte das schon bald tun, ebenso Moldau. Was passiert nach so einem Brief ? Die EU könnte ihn ignorieren. Das tat sie mit einem Antrag der Türkei, der vor fast drei Jahrzehnten einging. Später hat die EU dann aber doch geantwortet und Gespräche begonnen. Würde sie heute einen Antrag Moldaus oder der Ukraine oder Bosniens auf Eis legen? Es wäre zumindest unangenehm. Daher versuchen Diplomaten Länder davon abzuhalten, einen „verfrühten“ Antrag zu stellen. Wird der Brief angenommen könnten die 28 Staaten, wiederum einstimmig, die Europäische Kommission bitten zu untersuchen, wie die Lage im Antragstellerland in Bezug auf europäische Standards ist. Dazu schickt die Kommission hunderte Seiten mit Fragen an die Antragsteller. Bei den Fragen geht es vom Zustand von Sondermülldeponien, Kontrollmechanismen für Lebensmittel, Mechanismen um die Rechtmäßigkeit von öffentlichen Ausschreibungen zu kontrollieren bis zu Minderheitenrechten. Die Antworten werden auf Englisch nach Brüssel geschickt.
Überdies: Was bringt ein „offizieller Kandidatenstatus“ einem Land? Mazedonien ist, wie schon erwähnt, seit 2005 ein Kandidat. Theoretisch kann ein Land bis in alle Ewigkeit ein Kandidat bleiben und niemals Beitrittsverhandlungen beginnen, denn dafür müssten erneut 28 EU-Mitglieder einstimmig zustimmen, und das hat Griechenland bislang verhindert. Bilaterale Vetos – wo ein Land seine Zustimmung verweigert und sich gegen 27 andere stellt – haben sich immer mehr eingebürgert in den letzten Jahren. Es werden im Laufe der nächsten Jahr wohl noch mehr werden. Was passiert mit dem Eröffnen von Verhandlungen? Eigentlich sollte es einfach sein. Die EU sollte jedem Land klarmachen, welche Bedingungen zu erfüllen sind. Diese Bedingungen ergeben sich aus den Gesetzen und der Praxis und den Institutionen, die in der EU gelten: Es geht um Wirtschaft, Demokratie und Gesetze und Institutionen. Man würde erwarten, dass diese Bedingungen klar und öffentlich definiert und regelmäßig kritisch beurteilt werden. Das würde Reformern in diesen Ländern helfen. Es würde Kritikern in der EU helfen zu beurteilen, wo sich die Beitrittskandidaten objektiv befinden. Tatsächlich aber beginnt mit Verhandlungen ein Prozess, der heute zunehmend von Willkür bestimmt ist und der nur am Rande mit strengen Kriterien für einen möglichen Beitritt zu tun hat. Es gibt 35 Kapitel, die verschiedene The-
Immer mehr Demokraten in unseren Nachbarländern verlieren die Hoffnung auf einen Beitritt
Als nächsten Schritt könnten alle 28 Mit-
gliedsstaaten beschließen, einem Land einen offiziellen Kandidatenstatus zu geben. Oder eben nicht. Die Türkei ist Kandidat seit 1999. Mazedonien seit 2005. Montenegro, Serbien und Albanien sind es auch. Die Ukraine, Moldau, Bosnien sind es nicht. Die Regierung im Kosovo weiß nicht, ob die EU auf einen Antrag überhaupt antworten würde, da fünf ihrer Mitglieder den Kosovo noch nicht als unabhängigen Staat sehen. Was also hat es mit der europäischen Perspektive all dieser Länder auf sich?
Illustration: Anna Hazod
men behandeln. Um ein „Kapitel“ zu öffnen, müssen alle 28 Mitglieder zustimmen. Man kann es am Beispiel der Türkei sehen: Ob ein Kapitel geöffnet wird, hängt nicht vom Stand der Reformen in diesem Bereich ab. Als 2013 im Zentrum von Istanbul Demonstranten mit Tränengas vertrieben wurden, diskutierte man in EU-Hauptstädten, ob man nun ein „Kapitel öffnen“ solle, um Einfluss auf die Regierung in Ankara zu haben, oder nicht, als Signal des Missfallens. Man einigte sich darauf, Kapitel 22 nicht im Sommer, sondern im Herbst zu „öffnen“. Dies war eine Chefsache, die türkische Spitzenpolitiker ebenso beschäftigte wie die deutsche Bundeskanzlerin und die Medien. Bei Kapitel 22 geht es jedoch um Regionalpolitik. Das Erstaunliche daran: Nachdem dieses Kapitel bei einem Treffen für „eröffnet“ erklärt wurde, passierte genau … nichts. Es gab kein zusätzliches Treffen danach, keine genauere Beurteilung von Fortschritten, keine zusätzlichen Mittel. Es handelte sich um Symbolpolitik. Tatsächlich machte die Türkei – laut Europäischer Kommission – seit Jahren in „geöffneten“ Kapiteln ebenso viel oder wenig Fortschritte wie in noch „geschlossenen“. Um es noch einmal zu vereinfachen: Es gibt beim EU-Erweiterungsprozess zwei Prozesse. Der eine sind Reformen, die in
den Kandidatenländern stattfinden. Und der zweite, der sich hervorragend für politische Schikanen jeder Art eignet, ähnelt einer Leiter mit 80 Stufen, wo auf jeder Stufe 28 Wächter einstimmig beschließen, ob ein Land weiterklettern darf. Oder eben für Jahre auf derselben Stufe bleibt. Die Glaubwürdigkeit eines angeblich fairen und strikten Prozesses nimmt dadurch mit jedem Jahr ab. Es geht hier um Politik, nicht um Reformen. Und wer das einmal erkannt hat, fragt sich bald, ob diese Leiter nicht ins Nirgendwo führt. Mazedonien ist seit fast zehn Jahren Beitrittskandidat. Die Türkei verhandelt seit fast zehn Jahren. In beiden Fällen ist das Misstrauen nur gewachsen, hat die Frustration zugenommen, sind demokratische Fortschritte zurückgerollt worden und hat die EU insgesamt an Glaubwürdigkeit verloren. Darunter leiden die Bürger dieser Länder. Darunter leidet aber auch der Einfluss der EU. Wird es in wenigen Jahren mit Bosnien, Albanien, Serbien und Kosovo ähnlich sein? Es gibt eine Alternative. Jedes Jahr veröffent-
licht die Kommission „Fortschrittsberichte“. Sie sind derzeit in großen Teilen unverständlich. Hier kann man sofort ansetzen. Es geht darum, Veränderungen sichtbar zu machen. Es geht darum, klarer und strenger und transparenter zu sein. Es geht darum, vonseiten der EU Bedingungen klar darzustellen und offen, fair, streng und transparent zu beurteilen. Sodass Reformern klar gezeigt wird: Es liegt tatsächlich an ihnen, ob eine abstrakte „europäische Perspektive“ eines Tages zu einem Beitritt führen könnte. Wenn ein Land sich diese strenge regelmäßige Beurteilung ersparen will, sollte es den Beitrittsprozess abbrechen. Die EU darf keine Scheu haben, Missstände viel klarer und lauter anzusprechen. Tatsächlich erfüllt kein Land unter den derzeitigen Kandidaten heute auch nur annähernd die Bedingungen. Doch das klar auszusprechen wäre ein Gewinn. Es darf nicht darum gehen, den wirklichen Erweiterungsprozess – die Reformen, um die es eigentlich geht – künstlich zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Es geht darum, Eliten und Bevölkerungen in einer Sprache, die verständlich ist, darzulegen, was die EU von möglichen neuen Mitgliedern erwartet. Am Ende bleibt jeder Beitritt immer eine politische Entscheidung. Die Frage ist, was bis dahin geschieht. Wenn in Mazedonien, Bosnien, Kosovo und Serbien die Idee einer europäischen Perspektive als willkürlich empfunden wird und in Moldau und der Ukraine ohne jede Glaubwürdigkeit, wird die EU Einfluss verlieren, den sie braucht, um schwache Staaten zu stabilisieren. Immer mehr Demokraten in diesem anderen Europa fühlen sich heute wie bei Samuel Beckett: Vladimir und Estragon, die auf Godot warten. Sie sitzen, sie denken, sie hoffen und verlieren wieder die Hoffnung. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen und einer Region Hoffnung und Ansporn zu geben sollte das Hauptziel europäischer Außenpolitik in Europa sein. Und würde vielleicht auch skeptische Österreicher mit der Idee einer dann einmal eintretenden EUErweiterung versöhnen. F
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„Manchmal frage ich mich, warum ich in Polen geboren wurde und nicht in Deutschland oder in Österreich. Dort hat man mehr Chancen“
Foto: Re g i n a H ü g l i
Agata Zukowska Für einen Job als Putzfrau in Wien wanderte sie aus Polen aus. Ihre Tochter arbeitet in England, ihr Bruder in Deutschland ch bin gelernte Konditorin, aber als Frau IPolen in meinem Alter ist es sehr schwierig, in eine Arbeit zu finden. Seit einigen
Jahren lebe ich deshalb in Wien, die ersten Jahre arbeitete ich hier als Putzfrau, seit kurzem bin ich Angestellte in einer Fabrik. Seit die Grenzen offen sind, gibt es zwei Millionen Polen weniger im Land. In meiner Heimatstadt leben nur noch alte Leute. Die ganzen Jungen sind weg und arbeiten in ganz Europa. Selbst polnische Akademiker waschen in anderen Ländern die Teller. Ich kenne selbst viele, die weggegangen sind. Meine Tochter arbeitet als Haushelferin in England, ihr Freund hat in Polen fünf Jahre Umwelttechnologie studiert und arbeitet nun als Bauarbeiter auf einer englischen Baustelle. Mein Bruder ist Baumeister in Deutschland, mein anderer Bruder war bis zur Krise Lkw-Fahrer in Spanien. Und ich arbeite in Österreich.
