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Inhalt
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Kopf im Bild Georg Gottlob, Informatiker Kleiner Fisch mit großem Vorteil Die Fortpflanzung der Schneckenbuntbarsche Wir sind Weltraum! Zwei heimische Satelliten erforschen das All Bis Gewalt und Ehebruch euch scheidet … Trennung und Scheidung im Wandel der Zeit
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Zahlen zur Krise Der Countdown zum Thema Am Anfang war die Fledermaus Die fieberhafte Suche nach Ebola-Gegenmitteln Titelstory : Wer sagt Krise? Der Neoliberalismus steht auf der Kippe Die Gefahr des billigen Geldes Mario Draghis Geldpolitik und ihre Folgen
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Wie sorgt Österreich für die Krise vor? Wege zu mehr Resilienz in den Gemeinden Wege und Irrwege des Krisenmanagements Aktuelle Krisenherde und ihre Herausforderungen Walk like a Tuareg Transnationale Routen der Tuareg im Wandel Gedicht, HEUREKA-Rätsel, Kommentar Was am Ende bleibt
Kommentar
Editorial
Mainstream gegen Orchideenfach Christoph Kratky
Gr afik: Tone Fink, foto: privat
sterreichs Universitäten sind Ö vielgestaltig. Gemeinsam bieten sie mehr als 1.000 Studiengänge an.
Die Breite dieses Angebots ist sehr unterschiedlich verteilt: Während die Uni Wien allein über mehr als 200 Studiengänge verfügt, sind es bei der vom Budget her nicht viel kleineren MedUni Wien gerade einmal acht. An den vier „Volluniversitäten“ in Wien, Graz, Innsbruck und Salzburg sind weit mehr als die Hälfte aller Studiengänge eingerichtet. Keine Frage: Eine moderne Wissensgesellschaft braucht fachliche Breite. Österreich braucht ein Unisystem, welches das ganze Spektrum wissenschaftlicher Disziplinen abbildet. Das ist nicht nur ein Gebot kulturellen Selbstverständnisses, sondern auch wissenschaftspolitische Vernunft. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass Islamwissenschaften, Sino- oder Turkologie gesellschaftspolitisch wichtig sein würden? International gibt es allerdings eine starke Tendenz zur Konvergenz von Forschungsinteressen – Stichwort „Grand Challenges“. Forschung auf solcherart priorisierten Gebieten wird forciert, gut finanziert und in jeder Hinsicht unterstützt – Mainstream eben. Das schlägt auch auf unsere öffentlich finanzierten Bildungsund Forschungseinrichtungen durch. Ihnen wird Profilbildung und Schwerpunktsetzung abverlangt. Derartiges wird einer Spezialuni mit einer Handvoll Fächern keine großen Probleme bereiten. Sehr wohl aber den Vollunis mit ihrem Fächerspektrum. Erschwerend kommt hinzu, dass diese mit Ausnahme jener in Wien relativ klein sind. „Small is beautiful“ ist in der Forschung oft nicht wahr. In vielen Fächern braucht man „kritische Masse“, um international mithalten zu können. Für kleinere Unis stellt das einen schwer aufzulösenden Widerspruch
dar: Breite gegen Spitze. Für ein kleines Land mit kleinen Unis kann das nur bedeuten, dass die Unis ihr Fächerspektrum aufeinander abstimmen – ein schmerzlicher Prozess, der sich oft genug mit der universitären Autonomie spießt. Den besseren Weg hat uns Dänemark vorgemacht: die Zusammenlegung von Unis. Allein am Standort Graz existieren wenige hundert Meter voneinander entfernt drei naturwissenschaftliche Fakultäten, jede aus forschungspolitischer Sicht unterkritisch.
Christian Zillner
Die Diskussion um die Zusammenlegung von Uni und Med Uni Innsbruck gibt einem freilich wenig Hoffnung, dass die Kleinstaaterei in unserem Unisystem in absehbarer Zeit überwunden werden könnte.
Finkenschlag Handgreifliches von Tone Fink
Christoph Kratky lehrt am Institut für Molekulare Biowissenschaften der Karl Franzens Universität Graz
www.tonefink.at
Vielen Europäern erscheint Afrika krisengeschüttelt. Zum Beleg dafür müssen die Flüchtlinge herhalten, die über das Mittelmeer nach Europa kommen. Kaum jemand sieht in ihnen eine Chance für unsere Zukunft. Wie war das aber im Lauf der europäischen Geschichte? Ihre Krisen hat viele Europäer unter anderem nach den Amerikas und Australien getrieben. Die Flüchtlinge lösten unter der dortigen Bevölkerung gewaltige Krisen, ja Katastrophen aus. Kaum jemand sieht darin aber nicht auch das Neue und die Chancen, die sich daraus ergeben haben. Die europäischen Flüchtlinge suchten in ihren Zielländern Freiheit von religiöser und politischer Unterdrückung, aber auch neue wirtschaftliche Möglichkeiten. Nur die wenigsten wären unter den heutigen europäischen Asylgesetzen aufgenommen worden, sie hätten als Wirtschaftsflüchtlinge gegolten. Welche Chancen Afrika und seine Flüchtlinge Europa bieten, zeigt ein junger Österreicher namens David Alaba. Sein Talent und sein Fleiß haben ihn hierzulande auf den Status eines Fußballgottes erhoben. Merkwürdig nur, dass er seiner Arbeit hauptsächlich in Bayern nachgeht. Dort wird er jedoch nicht als Wirtschaftsflüchtling, sondern als Verstärkung des besten deutschen Fußballclubs angesehen. Bleibt uns die Frage: Sind wir derart krisengeschüttelt, dass Alaba woanders hinziehen musste?
Impressum Falter 45a/14 Herausgeber: Armin Thurnher Medieninhaber: Falter Zeitschriften GmbH, Marc-Aurel-Straße 9, 1010 Wien, T: 01/536 60-0, E: service@falter.at, www.falter.at Herstellung: Falter Verlagsgesellschaft m.b.H. Redaktion: Christian Zillner Fotoredaktion: Karin Wasner Produktion/Grafik: Reini Hackl Korrektur: Martina Paul Druck: Passauer Neue Presse Druck GmbH, 94036 Passau DVR: 047 69 86. Alle Rechte, auch die der Übernahme von Beiträgen nach § 44 Abs. 1 und 2 Urheberrechtsgesetz, vorbehalten. Die Offenlegung gemäß § 25 Mediengesetz ist unter www.falter.at/offenlegung/falter ständig abrufbar.
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Aus Wissenschaft und Forschung Kopf im Bild Informatikforschung Für den perfekten Überblick über einen Markt müsste man alle einschlägigen Daten im Netz kennen, etwa zu Immobilienangeboten. Doch Händler gestalten ihre Webseiten unterschiedlich. Georg Gottlob, Informatiker an der Uni Oxford mit Teilzeitprofessur an der TU Wien, befasst sich damit, Computern beizubringen, relevante Daten auf verschieden strukturierten Webseiten zu erkennen und in eine einheitliche Datenbank einzuspeichern. Dafür erhielt der Wittgenstein-Preisträger einen hoch dotierten ERC Advanced Grant. „Wir konnten das menschliche Wissen, das der Rechner dafür braucht, in Form von logischen Regeln darstellen und Algorithmen für deren Anwendung entwerfen“, erklärt Gottlob. Nun konnte er zusätzlich einen ERC-Proof-ofConcept-Preis einwerben, um die konkreten Einsatzmöglichkeiten dieser Technologie auszuloten. „In der Informatik wird einem nie langweilig“, so der gebürtige Wiener. „Sie ist die Brücke zwischen der abstrakten und der wirklichen Welt. Und die Basis ist die Logik.“ T e x t : uschi sor z F oto : T U W ien
U schi S or z
it dem uni:docs-Programm fördert die Universität Wien beM sonders innovative Doktoratsprojek-
te. Drei der neuen uni:docs-Fellows stellen wir hier vor. Bettina Ponleitner, 30, Mathematik
„Die Robotik ist ein sehr komplexes Gebiet mit stark interdisziplinärem Charakter“, beschreibt Bettina Ponleitner. Und genau das ist für die Mathematikerin und Sportwissenschafterin das Spannende daran. Denn das Fach beschäftigt sich mit Fragestellungen aus dem realen Leben, deren Lösungen tatsächlich Anwendung finden, etwa bei Industrierobotern. „Mich hat immer schon die Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis
weit mehr interessiert als die reine Theorie“, erklärt die Niederösterreicherin. „Daher liegt mein Forschungsschwerpunkt in der angewandten Mathematik.“ In ihrer Dissertation „Global Optimization in Robotics“ konzentriert sie sich auf die mechanische Architektur von parallelen Robotern und dabei speziell auf geometrische und kinematische Problemstellungen. Martin Walter, 23, Umweltgeowissenschaften
In der Vöcklabrucker Gegend, aus der Martin Walter stammt, gab es früher Asbestindustrie. Wegen der Gesundheitsgefahr ist der Einsatz asbesthaltiger Materialien längst verboten, nach wie vor gibt es aber ein Entsorgungsproblem. Walter untersucht in seiner
Doktorarbeit die Mechanismen der Asbestverwitterung. „Meine wichtigste Hypothese ist, dass Asbestfasern in Böden durch Verwitterungsvorgänge abgebaut werden und ihr Gefährdungspotenzial für Menschen so sukzessive sinkt.“ Dabei konzentriert er sich auf natürlich vorkommende Substanzen, die von Pflanzen und Mikroorganismen in den Boden ausgeschieden werden und die Asbestverwitterung beschleunigen können. „Durch bestimmte Bepflanzung kontaminierter Böden könnte man somit eine schnellere Asbestverwitterung erzeugen.“ Magdalena Brunner, 25, Astrophysik
Als Kind blickte sie am liebsten von der Terrasse ihrer Großmutter in den Nachthimmel. Inzwischen verwendet
Magdalena Brunner eines der besten Radioteleskope der Welt, das Atacama Large subMillimeter Array. Für ihre Dissertation beschäftigt sich die junge Astronomin mit der Beobachtung und computergestützten Modellierung von sehr alten, großen und roten Sternen am Ende ihrer Lebenszeit. „Auch unsere Sonne wird einmal dazugehören“, erzählt sie. „Diese Sterne blähen sich auf und verlieren einen Großteil ihrer Masse.“ Sie schleudern Gas nach außen und um sie bilden sich zirkumstellare Hüllen. Die Geometrie der zirkumstellaren Hüllen und der genaue Ablauf des Massenverlusts dieser Sterne stehen im Fokus von Brunners Arbeit. „Immer genauer ins Universum schauen zu können und immer komplexere Dinge zu entdecken ist faszinierend.“
Fotos: privat
JungforscherInnen
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Aus Wissenschaft und Forschung Mathematik
Anthropologie
Biologie
Mit einer stochas tischen Analyse die hohen Risiken der Finanzindustrie besser verstehen
Neandertaler und Frühmenschen begegneten sich womöglich im Landl der Mariandl
Kleine Fische sind großen beim Zeugen überlegen
Uschi sorz
Jochen Stadler
Jochen Stadler
Finanzwesen spielen mathemaie ältesten Wachauer, die sich mit Idemtische Modelle eine herausragen- D Fug und Recht moderne MenRolle. „Ihre Komplexität verstellt schen nennen konnten, lebten vor allerdings oft den Blick auf das Modellrisiko“, sagt Mathias Beiglböck, Professor für Mathematik an der Universität Wien. So bildet das Modell die Wirklichkeit nicht immer adäquat ab. „Weil das mathematisch schwer zu fassen ist, wird das Problem sehr unterschätzt“, meint der 34-jährige Wiener. Obwohl das Modellrisiko als entscheidender Mitverursacher der Finanzkrise genannt wird, habe dies kaum Auswirkungen auf die Regulierung der Finanzindustrie. „Überspitzt gesagt, werden mathematische Modelle missbraucht, um das zu rechtfertigen.“ Das Ziel seiner Forschung ist, das Modellrisiko zu quantifizieren und damit sichtbar zu machen. Dazu befasst sich Mathematiker Beiglböck,
F o tos:pr i vat, Sa b in e W i r t z O c a na , Ba r ba r a Ta b o r sk y
„Die Komplexität mathematischer Modelle verstellt oft den Blick auf das Modellrisiko“ Mathias Beiglböck, Universität Wien
einer der START-Preisträger 2014, mit stochastischer Analyse, speziell von Modellen und Prozessen mit stark irregulärem Verhalten. Er hat eine neuartige Methode entdeckt, die es erlaubt, solche extreme Modelle besser zu verstehen. Der START-Preis ist die höchst-dotierte heimische Förderung für Spitzen-Nachwuchsforscher. „Für mich bedeutet das zunächst persönliche Sicherheit“, freut sich der Finanzmathematiker. In den zehn Jahren befristeter Dienstverhältnisse seit seiner Promotion hatte er Zweifel, ob sich der hohe Einsatz lohnen würde. Die Auszeichnung gibt ihm nun die Möglichkeit, in den nächsten sechs Jahren finanziell abgesichert eine eigene Forschungsgruppe aufzubauen und zu leiten. Den Reiz der Wissenschaft kennt er schon lange. „Seit ich denken kann, wollte ich Erfinder werden.“ Ob zuerst beim Legospielen oder später in der Schule beim Rechnen: „Bis heute fesselt mich nichts so sehr wie das Gefühl, neue Dinge zu entdecken.“
43.500 Jahren, fanden Wissenschafter durch einen Ausgrabungsfund im niederösterreichischen Willendorf heraus. Dies ist ein paar tausend Jahre früher als angenommen und der aktuell früheste Nachweis moderner Menschen in Europa. Die Wachau war „Ausgrabungsfunde in Willendorf belegen, dass hier bereits vor 43.500 Jahren moderne Menschen lebten“ Bence Viola, Universität Wien
damals eine Kaltsteppe, und es war für eiszeitliche Verhältnisse recht mild, berichten sie außerdem im Fachjournal Pnas. Durch das frühe Auftauchen der modernen Menschen sei die Zeitspanne größer, in der sie sich Europa mit den Neandertalern teilten, so Bence Viola, der die Arbeit unter anderem am Department für Anthropologie der Universität Wien durchgeführt hat. Sie hatten also mindestens 3.500 Jahre Zeit, um sich zu vermischen, denn die Neandertaler verschwanden nach aktuellen Daten erst vor etwa 40.000 Jahren. Bis jetzt hatte man die Ankunft der modernen Menschen frühestens auf 41.500 vor heute geschätzt. Dass Neandertaler und moderne Menschen gemeinsame Nachkommen zeugten, ist klar, denn alle heutigen Menschen außerhalb Afrikas tragen eineinhalb bis drei Prozente Neandertaler-DNA. Die Forscher haben an der Fundstelle Willendorf II zwar keine menschlichen Überreste gefunden, denn für die Knochenerhaltung ist der Untergrund dort zu aggressiv, doch charakteristische Lamellen-Werkzeuge in einer Bodenschicht, die sie als 43.500 Jahre alt identifizierten. Lamellen sind kleine Steinartefakte, die wahrscheinlich Teile von Jagdwaffen waren und bis zu einem Zentimeter breit und bis zu mehreren Zentimetern lang sind. Die in Willendorf gefundenen Lamellen seien typisch für eine Epoche der jüngeren Altsteinzeit, dem sogenannten Aurignacien, so die Forscher.
Warum die Großen unter den Schneckenbuntbarschen im afrikanischen Tanganjikasee weniger oft zum Zug kommen
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iesenmännchen“ der Schneckenbuntbarsche im afrikanischen Tanganjikasee besitzen einen eigenen Harem. Sie sammeln Schneckenhäuser, in denen ihre Weibchen brüten. Obwohl die Hausherren ihr Reich streng bewachen, schlüpfen aber immer wieder Liebhaber in die eigentlich für die Damen reservierten Kämmerchen. Diese „Zwergmännchen“ haben damit einen privilegierten Platz und können direkt neben dem Laich ejakulieren und nicht nur von außen wie die Riesenmännchen. Das macht die Befruchtung durch die Zwergmännchen offensichtlich viel effektiver, berichtet der Österreicher Michael Taborsky mit Kollegen im Fachjournal „Proceedings of the Royal Society B“. Trotz eines vierzigfachen Größenunterschieds und achtmal kleinerer Hoden stammen über drei Viertel der Jungfische von den parasitischen Zwergmännchen, wenn sie in fremde Brutkammern eingedrungen sind, fanden die Forscher um Taborsky heraus, der an der Universität Bern in der Schweiz arbeitet. Die Riesenmännchen müssen allerdings so groß sein, dass sie nie und
nimmer hineinpassen, damit sie überhaupt Schneckenhäuser zusammentragen können, wie Michael Taborsky in einer früheren Arbeit gezeigt hat. „Erwachsene Zwergmännchen sind jedoch viel seltener als die Riesen„Über drei Viertel der Jungfische stammen von parasitischen Zwergmännchen“ Michael Taborsky, Universität Bern
männchen, die ein Nest verteidigen, sie machen nur etwa fünf bis zehn Prozente der sich gleichzeitig fortpflanzenden Männchen in einer Kolonie aus“, erklärt er. In der Natur wird daher insgesamt nur knapp jedes hundertste Ei von einem Zwergmännchen befruchtet. Ob die Männchen Riesen oder Zwerge werden, ist auf dem männlichen Geschlechtschromosom kodiert, wie die Forscher herausfanden. So kann die Selektion ungehindert sehr kleine und sehr große Männchen hervorbringen, ohne dass die Größe der Weibchen beeinträchtigt wird.
Dank ihrer geringen Größe können Schneckenbuntbarsch-Zwergmännchen unbemerkt selbst in streng bewachte, fremde Brutkammern schlüpfen
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Aus Wissenschaft und Forschung Astrophysik
Brief aus Brüssel
Wir sind Weltraum!
Emily Walton
sonja dries
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ie sind nur sieben Kilogramm schwer und haben eine Kantenlänge von zwanzig Zentimetern, dennoch tragen die beiden ersten Satelliten Österreich Großes zur Grundlagenwissenschaft bei. Seit ihrem Start in Indien im Februar letzten Jahres kreisen die zwei Nano-Satelliten BRITE-AUSTRIA und UniBRITE mit 28.000 km pro Stunde in 790 km Höhe um die Erde. Der Begriff Nano ist dabei auf die Masse bezogen. Ein bis zehn Kilogramm wiegen diese Flugkörper. Lange stand die Frage im Raum, ob Spitzenforschung mit so kleinen Satelliten überhaupt möglich sei – das bekannte Weltraumteleskop Hubble wiegt über elf Tonnen. Doch nachdem anfangs meistens Studenten mit Nano-Satelliten arbeiteten, die sehr einfach gehalten waren, wurden die Geräte mittlerweile auf höchstem Niveau entwickelt. Das Ziel der BRITE-Mission (Bright Target Explorer), zu der noch je zwei Satelliten aus Kanada und Polen gehören, ist, mehr über den Aufbau bestimmter Sterne herauszufinden. Die Satelliten messen ihre Helligkeitsvariationen über einen Zeitraum von jeweils sechs Monaten. So erkennen die Forscher, ob die Sterne rotieren, pulsieren oder von anderen Sternen oder sogar Planeten bedeckt werden. Die sogenannte Astroseismologie erlaubt damit Rückschlüsse auf das Innere der Sterne, ohne es je gesehen zu haben. Rainer Kuschnig,
Instrument Scientist und Mitglied des BRITE Executive Science Teams, zeigt sich mit den bisherigen Ergebnissen sehr zufrieden. Pro Tag sendet jeder der Satelliten Daten in der Größe von 20 bis 40 Megabyte an die Bodenstationen in Graz, Toronto und Warschau. Taucht ein Satellit in Reichweite einer der Stationen auf, wird eine Parabol-Antenne auf ihn gerichtet, um die Daten aufzunehmen. Während die Sternbilder Orion und Centaurus bereits untersucht worden sind, wurde Mitte September Perseus als neues Beobachtungsfeld anvisiert. „Es gibt fast jede Woche eine Kollisionswarnung“ Rainer Kuschnig, Instrument Scientist
Die beiden österreichischen Satelliten wurden an der Universität Wien und der TU Graz gebaut. Drei Wochen dauerte alleine der letztendliche Zusammenbau der komplexen Systeme. Sie besitzen ein Teleskop mit 3 Zentimeter Durchmesser und eine Digitalkamera, die mit ihrem großen Abbildungsfeld sogar den ganzen Orion abdecken kann. Die Energie, welche die Satelliten verbrauchen, wird durch Solarzellen erzeugt und in einem Akku gespeichert. Nach dem Zusammenbau wurden die Flugkörper verschiedenen Tests unterzogen, bei denen die
Verhältnisse im Weltraum oder auch die Vibration beim Start einer Rakete simuliert wurden. Das Budget für Österreichs erste Weltraummission, das unter anderem von der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft und dem Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie getragen wurde, betrug zwei Millionen Euro, inklusive Start. Dieser fand in Indien statt, weil dort zu einem passenden Zeitpunkt ein größeres Objekt ins All geschossen wurde. Die BRITE Mission konnte sich mit ihrem kleinen Satelliten gut anhängen. Neben den wissenschaftlichen Ergebnissen hatte die Mission auch Einfluss auf die österreichische Politik: Ein Weltraumgesetz wurde Ende 2011 eigens beschlossen, um den Start zu ermöglichen, und im Ministerium wurde eine Weltraum-Agenda eingerichtet. Erst diesen Sommer hatte die BRITE Mission die Aufmerksamkeit der Medien auf sich gezogen, als UniBRITE nur knapp einer Kollision mit einem chinesischen Satellitenteil entgangen war. Gerade elf Kilometer trennten diese beiden Objekte. Instrument Scientist Rainer Kuschnig hat bezüglich solcher Ereignisse jedoch schon eine gewisse Gelassenheit entwickelt: „Es gibt fast jede Woche eine Kollisionswarnung. Bei Entfernungen über hundert Kilometer fange ich noch nicht einmal an, mir Stress zu machen.“
UniBRITE von der Universität Wien ist einer von sechs Nanosatelliten, der am 25. Februar 2013 seine Mission ins All startete
stunden nachholen: Bei Veranstaltungen und in Ausstellungen im ganzen Land wird an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor hundert Jahren erinnert. Damals wurde das kleine, neutrale Belgien vom großen Nachbarn Deutschland besetzt. Auch kann man sich über Belgiens Leiden während des Zweiten Weltkriegs informieren. Wie schon zuvor geriet das Land wieder unter deutsche Zwangsherrschaft. Vor wenigen Wochen erst, im September, wurde in Brüssel im Beisein von Veteranen der 70. Jahrestag der Befreiung Belgiens durch die Alliierten gefeiert. Man muss schon etwas tiefer graben, um zu einem anderen dunklen Kapitel der belgischen Geschichte vorzudringen, das zwar länger zurückliegt, dessen Aufarbeitung aber erst (viel zu) langsam beginnt: Die Kolonialisierung des Kongo im ausgehenden 19. Jahrhundert. Wer in Brüssel lebt, hat zumindest einen Bezugspunkt: Matongé, ein Viertel, das von kongolesischen Einwanderern geprägt ist und sogar nach einem Stadtteil von Kongos Hauptstadt Kinshasa benannt ist. Das Brüsseler Matongé ist bunt, charmant heruntergekommen und bei jungen Belgiern ebenso beliebt wie bei den Expats. Die afrikanischen Geschäfte verkaufen Obst, Gemüse und Gewürze, die man nirgendwo sonst in Brüssel in dieser Qualität und um diesen Preis bekommt, und in den vielen Bars und Restaurants kann man an einem Abend eine kulinarische Weltreise machen. So beliebt das Multi-Kulti-Viertel auch ist, so wenig wissen selbst die meisten Belgier über die Kolonialgeschichte ihres Landes. In einer neu eröffneten Ausstellung im Belvue-Museum sieht man seit ein paar Wochen die sprichwörtlichen Lichter der Reihe nach aufgehen: Dass König Leopold das rohstoffreiche Land zunächst als seinen Privatbesitz deklarierte und damit zum größten Kolonialherren der Welt wurde, bringt viele zum Nachdenken. Joseph Conrads Roman „Heart of Darkness“ spielt in dieser Leidenszeit des Kongo. Wie brutal die Kolonialisierung durch Leopold vorangetrieben wurde und dass das offizielle Belgien dies jahrzehntelang in seiner staatlichen Propaganda leugnete – das erfahren viele Menschen hier zum ersten Mal. Der Titel der Ausstellung ist eine klare Ansage, die gut als Motto für die überfällige Aufarbeitung dienen könnte: „Unser Euer Kongo – Die belgische Propaganda unverhüllt.“
Foto: Univer sität Wien, privat
Würde Österreich titeln. Aber statt Journalisten sind immerhin zwei heimische Satelliten im All
m heurigen Jahr der zahlreichen Gedenken kann man auch – und Igerade – in Belgien einige Geschichts-
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Aus Wissenschaft und Forschung Geschichte
Ehebruch und Gewalt sind Dauerbrenner Ehebruch wird als Motiv für eine Scheidung meist überschätzt. Die Gründe für die Trennung sind vielfältig Sonja Burger
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aram und Kartari Chand sind seit 88 Jahren verheiratet und, sofern sie es erleben, werden sie am 11. Dezember ihren 89. Hochzeitstag feiern. Extrem lange Ehen wie diese sind äußerst selten. Was im Normalfall mit Liebe und Hoffnung beginnt, endet heutzutage oft viel früher vor dem Scheidungsrichter als in früheren Generationen, wie die Scheidungsstatistik belegt. Der Gesundheitspsychologe Harald Werneck betont, dass „vielen die Trennung jedoch schwerfällt. Die Unsicherheit, ob es eine Fehlentscheidung ist, bleibt.“ Warum es trotzdem dazu kommt, hat aus psychologischer Sicht vielfältige Ursachen, etwa die Sozialisation oder Persönlichkeitseigenschaften. Was die gesetzlichen Trennungsgründe betrifft, hat sich seit 1783, als das kirchliche vom weltlichen Eherecht abgelöst wurde, manches stark gewandelt, anderes kaum: Ehebruch
und Gewalt etwa sind Dauerbrenner. Im FWF-Forschungsprojekt „Ehen vor Gericht“ am Institut für Geschichte der Universität Wien befasste sich der Historiker und Dissertant Georg Tschannett mit historischen Ehetrennungsverfahren und den Handlungsoptionen der Beteiligten vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Jene Gründe, die in der Gerichtspraxis zur Sprache kamen, warum Ehepartner damals die „Trennung von Tisch und Bett“ wollten, waren für Tschannett besonders interessant. „Dort kam alles vor: Vom Mundgeruch über Ekel vor dem Sexualverkehr bis hin zu Ehebruchsgeschichten.“ Solche Trennungen von Tisch und Bett, wie sie das kirchliche Eherecht vorsah, waren zeitlich befristet. Eine Wende brachte die Aufklärung, mit der sich neben nicht einvernehmlichen Trennungen von Tisch
und Bett auch die einvernehmliche Lösung durchsetzte. Heutzutage werde Ehebruch, was die Ursachen für eine Scheidung betrifft, laut Werneck „allerdings überschätzt“. Das Thema Gewalt zieht sich ebenfalls durch und galt auch im weltlichen Eherecht des ABGB 1811 als gesetzlich anerkannter Scheidungsgrund, genauso wie etwa Geschlechtskrankheiten, Kränkungen oder ein unordentlicher Lebenswandel. Wie die Forschungsergebnisse zeigen, waren und sind die Gründe für eine Trennung vielfältig. „Speziell bei langen Ehen wurde emotional und oft auch finanziell von beiden Seiten viel investiert, weshalb eine Trennung damals wie heute ein Verlustgeschäft ist“, ergänzt Werneck. Für Katholiken kommt das Problem der Wiederheirat erschwerend hinzu. Wie die Religionswissenschafterin Theresia Heimerl von der
Universität Graz betont, „haben in den letzten fünfzehn Jahren die Scheidungen im kirchlichen Kernmilieu signifikant zugenommen. Dass heute bis hinauf zum Papst nach einer Lösung für den Wunsch nach Wiederverheiratung gesucht wird, wäre vor zwanzig Jahren undenkbar gewesen.“ Unabhängig davon, wie nahe man der Religion steht: Endet die Ehe, ist die Trennung schmerzlich. „Im Vorfeld wurden deshalb auch früher oft mehrere Instanzen, vom Pfarrer bis zu Gerichten konsultiert“, so Georg Tschannett. Welche konkreten gesellschaftlichen „Sanktionen“ die Getrennten erwarteten, ist historisch nicht gesichert. Im kirchennahen Milieu seien Trennungen laut Heimerl nach wie vor moralisch aufgeladen, speziell, was die individuelle Schuldfrage angeht. Ob es künftig noch Paare wie Karam und Kartari Chand geben wird, wagt heute wohl keiner zu beantworten.
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Titel 8
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Wer sagt krise?