Zur Person Agata Zukowska, 48, kommt aus der westpolnischen Stadt Szprotawa. Nach Österreich kam sie, weil ihre Tante bereits in Wien als Putzfrau arbeitete und ihr hier eine Stelle vermitteln konnte. Zukowska arbeitete in Wien zuerst selbst als Putzfrau, seit kurzem ist sie in einer Fabrik angestellt. Sie hat eine Tochter
Protokoll: B e n edi k t Narodosl awsk y
Meine Stadt liegt zwar in der Nähe der deutschen Grenze, aber ich bin hierhergekommen, weil meine Tante hier auch als Putzfrau arbeitet und die Leute freundlicher sind. Die Österreicher sind lieb zu mir und helfen gerne. Manchmal frage ich mich, warum ich in Polen geboren wurde und nicht in Deutschland oder in Österreich. Dort hat man mehr Chancen, mehr soziale Sicherheit, auch die Bildung für die Kinder ist besser. Durch die EU habe auch ich mehr Möglichkeiten. In Polen musst du zuerst einmal die Sachen fürs Leben zahlen, die Versicherung, den Strom, und erst wenn etwas übrig bleibt, kannst du dir etwas kaufen. In Wien verdiene ich hingegen gut, kann mir mehr leisten und etwas sparen. Heute muss ich nicht mehr darüber nachdenken, ob ich den Strom zahlen kann. Die EU bedeutet für mich, dass wir in anderen Ländern arbeiten können, die
Grenzen offen sind, es in den meisten EULändern dieselbe Währung gibt und man dadurch kein Problem beim Geldwechseln hat. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass unsere Kinder nicht mehr so schwer arbeiten müssen wie wir und dass es in Europa mehr Ruhe und weniger Kriminalität gibt. In Wien ist es sicherer als in Polen, hier kann ich bis Mitternacht alleine auf der Straße gehen, ohne mich zu fürchten. In Polen kann man das vergessen. Österreich hat außerdem die besten Öffis, auch das Brot ist herrlich. Meine Tochter und meine Mutter kommen mich oft in Wien besuchen. Nach Polen fahre ich nur noch dreibis viermal im Jahr – zu Weihnachten, zu Ostern und im Sommerurlaub. Wenn ich alt bin, will ich aber wieder in Polen leben. Dort sind meine Freunde, meine Familie, meine Bäume. Ich glaube, jeder will dorthin zurück, wo er geboren wurde. F
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„Kein Mensch hat Eldorados 20 Jahre später: Wie hat sich Österreich verändert? Wohin steuert die Union? Eine Ex-Politikerin, ein Schriftsteller, eine Majdan-Aktivistin und ein EU-Kritiker sind uneinig Moderation: Florian Klenk
Tanja Maljartschuk ist eine Schriftstellerin aus Kiew. Sie lebt in Wien und ist Teil der Majdan-Bewegung
Karl-Markus Gauß ist Publizist und Essayist und bereiste viele kaum bekannte Regionen Osteuropas
Brigitte Ederer verhandelte vor 20 Jahren den EU-Beitritt mit und war Spitzenmanagerin bei Siemens
Christian Felber ist Mitbegründer von Attac Österreich, EU-Kritiker und Wirtschaftspublizist
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versprochen!“
fotos seiten 22–26: katharina gossow w w w . k at h ar i n a g o s s o w . c o m
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ie hat der EU-Beitritt Österreichs unser Verständnis von Europa und unser Land geprägt? Wie werden geopolitische und wirtschaftliche Krisen in unseren Nachbarländern und in Europas Süden in Österreich wahrgenommen – und bewältigt? Der Falter bat vier Expertinnen und Experten zu einem ausführlichen RoundTable-Gespräch. Brigitte Ederer, ehemalige SPÖ-Staatssekretärin, hatte den EUBeitritt mitverhandelt und machte später als Siemens-Österreich-Chefin und Mitglied des Siemens-Vorstands in Deutschland Karriere; die Industriemanagerin sitzt heute im ÖBB-Aufsichtsrat. Die in Wien lebende ukrainische Schriftstellerin Tanja Maljartschuk war Teil der Majdan-Be- Brigitte Ederer bei wegung und repräsentiert eine Generation den Beitrittsvervon Osteuropäern, die sich nach den euro- handlungen 1994 päischen Freiheitsrechten sehnt, aber von Europa zunehmend enttäuscht wird. Der Salzburger Schriftsteller Karl-Markus Gauß ist einer der wichtigsten Literaten des Landes und bereist für seine literarischen Reportagen immer wieder die Ränder Europas – etwa in Bulgarien, der Slowakei und Rumänien. Der Attac-Österreich-Mitbegründer und Wirtschaftspublizist Christian Felber hat sich in mehreren Büchern eingehend mit der EU befasst und fordert eine fairere und sozial gerechtere Union.
Falter: Meine Damen, meine Herren, wären wir vor 20 Jahren, als Österreich der EU beitrat, in einen tiefen Schlaf gefallen und würden heute wieder erwachen, was würde Ihnen als Erstes auffallen? Brigitte Ederer: Mir würde zuerst auffallen, dass wir den Euro haben. „Warum sprechen
Der Ederer-Tausender, den sich Familien durch einen EU-Beitritt sparen, wäre nur 70 Euro wert! Ederer: (Lacht.) Stimmt. Es würde mir auch auffallen, dass Österreich viel offener geworden ist. Viele junge Leute haben die Chance erhalten, sich in der EU frei zu bewegen, und sehen die Union als Teil ihrer Heimat. Das sind für mich die zwei größten positiven Veränderungen. Christian Felber: Was mir als Allererstes auffallen würde, ist der Umstand, dass ich mir in jedem Land einen eigenen mobilen Internetstick kaufen muss. Hier wünsche ich mir die EU herbei, sie soll Infrastruktur zur Verfügung stellen und nicht den privaten Konzernen das Feld überlassen Karl-Markus Gauß: Ich würde mich vor allem darüber wundern, wie viel von dem, was heute ganz normaler Alltag ist, damals noch undenkbar war. Im Positiven wie im Negativen. Die Denunziation des Sozialstaates etwa wäre als negative Entwicklung zu erwähnen. Positiv ist der Umstand, dass
Sie so, als ob Sie sich bei mir entschuldigen?“ Tanya Maljartschuk
sich bei bürgerlichen, intellektuellen und politisch interessierten Schichten so etwas wie eine gemeinsame europäische Identität herausbildet. Tanja Maljartschuk: Ich würde erschrecken, wenn ich aufwache. In meiner Heimat, der Ukraine, herrscht Krieg. Und zwar auch deshalb, weil die Ukraine in die EU drängte. Wir wollten nur europäische Werte genießen und müssen nun dafür sterben. Wir müssen begreifen, dass man für Freiheiten auch kämpfen muss. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit Waffen und mit dem eigenen Leben. Das ist etwas Neues für mich. Und das würde ich sehr gerne nicht erleben müssen. Ederer: So dramatisch und traurig die derzeitige Situation in der Ukraine ist, die Rolle der EU in den letzten Tagen gibt mir doch auch Hoffnung für die Zukunft. Die Bilder aus der Ostukraine sind zwar kaum auszuhalten, aber meiner Meinung nach ist die Diplomatie der einzige Weg, auch wenn die Amerikaner ungeduldig werden und Waffen liefern wollen. Ich glaube, dass der ganze Konflikt auch deshalb so eskaliert ist, weil die EU auf diplomatischer Ebene versagt hat. Die EU hat zu Beginn des Konflikts die geopolitische Lage der Ukraine nicht genügend berücksichtigt. Maljartschuk: Warum sprechen Sie so, als ob Sie sich bei mir entschuldigen? Ederer: Meiner Information nach waren Sie Mitglied der Majdan-Bewegung, und ich habe immer große Hochachtung vor Menschen, die sich persönlich für Demokratie einsetzen. Daher mein entschuldigender Ton. Frau Maljartschuk, fühlt sich Ihre Generation von Europas Eliten verraten? Maljartschuk: Ich glaube schon. Es ist klar, dass Europa keinen Krieg mit Russland führen wird. Aber die Ukrainer erwarteten zumindest Hilfe. Und eine echte Hilfe wären wohl Waffen. Ederer: Sie würden Waffenlieferungen
befürworten?