Der Countdown zum Thema Sabine Edith Br aun
Niob-Lagerstätte in US-Dollar
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2013 in Euro
494 000 000 363 000 000 300 270 000
Deutsch)
– geschätzter Wert einer 2013 in Kenia entdeckten
– Umsatz des französischen Atomkonzerns Areva im Jahr
– Nettoverlust des Atomkonzerns Areva im Jahr 2013 in Euro – Zahl der Google-Treffer beim Stichwort „Ebola“ – Google-Treffer bei den Stichworten „Afrika + Krise“ (Englisch und
180 000 000
– Euro stellt die EU den vom Ebolaausbruch betroffenen Ländern für humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe zur Verfügung
46 500 000
– geschätztes Budget in Euro für die Aktivitäten von „Ärzte ohne Grenzen“ zur Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Guinea, Liberia, Nigeria, Senegal und Sierra Leone
8 500 000 – 5 000 000 3 000 000 2 500 000 1 000 000 50 000 38 000
Personen unter 20 Jahren leben in den vom Ebolafieber betroffenen Gebieten
– Höhe des österreichischen Auslandskatastrophenfonds in Euro – vermutliche Gesamtzahl der Tuareg in Mali, Niger, Libyen und Algerien
– Zahl der unter 5-Jährigen, die in den vom Ebolafieber betroffenen Gebieten leben – Zahl der Kinder, die weltweit jährlich an Masern sterben
– geschätzte Mindestanzahl von Toten im Bürgerkrieg von Sierra Leone 1991 bis 2002
– Zahl der Kinder und Jugendlichen, die von „Ärzte ohne Grenzen“ im Sommer binnen drei Wochen in der Demokratischen Republik Kongo gegen Masern geimpft wurden
8994
– gemeldete Fälle an Ebolafieber Erkrankter (per 16. 10.)
4500 4492 3700
– Zahl der seit 2010 in der Demokratischen Republik Kongo an den Masern Gestorbenen – Zahl der Personen, die seit Ausbruch der Seuche im März am Ebolafieber gestorben sind (16. 10.)
– Zahl der Kinder in Guinea, Liberia und Sierra Leone, die durch die Ebola-Epidemie einen oder beide Elternteile verloren haben (30. 9.)
2977
– Zahl der Mitarbeiter aus den betroffenen westafrikanischen Ländern, die für „Ärzte ohne Grenzen“ bei der Bekämpfung der Ebola-Epidemie im Einsatz sind (16. 10.)
2500 1300 807
– Zahl der chinesischen Firmen, die in Afrika aktiv sind, ohne dass für die Afrikaner etwas dabei herausspringt – Menge der Hilfsgüter in Tonnen, die von UNICEF seit dem Ebola-Ausbruch in die betroffenen Gebiete gebracht wurden
– Material und Ausrüstung in Tonnen, die durch „Ärzte ohne Grenzen“ seit Ausbruch der Ebola-Epidemie nach Westafrika gebracht wurden
318 280 276 50 45, 42 40 21 3 0,014 –
– Zahl der am Ebolafieber Erkrankten beim Ausbruch der ersten Epidemie in Zaire im Jahr 1976 – Zahl der Toten bei der ersten Ebola-Epidemie 1976 in Zaire
– Zahl der internationalen Mitarbeiter, die für „Ärzte ohne Grenzen“ in Westafrika im Einsatz sind (16. 10.)
– durchschnittliche Todesrate bei einer Erkrankung am Ebolafieber in Prozent 33 – Durchschnittliche Lebenserwartung (2012) in der zurzeit von der Ebola-Epidemie betroffenen Republik Sierra Leone
– Tage müssen ohne neuen Fall vergehen, bis ein Ebola-Ausbruch für beendet erklärt wird – Personen umfasst die Tuareg-Diaspora in Paris maximal
– maximale Inkubationszeit des Ebolavirus in Tagen
– Alter des jüngsten Ebola-Überlebenden seit dem Ausbruch im März größtmögliche Länge des fadenförmigen Ebolavirus in Millimetern
Foto: K arin Wasner
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WER SAGT KRISE? Zu den Fotos KARIN WASNER – KLIPTOWN YOUTH Im Alter von erst 16 Jahren gründete Bob Nameng 1987 in der Zweizimmerwohnung seiner Tante das Jugendzentrum SKY (kurz für Soweto Kliptown Youth). Dort kümmert er sich seit über 20 Jahren um Waisen und andere bedürftige Kinder und Jugendliche in Kliptown, im Township Soweto in Johannesburg. Obwohl in Südafrika, dem einzigen „Erste-Welt-Land“ des afrikanischen Kontinents, seit 20 Jahren der ANC, der African National Congress, regiert, hat sich die Situation in den Slums nicht wesentlich verbessert. Die ausschließlich schwarze Bevölkerung lebt immer noch in Wellblechhäusern, ohne Wasserversorgung, ohne Kanalisation, ohne Schulen oder Krankenhäuser. Als mittlerweile eine der ältesten NGOs in Soweto ist das größte Anliegen von SKY, das Selbstvertrauen der Kinder zu stärken, damit sie die Kraft und den Willen entwickeln, etwas aus ihrem Leben zu machen. Angeboten werden Aktivitäten wie Kunst, Tanz und Sport; es gibt eine Bibliothek, und viele Kinder essen oder leben im Zentrum. Sie sind voller Stolz, Energie und Hoffnung auf ein besseres Leben. Karin Wasner besuchte Bob und seine große Familie im Sommer 2013. Mehr Informationen und die Möglichkeit zu spenden unter: http://sowetokliptownyouth.webs.com
Viele Kinder, deren Eltern an HIV gestorben sind, leben bei ihren Großeltern, die sich weder Essen noch Schulbildung für ihre Enkel leisten können. SKY organisiert für sie den Transport, Schulgebühren, Lernmaterial, eine Lunchbox und nach der Schule eine warme Mahlzeit.
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Am Anfang war die Fledermaus Die Ebola-Epidemie in Westafrika beunruhigt die Menschen. An Gegenmitteln wird mit Hochdruck gearbeitet Sabine Edith Braun
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eit dem Jahr 1976 gab es mehrere lokal begrenzte Ausbrüche des EbolaFiebers. Doch der aktuelle übertrifft alle bisherigen. Der Virologe Franz X. Heinz von der MedUni Wien sagt dazu: „Was daran global ist, sind die sogenannten exportierten Fälle, wie der zur Behandlung nach Spanien ausgeflogene Pfarrer.“ Die Epidemie sei noch immer begrenzt. Während die Pathogenität, also die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der sich angesteckt hat, stirbt, mit 50 bis 90 Prozent bei Ebola sehr hoch ist, sei die Zahl der Erkrankten relativ gering. „Man muss differenzieren: In Österreich sterben im Durchschnitt jährlich ein paar tausend Menschen an der Grippe.“ Die fadenförmigen Ebola-Viren werden durch Körperkontakt und Körperflüssigkeiten übertragen. Gefährdet sind Pflegende, die mit den Kranken in direktem Kontakt stehen. Eine Gefahr besteht auch durch kulturelle Praktiken: „Bei westafrikanischen Begräbnisritualen werden die Toten berührt. Solche Infektionsrisiken zu vermeiden ist entscheidend, um die Seuche einzudämmen.“ Der ursprüngliche Wirt des Ebola-Virus sind Fledermäuse
Franz X. Heinz ist Virologe an der Meduni
„Das Globale am Ebola-Fieber sind die sogenannten exportierten Fälle“ franz x. hein
in Äquatorialafrika. Sie tragen das Virus, ohne zu erkranken. Zur Übertragung auf den Menschen kann der Kontakt mit ihren Ausscheidungen führen – aber auch ihre Zubereitung und ihr Verzehr. Auch Schimpansen und Gorillas können daran sterben. „Es gibt in Afrika eine starke, durch das Ebola-Virus bedingte Dezimierung dieser Tiere“, sagt Franz Heinz. Für Europa fordert der Virologe: „Das öffentliche Gesundheitssystem muss vorbereitet sein auf mögliche Ebola-Importe.“ Dafür gebe es österreichweite Notfallpläne, auch für Flughäfen. Außerdem stehe fest: „Die betroffenen afrikanischen Länder können das von sich aus nicht lösen. Die Hilfe der reichen Staten muss drastisch verstärkt werden.“ Beim Pflege- und Gesundheitspersonal sei Schulungsarbeit nowendig – mit hohen Sicherheitsstandards und Maßnahmen wie Schutzanzügen. Allerdings bieten auch diese keine absolute Sicherheit: „Es sind unglaubliche Zustände, unter denen gearbeitet wird: heiß und feucht, und man schwitzt in den Anzügen. Das reduziert auch die Sicherheit.“ An einem Impfstoff wird international fieberhaft gearbeitet. Die Staaten fordern
jedoch hohe Auflagen ein. Daher dauern die Tests lange. Nun wurden die Genehmigungsverfahren für zwei Impfstoffe gegen das Ebola-Virus beschleunigt.
Tabakpflanzen als Rettung? Die Behandlung von bereits Erkrankten erfolgt als „passive Immunisierung“ durch die Verabreichung von Antikörpern, etwa in Form der Substanz ZMAPP. Dadurch werden körpereigene Immunreaktionen unterstützt. Um die Antikörper (Eiweißmoleküle) für ein künftiges Medikament effizient herstellen zu können, werden Versuche mit Pflanzen als „Produktionsvehikeln“ gemacht: An der BOKU Wien hat man tabakähnliche Pflanzen gentechnisch so verändert, dass sich menschliche Proteine möglichst schnell darin vermehren können. „Die großen Blätter wachsen sehr schnell, sie sind daher kostengünstige Wachstumskammern“, erklärt die Molekularbiologin Herta Steinkellner. Diese Tabakpflanzen bilden die Basis für die Produktion von ZMAPP, das inzwischen sechs mit dem Ebola-Virus infizierten Personen verabreicht wurde. Vier von ihnen haben sich erholt bzw. die Infektion ganz überwunden.
Schafft den Literaturunterricht ab! Fordert der Staatspreisträger für Literaturkritik Erich Klein. Wer lesen will, meint er, liest sowieso ie Entrüstung über die Abschaffung der Literatur als Maturagegenstand D ist, wie der Großteil vergleichbarer Debat-
ten mit verteilten Rollen, pure Heuchelei. Verschwindet eine Pflanzenart, ist eine seltene Erdmaus, deren von Umweltschützern verteidigtes Biotop Stadtplanern Kopfzerbrechen bereitet, vom Aussterben bedroht, oder gar ein Kulturgut gefährdet? Sieht man von den seligen Reminiszenzen der Kommentatoren an die Jugendtage ihrer Reifeprüfungen ab, ist das Verschwinden von Adalbert Stifter, Franz Kafka und Co. als Gegenstand der Deutsch-Matura nur Abbild des allgemeinen Umgangs mit Literatur. Es soll nicht schon wieder lamentiert werden, aber hat sich jemand aufgeregt, als literarisch eher anspruchslose Krimiautoren an österreichischen Gymnasien zum Lesestoff für Maturanten und deren Lehrern wurden? Schritt eine Kommission ein? Meldeten sich universitäre Didaktiker zu Wort? Dass reifegeprüfte Österreicher noch nie den Namen Ingeborg Bachmann oder Ernst Jandl gehört haben, soll keine Seltenheit
„Die Entrüstung über die Abschaffung der Literatur als Maturagegenstand ist pure Heuchelei.“ Erich Klein, Journalist, Übersetzer, Literaturkritiker
sein. Na und? Nimmt noch irgendwer ernsthaft an, Literatur und deren Kenntnis verfügen in unserer Gesellschaft über jenen Stellenwert, den ihr der amerikanische Philosoph Richard Rorty in einem ironisch-verschmitzten Bild einmal attestierte? Drei grundsätzliche „Figuren“, so Rorty, könnten als repräsentativ und wirkmächtig für die postaufgeklärte, liberale Gesellschaft angesehen werden: der Manager, der Therapeut und der Ästhet. Die Bedeutung der beiden ersteren bedarf keiner näheren Erläuterung. Die prekäre Rolle des Ästheten scheint hingegen auf nicht absehbare Zeit garantiert zu sein. Es entspringt schon literarischer Fantasie, den Manager auf der Couch des Therapeuten zur Lösung seiner Probleme mit einem Gedichtband in der Hand zu imaginieren. Eine Antwort darauf gibt wie immer der Markt: Auch wenn es sich um nichts als ein hölzernes Eisen oder schlichtweg um Humbug handelt, „Proust für Gestresste“ oder „Marc Aurel für Unternehmensberater“ sind Titel, die tatsächlich von großen Verlagen geführt werden. Ob sie etwas über die Literatur, deren Brauchbarkeit und
Sinnhaftigkeit aussagen, sei dahingestellt. Dass sie mit der simplen Verwertung von Literatur zu haben, ist unzweifelhaft. „Ein Buch ist ein Messer, das in mir wühlt“, schrieb Franz Kafka. Geringer sollte die Aufgabe von Literatur nicht veranschlagt werden. Es sei denn, man fasst sie als eine Form der Altpapierverwertung aus. Was daraus folgt? Schafft den Literaturunterricht samt Literaturgeschichte in den Gymnasien endgültig ab! Schon um der Heuchelei über die Bedeutung von Literatur, von Schöngeistigkeit und hoher Kunst zumindest ein respektables Ende zu bereiten. Richard Rortys Unterscheidung von „weltschaffender“ und „kritischer, analytischer“ Literatur aber überlasst den Spezialisten. So kann sich niemand mehr bizarren Illusionen hingeben. Etwa jener, dass ein junger Mensch für seine Sozialisierung Literatur nötig hätte. Wie sagte der Schriftsteller Oswald Wiener einst? „Ein junger Mensch muss davon ausgehen, dass alles, was bisher gemacht wurde, von Idioten gemacht wurde.“ Wer lesen will, kann auch lesen. Und liest aus und in sich selbst.
Fotos: Meduni wien, k arin wasner
Erich Klein
wer sagt krise?
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Haidingers Hort der Wissenschaft
Grafikkabinett Püribauers Tierversuche
Gelassen dem Ende entgegen ma r t i n h a i d i n ge r
Martin Haidinger ist Historiker, Wissenschafts journalist bei Ö1 und Staatspreisträger für Wissenschafts journalismus
I l l u st r at i o n : B e r n d P ü r i ba u e r
Freihandbibliothek Buchtipps von Emily Walton Fliehen und Abschieben
Der Öl-Fluch
Survival Migration, Failed Governance and the Crisis of Displacement. Von Alexander Betts. Cornell University Press. 256 S.
The Scramble for African Oil: Oppression, Corruption and War for Control of Africa‘s Natural Resources. Von Douglas Yates. Pluto Press. 256 S.
Afrikas letzte Kolonie
Bericht einer brutalen Mission
Endgame in the Western Sahara: What Future for Africa’s Last Colony? Von Toby Shelley. Zed Books. 192 S.
The Killer Trail: A Colonial Scandal in the Heart of Africa. Von Bertrand Taithe. Oxford University Press. 352 S.
Hunger, Armut und Gewalt haben in den vergangenen Jahrzehnten Flüchtlingsströme ausgelöst, die Regierungen wie auch Hilfsorganisationen vor Herausforderungen stellen. Nicht immer reichen die genannten Gründe, um in einem anderen Land aufgenommen zu werden. Alexander Betts beschreibt, mit Fokus auf Flüchtlinge aus Afrika, die prekäre Situation und analysiert den (nicht einheitlichen) Umgang mit Flüchtlingen. Während manchen Asyl gewährt wird, leiden andere unter brutalen Bedingungen und werden deportiert.
Toby Shelley widmet sich dem Gebiet der Westsahara, einst spanische Kolonie. Nach dem Abzug der Kolonialmacht wurde das Gebiet von Marokko beansprucht, während die Bewegung „Frente Polisario“ für einen unabhängigen Staat kämpft. Die UNO drängt seit Jahren auf ein Referendum über den völkerrechtlichen Status. Der Autor führte Interviews mit Diplomaten, Mitgliedern der Unabhängigkeitsbewegung wie auch mit Vertretern der Ölindustrie. Auf 192 Seiten bringt er die Geschichte und die Perspektiven des Konflikts nahe.
Öl (u.a. aus Afrika) lenkt die Weltwirtschaft. Während der Rohstoff Öl knapper wird, wird die Nachfrage umso größer. Korruption und Machtkämpfe sind die Folge. Es ist längt bekannt, dass ein „Öl-Fluch“ über Afrika liegt. Douglas Yates wagt eine wissenschaftliche Analyse der Ölindustrie. Dabei beleuchtet er unterschiedliche Perspektiven, etwa die der multinationalen Konzerne, der Regierungen, oder der Journalisten. Zudem versucht Yates, Lösungsansätze zu bieten.
Bertrand Taithe beschreibt die Mission „Voulet-Chanoine“. Diese Militäroperation zur Eroberung des Tschads im Jahr 1899 gilt als tragisches Beispiel für die Gräueltaten der Kolonialisierung. Der Historiker schildert im Rahmen seines Buches nicht nur die brutalen Morde an der Zivilbevölkerung, sondern setzt das Ereignis auch in Bezug zur gesamten europäischen Kolonialisierungsbewegung. Ein Schlüsselwerk für jene, die sich für europäische Kolonialgeschichte interessieren.
lso, ich muss ja vorausschicken, dass ich nicht leicht zu deprimieren bin, A aber nach der Lektüre des letzten Buches
des Kult-Philosophen Peter Sloterdijk („Die schrecklichen Kinder der Neuzeit“, Suhrkamp Verlag, 490 Seiten) habe ich ernsthaft darüber nachgedacht, dass es sich wohl in diesem Leben nicht mehr lohnen wird, eine Langspielplatte anzuschaffen. Denn es wird bei uns sowieso bald alles zu Ende sein, zumal Europa laut Meister S. nichts mehr zu vererben hat, nichts vererben will. So entnimmt man es den „Schrecklichen Kindern der Neuzeit“. Seit die Moderne alle Generationsbande zu der Väter Erbe gekappt, seit das Abfeiern der Bastardisierung das Überkommene abgelöst hat, seit die „Filialkultur“ in Übersee das Muttertier Europa überflügelt hat, seit … Kurz gesagt: Alles ist eher nicht so behaglich. Seit seiner „Kritik der zynischen Vernunft“ (und das ist ja auch schon starke dreißig Jährchen her), hat der Karlsruher Rektor verbal lange nicht mehr so kräftig zugeschlagen („… die europäische parasadistische Zäsur im Geschehen zwischen den Generationen“). Sein zweibändiges Werk mit fast tausend Seiten wurde bei seinem Erscheinen im Jahr 1983 sofort zum Kultbuch tausender Studenten und zum Lieblingsthema des deutschsprachigen Feuilletons. Und ja, man könnte sich über das weitgehend vaterlos aufgewachsene Nachkriegskind Peter Sloterdijk vulgärpsychologisch beruhigen und vermeinen, der Mann nestle auto-therapeutisch an seiner eigenen Vita herum, womit man aber vor allem dem großen Historiker in ihm nicht gerecht würde! So bleibt also die Schrecklichkeit monströs, die von seinem Werk ausgeht. Indes: Als ich ihm am Rande der Kremser „Globart academy“ im Oktober 2014 in einem schnieken Schlosshotelfoyer in Dürnstein zum Ö1-Interview gegenübersitze, fällt die Beklemmung ab. Warum? Der da im Namen einer gewaltigen Krise unterwegs zu sein scheint, hat eine zu zwei Drittel heruntergeschmauchte Qualitätszigarre in der einen und ein Glas großartigen Rotweins in der anderen Hand. Ein weiser Philosoph, der so bewusst und gelassen genießt, hat nichts von einem endzeitlichen Oberdeckpassagier der Titanic an sich, der vor dem Absaufen noch rasch die letzte Champagnerflasche geköpft hat. Wir können uns also beruhigen. Wir werden am Leben bleiben. Zumindest bis zum finalen Zug von Peter Sloterdijks Zigarre. Die letzten Schlucke der Menschheit sind noch nicht getrunken.
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WER SAGT KRISE?
WERNER STURMBERGER
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ie Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann“, schrieb der italienische Philosoph Antonio Gramsci im Vorfeld der politischen Umbrüche, aus denen der Faschismus hervorgehen sollte. Im Moment erleben wir die Krise des Neoliberalismus. Seine Krise umfasst nicht nur die Ökonomie, sondern auch die Politik. In den Erfahrungen der einzelnen Menschen setzt sie sich fort. Bemerkbar macht sie sich in der Zunahme körperbezogener Störungen wie Ermüdungsdepressionen, oder in den steigenden Suizidraten in jenen Ländern, die am stärksten von der Krise betroffen sind. „Demokratierelevant werden Krisendimensionen besonders dann, wenn zunehmend einseitig orientiert regiert und die parlamentarische Öffentlichkeit minimiert wird und somit das liberale Demokratieverständnis selbst zur Disposition steht“, sagt Stefanie Wöhl, Politikwissenschafterin an der Universität Wien.
„Die Partei“-Abgeordneter im EP, Martin Sonneborn, kommentierte dies in Anspielung auf Deutschlands Führungsanspruch: „Ich möchte Europa umbauen: in ein Kerneuropa mit 27 Satellitenstaaten.“ Selbst wenn die Maßnahmen der EUKommission greifen sollten, werden die repräsentativen Demokratien geschwächt, da sie Elemente demokratischer Entscheidungsfindung umgehen und daher delegitimieren. Sie bedrohen darüber hinaus bestehende sozialpolitische Errungenschaften und propagieren Kürzungen im Sozialbereich, was den Rückhalt des demokratischen Systems weiter verringern wird. Die aktuelle Entwicklung des Wirtschaftswachstums legt nahe, dass die Maßnahmen nicht den gewünschten Erfolg zeigen. So wird es nicht möglich sein, mit materiellen Zugeständnissen, also der Beteiligung der Mehrheitsbevölkerung am Wirtschaftswachstum, Zustimmung für das parlamentarische System zu organisieren.
Harter Umbau als Krisenlösung
Die Tendenz zur Privilegierung der Exekutive auf Kosten der parlamentarischen Öffentlichkeit zeigt sich an den Verhandlungen zum EU-Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP). Das betrifft die Verhandlungsführung wie den Gegenstand des Vertragswerks. „Das Verhandlungsmandat der EU-Kommission wurde von den Regierungen der Mitgliedsstaaten, dem EU-Rat verabschiedet. Davor gab es keine öffentliche bzw. parlamentarische Debatte, was genau, geschweige denn, ob überhaupt verhandelt werden soll“, sagt Alexandra Strickner, Ökonomin und Obfrau der NGO Attac. Im Anschluss an die siebente Verhandlungsrunde hat die Kommission das Mandat nun veröffentlicht – nachdem es vor mehr als einem Jahr von zivilgesellschaftlichen Organisationen „geleakt“ wurde. Die Verhandlungsdokumente sind aber nach wie vor öffentlich nicht zugänglich. Vieles spricht dafür, dass die Kommission wie bei den Verhandlungen zum EUFreihandelsabkommen mit Kanada (CETA) vollendete Tatsachen schaffen will. Dieses mehr als 1.500 Seiten umfassende Vertragswerk wurde den Mitgliedsstaaten im August übergeben. Stellungnahmen sollten bis September erfolgen, da die Kommission Verhandlungen beim EU-Kanada-Gipfel für beendet erklären wollte. „Es ist de facto unmöglich, in einer so kurzen Zeit eine Rückmeldung in einem juristischen Text dieser Größenordnung zu geben, die öffentlich und unter Einbindung verschiedener Stakeholder erarbeitet wurde“, sagt Strickner. Derzeit scheint es fraglich, ob CETA in dieser Form beschlossen wird. CETA soll laut EU-Kommission in vielen Punkten die Vorlage für TTIP sein. Wie
Die Krisenbewältigung bleibt im neoliberalen Dogma der Alternativlosigkeit wirtschaftspolitischer Maßnahmen stecken. Aber ist Politik, die permanent ihre Alternativlosigkeit ausstellt, überhaupt noch Politik – oder bereits bloße Verwaltung? Ihre Grundlage ist schließlich, aus unterschiedlichen Optionen zu wählen, nachdem man die Alternativen sondiert hat. Fallen diese Wahlmöglichkeiten weg, wird das Wählen obsolet. Derzeit steht der steigenden Einförmigkeit der Parteiprogramme etablierter Parteien eine sinkende Wahlbeteiligung gegenüber. „Man muss über diese empirisch belegbaren Tendenzen hinaus auch den Rückgang repräsentativer Entscheidungsbefugnisse in nationalen, liberalen Demokratien während der Finanz- und Wirtschaftskrise thematisieren“, sagt Wöhl. In vielen Staaten – in Österreich zum Beispiel aufgrund des Hypo-Debakels – machte die Krise eine Einhaltung der Vorgaben für das strukturelle Haushaltsdefizit unmöglich. Nun soll der Krise mit „Austerität“ begegnet werden – durch eine Verschärfung eben jener Maßnahmen, welche die Krise erst heraufbeschworen haben.
Schwächung der Demokratie Die Mittel der Krisenbearbeitung, „Sixpack“ und der Fiskalvertrag beinhalten verbindliche Anweisungen. Sie schnüren die Handlungsautonomie jener EU-Staaten ein, die gegen die Budgetdisziplin verstoßen haben. Dadurch werden die Befugnisse der Kommission gestärkt, während die Position des Europäischen Parlaments (EP) sowie der nationalen Parlamente geschwächt wird. Der ehemalige Titanic-Chefredakteur und
Freihandelsabkommen oder Krise?
Wer sagt Das neoliberale Gesellschaftsmodell steht auf der Kippe. Die Lösung kann nur die Demokratisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen sein
CETA soll auch TTIP das Investor-State-Dis-
pute-Settlement-Verfahren beinhalten. Im Kern handelt es sich dabei um die Schaffung von investorenfreundlichen Schiedsgerichten. Sehen sich Investoren durch staatliches Handeln um ihre Profite gebracht („indirekt enteignet“), sollen sie vor Schiedsgerichten klagen können. Diese Gerichte unterliegen keiner demokratischen Kontrolle oder Legitimation. Sie sind mit Anwälten statt beamteten Richtern besetzt, und ihre Urteile sollen bindend sein. Die Praxis zeigt, dass immer häufiger Gesetze von öffentlichem Interesse Grund für Klagen bilden, etwa im Bereich des Umwelt- oder Konsumentenschutzes. Ägypten wurde wegen der Erhöhung des Mindestlohns geklagt, Deutschland wegen des Atomausstiegs. Gewinnt ein Investor eine Klage, kommt es zu einer Entschädigungszahlung – oder auch zur Rücknahme der betreffenden Regelung. Solche Investorenklagen gefährden die öffentlichen Finanzen und greifen in die Regulierungsautonomie von Staaten ein. Bereits durch die bloße Androhung von Klagen können sich Gesetzgeber zu Marktkonformität gedrängt sehen und damit regulierende Gesetzesentwürfe verwässern. „Das ist ein Machttransfer hin zu einer privaten Schiedsgerichtsbarkeit und ein gefährlicher Angriff auf Rechts- und Sozialstaaten“, sagt Strickner.
An den Grenzen der Demokratie Innerhalb Europas mehren sich Zweifel an der Erfüllung der Ansprüche, die europäische Demokratien an sich selbst stellen. An den Grenzen werden diese Zweifel manifest. „Beim Versuch, mit Booten nach Europa überzusetzen, ertranken seit 2000 fast 22.000 Flüchtlinge. Diese Entwicklung kann man seit der Etablierung des europäischen Grenzregimes Mitte der Neunzigerjahre verfolgen“, sagt Ilker Ataç, Politikwissenschafter an der Universität Wien. Das europäische Grenzregime verkenne, dass sich Migration nicht stoppen lasse. Die europäische Grenze sei eine „Mauer mit Löchern“, die Risiken, beim Versuch diese Löcher zu nutzen, hoch. Als Beleg dafür können die Geschehnisse im letzten Herbst gelten. Damals kamen vor der italienischen Insel Lampedusa fast 400 Menschen infolge einer Havarie ums Leben. Die Reaktionen der europäischen Regierungen fielen verhalten aus. Einzig Italien machte Marine und Küstenwache im Rahmen der Aktion „Mare Nostrum“ zu Seenotrettern. „Es konnten 100.000 in Seenot geratene Menschen gerettet werden. Auch wenn ,Mare Nostrum’ primär als Antwort auf die Legitimationskrise dieses Grenzregimes gedacht war, wurde es für viele Migranten zu einer Brücke nach Europa“, sagt Ilker Ataç.
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Krise?
Das Programm wurde eingestellt, als sich abzeichnete, dass sich die restlichen Mitgliedsstaaten nicht an den monatlichen Kosten von neun Millionen Euro beteiligen würden. Die EU-Operation „Frontex+“ wird „Mare Nostrum“ ersetzen – um drei Millionen Euro pro Monat. Der Schwerpunkt soll auf der Rückführung von Asylsuchenden in Drittstaaten liegen. Für Seenotrettung, so der deutsche Innenminister Thomas de Maizière, habe „Frontex+“ weder ein Mandat noch ausreichende Ressourcen. „Bedenkt man, dass viele Flüchtlingsströme mit der kolonialen Vergangenheit Europas, aber auch mit militärischen Interventionen der jüngeren Gegenwart oder dem von Industriestaaten verursachten Klimawandel in Verbindung stehen, wird Europa weder seiner Verantwortung noch seinem Selbstbild und seiner Identität als Träger der Menschenrechte gerecht“, sagt Ataç. Im Moment ist es für Menschen aus Krisenregionen beinahe unmöglich, sicher und legal nach Europa zu gelangen.