Maljartschuk: Ja. Mir ist völlig klar, dass
kein Konflikt der Welt mit der Waffe gelöst werden kann, aber wir müssen uns verteidigen dürfen. Man kann doch Putin nicht so behandeln, als wäre er der gemeingefährliche Patient einer Irrenanstalt, den man nicht reizen darf. Felber: Ich denke, die EU sollte besser auf eine Uno-Lösung drängen. Damit eben nicht wieder die Nato oder die EU militärisch Partei beziehen muss, sondern die Uno das regelt. Die EU muss eine Friedensorganisation werden. Mit Russland im Sicherheitsrat wird das wohl etwas schwierig Felber: Darum wäre es wichtig, ihn aktiv zu erweitern, statt selbst Weltmachtstatus anzustreben. Heute bauen sich fast die gleichen Freund-Feind-Muster wie im Kalten Krieg auf. Warum behandeln wir Russland anders als die USA, die ja auch Kriege führen? Ederer: „Wir“ sprechen ja gerade mit Russland. Gauß: Ich möchte die militärische Debatte erweitern und den Blick auf die soziale Lage wenden. Ich bin ziemlich oft in der sogenannten Peripherie der EU unterwegs, in Bulgarien und Rumänien etwa. Ich hege und hegte überhaupt keine Sympathien für die kommunistische Partei Bulgariens und Rumäniens, aber als ich im letzten Sommer drei Monate durch die Region gefahren bin, sah ich eine derart herzergreifende Armut, die es nicht einmal zu Zeiten des realen Kommunismus gegeben hatte. Wobei natürlich andere Freiheiten damals extrem reglementiert waren.
Was haben Sie auf der Reise erlebt? Gauß: Ganze Landstriche sind verwüstet oder werden von internationalen oder europäischen Agrarindustrien aufgekauft. Wenn die Ukraine eines Tages Teil der EU sein sollte, wird sich das Land nicht aus Eigenem aufrichten, sondern da werden die agrarindustriellen Konzerne große Gebiete aufkaufen. Das wird für die Ukraine vielleicht nur geringe ökonomische Vorteile haTanja Maljartschuk ben, weil diese landwirtschaftlichen Komgeboren 1983 in Iwano- binate mittlerweile mit wenigen Arbeitern auskommen. Frankiwsk, Ukraine. Sie studierte Philologie, Felber: Womit wir beim Thema Wirtschaft wären. In Ostdeutschland bauen holländiarbeitete einige Jahre als Journalistin bei den sche Agrarkonzerne mit EU-Förderungen verschiedensten Ställe für 100.000 Schweine. Das ist falFernsehsendern in Kiew. sche Wirtschaftspolitik. Gauß: Absolut. Seit 2011 lebt sie in Wien, 2009 erschien bei Ederer: Aber die günstigen Lebensmittelpreise werden von den Konsumenten Residenz ihr erster Erzählband „Neunprozen- nachgefragt. tiger Haushaltsessig“. Felber: Aber doch nur, weil es in Europa keiZuletzt: „Biografie eines ne Mindestlöhne gibt, weil es keine Sozialzufälligen Wunders“ korridore und keine europäische Arbeitslo-
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Machen Sie es sich nicht zu leicht? Viele Menschen aus ärmeren europäischen Ländern können sich auch auf einem viel größeren und freieren europäischen Markt bewerben. Viele osteuropäische Länder, etwa Polen, haben massiv davon profitiert. Die osteuropäischen Städte sind wesentlich wohlhabender geworden. Gauß: Gewiss, die Gesellschaft hat sich in einer Weise liberalisiert und modernisiert, wie es zuvor nicht denkbar war. Aber das hat eben auch Schattenseiten: Es gibt ganze Landstriche in Osteuropa, wo es so gut wie keine Ärzte mehr gibt, weil die in Deutschland, England oder Dänemark ordinieren. Dort bekommen sie 2500 Euro und in ihrem Heimatland nur 350 Euro Gehalt. Ich war im bulgarischen Vidin, einem Ort, der zur Zeit der k.u.k. Monarchie ein Hafen an der Donau mit einem geregelten Verkehr
war. Im Spital dort gibt es noch fünf Ärzte – von 50. Die anderen sind in Oberbayern und sonst wo. Maljartschuk: Jeder Mensch geht eben dorthin, wo er mehr verdient. Gauß: Das Letzte wäre, dass ich das verhindern möchte. Doch man muss sich über die Dimension im Klaren sein. Was heißt Armutsmigration in einem erweiterten Europa? Und was heißt eigentlich Elitenmigration? Und was bewirkt es für beide Länder? Und was heißt es für uns, nebenbei bemerkt? Die gut ausgebildeten Leute werden eingekauft, um Löhne zu drücken. Maljartschuk: Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, ich bin da sehr gespalten. In der Westukraine etwa gibt es in jedem Dorf, in jedem Haus jemanden, der in Europa als Gastarbeiter tätig ist und Geld nach Hause schickt, um seine Familie zu ernähren. Man muss aber auch wissen, was mit diesen Leuten passiert. Sie verlassen alles, was sie in der Ukraine haben. Sie verlassen ihre Kinder. Das ist eine soziale Katastrophe! Sie verlassen die Geschichte, sie verlassen die eigene Kultur und gehen in die Fremde. Sehr wenige integrieren sich in die westlichen Gesellschaften, sondern sie arbeiten oft auch schwarz und bleiben illegal. Felber: Haben Sie Hoffnung, dass in der Ukraine, falls sie der EU beitritt, etwas anderes passiert als in Bulgarien? Maljartschuk: Ich bin keine Hellseherin. Die Probleme haben meiner Meinung nach mit dem Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus und weniger mit der EU zu tun. Man hat auch 25 Jahre nach der Wende nicht begriffen, wie dieser Übergang gelingen kann. Nur in Polen kann man heute normal leben. Oder? Ederer: Und in Tschechien und der Slowakei. Maljartschuk: Und in Slowenien, vielleicht. Der Europaexperte Gerald Knaus vertritt in einem Essay (Seite XX) die These, dass sich all jene autoritären oder diktatorischen
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Staaten, die in die EU aufgenommen wurden, rasch demokratisiert haben. Ist das nicht ein riesiger Fortschritt? Felber: Ich sehe das Ergebnis durchwachsener. Es ist unentschieden. Es gibt genauso viele, die sagen, es war vor der Wende besser, wie umgekehrt.
Karl-Markus Gauß, 60, ist Autor und Herausgeber der Zeitschrift Literatur und Kritik. Bei Zsolnay erschienen „Die Hundeesser von Svinia“ (2004), „Die versprengten Deutschen“ (2005), „Im Wald der Metropolen“ (2010) sowie „Das Erste, was ich sah“ (2013).
„Es gibt ganze Landstriche, wo es so gut wie keine Ärzte mehr gibt, weil sie in Deutschland, England oder Dänemark ordinieren“ Karl-Markus Gauß
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senversicherung gibt. Deshalb „profitieren“ alle Binnenmarktverlierer und Globalisierungsverlierer von Massentierhaltungsställen mit hunderttausend Schweinen. Aber hätten die Leute ein höheres Einkommen, würden sie zu höherer Qualität greifen. Ederer: Herr Felber, bitte! Gehen wir beide heute nach der Diskussion auf die Kärntner Straße und schauen wir uns an, welche Käuferschicht sich die billigen asiatischen Leiberln kauft. Das sind nicht nur die armen Menschen. Felber: Wenn die vollständige Information da ist ... Ederer: ... kaufen sie es trotzdem. Felber: In den USA wünschen sich 80 Prozent der Bevölkerung die Kennzeichnung von gentechnisch manipulierten Lebensmitteln. Die Kennzeichnung kommt aber trotzdem nicht. Nicht die Nachfrage der Konsumenten, sondern die Manipulation der Industrie erklärt, warum Menschen gar keine Chance haben, das zu kaufen, was sie kaufen wollen. Gauß: Ich denke, es geht um eine sehr wichtige Frage: War es ein historisches Pech, dass wir die großartige EU konzipiert und in Leidenschaft für sie gekämpft haben, aber dann halt leider der Neoliberalismus dazu kam und die EU sozusagen teilweise okkupiert hat? Oder war es nicht so, dass bestimmte Konzerne und Wirtschaftseliten innerhalb Europas erkannten, dass sie eine größere Freihandelszone schaffen müssen und dann perfiderweise die Freiheiten der EU, von der wir mit schönen, pathetischen, wohlmeinenden Ideologien oder Träumen sprechen, als Schwert für ihre Ziele einsetzen? Felber: Für mich steht fest: In Europa haben sich die Ideen von Friedrich August von Hayek durchgesetzt. Die Wirtschaftsfreiheiten kommen vor den Menschenrechten, vor der sozialen Sicherheit, vor den Arbeitsrechten, vor der ökologischen Nachhaltigkeit.