F o tos: Pr i vat, at tac
Mario Becksteiner, Uni Hamburg: „Diese Politik und diese Demokratie ist für viele Menschen immer offensichtlicher zum Verkaufsprojekt geworden. Die, die sich politisch engagieren, merken, dass ein abstraktes demokratiepolitisches Engagement eine ebenso Die Repräsentationskrise abstrakte Beschäfti„Die Repräsentationskrise ist so alt wie die gungstherapie ist.“
Demokratietheorie selbst“, sagt Politikwissenschafterin Stefanie Wöhl. „Gerade aus einer feministischen Perspektive betrachtet, war sie immer schon krisenhaft und ist es heute noch.“ Ausschlussmechanismen führen dazu, dass mehrheitlich Männer zentrale Positionen in Parteien bekleiden. Der Modus einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung, in dem Frauen etwa ein Gros der Pflegearbeit verrichten, reduziert ihre freie Zeit. Repräsentation ist in Demokratien immer auch an die ökonomische Stellung der betreffenden Akteure gekoppelt: So haben finanzstarke Konzerne einen privilegierteren Zugang zur politischen Öffentlichkeit. In Griechenland oder Spanien hingegen vermisst eine steigende Zahl von Menschen ohne ökonomische Macht die Vertretung ihrer Interessen. Die Krise der Demokratie sei aber nicht neu, denn: „Demokratische Repräsentation ist faktisch permanent krisenhaft und ohne diese Permanenz der Krise auch nicht vorstellbar“, sagt Wöhl. „Was repräsentiert wird oder werden soll, etwa Rechtsansprüche bestimmter Bevölkerungsgruppen, ändert sich mit den Forderungen nach demokratischer Inklusion. In Anschluss an Jaques Derrida könnte man sagen, Demokratie ist immer im Werden. Unterschiedliche Interessen müssen im Ringen um Demokratie immer verhandelbar bleiben. Sonst handelt es sich nicht um eine Demokratie, sondern um einen autoritären Staat.“
Das Dilemma der Bürgerrechte Mario Becksteiner, Soziologe an der Universität Hamburg, erklärt die fortdauernde Krisenhaftigkeit mit den Überlegungen des
Alexandra Strickner, Attac: „Der demokratische Prozess beginnt bei den Verhandlungen über ein Verhandlungsmandat, nicht wie bei CETA mit der Abstimmung über das Verhandlungsergebnis.“
Ilker Ataç, Universität Wien: „Es braucht ein solidarisches Grenzregime, in dem Ansätze von Bewegungsfreiheit auch für Menschen aus den Ländern des Südens verwirklicht werden.“
griechischen Philosophen Cornelius Castoriadis. Ihm folgend, würde sich die gesellschaftliche Ordnung, die in engem Zusammenhang mit der Entwicklung von Kapitalismus und Aufklärung steht, in Politik und Wirtschaft über die Fähigkeit zu regieren, zu kontrollieren, zu planen und zu verwalten, vermitteln. Angetrieben wird diese Organisation von der individuellen und kollektiven Autonomie. Man könnte auch sagen vom „Eigensinn der Subjekte“. Dieser weist aber immer auch über die aktuelle herrschaftsförmige Logik hinaus. „Diese Autonomie konstituiert sich entlang von Myriaden dissidenter, von der Ordnungslogik der Welt abweichender Gedanken und Handlungen“, so Becksteiner. Die Ordnungslogik steht vor dem Dilemma, zwar jenen Antrieb integrieren, zugleich aber die systemfeindlichen Aspekte dieser Autonomie ausschließen zu müssen. „Zugespitzt heißt das, die repräsentative Demokratie existiert immer in einem Spannungsverhältnis zwischen den beiden Tendenzen, also im Zustand eines uneingelösten Versprechens.“ Als prägendes Element dieses Dilemmas nennt Becksteiner die Tatsache, dass die Ordnungslogik fortlaufend – und in Zeiten von Krisen noch viel intensiver – ihre eigenen Regeln brechen muss. Das Versprechen von Bürgerrechten kann von der repräsentativen Demokratie nur durch die ständige Verletzung dieser aufrechterhalten werden. Je weniger die individuelle und kollektive Autonomie der Subjekte in dieser Ordnungslogik repräsentiert wird, umso mehr bröckeln deren Versprechungen und Identifikationsangebote, etwa die Bedeutung der Aufklärung und die daran gekoppelten Ideale der bürgerlichen Gesellschaft. So werden stabilisierende Elemente einerseits durch die Ordnungslogik selbst und anderseits durch die dissidente Verarbeitung der Erfahrungen durch Menschen untergraben. „Die meisten Parteien halten an der neurotischen Wachstums- und Wettbewerbslogik fest, die dieses Versprechen zunehmend aushöhlt. Das kollidiert immer mehr mit der innersubjektiven Verarbeitung dieser Konfliktlinien“, erklärt Becksteiner. An die Stelle eines mit dem Versprechen der individuellen oder kollektiven Autonomie korrespondierenden Orientierungsangebots tritt eine bloße psycho-physische Anpassung der Menschen an das vorherrschende Gesellschaftssystem. Und das ist nach wie vor der Neoliberalismus, dem die Fähigkeit zur Führung abhandengekommen ist.
Mehr Demokratie, mehr Reaktion Die Bereitschaft der Bevölkerung, sich an der repräsentativen Demokratie zu beteiligen, sei es über Wahlen oder über Parteimitgliedschaften, sinkt. Die These von
der Politikverdrossenheit der Menschen ist dennoch falsch. Engagement findet nicht nur im Rahmen repräsentativ-demokratischer Institutionen, sondern vermehrt im unmittelbaren Lebensumfeld statt; etwa bei Fan-Initiativen, die gegen die Kommerzialisierung von Fußball oder gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie auf den Tribünen eintreten. In anderen Zusammenhängen erfolgt dieses Engagement aber weniger freiwillig, sondern aus Notwendigkeit oder sogar Notwehr. Das gilt vor allem für jene Länder und Regionen, wo die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse nicht mehr möglich scheint. Hier kommt es zum Kampf gegen Zwangsräumungen und prekäre Arbeitsbedingungen. Auch dort, wo vormals staatliche Aufgaben nicht mehr vom Staat erfüllt werden können, entstehen demokratische Initiativen: In Griechenland betrifft das etwa die Gesundheitsversorgung oder auch kulturelle Angebote. Gerade dort, wo neoliberale Maßnahmen die Lebensrealität der Menschen am massivsten beeinträchtigen, scheinen sich auch die demokratischen Tendenzen zu verstärken. Es zeigt sich aber ebenso, dass sich Unzufriedenheit über fehlende Repräsentation auch in reaktionärer Politik Luft verschaffen kann. Den demokratischen Bewegungen vom Gezi-Park in Istanbul, dem Tahrir-Platz in Kairo oder dem Puerta del Sol in Madrid stehen reaktionäre Bewegungen wie zum Beispiel die offen faschistische „Goldene Morgenröte“ in Griechenland gegenüber.
Krisenutopie Demokratie „In Krisenzeiten werden immer auch Identitäten infrage gestellt, da sich an diese materielle Interessen knüpfen. Es lässt sich beobachten, dass reaktionäre Diskurse wie Nationalismus, Rassismus, Homophobie, aber auch Sexismus an Bedeutung gewinnen“, sagt die Politikwissenschafterin Wöhl und erinnert an Vorfälle rund um die Bundeshymne und Todesdrohungen gegen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner. Die Zukunft der repräsentativen Demokratie wird nicht zuletzt vom Gelingen, reaktionären Identifikationsangeboten eine positive Utopie entgegenzuhalten, abhängen. Entscheidend wird sein, wie die Frage nach Demokratisierung von Lebens- und Arbeitsverhältnissen beantwortet werden wird. Und wer sie beantworten wird: Die Politik der Kommission und der europäischen Regierungen zeichnet sich im Moment dadurch aus, demokratische Teilhabe der Hoffnung auf Wirtschaftswachstum zu opfern. Vor allem in den südlichen Ländern führt dies dazu, dass demokratischer Teilhabe zusehends die materielle Basis entzogen wird.
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„Draghis Geldpolitik wird tragisch enden“ Dieter Hönig
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er deutsche Ökonom Max Otte hat als einziger die „Finanzkrise 2008“ vorhergesagt. Nun sieht er in Mario Draghis Geldpolitik eine Verzweiflungstat: Die Politik des billigen Geldes sei am Ende, und die Gefahr einer echten Weltwirtschaftskrise höher als 2008. „Draghis Geldpolitik wird tragisch enden“, meint der Raiffeisen-Chefanalyst Peter Brezinschek: „Hier werden Erwartungen geschürt, die niemals aufgehen können.“ Die schwache Kreditnachfrage sei nämlich nicht nur eine Frage des Angebots. Die EZB könne da noch so viel Liquidität zur Verfügung stellen. Thema sei vielmehr der Engpass des Kapitals bei Banken.
EZB-Chef Mario Draghis Nullzinspolitik und Geldflutung kann weder für mehr Wirt schaftswachstum sorgen, noch die Deflationsgefahr bannen.
Niemand will das billige Geld Tatsächlich greifen die Vierjahreskredite der EZB nicht. Statt der erwarteten 200 Milliarden Euro beanspruchten insgesamt 255 Banken gerade einmal 83 Milliarden. An diesen Kredit zu einem Zins von 0,05 Prozent ist nämlich die Bedingung geknüpft, dass die Banken das Weiterverleihen dieses Geldes an die Realwirtschaft unter Beweis stellen, oder ihn nach zwei Jahren zurückzahlen müssen. „Auch der Minuszins
von 0,2 Prozent, den die EZB für bei ihr geparkte Übernachteinlagen der Geschäftsbanken mittlerweile einbehält, erweitert deren Ausleihungen an Firmenkunden nicht. Zähneknirschend schlucken sie lieber den Verlust“, sagt der deutsche Ökonom Gunnar Heinsohn, ein langjähriger Kritiker von Zentralbanken und ihrer Geldpolitik. Es gibt bisher auch keine volkswirtschaftliche Theorie, dass Geldpolitik einen Einfluss auf langfristiges Wachstum habe. Kurzfristig sei dies nur bei Keynes der Fall, wenn Investitionen auf niedrige Zinsen reagieren. Derzeit seien, laut Brezinschek, andere Dinge gefordert, etwa in der Wettbewerbs- und Investitionspolitik, der Steuerund Strukturpolitik oder der Entbürokratisierung. Zum Beispiel gehe es auch um die vernünftige Größe des Sektors Staat.
Europas Wachstumsproblem Das sieht der Wirtschaftsforscher Karl Aiginger ähnlich, kann aber die scharfe Kritik an der EZB nicht teilen. „Europa hat ein Wachstumsproblem, die Wirtschaftsleistung hat den Vorkrisenhöhepunkt noch nicht erreicht. Ganz im Unterschied zu den USA, wo sie um zehn Prozent höher liegt. Dazu
bräuchte es eine expansivere Wirtschaftspolitik auf mehreren Säulen.“ Die Geldpolitik sei nur eine davon.
Belebung mit Anleihen Die EZB verwendet heute neben konventionellen Methoden auch weniger erforschte Maßnahmen wie etwa den Ankauf von Anleihen. Das sei laut Aiginger aber richtig und wichtig, sie kann allerdings die Belebung des Wachstums nicht allein stemmen. „Die Fiskalpolitik muss expansiver werden. Das ist auch bei gegebenen Budgetsalden und Konsolidierung möglich, wenn nämlich die Steuer- und Ausgabenstruktur verbessert, die Fesseln für Betriebsgründungen gelockert und durch eine reformierte Wirtschaftspolitik die Zuversicht von Konsumenten und Unternehmern gestärkt werden.“ Die derzeitige Pause in der europäischen Politik zwischen Neuwahlen und Beginn der Handlungsfähigkeit der Kommission hält Aiginger für fatal. Er sieht die Gefahr, dass Europa stagniert und viele Länder in eine technische Rezession zurückfallen, bevor die Kommission überhaupt einmal ihre Arbeit aufnimmt.
„EZB ist kein Endlager für Finanzmüll“ interview: Dieter Hönig
Nullzinspolitik und Geldflutung kann weder für mehr Wirtschaftswachstum sorgen, noch die Deflationsgefahr bannen. :: EZB-Chef Mario Draghis
Falter Heureka: Herr Otte, nach Draghis jüngsten Ankündigungen scheint in Europas Finanzpolitik kein Stein mehr am anderen zu bleiben. Max Otte: Ja, es ist eine Verzweiflungstat. Die Politik des billigen Geldes ist am Ende. Mit immer härteren Zwangsmaßnahmen soll sie durchgesetzt werden. Die Gefahr einer echten Weltwirtschaftskrise ist heute höher als im Jahr 2008.
Bei Ihnen in Deutschland droht man bereits mit Verfassungsklagen. Was würde das für den Euro bedeuten? Otte: Man wird nicht Recht bekommen, weil Deutschland kein souveränes Land ist und das Verfassungsgericht – das ich im Übrigen sehr respektiere – keine Verfassungs- und Politikkrise heraufbeschwören wird. Herr Brezinschek, Sie sagten jüngst, die draghische Geldpolitik werde tragisch enden … Peter Brezinschek: Ja, denn man weckt
Erwartungen, die nicht erfüllt werden können. Geldpolitik ist kein universales Wundermittel und hat wenig Einfluss auf langfristiges Wirtschaftswachstum. Einerseits will die EZB mit Wertpapierkäufen Xxxxxxx xxxxxxx und Nullzinspolitik die schwache xxxxx, xxxxxx: Kreditvergabe der Banken heben, das Wirtschaftswachstum „lasdlaskdöalsdkj fördern undölsdkj gleichzeitig öalsdkja aölsdka die Inflation ankurbeln. Doch ösldklsdkja ölsdkj das kann so nicht gut gehen. aölsdka ösldklsdkja ölsdkj aölsdka ösldklsdkja Das Geld der EZB kommt bei ölsdkj aölsdka ösldk“
der Wirtschaft nicht an? Brezinschek: Nicht Liquidität ist das Thema, sondern Eigenkapital der Banken. Da kann man noch so viel ABSPackages abverkaufen und Kredite in den Bauch der EZB verlagern. Wenn die Konjunktur schwach ist und Unternehmen und Haushalte zu wenig Bonität haben, wird auch die Kreditnachfrage schwach bleiben. Ähnlich verhält es sich beim Thema Inflation bzw. Angst vor Deflation: Wenn Deflation schlecht für die Konjunktur ist, dann kann man auch nicht mit fallenden Zinsen die Kreditnachfrage stimulieren. Erst wenn am Horizont eine Zinserhöhung winkt, werden auch jene
hinter dem Ofen hervorkommen, die noch abwarten. Wer profitiert davon eigentlich? Brezinschek: Alle Schuldner, sowohl öffentliche wie private als auch die Krisenstaaten. Und das alles zulasten eines Heeres von Sparern. Otte: Staaten wegen der billigen
Refinanzierungsmöglichkeiten, ebenso Private Equity, Family Offices sowie Superreiche und dazu Politiker, die sich nun als ,Euro-Retter’ profilieren können. Hatte man etwa vor Jahren verabsäumt, Krisenstaaten in die geordnete Insolvenz zu schicken? Otte: Ein klares Ja. Brezinschek: Ich hätte sie eher in die Notfallambulanz geschickt. Aber im Ernst: Portugal, Spanien und vor allem Irland, aber auch Griechenland haben ehrgeizige Reformen umgesetzt. Frankreich und Italien haben diese bis jetzt verweigert. Hat Draghi überhaupt noch eine andere Wahl, so er nicht das Auseinanderbrechen des Euro riskieren will?