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Karl Markus Gauß bei den Roma in der Ostslowakei
Aber wer behauptet ernsthaft, dass das Leben im Kommunismus besser war? Felber: Das ist von Land zu Land verschieden. Viele leiden unter dem Schockkapitalismus mit seinen großpatzigen Investitionen der Konzerne. Ederer: Leider wird viel zu wenig investiert, Herr Felber. Felber: Es bräuchte eine breitere Finanzierung von kleineren und nachhaltigen Bauern, Unternehmen und Banken, damit eine nachhaltige Entwicklung stattfindet. Daran hat aber die EU kein so großes Interesse. Deshalb steigt in Europa das Gefühl, dass wir weniger Demokratie, mehr Ungleichheit und mehr Unsicherheit haben. Frau Ederer, Sie waren eine linke Regierungspolitikerin und Sie saßen im Vorstand eines großen Konzerns. Teilen Sie auch nur ansatzweise die Bedenken von Herrn Felber? Ederer: Nein. Im Gegenteil. Ich glaube, dass wir in Europa zu wenige öffentliche und private Investitionen haben. Es gibt in der EU weder von den großen Konzernen noch von den Staaten noch von kleineren Firmen expansive Überlegungen. Felber: Ich sehe keine nachhaltige Strategie. Sondern eine Linie, die nur den Konzernen nützt. Sie haben Osteuropa aber nicht das Eldorado gebracht, das die EU versprochen hatte. Ederer: Eldorado? Kein Mensch hat Eldorados versprochen! Keine Struktur der Welt kann ein Eldorado sein, außer vielleicht eine große Liebe. In vielen Bereichen teile ich Ihre Kritik an Europa. Aber ich halte die EU für einen Riesenfortschritt in der Geschichte Europas. Ich möchte keine Sekunde in einer anderen Situation leben. Maljartschuk: Vollkommen einverstanden. Felber: Die EU-Ja/Nein-Frage lenkt davon ab, dass es massive Interessendifferenzen und Entdemokratisierungstendenzen innerhalb der EU gibt. Ich möchte keine EU, wo die Konzerne die Gesetze schreiben und die Parlamente sie unterschreiben. Ederer: Ich sehe diese Grusel-EU nicht. Gauß: Ich war auch immer ein begeisterter Europäer. Aber was mir heute schon auffällt, ist eine autoritäre Tendenz, linke Kritik an der EU als antieuropäisch zu diffamieren. Auf einmal kommt es so weit, dass in österreichischen und deutschen Zeitungen Leute, die irgendetwas Positives über Fortsetzung nächste Seite
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längsten brauchen, um zu kapieren, dass wir zu Europa gehören. Es ist eine leicht selbstverliebte Position österreichischer Oppositioneller, dass sie glauben, wir seien das Allerletzte. Wenn man ein bisschen weiter herumschaut, sieht man, dass sehr viele europäische Länder sehr ähnliche Probleme haben. Wir sind ein ganz normaler Durchschnittsfall. Wir sind weder großartig, wie die Verklärer Österreichs immer behauptet haben, noch sind wir so viel blöder als die anderen, wie die hiesigen Kritiker sagen.
Brigitte Ederer hatte als EUStaatssekretärin den EU-Beitrittsvertrag mitverhandelt. Sie wurde später Vorstandsvorsitzende von Siemens Österreich und wechselte in den Vorstand von Siemens Deutschland. Heute ist sie Aufsichtsratspräsidentin der ÖBB
Syriza sagen, sich auf eine Ebene mit dem ungarischen Premier Victor Orbán gestellt sehen. Ich wurde einmal als Anti-Europäer diffamiert, weil ich gesagt habe, es sei lächerlich, dass wir uns jetzt wie das Kaninchen vor der Schlange vor der griechischen Syriza-Partei fürchten. Ich bin wirklich kein Anhänger dieser Partei, aber eines muss man schon sagen: Es ist auf einmal möglich, dass die Politiker wieder Politik machen und versuchen, Alternativen aufzuzeigen. Felber: Ja, und das ist der Anspruch, den die EU die ganze Zeit hinausposaunt und dann aber nicht umsetzt. Wenn die „europäischen Werte“ tatsächlich das höchste Kulturgut wären, dann müssten sie dem Binnenmarkt voranstehen. Es müsste heißen: Wer das Klima schützt, die Menschen- und Arbeitsrechte respektiert und in der Steuerpolitik kooperiert, mit dem handeln wir frei. Aber genau das macht die EU konsequent nicht. Sie handelt frei mit jenen, denen diese Werte nichts gelten.
„Ich glaube, dass es in den nächsten Jahren ohne große Diskussionen eine Weiterentwicklung geben wird“ Brigitte Ederer
„Wenn die europäischen Werte tatsächlich das höchste Kulturgut wären, dann müssten sie dem Binnenmarkt voranstehen“
Kommen wir nach Österreich. Anton Pelinka schreibt in diesem Heft, die Österreicher seien noch immer nicht in Europa „angekommen“. Ihre Zustimmung Christian Felber zum Projekt Europa habe man vor 20 Jahren mit Versprechungen erkauft, die europapolitische Vision sei nicht politisch vermarktet worden. Frau Ederer, Sie waren damals live dabei, teilen Sie diese Kritik? Ederer: Ja, absolut. Ich glaube, dass Österreich zu 80 Prozent nicht das Gefühl hat, dass die EU Teil von uns ist. Sondern viele Österreicher finden, die EU ist unser Feind. Und Mitschuld daran tragen alle Regierungsparteien, die sich zu Hause als Retter Österreichs vor der EU inszenieren. Felber: Bestes Beispiel: Kanzler Faymann hat im Europäischen Rat das Verhandlungsmandat für das TTIP selbst erteilt, gegen das er jetzt in der Krone künstlich kämpft. Gauß: Jetzt muss ich die Gegenstimme ergreifen. Ich bin nicht der Auffassung, dass wir die Trottel von Europa sind und am
Die Kritik der Intellektuellen an den angeblich europafeindlichen Provinzlern ist also provinzlerisch? Gauß: Ja, es läuft nach dem Motto: Wenn wir schon nicht die größten Helden sind, so sollen wir wenigstens die größten Trotteln sein. Ich halte diese Selbstverliebtheit für politisch rückständig und es macht uns blind für die vielen fortschrittlichen Initiativen in diesem Land. Wie nehmen Sie Österreich wahr, Frau Maljartschuk? Als einen mitteleuropäischen, offenen Staat, der sich für den Kontinent interessiert oder als einen kleinkarierten, von Manfred Deix und Elizabeth T. Spira porträtierten Haufen? Maljartschuk: Ich empfinde das Land eher als geschlossen und in sich gekehrt. Die Probleme, die in Österreich ständig besprochen werden, sind sehr klein. Ich will jetzt niemanden beleidigen, ich liebe Österreich sehr, deshalb lebe ich auch in Wien. Aber man denkt nicht global in Österreich. Ederer: Am selben Tag, an dem die Demonstration gegen den Rauswurf der lesbischen Mädchen im Prückel 2000 Leute anzog, gab es eine Demonstration vor der saudischen Botschaft gegen die Auspeitschung eines Menschen und da waren 30 Menschen. Das sagt eigentlich viel aus über das Land. Wir haben viel über die Gegenwart und die letzten 20 Jahre gesprochen. Wie wird Europa in 20 Jahren aussehen?
Christian Felber ist Mitbegründer von Attac Österreich und freier Wirtschafts publizist. Er prägte den Begriff der Gemeinwohlökonomie. Zuletzt erschienen bei Deuticke „Retten wir den Euro“ (2012) und „Geld. Die neuen Spielregeln“ (2014)
Ederer: Ich glaube, dass es in den nächsten
Jahren ein „Gewurschtel“ geben wird, wenn ich das so salopp formulieren darf. Wir haben durch die Wirtschaftskrise eine Vertiefung erlebt, ohne dass man die Verträge geändert hat. Wir sehen nun meiner Meinung nach eine richtige Entwicklung im Bereich der Außenpolitik durch die Ukraine-Krise. Ich glaube, dass es in den nächsten Jahren ohne viele Vertragsänderungen und ohne große Diskussionen, eine Weiterentwicklung geben wird. Es wird in der EU Kraftzentren geben, wo eine gewisse Führung übernommen werden wird. Felber: Ich sage, wofür ich mich einsetze: Abschaffung des Rates (das schrieb Robert Menasse zeitgleich im Landboten, Anm.), Gesetzgebung zwischen dem Parlament und dem Souverän. Ethischer Binnenmarkt statt „Freihandel“ und Bedingung des Kapitalverkehrs an Steuerkooperation. Gemeinsame Sozialstandards für den sozialen Frieden im Inneren sowie militärische Friedenspflicht im Äußeren: Wenn ein Mitgliedsstaat sich an einem Angriffskrieg beteiligt, erlischt die Mitgliedschaft in der EU automatisch. Stärkung der Uno anstelle der Nato. Gauß: Ich bin davon überzeugt, dass es in 20 Jahren eine EU gibt, in der alles, was wir jetzt kritisiert haben, umgesetzt wird. Wenn dies nicht gelingt, dann kann es sein, dass wir in 20 Jahren eine Schrumpfunion erleben, die vielleicht in den Kernzonen als reine Freihandelszone funktioniert, während an den Rändern im Süden und Osten alles darniedergeht. So ein Zerfall Europas wäre schlimm. Dann kann es leicht sein, dass der Krieg in die Zentren zurückkehrt. Historisch betrachtet hat es ja relativ wenige Staaten gegeben, die sich auf freiwilliger Basis zu größeren Reichen zusammengeschlossen haben. Die Schweizer wären da zu nennen, aber auch sie mussten einen Krieg gegen jene führen, die wieder aussteigen wollten. Oder die USA, aber die haben sich bekanntlich auch bekriegt. So oft hat es also nicht funktioniert, dass sich so viele souveräne Staaten eine eigene, neue, im weitesten Sinne staatliche Struktur gegeben haben. Maljartschuk: Ich wünsche mir, dass ein wichtiges europäisches Land, nämlich Russland, endlich auch demokratisch wird. Das Ungeheuer Putin bedroht ja nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte EU. Ich wünsche mir, dass das endlich aufhört. Gestatten Sie mir eine persönliche Bemerkung: Vor einer Woche ist der Sohn meiner Nachbarin gefallen. Er war nur 25 Jahre jung. Ich bin mit ihm aufgewachsen. Jetzt ist er tot. Wenn sein Tod nur einen winzigen Sinn haben soll, dann den, dass es in 20 Jahren in Russland und der Ukraine auch endlich Demokratie gibt. Das wünsche ich mir von Europa. F T r a n s k r i p t i o n : M a r i a M o tte r
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„Die Asylpolitik ist aus den Fugen geraten. So wie die ganze EU“
Foto: Re g i n a H ü g l i
Kirsten Reinthaler Der Beitritt zur Europäischen Union war für die Wirtin ein großes Unglück. Er habe dem normalen Arbeiter nur geschadet könnte nicht sagen, dass ich persönIte.chlich von der EU irgendetwas gehabt hätDamals, vor der Abstimmung zum EU-
Beitritt, war die Aufklärung über die Vorteile der EU undurchschaubar. Heute ist die Verteilung des Riesentopfes der EUMillionen genauso undurchschaubar. Die Medien schreiben über die verschwundenen Millionen, als ob es Cents wären. Das Versickern der Millionen sorgt am Stammtisch für Gespräche. Durch den Euro hatten wir eine versteckte Inflation von 40 Prozent. Die Lebensmittel und Wohnungen sind nicht billiger geworden. Der Bauer, der mit Herzblut anbaut, erhält für seine Arbeit einen Hungerlohn. Der Riesentopf wird ungleich verteilt. Die Großen profitieren immer mehr, der kleine Mann hat vom Riesentopf gar nichts. Im Gegenteil, der Überlebenskampf wird immer größer, und so manche wissen nicht, wie sie am Monats-
Zur Person Kirsten Reinthaler, 50, ist gelernte Friseurin. Durch ihren Exmann kam sie in die Gastronomie und eröffnete später ihr eigenes Lokal in der Stuwerstraße nahe des Wurstelpraters. In ihrem Wirtshaus serviert sie Hausmannskost in großen Portionen. Reinthaler hat eine Tochter
Protokoll: B e n ed i k t Na r o d o s l aw s k y
letzten ihre Familie ernähren sollen. Früher war es für viele ganz normal, seine Biere und sein Schnitzerl zu konsumieren, ohne nachzudenken. Heute kommt die Frage auf, ob sich das überhaupt noch ausgeht. Mein Opa hat schon gesagt: „Wenn der Arbeiter kein Geld mehr hat, bricht die Wirtschaft zusammen.“ Das wird das Endresultat sein. Derzeit ist das Rauchverbot, das auch wegen der EU kommt, am Stammtisch ein massives Thema. Für mich bedeutet es den blanken Horror. Die Zeiten sind schon lange nicht mehr rosig für uns Wirte, es ist ebenfalls für viele von uns ein Überlebenskampf. Durch ein Rauchverbot in einem Wirtshaus, wie ich es betreibe, wären die Umsatzeinbußen katastrophal. Da geht es für mich ums Eingemachte, um die Existenz. Im Wirtshaus trifft man sich ja nicht nur zum Essen, sondern auch wegen der Wirtshausatmosphäre, aus der
sich eine Stammtischrunde entwickelt, die verschiedene Menschen zusammenbringt. Diese sogenannte Gemütlichkeit wird es für Raucher nicht mehr geben. Wer will in der Kälte draußen vor der Tür sein Zigaretterl rauchen? Fakt ist, dass ich von meinen Stammgästen lebe, die täglich zu mir kommen und sich wohl fühlen. Der Staat verdient Milliarden an den überhöhten Steuern der Zigaretten und nimmt mir das Recht als Wirt, einen Raum für Raucher zu haben. Aber das ist nur der berühmte Gipfel des Eisberges. Es gibt bei der EU noch mehr zu bekritteln. Sie hält an der Atompolitik fest, wo jeder vernünftige Mensch sagt: „Hände weg!“ Und was ist mit den geförderten genmanipulierten Lebensmitteln der EU? Oder dem beginnenden Zusammenbruch unseres Krankenkassensystems? Oder der Asylpolitik? Die ist aus den Fugen geraten – so wie die ganze EU. F
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Willkommen in Öster Brüssel ist Österreichs politisches Zentrum, aber kaum jemand kennt sie. Eine Reise ins Zentrum der Macht E r k u nd u n g : B ened i k t N a r o d o s l a w s k y / B r ü s s e l
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ine Brüsseler Bar im Winter. Zwischen Heizstrahlern und Stehtischen bewegen sich die Körper zu Partybeats. Hochprozentiges kühlt die Kehlen, die Blicke hängen tief. „Das hier ist der Fleischmarkt“, sagt ein Assistent eines EU-Abgeordneten. Die Feier hat schon frühabends begonnen, sie treffen sich hier jeden Donnerstag nach der Arbeit: die jungen Parlamentsmitarbeiter und Praktikanten, die Beamten, Lobbyisten und Journalisten aus allen Ländern und Lagern. Belgier sind kaum darunter. Es wirkt wie eine Erasmusparty für Alumni. Menschen im Familiengründungsalter flirten und feiern mehrsprachig. Geschmeidig wechseln sie von Deutsch auf Französisch und von Französisch auf Englisch; manchmal mitten im Satz. Der Place de Luxembourg ist in Brüssel zum Zentrum des europäischen Rausches geworden. Ein beschaulicher Platz, eine Statue auf einem Rasen in der Mitte, rundherum ein langgezogener Kreisverkehr, daneben Bars, davor das Europäische Parlament. „Wäre die Politik nicht hier, wären wir auch nicht hier“, sagt ein Lobbyist und lässt seinen Oberkörper zur Musik nach vorne wippen. Von rechts macht sich eine junge Schwedin an ihn heran. Er zündet sich eine Zigarette an, grinsend zeigt er sein Feuerzeug in die Runde – darauf das Bild eines Nackedeis. Die Schwedin schenkt ihm ein wohlwollendes Lächeln. „Es ist so tief “, flüstert der Parlamentsmitarbeiter, „die normalste Person hier ist die Klofrau.“ Dann bestellt er sich den nächsten Drink. Die Partylöwen feiern bis nach Mitternacht. Am Morgen danach sitzen sie wieder pünktlich in ihren Büros, in Anzügen und Kostümen, verstreut über das ganze Europaviertel.
Illustration: Ann a H Az o d
Brüssels Seele ist frisch und frech. Die Bewoh-
Der Falter hat sich ins politische Herz Europas
begeben, nach Brüssel, 1,1 Millionen Einwohner, 161 Quadratkilometer. Eine Stadt, in der 80 Prozent der österreichischen Gesetze mitbestimmt werden und in der es 200 Tage im Jahr regnet. Wie lebt es sich in Österreichs politischer Hauptstadt, die jedermann vom Hören, aber kaum jemand
vom Sehen kennt? „Seltsam, wie wenigen Menschen dies aufgefallen ist: Es gibt kaum Klischeevorstellungen von Brüssel“, schreibt Schriftsteller Robert Menasse in seinem Buch „Der Europäische Landbote“. Und wenn es Klischeevorstellungen gebe, meint Menasse, so verbinde man mit Brüssel nur die EU-Bürokratie, aber nichts mit der Stadt selbst. Fragt man Zugezogene, was typisch an Brüssel sei, dann sprechen sie immer von den Pflastersteinen. Man stolpere unentwegt über den Gehsteig, erzählen sie, er sei uneben und löchrig. Und wenn sich unterhalb Regenwasser gesammelt hat und man auf einen lockeren Pflasterstein trete, spritze das die ganze Hose voll. Selbst vor dem protzigen Königspalast hat die Witterung die Steinbodenplatten gesprengt. Was ist das für eine Stadt, die über ihren kaputten Gehsteig definiert wird? Zuerst einmal eine improvisierte. Die belgische Hauptstadt vereint 19 Gemeinden, die jede für sich gewachsen ist. Wie ein Fleckerlteppich ist Brüssel zu einem großen Stadtgeflecht ineinander verwoben. Heruntergekommene Häuser stehen neben herausgeputzten. Überall warten eingezäunte Baustellen auf Bauarbeiter. Müll liegt in Säcken vor den Türen; wie und wann sie entsorgt werden, ist in den Grätzeln unterschiedlich geregelt. Zu viele Autos haben zu wenig Platz, sie parken bei Gelegenheit auf Gehsteigen. Niemand stößt sich an alldem. Würde es das Klima nicht verraten, verortete man Brüssel näher am Mittelmeer als an der Nordsee.