Brezinschek: Draghi ist in einer schwie-
rigen Situation. Es zwingt ihn aber auch niemand, zu dieser enormen Ausweitung seines Mandats in Richtung Staatsfinanzierung zu greifen. Der Steuerzahler darf nicht durch die Hintertür der EZB mit Schrottpapieren beglückt werden. Die EZB ist kein Endlager für Finanzmüll. Was könnte die Politik tun? Otte: Sie kann nichts tun und will es auch gar nicht. Neue, bürgernahe Parteien werden als Rechtspopulisten gebrandmarkt, während die Systemparteien alle den Wahnsinn mittragen. Brezinschek: Die Politik muss sich endlich von der Illusion verabschieden, dass Wachstum durch überproportionales Schuldenmachen auf Kosten der künftigen Generation gelingen wird. Sie soll sich wieder ihrer eigentlichen Verantwortung besinnen, wie etwa in der Wettbewerbs- und Innovationspolitik, der Steuer- und Strukturpolitik. Mit dem Gießkannenprinzip bei den Ausgaben einerseits und dem Staubsaugerprinzip beim Steuereintreiben anderseits sollte ein für alle mal Schluss sein.
FOTO: K ARIN WASNER
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Mit 70 Prozent Arbeitslosigkeit und einer hohen Kriminalitätsrate ist Kliptown ein rauer Ort, um erwachsen zu werden. Drogen und Alkohol sind ein massives Problem; rund ein Viertel der Menschen ist mit HIV infiziert, und über die Hälfte der Mädchen bekommen schon als Teenager ihr erstes Kind. Die Jugendlichen von der Straße zu holen und sie in Sport - und andere Aktivitäten einzubinden, stärkt das Selbstbewusstsein.
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Wälder für Äthiopien und Burkina Faso Sonja Burger
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ie äthiopische Agronomin und Genderspezialistin Aregu Behailu Lemlem kennt die Situation in ihrem Heimatland: „Seit 1980 gab es bereits fünf schwere Dürren auf nationaler Ebene. Weniger Niederschlag und eine kürzere Regenzeit sind auch eine Folge des Klimawandels.“ Mit der Konsequenz, „dass die landwirtschaftliche Produktivität der Bauern, sprich der Bevölkerungsmehrheit, sinkt“. Faktoren wie Bevölkerungswachstum, Unsicherheit in punkto Bodenbesitz, junge Menschen ohne Jobaussichten und zunehmende Bodenerosion verstärken die Problematik. Speziell für Bauern ist der Boden eine zentrale Ressource und der Erhalt der Bodenfruchtbarkeit überlebenswichtig. Viele äthiopische Bauern haben deshalb bereits reagiert und setzen Maßnahmen. „Manche Strategien wirken sich auf lange Sicht jedoch negativ auf die Umwelt aus, während bei anderen externe Unterstützung nötig ist“, erklärt Lemlem.
Für jene, die bis jetzt nichts hatten, wird trum für Wald etwa bei AufforstungsproDürren, Über sich der Zugang zu Boden verschlechtern“, jekten in Burkina Faso hat Partizipation schwemmungen: betont Florian Alexander Peloschek, Agra- einen hohen Stellenwert. „Kulturelle Aspekte wie die Geschlechrökologe und wissenschaftlicher ProjektWie stark leidet mitarbeiter am Centre for Development terrollen muss man unbedingt berücksichAfrika unter Research an der BOKU. Umso wichtiger, tigen“, erklärt Bouissou. Denn Männer und dass im Rahmen von Aufforstungsprojek- Frauen haben eine unterschiedliche Wahrden Folgen des ten Wälder entstehen, die allen Gruppen Klimawandels? einer Dorfgemeinschaft nützen. „Als Folge des Klimawandels Und wie reagieren Was Partizipation bringt sinkt die wirtschaftliche die Bauern darauf? Ein Weg, der dabei immer öfter beschritten Produktivität der Bauern“
Wie neuer Wald entsteht Aufforstungsmaßnahmen sind für Letzteres ein gutes Beispiel. Denn im Alleingang entsteht kein neuer Wald. Hinzu kommt, dass die äthiopische Praxis der Landvergabe ein Denken über mehrere Generationen hinweg nicht gerade fördert. „Die geplante Reform verbessert zwar die Situation für Florian Alexander Landbesitzer, da sie Grund und Boden an Peloschek, ihre Kinder weitergeben können. Agrarökologe, BOKU
wird, ist Partizipation. Wieso das von Bedeutung ist, zeigt für Peloschek die Erfahrung: Dass Aufforstung früher oft scheiterte, hänge damit zusammen, dass immer nur mit einer Gruppe der Bevölkerung, etwa bestimmten Bauern oder der kleinsten Verwaltungseinheit, sprich der Kebele-Administration, gesprochen wurde. Ganz anders beim Klimaschutzprojekt „Carbon Offset Project Exclosure – North Gondar“ der BOKU mit einer Laufzeit von dreißig Jahren. In North Gondar soll durch Aufforstung ein Wald nach dem Vorbild eines äthiopischen Mischwaldes entstehen. Für Fragen etwa nach der Zusammensetzung der Pflanzen setzt das Forscherteam auf Partizipation und lässt alle gesellschaftlichen Gruppen, auch Witwen oder die landlose Jugend, mitbestimmen.
Geschlechterrollen im Blick Auch für Christina Bouissou vom Institut für Waldgenetik am Bundesforschungszen-
Aregu Behailu lemlem agronomin
nehmung vom Nutzen eines aufgeforsteten Waldes. Deshalb erhalten bei ihren Projekten stets beide ein Training. Und: „Kinder sind neugierig, kommen zum Training, hören zu und lernen auf spielerische Weise.“ So wird Nachhaltigkeit auf vielfältige Art gefestigt. Partizipation bildet dafür den Nährboden, und die Chancen stehen gut, dass künftig Wälder entstehen, die nicht nur für das lokale Klima und die Bodenbeschaffenheit gut sind, sondern auch einen Mehrwert für die Dorfgemeinschaft haben und so zu einer wichtigen Ressource für die Kinder von heute – und morgen – werden.
Wie wird Österreich resilient? Sonja Burger
Der Schnee im Rekordwinter 2006 erforderte in der Steiermark 3.326 Einsätze. Allein im Raum Mariazell wurden 950 Objekte von den Schneelasten befreit. Was die freiwillig geleisteten Einsatzstunden von Freiwilligen Feuerwehren oder Rettungskräften betrifft, gehen sie österreichweit längst in die Millionen. Wetterextreme und ihre Folgen zeigen, wie wichtig der Katastrophenschutz ist. Im Zusammenhang mit Krisen gewinnt der Begriff „Resilienz“ an Bedeutung. Dabei geht es um die Fähigkeit eines Systems, negative Umwelteinwirkungen abzupuffern und sich weiter zu entwickeln – wenn nötig bis zum Systemwandel. „Auf den Ebenen von Politik und Verwaltung bleibt jedoch oft alles beim Alten“, kritisiert der Sozial- und Wirtschaftsgeograf Peter Weichhart. Für ihn sind die Verwaltungsstrukturen auf Gemeindeebene unzeitgemäß und werden den heutigen Krisen nicht mehr gerecht.
Der Katastrophen schutz der Gemeinden ist unzureichend. Wie kann für die Krise vorgesorgt werden?
Funktionalregionen statt Länder? Funktionalregionen wie in Skandinavien, Clemens „wo sekundär-kommunale Agenden wie Pfurtscheller, Naturschutz, Raumplanung oder Abfall- Geograf, Volkswirt
wirtschaft auf regionaler Ebene behandelt werden, wären vernünftigere Strukturen“. Was die Großereignisse der letzten Jahre betrifft, stellt der Geograf und Volkswirt Clemens Pfurtscheller vielen Gemeinden ein gutes Zeugnis aus. Oft hätten die Naturkatastrophen einen Entwicklungsschub ausgelöst und zum Umdenken geführt. „Wo bisher keine Betroffenheit war, wird der Katastrophenschutz aber leider oft hintan gereiht.“ Nach Jahren in der Forschung ist er beim Landesfeuerwehrverband Vorarlberg für Naturgefahrenprävention zuständig. Das Risiko, als Gemeinde selbst einmal zu den Betroffenen zu zählen, sollte präsenter sein, nicht zuletzt, weil sich durch Präven-tion enorme Schäden verringern lassen.
Krisen bergen Entwicklungschancen Dass es kein Risiko gibt, ist jedoch eine Illusion und in Hinblick auf die Entwicklung eines Systems auch nicht wünschenswert. Denn wie der Sozial- und Netzwerkanalytiker Harald Katzmair betont, „steckt in Krisen viel Potenzial, da sie stets den Status quo infrage stellen und eine Chance zur
Entwicklung und Erneuerung darstellen“. Ohnehin sollten Systeme, ob Individuum oder Gemeinde, stets in Bewegung bleiben.
Vielfalt bietet große Chancen Wie robust eine Gemeinde ist, hängt nicht bloß vom Katastrophenschutz oder den politischen Entscheidungsträgern ab. Ein Aspekt, der von den Experten ins Spiel gebracht wird, heißt Vielfalt. Egal, ob es sich dabei wie bei Weichhart um „ökonomische, soziale und kulturelle Vielfalt“ dreht, oder es sich wie bei Pfurtscheller um eine stärkere Einbindung von Älteren, Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund in Einsatzorganisationen handelt. Für Katzmair „stehen in einer vielfältigen, lebendigen Gemeinde die Chancen gut, dass sie in einer Krise handlungsfähig bleibt“. Dazu sei innerhalb der Gemeinde eine Mischung aus „Etablierten, die das Bewährte vertiefen, schrägen Vögeln, die alternative Wege finden und Entrepreneurs, die das umsetzen“, unverzichtbar. Wird also Österreich durch seine wachsende Vielfalt resilienter?
FOTO: K ARIN WASNER
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Sport und Tanz verbinden, Menschen werden zur Einheit und arbeiten zusammen, um ein Ziel zu erreichen. SKY betreut ein FuĂ&#x;ball-, ein Basketball- und ein NetballTeam und verschiedene Tanz- und Theatergruppen. Die Trikots helfen dem Gemeinschaft sgedanken und sind Spenden aus der ganzen Welt. Zum Beispiel Hosen der australischen Rugby Liga oder Oberteile aus Norwegen.
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„Konflikte tauchen nicht plötzlich auf“ Sonja Dries
Falter Heureka: Welche Kennzeichen von erfolgreichem Krisen- und Konfliktmanagement gibt es? Walter Feichtinger: Die drei wichtigsten Punkte sind eine klare Zielsetzung, keine zu hohen Erwartungshaltungen und das Bereitstellen der erforderlichen Ressourcen. Die wirkliche Veränderung kann nur von innen kommen. Daher kann man auch nur Vorschläge machen, die von innen akzeptiert und von innen getragen werden. Hermann Mückler: Es gibt viele Konflikte, bei denen man mit westlichen Ideen, die aus durchaus anspruchsvollen Think Tanks kamen, versucht hat, Konflikttransformation einzuleiten. Dabei wurde auf die Traditionen und Konzepte der Konfliktlösung, die es vor Ort schon über Jahrhunderte gab, sehr wenig acht genommen. Als Kultur- und Sozialanthropologe weiß man, dass man sich über Jahre im Feld aufhalten muss, um überhaupt eine Ahnung zu bekommen, wie Dinge vor Ort funktionieren, wie Akteure wirklich miteinander agieren, oder wer das Sagen hat. Feichtinger: In Ländern wie Afghanistan oder Mali europäische Vorstellungen zu projektieren, das kann ja wohl nur scheitern. Aber das ist nicht jedem in Europa klar und auch nicht jedem in der UNO.
Sollte man Experten aus unterschiedlicheren Fachbereichen einsetzen? Mückler: Auf jeden Fall. Wir denken als erstes an Politikwissenschafter und Soziologen, aber je breiter der Zugang ist, desto eher wird es möglich sein, auch den jeweiligen regionalen und lokalen Eigenheiten Raum zu geben. Konflikte tauchen nicht plötzlich auf, sondern haben eine jahrzehnte lange Vorgeschichte, die mit sozialen Verwerfungen zu tun haben, mit sehr speziellen ökonomischen Verhältnissen. Wir schauen allzu oft immer nur auf die Politik. Welche Grundvoraussetzungen gibt es für internationales Engagement, auch mit Bezug auf die jetzige Situation in Syrien? Feichtinger: Erfolgschancen hat man nur, wenn es einen Grundkonsens zwischen den zentralen Akteuren im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gibt. Wenn sich die fünf ständigen Mitglieder – China, Russland, Großbritannien, Frankreich und die USA – einigen können, hat man die Chance zu starten und auch einen gewissen Erfolg
Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicher ung und Konflikt management, und Hermann Mückler, Pro fessor für Kulturund Sozialanthropologie, über aktuelle Krisenherde
Hermann Mückler, Professor für Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien
Walter Feichtinger, Politikwissenschafter, Brigadier im Bundesministerium für Landesverteidigung und Sport, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement
Feichtinger, Mückler, Hainzl, JurekoviĆ (Hg.). Wege und Irrwege des Krisenmanage ments. Von Afghanistan bis Südsudan. 2014. Böhlau Verlag: Wien, Köln, Weimar
vor Ort zu erzielen. Das war im Fall Syrien von Anfang überhaupt nicht gegeben. Internationales Krisenmanagement, das Engagement der einzelnen Staaten, basiert vorrangig auf nationalen Interessen und weniger auf gemeinsamen Werten. Das ist eine ganz bittere Pille, die wir bei vielen Fallstudien herausgearbeitet haben. Sie bringen keinen Staat dazu, wirklich wirksam zu werden oder einen Konsens im Sicherheitsrat zu erzielen, weil es zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt. Das ist nicht der Kitt, der Staaten heute dazu bringt, gemeinsam vorzugehen. Sonst hätte man in Syrien ja schon längst etwas machen müssen. Ganz wichtig ist es auch, lokale Kräfte einzubinden. Im Falle Syriens müssen sie einfach die Arabische Liga an Bord haben. Wie kann man Extremismus und Djihadismus den Boden entziehen? Feichtinger: Kurzfristig kann man mit polizeilichen Methoden versuchen, den unmittelbaren Kontakt, das Abwandern in das Kriegsgebiet selbst und die Rückkehr unter Kontrolle zu bringen. Hier gibt es eine intensive Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. Langfristig geht es darum, wie man das Entstehen verhindern kann. Die Hauptgruppe schlechthin sind hier Junge, die sich unverstanden fühlen und orientierungslos sind. Es gibt unglaublich gefinkelte Methoden, um auf diese Leute aufmerksam zu werden. Social Media ermöglicht eine zielgerichtete Abfrage nach genau solchen. Wenn eine Vierzehnjährige heute postet, ich bin total unzufrieden, keiner mag mich, dann ist das eine Ansprechperson. Das, was wir aus dem ökonomischen Bereich kennen, dieses Filtern und Identifizieren von potenziellen Kunden, genau das funktioniert auch beim Rekrutieren von Jugendlichen. Es ist primär eine gesellschaftliche Herausforderung, so etwas zu erkennen und Jugendliche dort abzuholen, wo sie gerade stehen und sie in eine andere Richtung zu bringen. Ein großes Problem ist, dass die Radikalisierung von jungen Menschen nicht in den Moscheen passiert, sondern abseits. Je stärker der Islamische Staat in der Region selbst wird, umso attraktiver ist er auch. Wenn es die Luftschläge der Anti-IS-Koalition nicht gäbe, die vor Kurzem formiert wurde und vielleicht den Fall von Kobane verhindert, dann überrennt der Islamische Staat die Region ja total. Dann reden wir nicht mehr nur von Syrien und dem Irak, dann reden wir auch von Jordanien und vom Libanon. Und es gibt auch schon verschiedene Gruppierungen in den nordafrikanischen Staaten, die sich mit dem IS solidarisieren. Wie bringt man die internationale Gemeinschaft dazu, bei Krisen zu intervenieren? Feichtinger: Wir sind eine postheroische Gesellschaft und wir überlegen uns dreimal,
Menschenleben für andere zu opfern. Nur für Werte allein soll keiner unserer Söhne sterben. Deswegen halte ich es für etwas perfid, von der Türkei zu erwarten, die Vorgänge in Kobane zu stoppen und selbst zu intervenieren. Man weiß, dass das politisch eine Katastrophe wäre. Sie sollen das Risiko eingehen, damit wir unser Gewissen beruhigen können. Ich glaube nicht, dass wir in absehbarer Zeit eine internationale Koalition zusammenzubringen, die bereit ist, hineinzugehen und den Kampf am Boden zu gewinnen. Mückler: Unter gegebenen Bedingungen kann man das nicht erzwingen. Auf westlicher Seite kann die USA nicht so viel Druck auf alle Staaten ausüben. Es müsste eine Konstellation gegeben sein, wo die IS so stark wird, dass sich alle gefährdet fühlen. Feichtinger: Sollte die Türkei angegriffen werden, wird die NATO sie unterstützen. Wir sprechen hier allerdings von Verteidigung. Wenn die Türkei in Syrien einmarschieren würde, wäre das kein Fall für eine „kollektive Verteidigung“. Wenn Syrien die Türkei angreift, dann könnte das schlagend werden. Herrscht in der Ukraine derzeit Krieg oder ist es ein „frozen conflict“? Feichtinger: Es geht in die Richtung eines frozen conflict. Präsident Wladimir Putin war in der heißen Phase nicht der Gestalter. Es gab eine Verselbstständigung der Autonomen in der Ukraine, auf die er nur reagieren konnte. Jetzt ist Putin ganz froh, dass er sich aus diesem Konflikt zurücknehmen kann, ohne das Gesicht zu verlieren. Eine Niederlage der Separationskämpfe in der Ukraine wäre eine Niederlage für Putin gewesen. Jetzt passiert eine Normalisierung mit kleineren Kampfhandlungen. Das ist nicht der große Krieg. Die russischen Truppen dürften auf dem Rückzug sein. Man darf jedoch nicht vergessen, was da eigentlich geschehen ist. Hier wurde mit der Halbinsel Krim ein Landesteil annektiert, und das Budapester Memorandum mit Füßen getreten. Das war eindeutig Völkerrechtsbruch, auch die Unterstützung der Ostukraine. Mückler: Das Verhältnis zwischen EU und Russland wird jetzt einer Neubewertung unterzogen. Man weiß ganz klar, dass vieles schief gelaufen ist. Versprechen sind gebrochen, Abmachungen nicht eingehalten worden. Aufgrund des Atlantischen Bündnisses wird eine Nähe zu den USA konstruiert und dabei vergessen, dass uns auch historisch viel mit Russland verbindet. Russland ist eine Kontinentalmacht, die unmittelbar an Europa grenzt. Zwischen uns und den USA ist noch ein ganzer Ozean. Es würde sehr viel Sinn machen, Russland mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als immer nur die atlantische Achse im Fokus zu haben. Dieser Denkprozess wurde durch den Ukraine-Konflikt ausgelöst.
F O T O S : p r i v a t , N a d j a M e i st e r
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n der Sky Lounge der Universität Wien wurde das Buch „Wege und Irrwege des Krisenmanagements“ vorgestellt. Im Anschluss diskutierten die Mitautoren und Herausgeber Walter Feichtinger, Leiter des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktmanagement, und Hermann Mückler, Professor für Kultur- und Sozialanthropologie, über aktuelle Krisenherde und die Herausforderungen des internationalen Krisen- und Konfliktmanagements.
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In Kliptown gibt es noch immer keine Schulen. Kinder müssen weite Strecken zurücklegen, und die Schulgebühren sind teuer. Mit Adopt-a-Child kann man einem Kind eine Ausbildung ermöglichen, indem man die Kosten für Transport, Schulgebühren und Lunch übernimmt.
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Walk like a Tuareg Sabine Edith Braun
Wetterkapriolen treiben Nomaden in die Städte
Ein FWF-Projekt erforscht die transnationalen Routen der Tuareg in der Sahara sowie deren Veränderungen durch neue Akteure, Handels- und Schmuggelwaren
Literaturtipp: Mano Dayak: Geboren mit Sand in den Augen. Zürich, Unionsverlag. (Biografie des Rebellenführers, der 1995 unter mysteriösen Umständen starb: Das Flugzeug, das er zur Umsetzung eines Friedensvertrags mit dem Premierminister von Niger bestieg, explodierte beim Start.)
Die größte Bedrohung ist die ökologische Krise. Vor einigen tausend Jahren war die Sahara ein Feuchtgebiet, dann fiel sie trocken. Doch was dort seit einigen Jahrzehnten passiert, ist ungewöhnlich. „Es kommt vermehrt zu Starkregenfällen. Der Wechsel von Dürreperioden und Regen in immer kürzeren Abständen schwemmt die Gartenanlagen weg, die viele Tuareg als zweites Standbein betreiben“, stellt Ines Kohl fest. Seit den Achtzigerjahren haben daher viele das Nomadenleben aufgegeben und sind in die Städte gezogen. Zur ökologischen kommt die ökonomische Krise: „Sie haben fast keine schulische Ausbildung. Viele können weder lesen Linktipp: noch schreiben“, sagt Kohl. Daher setzen www.ines-kohl.com
die Tuareg ihre Nomadenfertigkeiten wie Orientierungsfähigkeit und transnationale Beziehungen vermehrt für Schmuggeltätigkeiten ein. Schmuggel von Lebensmitteln und Treibstoff zum eigenen Gebrauch gab es zwischen den Saharastaaten ja immer schon.
Das große Geschäft: Kokain für Europa In den letzten Jahren habe sich aber dieser Schmuggel mit kriminellen Strukturen vermischt. Infolge des Libyenkriegs kam es zum Waffenschmuggel. Dabei bedienten sich Islamisten, aber auch Tuareg-Rebellen in Mali. Nach dem Tod Gaddafis kam es auch zum Alkoholschmuggel nach Libyen. Das größte Geschäft ist allerdings der Kokainhandel. Südamerikanisches
„In transnationalen Handels strukturen vermischt sich Klein handel mit dem Schmuggel“ ines kohl S o z i ala n t h r o p o l o g i n
Kokain landet in westafrikanischen Küstenstaaten und wird durch die Sahara nach Norden transportiert. Nach Schätzungen der UNODC kommen 14 Prozent des in Europa konsumierten Kokains über diese Route. Vom Kokainschmuggel über die Sahara weiß man, seit im Jahr 2008 in Mali ein Flugzeug abgestürzt ist. Gegen die kriminellen Aspekte (Drogenhandel, Islamisten) gehen Frankreich und die USA vor. Sie kontrollieren ihrerseits die Grenzen. Algerien wird von der EU dazu angehalten, seine südlichen Grenzen zu sichern, um Migration in die EU zu unterbinden. „Das hat dazu geführt, dass nun auch ‚normale‘ Grenzüberschreitungen der Tuareg hochgradig kriminalisiert werden“, so Kohl. Und Grenzüberschreitungen sind für die Tuareg Normalität: „Es gibt in Niger
keine einzige Tuareg-Familie, die keinen Angehörigen in Libyen oder Algerien hat.“
Tuaregs als Chauffeure für Migranten „Mir ist wichtig zu zeigen, dass die Sahara eine eigenständige Region ist“, sagt die Sozialanthropologin. Denn diese falle in der Wissenschaft durch alle Raster: Middle Eastern Studies nehmen zwar den Maghreb mit, aber nur bis zum Beginn der Sahara. Die Afrikanistik beschäftigt sich erst mit dem Gebiet südlich der Sahara. „Es ist aber nicht nur eine Region, die eine Barriere darstellt und die man überbrücken muss, es ist eine zentrale Region mit innersaharischen Strukturen“, so Kohl. Durch die Mischung von saharischen, maghrebinischen und sahelischen Strukturen seien neue Phänomene entstanden, die an den Tuareg sichtbar würden: „In transnationalen Handelsstrukturen mischt sich der Kleinhandel mit dem Schmuggel. Es betrifft auch das Verkehrswesen: Wie sie die Sahara durchqueren, ist einzigartig in der Region“, sagt Kohl. Über ihre Trassen kämen viele Migranten nach Europa. „Die Tuareg sind die Chauffeure, die sie nach Algerien und Libyen bringen.“ Das FWF-Projekt „Sahara Connected“ betreibt sie gemeinsam mit ihrem Ehemann. Durch ihn, einen Targi aus Niger, kommt sie leicht an Informationen. „Seit auch Waffen und Drogen geschmuggelt werden, ist es schwieriger, mit Fahrern in Kontakt zu treten. Ich wollte auf einem der Schmuggelwege mitfahren, doch wegen der islamistischen Gruppen in Mali, Nordniger und Libyen geht das nicht.“ Von November bis März wird sie daher stationäre Feldforschung in Niger betreiben. „Wir wollen untersuchen, wie sich geopolitische Veränderungen – der Krieg in Libyen und Mali – auf den transsaharischen Verkehr auswirken: mit neuen Akteuren wie dem Volk der Tubu aus dem Osten Libyens, die von Gaddafi vernachlässigt wurden und nun stark geworden sind, mit neuen Waren sowie mit neuen Strecken.“
Geheimnisvolle Herkunft
Ausbeutung der Sahara
:: Zwischen ein und drei Millionen Tuareg gibt es offiziell. Schätzungen gehen vom Doppelten aus. Ihre Herkunft ist unklar: Eine geschriebene Hinterlassenschaft existiert nicht. Tradierung erfolgt oral. Einer arabischen Volksetymologie zufolge geht der Name auf „taraka“ zurück, was „verlassen“ bzw. „von Gott verlassen“ bedeutet und sich auf den sehr moderaten Islam der Tuareg bezieht. Eine andere mögliche Erklärung geht auf das antike Berbervolk der Garamanten zurück, die zur Zeit Christi Geburt in der libyschen Stadt Garama gegen die Römer gekämpft haben – ein Mythos, auf den sich auch Gaddafi berief.
:: Der französische Atomkonzern Areva betreibt
Krisenbedingt setzen Tuareg ihre Nomadenfertigkeiten vermehrt für Schmuggel ein
drei Uranminen in Niger. „Die radioaktiven Werte werden dort bis zum 500-fachen Grenzwert überschritten“, sagt Ines Kohl. „Minenarbeiter trugen lange keine Schutzkleidung, und die Toten bekommen keine Anerkennung, dass sie an einer Berufskrankheit gestorben sind.“ An Steuern würden nur minimale Beträge gezahlt. Das 40-jährige Engagement des Atomkonzerns führte in der Vergangenheit bereits zu drei Rebellionen in Niger. Ausgelöst wurden diese durch die Forderung der Tuareg nach einem gerechten Anteil an den Minen.
Foto: ines kohl
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ilder aus dem Reisebüro und von Prospekten: (Indigo-)Blaue Reiter mit Gesichtsschleier, als „stolze Söhne der Wüste“ bezeichnet. Der Volkswagenkonzern hat sogar einen Geländewagen nach ihnen benannt. Doch die Unabhängigkeit der Tuareg, auf die der Autoname anspielt, gerät zunehmend in Gefahr. „Es ist ein ewiger Kampf gegen solche Klischees“, sagt Ines Kohl vom Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Mit Klischees behaftet ist nicht nur die Kleidung der Tuareg. „Immer wieder lese ich: ‚die Tuaregs‘ – dabei ist Tuareg ein Pluralwort“, sagt Kohl. Die Einzahl lautet „Targi“ bzw. „Targia“ und bezeichnet eine Sprachgruppe: Tuareg ist eine Variante des Berberischen. Ines Kohl erforscht die moderne transnationale Mobilität der Tuareg. Krisen in der Sahara und im Sahel zwangen viele von ihnen, ihren Lebensstil aufzugeben. Aus einem Großteil der ursprünglich viehzüchtenden Nomaden sind transnationale Akteure geworden, die sich mit dem Kleinhandel über die Grenzen, Schmuggel und Migration eine neue Lebensbasis geschaffen haben. Zuletzt mischten sich auch Kokainund Waffenschmuggel darunter.
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Trotz allem sind die jungen Menschen in Soweto stolz auf ihr Land. Und stolz auf sich. Sie wollen etwas erreichen und eine bessere Zukunft für sich und ihre Familien. Dass das durch eigene Anstrengung möglich ist, wird ihnen hier vermittelt.