Benedikt Narodoslawsky ist Politikredakteur im Falter
ner haben ihre Wohnhäuser schmal nach hinten gebaut, weil die Steuerlast der Bürger einst nach der Fassadenbreite anstatt der Wohnfläche berechnet wurde. Überall in der Stadt trifft man auf großflächige Comicszenen. Sie sind auf ganze Häuserwände gemalt und zeigen Figuren wie Tim und Struppi des Brüsseler Comiczeichners Hergé. Und das Wahrzeichen der Stadt? Eine Miniaturstatue namens „Mannekin Pis“ – ein bronzener Bursche, der in einen Brunnen pinkelt. „Brüssel ist keine Liebe auf den ersten Blick“, sagt ein Tou-
ristiker, der auf der ganzen Welt herumgekommen ist, „aber du wächst mit ihr.“ Und der österreichische Autor Martin Leidenfrost beschreibt die Stadt in seinem Buch „Brüssel zartherb“ als eine „in reifen Jahren entdeckte und vielleicht etwas schmuddelige Geliebte. Auf die man aber auch nichts kommen lässt.“ Und doch verbindet man mit Brüssel eher kühle Bürokratie denn heiße Erotik. Wie die Uno-City für die Wiener sind die EU-Institutionen für die Brüsseler zuerst einmal eines: ein Wirtschaftsfaktor, den man nicht übersehen kann. Einerseits, weil für die Erbauung des EU-Viertels historische Häuser abgerissen wurden und die Mietpreise im ganzen Areal in die Höhe schnellten, was die Einwohner erboste. Andererseits, weil dank der EU viele Gutverdiener in der Stadt arbeiten, die ihr Geld hierlassen. Die EU ist in Brüssel ein wichtiger Arbeitgeber geworden. Brüsseler und die Eurokraten, das ist ein fried-
liches Nebeneinanderherleben. „Die EuroBubble ist groß und grenzt sich ab von den Belgiern“, erklärt ein EU-Parlamentsbeamter. Viele, die aus allen EU-Ländern in die Hauptstadt Europas ziehen, schlagen hier keine Wurzeln, sondern kehren nach einigen Jahren wieder in ihre Heimat zurück. Brüssel ist für die meisten keine Endstation, sondern bloß eine Zwischenetappe im Lebenslauf. Jene, die doch hierbleiben, merken das spätestens „nach dem dritten Komplettwechsel von Freunden“, sagt der EU-Beamte. Erst seit er in Brüssel eine Familie gründete, habe er über die Betreuungsstätte seiner Kinder belgische Freunde gewonnen. Dabei beäugen sich selbst die Brüsseler untereinander skeptisch. Schon lange schwelt in Belgien ein politischer Zwist zwischen den französischsprachigen Wallonen und den niederländischsprachigen Flamen, der das Land zu spalten droht. Die Kapitale nimmt in diesem Streit eine Sonderrolle ein: Geografisch liegt Brüssel in Flandern, die Bevölkerung ist hingegen mehrheitlich wallonisch. Die Straßenschilder wiederum sind zweisprachig beschriftet. Während Brüssel die Hauptstadt eines geteilten Landes ist, dient sie gleichzeitig als Symbol für die europäische Einigung. Im Jahr 1958 traten die Römischen Verträge in Kraft, damit war der Grundstein für die EU gelegt. Die Vorläufer der EU – die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) – nahmen noch im selben Jahr ihre Arbeit in Brüssel auf. Europa wuchs zusammen, Brüssel wuchs in die Höhe. Immer mehr EU-Gebäude spros-
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reichs Hauptstadt sen aus dem Boden. Und sie sprießen weiter. Durch den Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 bekam das Europäische Parlament mehr Macht, Kroatien trat der Union 2013 bei. Nun ziehen Kräne gerade einen Rohbau in die Höhe, für mehr Beamte und mehr Dolmetscher. Nicht weit davon entfernt entsteht das Haus der europäischen Geschichte. Blickt man auf die Karte des „Lobby Planet“,
den die Forschungsgruppe Corporate Europe Observatory herausgibt, ist mit den EU-Gebäuden auch die Zahl der Lobbyfirmen gestiegen. Sämtliche Branchen haben hier Büros, von der Caritas Europa bis hin zum Investmentbanking-Riesen Goldman Sachs. Eines der größten Lobbyisten-Nester wurde im Areal rund um den dichtbefahrenen Kreisverkehr Rond-Point Schuman gebaut. Der Grund dafür: das benachbarte Berlaymont, die Zentrale der EU-Kommission. Der riesige Gebäudekomplex wirkt beinahe furchteinflößend, wie ein verglastes Gefängnis der Bürokratie, das für Tausende Insassen geschaffen wurde. Von oben betrachtet hat es den Grundriss einer Mischform aus einem Kreuz und einem X. Rund um den Schuman-Kreisverkehr ragen glatte Funktionsbauten in die Höhe, auf deren schlichten Türschildern prominente Namen stehen: BP etwa, der internationale Ölkonzern. Oder im Haus gegenüber auf einem Messingschild: Verbund, der österreichische Stromerzeuger. Biegt man in die Avenue de Cortenbergh ein, rauschen Autos auf drei Spuren zwischen kühlen Glaspalästen vorbei. Hier sitzen nicht nur der weltgrößte Chemiekonzern BASF, sondern auch der österreichische Energiekonzern OMV und die Ständige Vertretung Österreichs bei der Europäischen Union. Erst in den Seitenstraßen lässt Brüssel seine kapitale Kraftmeierei hinter sich und zeigt sich mit seinen schmalen Bürgerhäusern wieder von seiner lieblichen Seite. Wer an ihnen vorbeischlendert, stößt bald ins Hairy Canary. Das Pub ist ein Treffpunkt der Mächtigen. Es ist Freitagabend, im Fernsehen an der Wand läuft Cricket, hinten im Lokal spielt eine Band, auf einer Tafel steht: „No profanity“ – „Keine Gotteslästerung“. Die Gäste wirken unauffällig, aber von Berufs wegen verändern sie Europa. Was der Place Lux für die Jungen ist, sind die Pubs für die älteren Semester im EU-Apparat. Sie arbeiten meist nicht mehr als Parlamentsmitarbeiter, sondern als Beamte in der EU-Kommission oder für den Europäischen Rat, „weil du dort eine Expertise brauchst, die du als Junger noch nicht hast“, erklärt ein Kommissionsmit-
arbeiter den Altersunterschied. Er selbst arbeitet seit vielen Jahren in Brüssel und schwärmt von den verschiedenen Kulturen und Sprachen, der Qualität der Arbeit und der Kollegen. „Hier sind internationale Leute, die kompetent, professionell und interessiert sind“, sagt der Kommissionsbeamte. „Und du kannst gestalten. Auch als „Ich glaube, die einzelner Beamter hast du viel Verantwortung.“ Tatsächlich haben Beamte selten so Leute bleiben viel Einfluss wie im Brüsseler Europaviertel. Sie feilen an Gesetzen für 500 Millio- hier, weil sie nen Menschen. süchtig nach Ein Beamter, der für den Rat der Europäischen Union arbeitet, grüßt freundlich, Macht sind“ in der Hand ein Bier, seiner Aussprache nach zu urteilen nicht das erste. Er setzt sich an den Tisch. In der Europa-Blase kennt man sich, schließlich arbeitet man mit- und nebeneinander – das sandbeige Haus des Rats der EU, in dem die Minister und Beamte der einzelnen EU-Länder über Europas Zukunft verhandeln, liegt gleich gegenüber des verglasten Berlaymonts der Die Hauptstadt Kommission. Belgiens besteht aus Brüssel sei gefährlich, sagt der betrunke-
ne Ratsbeamte. Vor kurzem sei er ausgeraubt worden. Warum er nicht wieder zurück in die Heimat will? „Ich glaube, die Leute bleiben hier, weil sie süchtig nach Macht sind.“ Dann holt er ein neues Bier von der Schank, stellt es am Tisch ab, verschwindet auf die Toilette und torkelt nach Hause, ohne sich von seinem Bier oder der Runde zu verabschieden. Dabei wären schon alleine die Biere ein Grund dazubleiben. Stolz werden sie hier in bauchige Gläser gefüllt. In Brüssel sind sie mehr als nur Gebräu, sie sind ein Teil der Identität. Die Kulinarik prägt das Gesicht der Stadt. Elegante Restaurants bieten im Straßenverkauf eiligen Feinspitzen Muscheln to go an. In der Nacht bilden Brüsseler aller Gesellschaftsschichten lange Schlangen vor kleinen Häuschen, um geduldig darauf zu warten, eine Tüte Pommes zu bestellen. In der Innenstadt verkaufen sie warme Waffeln aus Bussen heraus. Und in den Schokoladegeschäften dieser Stadt präsentieren sie belgische Pralinen, als wären sie Juwelen. Aber Mohnkuchen gibt es nicht. Den trägt Ulrike Lunacek gerade im Karton geschützt im Sackerl, in der anderen Hand einen Rollkoffer und einen Aktensack. Wien – Brüssel – Straßburg; ein Trolley-Leben zwischen Städten. „Wir wollen das, was wir in der Bubble tun, stärker nach Österreich bringen“, sagt Lunacek. „Aber es ist allein schon rein organisatorisch schwer, in Österreich präsent zu sein.“ Sie rollt ihren Koffer zur Bahnstation am Flughafen,
19 Gemeinden. Vom Status her ist sie neben Flandern und Wallonien die dritte belgische Region.
Im Jahr 1957 einigten sich die Benelux-Staaten, Italien, Deutschland und Frankreich darauf, Brüssel zum Sitz der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu machen – dem Vorläufer der EU. Zugute kam ihr dabei, dass sie in keinem der großen EWG-Länder lag und von den meisten Hauptstädten der Mitgliedsländer gut erreichbar war. Über die Jahre wuchs Brüssel zur Hauptstadt Europas heran. Heute befinden sich hier die EU-Kommission und der Europäische Rat. Der offizielle Sitz des Europäischen Parlaments befindet sich zwar im französischen Straßburg, im EUParlament in Brüssel findet allerdings der größte Teil der parlamentarischen Arbeit statt
Zug Richtung Innenstadt. In Wien sei sie zu Hause, sagt Lunacek, aber in Brüssel warten ihre Lebensgefährtin und ihr Beruf auf sie: Die Grüne Lunacek ist Vizepräsidentin des EU-Parlaments und damit die höchstrangige EU-Parlamentarierin Österreichs. Was ihr an Brüssel gefalle? Das Internationale. Das Multikulti. Die Kochbananen etwa. Oder die getrockneten Fische. Die arabischen Märkte. Und das afrikanische Viertel. Es sind die Spuren, die Belgiens Historie hin-
terlassen hat. Noch heute spiegelt sich die Kolonialzeit in Brüssel wider. Einst beutete Belgien seine Kolonialländer brutal aus, noch heute glänzt afrikanisches Blattgold von den barocken Prachtbauten, die den Hauptplatz Grande Place umrahmen. Das afrikanische Viertel liegt direkt neben dem EU-Viertel und trägt den Namen Matongé – wie der Stadtteil der kongolesischen Hauptstadt Kinshasa. Wirte, Geschäftstreiber, Friseure aus den Kolonien haben sich hier angesiedelt. Aber seit die Gegend gentrifiziert wird und die Mieten stiegen, können sich nur noch wenige afrikanische Einwanderer das Wohnen leisten. Der Zug bringt Lunacek bis zum EUParlament, die Bahnhofsstation liegt genau darunter. Einst stand hier ein Bahnhof, heute erinnert nur noch die Fassade an ihn. Der Rest musste dem riesigen EU-Glaspalast weichen. Das Parlament ist ein Labyrinth. Zwölf Stöcke, zwei Hauptgebäude, die Kantine für 10.000 Menschen ausgelegt. Ein Plenarsaal, ein Filmstudio, ein Musikveranstaltungsraum, ein TV-Studio, Geschäfte, Banken, Post, Bibliothek, Sportzentrum, Büros, Ausschussräume, dazu noch Lifte, die nur in bestimmte Etagen führen. Eigene Pläne an den Wänden weisen den Parlamentariern den Weg zu den unzähligen Sitzungssälen. Selbst langjährige Mitarbeiter haben das Gebäude noch immer nicht begriffen. „Das macht auch den Abgeordneten zu schaffen“, sagt eine Parlamentsmitarbeiterin, „die neuen rennen oft wie die kopflosen Hendln durch die Gegend und sind am Anfang nur damit beschäftigt, sich zu orientieren.“ Lunacek ist seit 2009 Abgeordnete in Brüssel, sie hat sich im Parlament mittlerweile gut zurechtgefunden. Wie sich die Politik hier von der in Wien unterscheide? „Es gibt hier einen viel stärkeren Parlamentarismus“, sagt Lunacek. Jedes Mal werde hier um Gesetze gefeilscht, jede Stimme entscheide, Politiker würden hier über Fraktionsgrenzen hinweg kollegial zusammenarbeiten und einander schätzen. Und was sie an Brüssel störe? „Das Pflaster.“ F
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F A L T E R
Europa
Zehn Personen, ohne die Ihr Leben stand im Zeichen der europäischen Integration. Freilich nicht immer aus den besten Gründen Z usa m m ens t ellung : W o lfgang Z wande r
Der erste Kaiser von Zentraleuropa: Karl der Große
ie Namensgeberin unseD res Kontinents war eine Asiatin. Zumindest, wenn
arl der Große war gewiss K kein Europäer im modernen Sinn. Doch er schuf
man der Mythologie glaubt. Europa war die Tochter des phönizischen Königs Agenor und seiner Frau Telephassa, die beide wiederum vom Meeresgott Poseidon abstammten. Phönizien war ein Reich auf dem Boden der heutigen Staaten Israel, Syrien und Libanon. Europa war so schön, dass Göttervater Zeus sich in sie verliebte und sie mit einer List übermannen wollte. Die Prinzessin spielte mit ihren Freundinnen am Strand, wo neben den Mädchen Stiere grasten. Zeus mischte sich unter die Herde und verwandelte sich in einen kräftigen Bullen mit weißem Fell. So schlich er zu den Mädchen und gewann durch Zutraulichkeit schnell ihre Gunst. Als Europa sich aber auf ihn setzte, rannte er mit ihr ins Meer und schwamm nach Kreta, also nach Europa. Dort gab er sich dem Mädchen als Göttervater zu erkennen und zeugte mit ihr drei Söhne. Einer davon wurde der legendäre König Minos. F
Unser Kontinent ist nach einer schönen Asiatin benannt, die nach Kreta entführt wurde
Die gute Beziehung zwischen Adenauer (1876–1967) und Schuman (1886–1963) bildete das Fundament der europäischen Integration
Adenauer und Schuman: das Ende einer Erzfeindschaft as Verhältnis zwischen man-Plan vor (siehe auch D Deutschland und Frank- Seite 31). Der sah vor, dass reich war über Epochen ver- „die Gesamtheit der franzögiftet. Lange machte das Wort der deutsch-französische Erbfeindschaft die Runde, um die Beziehung zwischen den beiden Staaten zu erklären. Der deutsche Schriftsteller Ernst Moritz Arndt dichtete etwa 1813: „Das ist des Deutschen Vaterland, wo Zorn vertilgt den welschen Tand, wo jeder Franzmann heißet Feind, wo jeder Deutsche heißet Freund.“ Spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg war allenthalben klar: Die europäische Integration kann nur funktionieren, wenn Deutschland und Frankreich damit aufhören, sich alle paar Jahrzehnte zu überfallen. Die Glut ihrer Feindschaft, die sich immer wieder zum Inferno auswuchs, musste endgültig ausgetreten werden. Das Gebot der Stunde hieß deutsch-französische Versöhnung: eine Mission, für die heute vor allem die Namen Konrad Adenauer und Robert Schuman stehen. Schuman, französischer Außenminister, stellte im Mai 1950 den von Jean Monnet ausgearbeiteten Schu-
sisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde zu stellen (ist), in einer Organisation, die den anderen Ländern zum Beitritt offensteht“. Daraus entstand die Montanunion, also die Vorgängerin der heutigen EU. Das ganze Vorhaben zielte auf einen Souveräntitätsverlust Deutschlands ab, doch der deutsche Kanzler Adenauer stimmte trotzdem sofort zu und erklärte den Schuman-Plan „als einen entscheidenden Schritt zu einer engen Verbindung Deutschlands mit Frankreich und damit zu einer neuen, auf der Grundlage friedlicher Zusammenarbeit aufgebauten Ordnung in Europa“. Adenauers Haltung lag auch in der Angst Westdeutschlands vor der Sowjetunion begründet. Aber wie auch immer: 1963 unterzeichnete er mit Frankreichs Präsidenten Charles de Gaulle einen Freundschaftsvertrag, mit dem endgültig die Ära der europäischen Integration eingeleitet wurde. F
ein Reich, das die europäische Integration im Ansatz vorwegnahm. Das sieht man auch daran, dass deutsche und französische Historiker jahrhundertelang stritten, ob Karl nun Franzose oder Deutscher gewesen sei. Wobei er im Grunde natürlich keines von beidem war, sein gewaltiges Reich erstreckte sich einfach nur über den Boden beider Staaten, so wie wir sie heute kennen; und geboren wurde er bei Lüttich, Belgien. Carolus Magnus, wie sein lateinischer Name lautete, kam 747 oder 748 auf die Welt und war ab 768 König der Franken. 800 erhielt er vom Papst als erster westeuropäischer Herrscher seit der Antike die Kaiserwürde. Karls Frankenreich hatte keine Hauptstadt, aber seine Lieblingsresidenz war Aachen. Er eroberte und christianisierte Zentraleuropa, was ihm etwa den Namen „Sachsenschlächter“ einbrachte. Schon zu Lebzeiten war Karl aber auch als „Pater Europae“ bekannt. Als Vater Europas. F