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Extreme Physik Wer sagt Krise? Das Glossar F l o r i a n F r e is t e t t e r
Jochen Stadler
seinem Buch „Und sie fliegt doch: Imel“nEine kurze Geschichte der Humbeschreibt der britische Biolo-
.com-Blase
ge Dave Goulson die Insektenforschung. Für seine Arbeit benötigt er kaum mehr als ein Notizbuch und einen Bleistift. Seine Experimente bastelt er aus einfachen Mitteln und kommt damit doch zu sehr relevanten Ergebnissen. So fanden er und seine Kollegen heraus, dass die in Pestiziden verwendeten „Neonicotinoide“ das Nervensystem von Bienen durcheinanderbringen. Sie finden den Weg zurück in den Bienenstock nicht mehr und verhungern. Ihre Forschung führte 2013 zur EU-weiten Einschränkung bestimmter Neonicotinoide, um das um sich greifende Bienensterben zu begrenzen. In anderen Wissenschaften ist es viel schwieriger geworden, fundamental neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mit Notizbuch und Bleistift kommt man in der modernen Physik oder Astronomie nicht mehr weit. Hier benötigt man riesige Teleskope in abgelegenen Regionen der Welt oder noch größere unterirdische Teilchenbeschleuniger. Moderne Forschung ist wegen eines hohen technischen und finanziellen Aufwands oft nur noch in internationalen Kooperationen tausender Wissenschafter möglich. Steckt die aktuelle Physik in einer kreativen Krise, die sie durch den massiven Einsatz von Gerät zu bewältigen versucht? Gibt es keine „einsamen Genies“ mehr wie Albert Einstein, der nur dank seiner Gedanken die komplette Wissenschaft revolutioniert hat? Vielleicht – aber viel eher ist diese Entwicklung ein Ausdruck des enormen Fortschritts, den die Physik in den letzten Jahrzehnten bei der Erklärung der Welt gemacht hat. Das, was man mit einfachen Mitteln erforschen und verstehen kann, wurde mittlerweile erforscht und verstanden. Übrig bleiben nur noch die Mikrowelt der Quantenmechanik und das ferne Universum. Je mehr über diese extremen Bereiche herausgefunden wird, desto extremer müssen auch die Instrumente zu ihrer Erforschung werden. Die Forschungsobjekte der modernen Physik sind der Alltagswahrnehmung fast komplett entrückt. Es ist daher kein Wunder, dass immer mehr Aufwand getrieben werden muss, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Ohne die großen Maschinen also könnte heute wohl auch Einstein wenig ausrichten. Mehr von Florian Freistetter: http://scienceblogs.de/ astrodicticum-simple
Platzte im März 2000 und schrumpfte die damals enorm aufgeblasene „New Economy“ auf ein realistisches Maß. Burnout
Persönliche Krise mit totaler emotionaler Erschöpfung. Finanzkrise
Seit der US-Immobilienkrise 2007 global ausgerufener Dauerzustand. Freiwillige Feuerwehr
Ländliche Kriseninterventions-Truppe, die Junge zwecks Spendensammlung von Haus zu Haus schickt. Homo öconomicus
In Wirtschaftsfragen alles rational abwägender und nüchtern entscheidender Mensch, der leider bloß in Lehrbüchern existiert. Immobilienkrise
Beendete den amerikanischen Traum, dass sich jeder ein Eigenheim leisten kann. Katastrophe
Unglück, das viele Menschen oder große Bereiche der Umwelt in Mitleidenschaft zieht. Katastrophenfilm
Genre, bei dem Meteoriten, Erdbeben u. ä. die Menschheit bedrohen müssen, damit der Protagonist sich seiner wahren Fähigkeiten besinnt. Katastrophenhilfe
Erstversorgung für von Katastrophen betroffene Menschen und Regionen. Katastrophenschutz
Vorbeugende Maßnahmen, um Menschen, Umwelt und Infrastruktur im Katastrophenfall vor dem Gröbsten zu bewahren. Krise als Dauerzustand
Strategie von Firmen und Staaten, die Begehrlichkeiten ihrer Angestellten und Bürger auf niedrigem Niveau zu halten. Krisenintervention
Hilfe von außen, um über ihre Kräfte belastete Menschen, aber auch Firmen und Staaten vor dem Schlimmsten zu bewahren. Krisenstab
Im Not- und Schadensfall einberufene Expertengruppe, die Übersicht bewahren und beitragen soll, die Situation wieder in den Griff zu bekommen.
Midlife-Crisis
Innere Unstimmigkeit von 35- bis 45-jährigen anlässlich der Einsicht, dass man nicht mehr Formel-1-Weltmeister, Top-Manager oder Ehemann von Angelina Jolie werden wird. Nahrungsmittelpreiskrise
Verteuerung der Hauptnahrungsmittel Reis, Mais, Weizen und Soja auf das Dreifache von 2005 bis 2008, wegen der laut Welternährungsorganisation (WHO) etwa 75 Millionen Menschen hungerten und die in über 60 Ländern zu teils gewalttätigen Unruhen führte. New Economy
Wirtschaftsform, die virtuelle Dinge reellen vorzieht. Ölkrise
Anstieg des Ölpreises 1973 durch Verknappung aus politischem Kalkül der arabischen Länder. Führte der westlichen Welt die Abhängigkeit von Erdöl vor Augen und verschaffte den österreichischen Schulkindern „Energieferien“.
leicht von der Hand gehenden Meisterwerks wieder einmal ein hart erarbeitetes, gerade noch passables Produkt ausreichen muss. Selbsterfüllende Prophezeiung
Wenn gezeigt wurde, dass sich gerade jene Schüler verbessern, denen man nach dem Zufallsprinzip erklärt hatte, „hochintelligente Aufblüher“ zu sein, wieso sollte dann irgendeine Krise zu Ende gehen, wenn man sie ständig analysiert? Tulpenkrise
Das Platzen der Tulpenzwiebel-Spekulationsblase in den Niederlanden im Februar 1637. Einzelne Zwiebeln wurden teils um Geldbeträge gehandelt, um die man ein Haus in der teuersten Gegend Amsterdams kaufen konnte. Verhaltensökonomik
Krise, in der Menschen auf einmal Zeit für sich selbst haben und damit nichts anzufangen wissen.
Teilbereich der Wirtschaftswissenschaften, in dem Realisten mutmaßen, dass a) Menschen ihre Entscheidungen nach einfachen Daumenregeln und Gewohnheiten treffen, b) Entscheidungen vom aktuellen Umfeld und der Laune der Handelnden abhängig sind, sowie c) Personen und Märkte oft alles andere als vernünftig agieren.
Pubertätskrise
Währungskrise
Quarterlife-Krise
Weltbank
Pension
Zustand, in dem verzweifelnde Eltern ihre Teenager sehen, weil diese sich von abhängigen Geschöpfen in Erwachsene verwandeln. Betrifft vorzugsweise junge Akademiker, die nach einer exzellenten Ausbildung wider ihrer Erwartungen nicht ganze Berufsfelder revolutionieren. Resilienz
Die Fähigkeit, sich nach einem schweren Schlag wie ein Stehaufmännchen wieder aufzurichten und weiterzumachen, als sei nichts passiert. Risiko
Ergebnis der Multiplikation von der Wahrscheinlichkeit, mit der etwas Unangenehmes eintritt und dem Schaden, den es schlimmstenfalls bringt. Risikomanagement
Überlegungen etwa eines Bergsteigers, ob ein auf Facebook präsentiertes Selfie vom Gipfel das Risiko wert ist. Schöpferische Krise
Nervenaufreibende Zeit, die vergeht, bis man beschließt, dass anstatt eines
Beginnt damit, dass der Umtauschwert einer Währung nicht mehr gehalten werden kann, was zu einer Abwertung führt. Internationales Geldinstitut, das den Wiederaufbau der vom Zweiten Weltkrieg verwüsteten Staaten erfolgreich unterstützt hat, dabei aber bei den von Kolonialismus und Bürgerkrieg ruinierten Entwicklungsländern weniger Erfolg hat. Welthunger
Krise, die aktuell laut Weltgesundheitsorganisation jeden achten Menschen betrifft und alle drei Sekunden einen Todesfall fordert. Weltwirtschaftskrise Vom US-Börsenkrach 1929 eingeleite-
te Krise, die weltweit Arbeitslosigkeit und Elend brachte und zum Aufstieg des Faschismus in Europa beitrug. Worst Case
Der schlimmste Fall, den man sich bei der Planung ausdenkt, um von der Realität mangelnde Fantasielosigkeit demonstriert zu bekommen.
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Gedicht D u r s G r ü n b e i n : P h o c y l i de s
Durs Grünbein (geb. 1962 in Dresden) ist ein deutscher Lyriker, Essayist und Übersetzer; lebt in Rom. Seit seinem ersten Gedichtband „Grauzone morgens“ (1988) gehört er zu den wichtigsten deutschsprachigen Lyrikern der Gegenwart. 1995 erhielt er den Georg-Büchner-Preis. Zuletzt erschienen die Gedichtbände „Koloß im Nebel“ (2012) und „Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond“ (2014).
Jeder Apfel ist ein kleines Weltall für sich – Der Mann mit der riesigen, der richtigen Nase. Er hatte den Riecher für Welten, groß oder klein. Eine Zwiebel zum Beispiel: Astrolabium aus Schalen, War ihm mehr als die Knolle, die Tränen treibt. Ptolemäus’ Scheibe – das war zu gering gedacht. Alles hängt davon ab, wieviel Realität Einer vertragen kann. Wie klein ist das Große?
Aus: Durs Grünbein,
Cyrano oder Die Rückkehr vom Mond
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
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Waagrecht: 1 Globale Sitzgelegenheit? Als Krisenfeuerwehr gegründet, erweist die Lösungswort: sich oft als Brandbeschleuniger 7 Ohne Umsetzer bloße Ansätze 9 Eine Maß bitte! 10 Sprunghaft 1 2 oder schlüpfrig 3 4 5 6 7 8 9 11 Präfix noch einmal: Griechisches Äquivalent zu äqui 12 Nr. 1 im Wachstums-Rating der Erde 13 Zentimeterzehnt (Abk.) 15 Tektonisch, martialisch, epidemisch – er steht immer am Anfang 16 Dramatische Übergröße (Init.) 17 Interessenvertretende Hacklerregler (Abk.) 18 Die aktuelle Krise dort hat einen langen Baath 19 Macht die Gier zur wissenschaftlichen Grundlage 20 Dirigiert ein internationales Notenwerk (Abk.) 21 Mit dieser Viper kann man Schlangenlinien fahren 24 Die Hauptstadt sorgte für Landname (sic!) am Mittelmeer 26 Reizende Bettwäsche
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Senkrecht 2 Das große Ich bin Ich 3 Musikalische Tempo-50-Zone 4 Blutige Konflikte ohne Grenzverletzungen 5 Iconografisches aus der Ladezone 6 Dernier Cri in Sachen Hysterie 7 Sorgt atmosphärisch für drastische Veränderungen, politisch für Gipfel der Ignoranz 8 Nationaler Bankdirektor sozusagen 14 www.marktplatzhirsch.com? 18 Weißblaue Geschichte: Dort wird aus zwei Nilen einer 22 Ganz liebe Grüße! 23 Im Norden als Katholik oft Protestant 25 Univ.-Prof. em. ist’s Lösungswort: KORRUPTION Waagrecht: 1 WELTBANK, 7 KONZEPTE , 9 LITER , 10 EI , 11 ISO , 12 GRAS , 13 MM, 15 AUSBRUCH , 16 WS , 17 AK, 18 SYRIEN, 19 NEU, 20 IWF , 21 DODGE , 24 ALGIER, 26 LINGERIE Senkrecht: 2 EGOISMUS, 3 LENTO, 4 BUERGERKRIEGE, 5 APP, 6 KREISCHEN , 7 KLIMAWANDEL, 8 TEAMCHEF , 14 EBAY , 18 SUDAN , 22 GLG , 23 IRE , 25 IR
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Was am Ende bleibt Ein vertaner Krieg
Schrieb Cyrano nach seiner Rückkehr vom Mond.
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Der Gedenkfuror des Jahres 2014 mit hundertjährigem Blick auf 1914/1918 türmt auf sämtlichen History Channels Trümmer der Vergangenheit auf, dass selbst einem Engel der Geschichte längst die Luft weg bleibt. Trotz der Überfülle an neu entdecktem historischem Foto- und Filmmaterial kam auch das gute alte Buch zum Zug: in Gestalt von Christopher Clarks „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“. Zum Bestseller stilisiert, wie es üblicherweise nur Esoterik, Kochen oder Lebensberatung zuteil wird, mutierte Clarks ausgewogene Analyse europäischer Verhältnisse vor einhundert Jahren rasch zum Lieblingsgegenstand der Talkshows. Die akademisch-kritische Öffentlichkeit rümpfte ob der runderneuerten Vergangenheitsbewältigung in Sachen „Kriegsschuldfrage“ eine Zeitlang die Nase, tat dann aber bereitwillig mit. Das Publikum schlug sich begeistert auf die Seite der „Normalsierung“ deutscher Geschichte. Der österreichische Historiker Manfried Rauchensteiner, selbst Verfasser umfangreicher Studien über den Ersten Weltkrieg und das Ende des Habsburgerreiches, wies mehrfach darauf hin, dass er sich an keinen auch nur annähernd vergleichbaren Medienrummel in Sachen Gedenken erinnern könne. Von der Diskussion der „Kriegsschuldfrage“ hält er nichts. Man müsse wohl noch den 10 Herbst abwarten und das Jahr 2015, als der österreichisch-italienische Krieg begann. Solange muss Serbien noch sterbien … Die Befürchtung, dass später nichts mehr in Sachen Vergangenheit kommt, liegt nahe. Schließlich zeigen die europäischen Eliten und politischen Klassen nur geringe Bereitschaft, dieses Gedenkjahr zur Überprüfung brauchbarer europäischer Bestände zu nutzen. Nicht einmal die Historiker der Nachfolgestaaten des Habsburgerimperiums waren imstande, sich an einen Tisch zu setzen. Dass mitten ins Gedenkjahr der Krieg zwischen Russland und der Ukraine platzte, machte alle historische Betrachtung fast gegenstandslos. Gerade noch ging in Deutschland das Wort von der „Freiheit, die am Hindukusch verteidigt wird“ um, doch auf die russische Besetzung der Krim und die ostukrainische Separatistenumtriebigkeit mit Namen „Neurussland“ folgte verwirrtes Schweigen. Europa – ein ratloses Kopfschütteln und Händeringen? Bleibt uns wirklich nichts anderes übrig, als Joseph Roths Romane „Die Kapuzinergruft“ und „Radetzkymarsch“ zu lesen?
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