Kaiser Karl der Große (747/ 748–814) nahm die Integration von Zentraleuropa vorweg
Napoleon (1769–1821) unterwarf Frankreichs Nachbarn und wollte Europa vereinen
Napoleon, der Europäer: ein Bote der Revolution apoleon, das größenN wahnsinnige Genie aus Korsika, vereinte Europa
doppelt. Erstens unterwarf er Frankreichs Nachbarn und vereinte große Teile des Kontinents mit Hilfe seiner Truppenstärke. Er träumte von einem vereinten Europa unter französischer Herrschaft, er exportierte die Ideen der Französischen Revolution. In den von ihm eroberten Gebieten beseitigte er die ständische Rechtsordnung mit ihrer Privilegienwirtschaft, vor allem die Leibeigenschaft, und erlaubte damit eine Umverteilung der bis dahin völlig starren Besitzverhältnisse. Der zweite Grund, warum Europa durch Napoleon zusammenfand: Nachdem er besiegt worden war, trafen sich Europas Spitzendiplomaten 1815 auf dem Wiener Kongress, um dem alten Kontinent gemeinsam eine neue Ordnung zu geben. Gegen Ende seines Lebens, längst verbannt ins Exil nach St. Helena, sagte Napoleon: „Welch ein Roman war doch mein Leben.“ Ein europäischer Roman mit hohem Blutzoll. F
F o t o s : A r c h i v ( 3 ) , D P A / A pa
Die schöne Namensgeberin unseres Erdteils: Europa
E u r o p a
FALTER
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F o t o s : D P A / A pa , A pa / R o b e r t J ä g e r , D H M , D P A / U l l i D r e c k
Europa anders wäre Titan Churchill: gegen Hitler und für ein vereintes Europa
Jean Monnet: Frankreichs Schattenmann für Europa
er britische Staatsmann D Winston Churchill ist für vieles bekannt, am be-
r war Europas StrippenE zieher: Jean Monnet. Er gilt als einer der wichtigsten
rühmtesten ist er für sein entschiedenes Auftreten gegen Adolf Hitler. Die Nazis wollten Europa unter deutscher Herrschaft vereinen, was sie 1940 auch fast geschafft hätten. Sie überrollten mit ihren Panzern Frankreich und Polen, verbündeten sich mit Italien und Spanien und hatten mit der Sowjetunion einen Nichtangriffspakt geschlossen. In diesen Tagen war Churchill einer der wenigen Staatsmänner Europas, die laut gegen Hitler auftraten. Im Mai 1940, in seiner ersten Rede als Premier, sagte Churchill zu den Briten: „Ich habe nichts zu bieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.“ Er stimmte sein Volk auf Krieg ein. Als das Nazi-Regime sein Ende fand, erkannte er das Gebot der Stunde: 1946 schlug er bei einer Rede vor Studenten in Zürich die Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa“ vor, deren „erster Schritt eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland“ sein müsse. F
Ohne Churchill (1874–1965) wäre Hitlers Traum vom NaziEuropa wohl wahr geworden
Bundeskanzler Franz Vranitzky und Außenminister Alois Mock überzeugten Österreich vom Sinn der europäischen Integration
Österreichs Wegbereiter nach Europa: Mock und Vranitzky sterreich und die Eu- war die EU damals beliebropäische Union: kein ter als bei den SozialdemoÖ leichtes Thema. Bis heu- kraten, galt doch die europäte mangelte es in der heimischen Öffentlichkeit nie an Stimmen, die die europäische Integration vor allem kritisch oder negativ sahen. Dass Österreich, im Gegensatz zur neutralen Schweiz, trotzdem in der EU gelandet ist, wird heute vor allem mit der Leistung von zwei Politikern verbunden: Alois Mock und Franz Vranitzky. Mock war Außenminister von 1987 bis 1995, 1989 brachte er in Brüssel das österreichische Beitrittsgesuch ein. Nach seiner Rückkehr von der letzten Verhandlungsrunde 1994 wurde er von der ÖVP erfolgreich zum „Helden von Brüssel“ stilisiert, wobei er damals schon deutlich an einer Parkinson-Erkrankung litt. Heute gestehen auch ehemalige politische Gegner wie Vranitzky Mock zu, dass die europäische Integration sein Herzensprojekt war und dass er „für Europa durchs Feuer“ ging. Mock hatte es in seiner Partei aber auch leichter als Bundeskanzler Vranitzky in der SPÖ. Bei den Schwarzen
ische Integration vielen vor allem als arbeitgeberfreundliches Wirtschaftsprojekt. Hinzu kam bei den Roten, dass „Sonnenkönig“ Bruno Kreisky zwar nicht gegen die EU war, aber kein einfaches Verhältnis zu ihr pflegte, weil er sich um Österreichs Neutralität sorgte. Vranitzky nahm sich schließlich der vielen Widerstände in seiner Partei an und lenkte den roten Tanker – nach viel innerparteilicher Überzeugungsarbeit – zielsicher in Richtung Europa. Heute spielt Vranitzky seine Rolle bei Österreichs EUBeitritt klein und streut stattdessen lieber seinem damaligen Finanzminister Ferdinand Lacina Lorbeeren. So sagte er: „Lacina spielte die entscheidende Rolle, aber er ist von seiner ganzen persönlichen Veranlagung her nicht jemand, der sich an die Vorderkante der Bühne stellt.“ Im Juni 1994 votierte jedenfalls ein klare Mehrheit der Österreicher für die EUMitgliedschaft und kurz darauf unterzeichnete Vranitzky den Beitrittsvertrag. F
Akteure der europäischen Integration, obwohl er nie Regierungschef oder auch nur Minister gewesen war. Monnet entstammte einer französischen Kaufmannsdynastie. Er verließ die Schule mit 16 Jahren und reiste als Cognac-Händler und Bankier um die Welt. Während des Zweiten Weltkriegs war er maßgeblich mit der Koordinierung der britischfranzösischen Industrieproduktion beschäftigt. Nach dem Krieg wurde er berühmt für seine Urheberschaft des „Schuman-Plans“, der zur Zusammenlegung der westeuropäischen Schwerindustrie führte. Das Vorhaben verfolgte nicht zuletzt das Ziel, den Deutschen die Kontrolle über ihre kriegsrelevante Stahlproduktion zu nehmen. Nach Monnets Wirken ist heute eine eigene Methode benannt. Grob umrissen besagt die Monnet-Methode: Die EU muss sich immer dort weiterentwickeln, wo es gerade möglich ist und wo man auf Herausforderungen reagieren muss. F
Vom Cognac-Händler zum europäischen Strippenzieher: Monnet (1888–1979)
Gorbatschow gab Osteuropa frei und warnt heute vor einem neuen Riss durch Europa
Gorbatschow: Mahner und Ermöglicher der Ost-Erweiterung ichail Gorbatschow war M der letzte Präsident der Sowjetunion; seine Politik
der Glasnost (Offenheit) und der Perestroika (Umbau) leiteten das Ende der UdSSR ein. Seiner Umsicht ist es zu verdanken, dass der Zusammebruch des russisch dominierten Ostblocks weitgehend friedlich und gesittet verlief. Gorbatschow ermöglichte die deutsche Wiedervereinigung und legte einen Grundstein für die EU-Osterweiterung. Wenn er seinerzeit von Europa sprach, sprach er gerne vom „europäischen Haus“, in dem nur Frieden herrschen könne, wenn sich alle seine Bewohner auf gemeinsame Hausregeln einigen würden. Heute klagt Friedensnobelpreisträger Gorbatschow bitter darüber, der Westen habe seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion darauf vergessen, Russlands Interessen genügend zu berücksichtigen. Erst diese westliche Politik führte laut Gorbatschow dazu, dass in Moskau, der größten Stadt Europas, heute ein Präsident regiert, der die Ordnung im europäischen Haus auch wieder mit Gewalt verändert . F
„KEIN MENSCH HAT ELDORADOS VERSPROCHEN“ B R I G I T T E ED ER ER , S EI T E 24